Jeder Mensch ist ein Kunstwerk - Asta Scheib - E-Book

Jeder Mensch ist ein Kunstwerk E-Book

Asta Scheib

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Beschreibung

Erinnerungen an Menschen und Orte, Geschichten von Erfolg, Freiheit und Unabhängigkeit - von Thomas Bernhard bis Anna Wimschneider. Erinnerungen an Menschen und Orte, Geschichten von Erfolg, Freiheit und Unabhängigkeit - von Thomas Bernhard bis Anna Wimschneider. 20 sehr persönliche und faszinierende Porträts von: Thomas Bernhard, Rainer Werner Fassbinder, Cornelia Froboess, Erika Fuchs, Eva Christina Fuchs, Thomas Gottschalk, Werner Herzog, Patricia Highsmith, Wolfgang Koeppen, Brigitte Kronauer, Hermann Lenz, Udo Lindenberg, Eva Mattes,  Milva, Johannes Mario Simmel, Friedrich Torberg, Franziska Walser, Martin Walser, Wim Wenders, Anna Wimschneider. »Es waren die Siebziger, Achtziger, ich war Zeitschriftenredakteurin, arbeitete später frei für Tageszeitungen, Rundfunk und Fernsehen. Man hatte noch Zeit, seine Texte sorgfältig zu planen, ausgiebig zu recherchieren. Alle Persönlichkeiten, über die ich geschrieben habe, konnte ich aufsuchen, Stunden oder Tage mit ihnen verbringen …« Diese Begegnungen mit Autoren, Künstlern, Schauspielern und Filmemachern in den Jahren 1975 bis 1993 waren meist freundschaftlich, von Vertrauen geprägt – und sie entpuppen sich als wichtige Bestandteile von Asta Scheibs Autobiographie. Sie ist inzwischen selbst zu einer bekannten Schriftstellerin arriviert, so wie viele der damals von ihr Interviewten richtig berühmt geworden sind. Eingebunden in den Kontext der Umstände, unter denen sie ihr Material gesammelt hat, der Stimmung und der Gesten, hat Asta Scheib wunderbare Kurzgeschichten mit dem Bezug zum Heute daraus geformt. Sie erzählen von Erfolg, Freiheit und Unabhängigkeit ...

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Seitenzahl: 496

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Asta Scheib

Jeder Mensch ist ein Kunstwerk

Begegnungen

Deutscher Taschenbuch Verlag

Originalausgabe 2006

© Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.Rechtlicher Hinweis §44 UrhG: Wir behalten uns eine Nutzung der von uns veröffentlichten Werke für Text und Data Mining im Sinne von §44 UrhG ausdrücklich vor.

eBook ISBN 978-3-423-40494-5 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-24529-6

Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website

www.dtv.de

Inhaltsübersicht

Vorwort

»Mit vollem Gefühl aus dem Bauch« - Rainer Werner Fassbinder an Drehorten und anderswo

»Das Auge ist die Leuchte deines Leibes« - Wim Wenders in der Rhön

Die Frau, die weiß, was Mickymaus denkt - Erika Fuchs in Entenhausen

Etwas so schön sagen, wie es nicht ist - Martin Walser und der Bodensee

»Was ein Mann schöner is wie ein Aff, is ein Luxus« - Friedrich Torberg und die Tante Jolesch

Die Ehe – eine unheimlich fromme Abteilung - Udo Lindenberg in der Bar und am Set

Mein Mann ist ein Genie - Eva-Christina Fuchs in der Wiener Seilerstätte

Der Mann, der für Millionen schreibt - Johannes Mario Simmel und der Kaviar

Erzeuger in Sicht, aber kein Vater - Franziska Walser, Künstlerin auf der Bühne und im Leben

Ich turne von Titel zu Titel - Thomas Gottschalk, der Rundfunk und das Fernsehen

Ich denke, ich fall in den Himmel! - Eva Mattes, der Film und das Theater

Wer bei uns dominiert? Keine Ahnung - Cornelia Froboess, das überraschende Talent

Ein Eisberg, der Feuer speit - Milva, »la pantera«

Der Unterschied zwischen Traum und Wirklichkeit; das ist die wahre Hölle - Patricia Highsmith und Mr. Ripley

Einsam durch die Jahre - Wolfgang Koeppen und die Tauben im Gras

Von einer Katastrophe in die andere - Thomas Bernhard, ein großer Liebender

»Ein Gewächs vom starken Stamme« - Anna Wimschneider auf dem Steinerhof

Einmal Milchstraße sein - Brigitte Kronauer und die gemusterte Nacht

Ein Schiff fährt über den Berg - Werner Herzog und das Unmögliche

Der Zeitgeist und der Mister Trend, die waren nie auf meiner Seite - Hermann Lenz, der Schwabinger Poet

Für Konrad und Günther

Vorwort

Das Schönste am Journalismus ist, dass man wildfremde Menschen, die einem auffallen, die einen interessieren, anrufen und um ein Gespräch bitten kann. Natürlich muss man ein Konzept haben, und es ist auch nicht unwichtig, für welche Zeitung oder für welchen Sender man arbeitet. In den siebziger Jahren habe ich angefangen, mit so unterschiedlichen Persönlichkeiten wie der Bäuerin Anna Wimschneider oder der Schriftstellerin Patricia Highsmith Gespräche zu führen. Ich habe immer versucht, mit scheinbar absichtslosen oder naiven Fragen das Vertrauen meines Gegenübers zu gewinnen, eine entspannte Situation zu schaffen. Behutsam und sanft tastete ich mich vor und versicherte jedes Mal meine Bereitschaft, die entstandenen Texte vor Drucklegung autorisieren zu lassen, was übrigens niemals verlangt wurde. Je stärker mich ein Gespräch fasziniert hat, umso mehr habe ich mich für weitere interessiert, und mir ist rasch klar geworden, welch außergewöhnliche Menschen ich da getroffen hatte. Menschen, deren Eigenheiten, Leidenschaften und besondere Begabungen sie zu dem machten, was sie auch heute noch auszeichnet. Stark und brillant waren alle schon damals, einige sind noch berühmter geworden, als sie es bei unserer ersten Begegnung waren. Jeder hat seine Zeit beeinflusst – sei es durch radikale oder extreme Texte wie zum Beispiel Thomas Bernhard und Brigitte Kronauer, sei es durch obsessive Verwirklichung von Träumen wie Rainer Werner Fassbinder oder Werner Herzog.

Im Laufe der Jahre ist eine Sammlung von Geschichten entstanden, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Jetzt, wo ich mich mit diesen Zeitungsartikeln oder Hörfunksendungen wieder beschäftige, weiß ich, dass es solche Persönlichkeiten kaum mehr gibt. Im Zeitalter von Reality-TV, Talk-Shows und Telenovelas werden schon Leute zu Stars ausgerufen, die eine winzige Rolle in einem seichten TV-Movie ergattern konnten. Sie sind austauschbar, eine Berühmtheit oder besser Bekanntheit für wenige Monate. So sieht man den jungen Talkmaster eines Privatsenders auf mannshohen Plakaten. Wenig später ist ein ebenso unbekannter Kollege der Größte. Niemandem wäre es Ende der Siebziger eingefallen, den Journalisten Thomas Gottschalk auf einer Litfasssäule abzubilden. Er hatte es aber auch nicht nötig, da er von Anfang an unverwechselbar und schon gar nicht austauschbar war.

Damals waren die Verleger der Zeitschriften auch noch nicht ausschließlich an der Auflage interessiert, sondern an guten Geschichten. Dafür boten sie ihren Journalisten erfreuliche Arbeitsbedingungen. Das heißt, sie erlaubten ihnen, sich auf ein Interview gründlich vorzubereiten, sich für die Begegnungen mit dem Interviewten Zeit zu nehmen. Ich durfte noch Journalistin sein und nicht eine Marketingfrau, die genau weiß, mit welchem Thema sie sich in eine Marktlücke hineinschreibt. Der Schwerpunkt meiner Arbeit war das Porträt. Alle Menschen, über die ich geschrieben habe, konnte ich aufsuchen, musste mich nicht auf Telefonate beschränken, wie das heute meist üblich ist. Manchmal verbrachte ich Stunden bei ihnen oder sogar mehrere Tage. Manche habe ich für ein Magazin interviewt, andere für einen Sender oder für beides. Meist waren die Begegnungen freundschaftlich, von Vertrauen geprägt. In fast allen Fällen war das gesamte Material in dem veröffentlichten Text nicht unterzubringen. Oder die Interviewten baten Tage später darum, bestimmte Äußerungen nicht zu verwenden. Bei Patricia Highsmith war das so und bei Rainer Werner Fassbinder.

Heute, bei Durchsicht der Original-Unterlagen, dem erneuten Abhören der Tonbänder, habe ich den Wunsch, die Gespräche völlig neu herauszugeben. Eingebunden in den Kontext der Umstände, unter denen sie entstanden sind, der Stimmung, der Gesten, des wechselnden Temperaments, der Reflexionen innerhalb der Dialoge. Diesmal will ich keine Interviews aufzeichnen, sondern Geschichten erzählen, Kurzgeschichten über die Begegnung mit Menschen und Orten und dem Bezug zum Heute. Ich kann mich an das Klima der aufgerufenen Zeit genau erinnern, an die Stimmen, den Sound der Umgebung, an die Temperatur, an Sonne, Schnee oder Regen, an die besondere Stimmung, an Wärme oder Distanz beim Reden. Es sind nicht zuletzt Erinnerungen an liebenswerte Menschen, deren Lebensentwürfe nicht ohne Einfluss auf mich und mein Selbstverständnis als Schriftstellerin waren.

München, Dezember 2005

Asta Scheib

Ich danke Dr.Hubert Fritz vom Bayerischen Rundfunk dafür, dass er mir Tonaufnahmen zur Verfügung stellte.

A.S.

»Mit vollem Gefühl aus dem Bauch«

Rainer Werner Fassbinder an Drehorten und anderswo

Es ist ein Vormittag gewesen, ich bin ganz sicher, weil ich nur dann allein im Haus bin und schreibe, während meine Söhne in der Schule sind. Ich sitze über einer Geschichte und weiß nicht, warum ich ständig an einer Szene herumprobiere, die mir von einem Flug nach Kanada im Gedächtnis geblieben ist: Riesenhafte Männer mit breitem Kreuz und bedrohlich dickem Hintern haben einen Teil der Maschine besetzt. Die meisten tragen Cowboyhüte. Die Stewardess erklärt mir auf meine Frage, dass es die kanadische Nationalmannschaft der Wrestler ist, eine Art Catcher, die sich wie geistesschwache Goliaths gegeneinander unter Gebrüll hochwuchten und dann krachend auf den Boden des Rings werfen. Ich erinnere mich, dass ich im Spätprogramm schon solche Kämpfe gesehen oder vielmehr mittels des roten Knopfes ziemlich schnell beendet habe. Ich mache mir nichts aus Wrestlern, mehr noch, ich fürchte mich vor ihnen, und wenn einer seine Hinterbacken aus dem Sitz herausschält, um zur Toilette zu gehen, habe ich Angst, dass unsere kleine Maschine Schlagseite kriegt.

Meine Nachbarin dagegen, die gerade ziemlich abwesend in ihrem Bordfrühstück herumwirtschaftet, kann ihre Augen nicht von den Ringern lassen. Immer wieder lugt sie hin zu den Recken, während ihr Mann versucht, sie mit Schilderungen seiner tapferen Kämpfe im heimischen Büro für sich zu interessieren. Die beiden waren offenbar auf Europatrip, er, blass und ein wenig dürftig, will seine Kollegen von nun an zu effizienterem Arbeiten bringen. Sie und sein Chef sollen ihn jetzt mal richtig kennen lernen. »Ich will kämpfen, du wirst es erleben, aber mit geistigen Waffen – nicht wie diese hirnlosen Muskelprotze!« – »Of course, Darling«, murmelt die Frau und schiebt sich gebutterte Cracker in den Mund. Ich glaube, seine Beschwörungen werden nichts nützen, diese Frau hat nur Augen für die Wrestler, und ich frage mich, was sie zu ihrem papierdünnen Betriebswirtschaftler hingezogen hat.

Später, im Haus meines Bruders in Calgary, sehe ich in einem der ständig laufenden Fernseher, dass die Wrestler, die ich auf dem Flug in der Maschine gesehen habe, zu einer Beisetzung unterwegs waren. Ein Unglück hat die Nationalmannschaft getroffen. Einer der ihren, ein junger Hoffnungsträger, hat die Gewohnheit gehabt, aus der Höhe des Raums brüllend auf seinen Gegner im Ring niederzufahren, wohl um ihn schon vor dem Kampf zu schocken. Es muss einige Male gewirkt haben, denn der Junge war berühmt für schnelle Siege, doch vor zwei Tagen, als er seinen Kampf wieder mit Donnergebrüll einleitete, war es das letzte Mal für ihn gewesen, denn die Haltevorrichtung hatte versagt, und nun reiste der Wrestler in einem Sarg im Laderaum unserer Maschine nach Calgary und seine Mannschaftskollegen begleiteten ihn. Die Nachrichten von dem Unglück werden immer wieder eingeblendet, und am nächsten Tag ist zu sehen, wie der Verunglückte mit großem Pomp beigesetzt wird. Zahlreichen Stretchlimousinen entsteigen immer erstaunlichere Exemplare männlicher Kraftmeier, die in abenteuerlichen Verkleidungen ihrem Freund die letzte Ehre erweisen. Ihre Frauen haben durchweg ihre Vorbilder bei den hochgeföhnten Frauen in den Serien ›Dallas‹ oder ›Denver‹ gefunden, und schon beim Zuschauen spürt man die Konkurrenz zwischen ihnen. Anrührend allein die junge Witwe. Blond und zart, in strenges Schwarz gekleidet, hält sie zwei kleine Blondschöpfe an der Hand. Alle drei verschwinden immer wieder zwischen den sie fürsorglich umgebenden Recken. Doch die Kamera zeigt unbeirrt groß das Gesicht der Frau, ihren verzogenen Mund. Sie weint nicht, niemand kann ihr kondolieren; ihre Hände umschließen stets die der Kinder, die sich ratlos an die Mutter drängen.

Ich bin nervös, unzufrieden mit mir. Warum habe ich diese Wrestler-Bilder heute noch im Kopf? Will ich von der Sinnlosigkeit solcher Berufe erzählen, in denen Menschen sich zu lächerlichen Ungeheuern entwickeln, die aus Freude am Geld oder am Triumph andere wie einen seelenlosen Haufen Fleisch behandeln und am Ende doch draufzahlen? Wer zahlt den höheren Preis – der Tote oder seine junge Familie? Oder will ich von den Sehnsüchten einer frustrierten Ehefrau erzählen, die sich einen brüllenden Catcher wünscht anstelle ihres schwächlichen Büroleiters, der hilflos von seiner Tapferkeit im Job erzählt, um ihr zu imponieren? Ich bin mutlos, werfe meine Skizzen in den Papierkorb und höre erleichtert, dass das Telefon schellt. Wer auch immer anruft, alles ist besser als dieser Frust an der Schreibmaschine. Ich renne in den Flur, wo unser Telefon steht, und dann sagt eine Männerstimme, dass er Fassbinder heiße und ob ich Asta Scheib sei.

Ich sitze ziemlich oft an der Schreibmaschine und wundere mich, wie weit der Weg vom Kopf aufs Papier ist, so weit, dass mir das Geschriebene zuweilen fremd erscheint, unwichtig, uninspiriert. Aber manchmal bin ich auch zufrieden, denke, das kann erst einmal so stehen bleiben, muss zumindest nicht gleich in den Papierkorb. So war das bei der Geschichte, die ich ›Angst vor der Angst‹ genannt habe, ein Titel, den ich zwischen Tür und Angel fand, er war da, er stimmte, er blieb. Obwohl ich mich gern hinter einer Freundin verstecke, ist es zum Teil meine Geschichte, die ich da aufgeschrieben habe, ihre und meine, also es ist unsere Geschichte. Sie handelt von der Mutter eines kleinen Kindes, die keinen Namen findet für ihre Angst, die sie oft überfällt, ganz unvermittelt, aber nicht spontan wieder verschwindet. Die Angst lähmt, nimmt die Freude am Tag, am Kind, am Mann. Was die Frau auch tut dagegen, der Angst davonlaufen zum Beispiel, oder davonschwimmen, sie lässt sich nicht abschütteln. Als sie sich so vor sich fürchtet, dass sie um das Leben ihres Kindes bangt, geht sie zum Arzt. Er weist sie sofort in die geschlossene Abteilung einer psychiatrischen Klinik ein. Dort wird sie auch geheilt, aber nicht ganz ...

Eines Tages zeige ich diese Geschichte einem Freund, der sich für meine Arbeit, die ich sonst unter Verschluss halte, interessiert – Hans Christoph Blumenberg, Filmkritiker bei der ›Zeit‹, und er gibt den Text nach Lektüre dem Filmregisseur Rainer Werner Fassbinder. Jetzt ruft der mich an und sagt, er wolle die Geschichte ›Angst vor der Angst‹ verfilmen, ein Sender, der mitproduziere, sei auch schon gefunden! Niemals habe ich davon zu träumen gewagt, und es dauert etwas, bis ich seine Worte begreife. Doch dann tanze ich mit dem Manuskript in meinem Haus herum.

Bald darauf ruft mich eine liebenswürdige Dame vom Westdeutschen Rundfunk an, Frau von Schönermarck. Sie betreue das Projekt und hätte noch ein paar Fragen. Dann läßt mich ein ebenso kultivierter Herr namens Peter Märthesheimer wissen, dass ich demnächst zu den Dreharbeiten in Köln eingeladen würde. Ob ich Zeit und Lust dazu hätte. Das Projekt Fernsehspiel ›Angst vor der Angst‹ ist fest eingeplant. Für die Dreharbeiten sind fünfundzwanzig Tage angesetzt, und zwar von April bis Mai 1975.Regie Rainer Werner Fassbinder, Buch ebenfalls RWF nach einer Idee von Asta Scheib. Das leuchtete mir nicht völlig ein, denn Fassbinder hatte die Geschichte und vor allem meine Dialoge nahtlos adaptiert. Und dann nur »nach einer Idee«?

Ich muss zugeben, dass ich nicht ganz unschuldig daran bin, nicht zu gleichen Teilen am Drehbuch beteiligt gewesen zu sein. Fassbinder hat mir angeboten, mit in die USA zu kommen, um gemeinsam mit ihm das Drehbuch zu schreiben. »Sie sind begabt, ich mache eine klasse Drehbuchautorin aus Ihnen.« Ich bin ratlos. Einerseits wäre ich liebend gerne mit in die USA gereist, andererseits wollen meine Söhne, zehn und acht Jahre alt, nicht alleine zurückbleiben. Ihre Mutter in Amerika? Sie sind daran gewöhnt, dass ich daheim bin und dort arbeite, höchstens einmal für zwei Tage für meine Hamburger Redaktion verreise. Also bleibe ich daheim und lasse mich als Verzichtsmutter feiern. In Wahrheit habe ich auch ziemlich viel Beklemmung bei dem Gedanken, mit Fassbinder, der dem Vernehmen nach stets in verwegenen Horden auftritt, in die Staaten zu reisen. Was weiß ich von Fassbinder? Sofort nach seinem Anruf beginne ich Hans Christoph Blumenberg so ausführlich über ihn auszufragen, dass der sich verweigert und verspricht, mir demnächst alles zu schicken, was er Gedrucktes über Fassbinder gesammelt hat.

Fotos von ihm habe ich in Zeitschriften gesehen. Darauf wirkt er fremdländisch, slawisch, mal mehr oder weniger sympathisch. Wir telefonieren gelegentlich, denn die Presse beginnt bereits, sich seines neuen Projekts anzunehmen. Fotografen kommen. Journalisten. Ich kenne die Branche, bin selbst darauf angewiesen, dass interessante Leute mich zum Interview empfangen. Also bin ich auch hilfsbereit, gebe geduldig Auskunft. Ärgerlich ist nur der Anruf einer Hamburger Illustrierten. Ein arroganter Typ fragt mich, was ich denn so mache in der Provinz mit zwei Kindern. Ob ich am Ende Hausfrau sei. Na klar, belle ich wütend, na klar bin ich Hausfrau, was denn sonst! Als sein kleiner nichtssagender Artikel erscheint, in dem er mich als Hausfrau aus der Provinz verkauft, fragen mich Freunde, wie der zu dieser Frechheit komme, ich solle mich wehren, schließlich sei ich Journalistin. Ich denke gar nicht daran, mit dem noch einmal zu reden, aber ich nehme mir für die Zukunft vor, am Telefon keine Auskunft mehr zu geben.

Andere Anrufer meinen es gut mit mir. Männliche und weibliche. Sie warnen mich vor Fassbinder, weil der ein brutaler Menschenverächter und Ausbeuter sei. Seine Leute kaputt mache. Einer fragt nächtens, ob ich wisse, dass Fassbinder eine schwule Sau sei, dass er sich in den härtesten Sado-Maso-Bars und Darkrooms von San Francisco und Los Angeles herumtreibe. Dass er nie genug kriege vom Sex. Und das mit Männern, aber auch mit Frauen. Bin ich mit den Kindern beim Einkaufen, tuscheln die Leute. Im Sommerbad auch: »Das ist sie, das ist sie.« Auch in der kleinen fränkischen Stadt, in der ich lebe, ist Fassbinder ein Begriff. So oder so.

Zunächst gefällt mir meine kleine Berühmtheit. Auch wenn ich das im Grund lächerlich finde. Aber ich mag es doch, in der Boutique von der Inhaberin bedient zu werden. Ich gestehe ihr, dass ich es hasse, Kleider in engen Kabinen anzuprobieren. Sie schickt mir am Abend alles vorbei, was Gnade vor meinen Augen gefunden hat. In der Metzgerei spricht mich die sonst eher mürrische Verkäuferin sofort auf die Fassbinder-Geschichte an, damit alle anderen Kunden wissen, dass ich es bin, die bei ihr einkauft. Zu jeder ernst zu nehmenden Party in der Stadt werde ich eingeladen: »Das ist Asta Scheib. Sie schreibt für Rainer Werner Fassbinder.«

Natürlich bin ich alles dessen rasch überdrüssig. Vor allem Fotografen, die immer wieder Fotos am Schreibtisch, am Kochtopf und am Pool von mir wollen, langweilen mich. Vielmehr mache ich mir Gedanken darüber, was Fassbinder aus meinem Stoff machen wird. Immerhin ist der Text in Zeiten entstanden, in denen es mir nicht geheuer war in meiner Haut. Wo ich plötzlich das Leben nicht mehr aushielt und unvermittelt aus dem Haus rannte, die Kinder im Rauslaufen bat, lieb zu sein, nichts anzustellen. Dann kurvte ich mit dem schweren Wagen herum, fuhr auf die Autobahn nach Würzburg, raste auf der Überholspur, alle Konzentration auf Kuppeln, Schalten, Gasgeben, nur weg, raus aus der Tiefe meiner Trauer. Die Kinder! Ich muss zurück. Sie hocken in der Diele, Blick auf die Tür. Ich nehme mich zusammen, suche mein Zittern, das Flattern meiner Hände zu verbergen. Wollen wir zum Schwimmen gehen, ja? Sie holen ihre Sachen, stumm, beklommen. Wir schwimmen um die Wette, früher ließ ich sie lachend gewinnen, jetzt schwimme ich verbissen, stumpf, bis zur totalen Erschöpfung.

Glücklicherweise kommen diese Verdüsterungen meiner Seele immer seltener vor, vielleicht hat es mir auch geholfen, mich schreibend damit zu beschäftigen. Von Fassbinder weiß man, dass er pausenlos arbeitet, am Theater inszeniert, bei befreundeten Regisseuren als Schauspieler mitmacht, und vor allem Filme am laufenden Band produziert.

Zumindest einige davon kenne ich. Mein erster Fassbinder-Film war ›Liebe ist kälter als der Tod‹. Ich habe ihn 1969 in Berlin gesehen, als ich wieder einmal meine Tante Hete besuchte, die eher meine ältere Freundin ist. Sie wohnt großbürgerlich in Dahlem, interessiert sich vor allem für Opern und Jazzkonzerte, aber Theater und Kino sind durchaus auch interessant für sie. Mit ihr bin ich im Musical ›Hair‹ gewesen, von dem sie begeistert war. Und sie hat auch die Kinokarten für den Fassbinder-Film besorgt. Sie bleibt stumm während der Aufführung. Nachher fragt sie mich, wie mir der Film gefallen habe. Ich bin noch etwas verwirrt. Einen solchen Film habe ich noch nie gesehen. Er erzählt die Geschichte eines Möchtegernganoven, eines kleinen Zuhälters und seiner Amateurnutte. Lapidar, fast ungelenk. Die Schauspieler bewegen sich müde und manchmal lasziv, dann wieder scheinen sie opernhaft pompös, passend zu der kryptischen Philosophie der Dialoge.

Wieder fragt mich Hete, was ich zu dem Film sage. Ich versuche, ihr meine Eindrücke zu schildern, doch sie schüttelt den Kopf. »Bei aller Liebe, aber das ist ein Quatsch mit Soße, und dann auch noch ungeschickt stilisiert. Kann ich nicht mal drüber lachen.«

Ich gebe viel auf Hetes Urteil. Sie ist kultiviert und künstlerisch wach, vor allem für Neues, obwohl sie schon auf die Sechzig zugeht. Aber ihre Ablehnung kann ich diesmal nicht teilen. Oder nicht ganz. Dieser Film ist anders als alle, die ich bisher gesehen habe. Der Inhalt ist eigentlich naiv, auch diese kindliche Schießerei, doch Hanna Schygulla als Amateurnutte, Rainer Werner Fassbinder, der den miesen Zuhälter spielt, Ingrid Caven, Ulli Lommel, immer wieder stolzieren sie in meinem Kopf herum mit ihren langsamen eckigen Bewegungen, der theatralischen Mimik. All das Unbeholfene, Hölzerne, Hilflose spüre ich oft auch in mir.

Noch im selben Jahr sehe ich den nächsten Film von Fassbinder, ›Katzelmacher‹, wieder mit Hanna Schygulla, wieder spielt RWF eine Rolle, und zwar die des Jorgos, war also selber »der Griech«, der aus dumpfem Fremdenhass zusammengeschlagen und ausgebeutet wird. Wieder bin ich beeindruckt. Es ist von mir die Rede, von dem jungen Mädchen, das ich einmal war, von den Freunden, die ich hatte. Von unserer Sprachlosigkeit untereinander. Und wenn wir reden, dann suchen auch wir andere zu verletzen oder arrogant über sie zu urteilen. Man hängt tatenlos herum, sitzt in Grüppchen in Kneipen, man donnert sich auf, macht sich über die anderen lustig und weiß genau, dass die auch über unsereins tratschen. In diesem Film fühlte ich mich in meine Jugendzeit zurückversetzt, in die kleine enge Welt, die Deutschland in den Fünfzigern für mich bereithielt, und ich beneide Hanna Schygulla noch nachträglich um ihre knappen Miniröcke, die frechen Locken und die Coolness, die sie zur Schau trägt. Selbst dazu hat mir der Mut gefehlt.

Im darauffolgenden Jahr bekommt Fassbinder für beide Filme Bundesfilmpreise.

Der schönste Fassbinder-Film aber ist für mich ›Effi Briest‹ nach dem Roman von Theodor Fontane, meinem Ein und Alles in der deutschen Literatur. Schon in der Schulzeit habe ich gelernt, Theodor Fontane zu lieben, seine unverwechselbare Sprache, seine hinreißenden Geschichten voller Charme und Klarsicht. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie Fassbinder mit seinen betont kargen Bildern und Dialogen diesem Stoff, der immerhin Weltliteratur ist, gerecht werden wollte. Und dann sehe ich den schönsten Film, den ich bisher vor Augen hatte. Fassbinder ist der Erzähler, der mit einer samtenen Stimme durch die Szenen führt. Überraschend, weil noch nie gesehen, sind für mich die Weißblenden, die Bilder wie in Kreidetechnik zeigen, gnadenlos und doch wunderbar weich. Nirgendwo in dem Film muss man den Roman suchen, Fassbinder hält sich strikt an seine Vorlage, respektiert Fontane, folgt der Chronologie seiner Handlung. Für mich besteht kein Zweifel, Fassbinder hat eine Hommage an Theodor Fontane gefilmt, er muss sich dem Dichter nahe fühlen, unbedingt. In ›Effi Briest‹ begreift man, wie unfrei Frauen dieser Zeit sind, wie die freche, lustige Effi im Laufe ihrer Ehe eingeengt wird, sie lebt in dem berühmten goldenen Käfig, in den damals herrschenden gesellschaftlichen Normen. Um das sichtbar zu machen, geht die Kamera großzügig um mit raffinierten Spiegeleffekten, wir schauen durch schöne Gitter, lugen durch Vorhänge und leiden mit Effi, die einmal nur ausbricht aus der Enge ihres Daseins und dafür mit allem bezahlen muss, was ihr Leben ausgemacht hat. Hanna Schygulla ist unglaublich beeindruckend. Sie hat nichts mehr von der pampigen Vorstadtbraut mit dem kleinen Horizont. Ihre Effi ist schön, elegant und geheimnisvoll. Sie weiß, dass sie unterdrückt wird, doch sie zahlt es mit subtilen Mitteln heim, bleibt immer souverän, auch wenn sie am Ende verliert. Seit seiner ›Effi Briest‹ bin ich mir sicher, dass Fassbinder einiges von Frauen begriffen hat, dass er sich für sie interessiert, dass er vielleicht an ihnen leidet, dass er sie vielleicht aus einer Hilflosigkeit heraus schlägt, ausbeutet oder sonst wie schlecht behandelt. Mit Männern tut er ja angeblich dasselbe. Seine Sehnsucht nach Liebe, seine Verachtung oder sein Hass ist jedenfalls nicht geschlechtsspezifisch. Vielleicht ist er unfähig, zu lieben, weil er unfähig ist, Liebe, die ihm entgegengebracht wird, zu erkennen, und daher verzweifelt sicher ist, in Wahrheit nicht geliebt zu werden.

Ende April 1975 fliege ich nach Köln. Schon im Flugzeug höre ich die vertraute rheinische Sprache, in der Ankunftshalle mehrt sich der fröhliche Singsang. Heute ist es schön warm in meiner Heimat. Ich trage zu meinem weißen Rock lediglich ein T-Shirt, der leichte Mantel wird rasch in der Reisetasche verstaut. Ich werde von Peter Märthesheimer erwartet, dem Produzenten des WDR.

Da fällt mir ein, dass ich schon einmal in meinem Leben einen Produzenten kennen gelernt habe. Auch einen Filmproduzenten. Ich bin damals ungefähr sechzehn gewesen, meine Freundin Ulla ein paar Monate älter. Ulla hat ziemlich gut ausgesehen, glaube ich, mit zierlicher Nase und tiefdunklen Augen und keinem einzigen Pickel. In der Milchbar in Gummersbach hat sie den Filmproduzenten kennen gelernt, steht später in unserer ›Oberbergischen Zeitung‹. Keiner von uns hat etwas gewusst. Heute glaube ich mich zu erinnern, dass Ulla plötzlich so ein komisches Lächeln im Gesicht hatte und häufig die Schule schwänzte. Dann erschien ein großer Artikel mit einem Bild von Ulla in unserer Zeitung. Und das sehe ich heute noch ganz genau: Ulla hat die Hände gefaltet wie beim Beten, die Haare sind offen. Sie hat den Künstlernamen Fatima angenommen. Warum Fatima, fragen wir, du bist doch nicht katholisch oder heilig, doch sie zuckt die Achseln. So heißt man eben, wenn man Filmschauspielerin wird. Ulla spielt die Hauptrolle in einem Film! Und dann verdient sie viel Geld und kann sich die Schule schenken. Das glaube ich sofort. Meine Tante Hete hatte mir in Berlin alte Villen am Tiergarten gezeigt, wo früher berühmte Schauspielerinnen wohnten. Diven, millionenschwer, sagte Tante Hete. Vielleicht wird Ulla auch millionenschwer, überlege ich.

Doch bei ihr läuft das anders. Ihr Vater verkauft seine Grundstücke und sogar das schöne große Haus der Familie, er müsse vorfinanzieren, hat ihm der Produzent gesagt, und er werde am Einspielergebnis beteiligt und könne sich nach der Auswertung des Films weit größere Grundstücke und Häuser kaufen. Doch leider ist es dazu nie gekommen. Ulla hat den Künstlernamen Fatima wieder abgelegt, weil der Film nie realisiert wurde. Ihr Vater hat nur Spott geerntet, die ganze Stadt hat sich über ihn lustig gemacht, weil er jetzt am Hackenberg zur Miete wohnte und auch noch Schulden hatte. Ulla ist wieder jeden Tag in die Schule gekommen und ziemlich kiebig geworden, wenn einer auch nur den Namen Fatima in den Mund nahm.

Gut, dass der Produzent, mit dem ich es gleich zu tun haben werde, sein Geld vom WDR kriegt.

Dann steht er vor mir in einem hellen Trenchcoat und freundlichen, intelligenten Augen hinter einer modischen Brille. Er scheint in meinem Alter zu sein, vielleicht ein paar Takte älter, wirkt intellektuell und leicht überrascht, was mich auf der Stelle irritiert. Was oder wen hat er erwartet? Ich bin wütend auf mich, weil ich so leicht zu verunsichern bin.

Auf der Fahrt mit dem Taxi durch Köln nimmt mich die Stadt meiner Kinderträume gefangen. Das lenkt mich ab. Ich rede rheinisch mit dem Taxifahrer, und auf seine Frage berichte ich Märthesheimer, dass ich im Oberbergischen Land geboren bin, das heute zum Freizeitambiente vieler Kölner geworden ist. Für mich war die Domstadt von Kindesbeinen an das Tor zu dem großen, unbekannten, aber mit Gewissheit bunten Leben, das auf mich wartete. Hohe Straße, Schildergasse, erste Zigarette, Omas Schnapshaus, der Tanzbrunnen, Pumps, Cocktailkleid. Und schließlich die Stadt, in der ich meinen leiblichen Vater zum ersten und einzigen Mal sah.

Im Hotel warten ein paar Fotografen, ich hole meinen Schlüssel und gehe aufs Zimmer, um meine Tasche loszuwerden und die Hände zu waschen. Schon sehne ich mich nach meinen Söhnen, die heute bei Christiane übernachten. Ihr Sohn Jan ist der Freund meiner Kinder. Hoffentlich sind Christiane die drei einfallsreichen Buben nicht zuviel. Sie sind oft leichtsinnig, man kennt uns schon in der Ambulanz des kleinen Krankenhauses. Ach ja. Es ist immer dasselbe mit mir: Ich möchte unbedingt arbeiten, ich schreibe für zwei Zeitungen, muss manchmal verreisen, um zu recherchieren. Dann brauche ich jemanden, der die Kinder betreut. Und immer habe ich dieses verdammte schlechte Gewissen. Warum genügt es mir nicht, die Kinder und das Haus zu versorgen, unsere Gäste zu bewirten, meinem Mann den Rücken freizuhalten für seinen Beruf? Immer dieselben Fragen. Dieselbe Antwort: Ich will meine eigene Arbeit machen, die Beobachtungen und Mutmaßungen aus meinem Kopf herauslassen, will kreativ sein. Das, was man in Deutschland so verächtlich eine Hausfrau nennt, womit auch der Hamburger Journalist mich herabsetzen will, bin ich keinen Tag lang gewesen. Ich habe sehr früh mit dem Schreiben Geld verdient. Die erste Tat in meiner Ehe ist die Suche nach einer Haushaltshilfe gewesen, die ich von meinen Honoraren selber bezahle. Meine Zugeherinnen sind immer Frauen mit kleinen Kindern, die mitgebracht werden dürfen, was mir sehr wichtig ist.

Das Telefon schreckt mich auf. Ich soll hinunterkommen. Wir wollen gleich zum Drehort. Fassbinder wird am Set sein.

Dieser Drehort, eine spießige Dreizimmerwohnung, ist vollgestellt mit ziemlich schauerlichen Möbeln Marke Eiche altdeutsch. Es fällt nicht schwer zu begreifen, dass eine junge Frau, die in den Möbeln der Schwiegermutter lebt, nichts Eigenes hat, hier in eine Krise geraten kann. Margot ist sehr allein. Zwar ist sie mit Kurt verheiratet, aber eine Ehe führt sie nicht mit ihm. Er interessiert sich für seine Musik, zu Margot ist er bloß freundlich. Schwiegermutter und Schwägerin weisen ihr jeden Tag nach, dass auch die kleine Bibi, Margots Kind, sie nicht wirklich braucht. So ist Margot hilflos, als plötzlich, an einem schönen Frühlingstag, die Angst sie überfällt, eine namenlose Angst, die ›Angst vor der Angst‹, die sie niemandem beschreiben kann, deren Ursache sie nicht kennt ...

Das Team ist schon da. Schauspieler, Beleuchter, Bühnenarbeiter. Ich sehe Ulrich Faulhaber (Kurt), Irm Hermann (Lore), Armin Meier (Karli), Adrian Hoven als Dr.Merck, Herbert Steinmetz als Dr.Auer, Hark Bohm ist der Nervenarzt und Kurt Raab der Nachbar Herr Bauer. Margit Carstensen, die Margot spielt, kommt auf mich zu, lächelt. »Alle hier sind sehr überrascht. Wir haben Sie uns völlig anders vorgestellt.« – »Und wie?«, frage ich, denn ich verstehe nicht, was sie meint. Ich höre, dass alle gedacht hätten, die Autorin eines solchen Films müsse eine ältere, etwas dickliche, auf jeden Fall aber psychologisch erfahrene Frau sein. Und dann käme ich daher.

Aha. Aber wie kommen sie auf solche Ideen? Mir fällt nichts ein, was ich in das lächelnde Gesicht vor mir sagen könnte. Soll ich Margit Carstensen gestehen, dass ich mir meine Margot auch völlig anders vorgestellt habe – nämlich wie Hanna Schygulla? Am Telefon schon habe ich Fassbinder gesagt, dass ich die Schygulla für die Hauptrolle vorschlagen möchte. Ihr würde man die Sprachlosigkeit, diese Mischung aus Anspruch und absoluter Hilflosigkeit, abnehmen. Fassbinder erklärte mir, dass Hanna Schygulla erstens in Indien sei, und zweitens habe er im Moment keine Lust, mit ihr zu arbeiten. Das sagte er so ganz nebenbei, leise, aber mir war klar, dass dazu keine Fragen erwünscht waren.

Als hätte ich ihn herbeigedacht, steht er plötzlich vor mir, eine Zigarette in der Hand. Er sieht völlig anders aus, als ich ihn mir vorgestellt habe – also ziemlich zerknautscht und duster, leicht pummelig, wie ich ihn von Fotos kenne. Nichts davon stimmt. Fassbinder ist geradezu schlank, hat nur wenig Bart in einem hellen Jungengesicht, er trägt ein leichtes, aufgeknöpftes Strickhemd, in dessen beiden Taschen sich Zigarettenpackungen abzeichnen. Er wirkt auf eine müde Art glücklich. Während er ruhig, beherrscht, geduldig und freundschaftlich seine Regieanweisungen gibt – »kannst du, möchtest du, bitte stell dir vor«–, sehe ich immer wieder dieses Lächeln auf seinem Gesicht, das gar nicht zu Fassbinders Image passt. Noch kurz vor meiner Abreise glaubte mich ein Schauspieler vor Fassbinders Grobheit und sexuellen Obsessionen warnen zu müssen.

Höflich begrüßt Fassbinder mich, bedankt sich, dass ich hergekommen bin. Er möchte wissen, ob die Atmosphäre am Set meinen Vorstellungen nahe komme, ob die Schauspieler meinen Protagonisten adäquat seien, ob ich mir die Wohnung von Margot und Kurt so vorgestellt habe und so weiter.

Was soll ich zu ihm sagen?

Vielleicht, dass meine Großmutter Marie Vasbinder heißt und genau wie seine Familie aus dem Kölner Raum stammt? Ich sehe in das flächige Mongolengesicht vor mir, das so aussieht wie kein anderes. Fassbinder hat hundert Jahre alte Augen, eine große fleischige Nase, eine sinnliche Unterlippe. Obwohl ich das alles sehe, habe ich das merkwürdige Gefühl, mit meinen Augen dieses Gesicht nicht erfassen zu können, ja, das ist es, dieses Gesicht ist zuviel für mich, es bewegt mich tief, ich könnte weinen bei seinem Anblick, und das erlaube ich keinem Gesicht, dass es mich zum Heulen bringt. So bleibt auch Fassbinder mir fremd, obwohl ich mich so sehr für ihn interessiere.

Er soll von mir nicht hören, dass Frau Carstensen eine viel zu künstliche Ausstrahlung hat, um meine Margot glaubwürdig zu verkörpern. Als Petra von Kant war sie die preziöse und prätentiöse Komplizierte, die mit Schreikrämpfen und sehr viel Gin ihre Ansprüche an das Leben durchzusetzen sucht. Geradezu eine Paraderolle für die Carstensen. Auch in ›Nora Helmer‹ oder ›Martha‹ fand ich sie unverwechselbar. Aber »meine« Margot ist sie nicht. Kann sie nicht sein. Trotzdem kriege ich es nicht fertig, Fassbinder das zu sagen.

Dieser Mann ist Ende Zwanzig, hat bereits fünfundzwanzig Filme gedreht. Fünfundzwanzig! Und das in ungefähr neun Jahren! Dazu zwölf Theaterstücke, vier Hörspiele, Filmtexte und Essays. Er ist nur fünf Jahre jünger als ich, und ich komme mir neben ihm mutlos vor und uralt. Ja, so ist es, an ihm gemessen habe ich mein Leben verschlafen. Viel zu lange habe ich mich von Müttern, Großmüttern, Onkeln, Tanten und Lehrern in deren Welt gefangen halten lassen. Obwohl ich schon sehr früh wusste, dass es nicht meine Welt war.

Fassbinder besuchte die Schauspielschule, fiel bei der Prüfung durch, ließ sich davon aber keineswegs entmutigen. Er übernahm Statistenrollen beim Theater, kleine Rollen in Filmen, er schrieb Gedichte, Erzählungen, Hörspiele. Begann kleine Filme zu produzieren. Hat Schulden. Findet Leute, die ihm seine ersten Kurzfilme finanzieren. Dann beginnt er, sich sein eigenes Ensemble aufzubauen. Er lebt von der Hand in den Mund, aber er träumt immer nur den einen Traum vom Filmemachen.

Was habe ich dagegen gewagt? In meinem Elternhaus galt Schuldenmachen als Versagen. Sicherheit ging über alles. Hätte ich ein so schonungsloses, knallhartes Dasein überhaupt ausgehalten? Ich mache mir da keine Illusionen. Von Fassbinder und seiner kompromisslosen Energie bin ich weit entfernt. So jung wie er ist, ist er schon heute ein Phänomen. Ich beneide ihn. Auch wenn ich mich frage, ob es ihm gut geht, wenn er immer zwei Dinge auf einmal tut.

Er hat für seine Arbeit jede Menge Preise bekommen. Aber auch Schmähungen noch und noch. Der vielgelesene Münchner Journalist Sigi Sommer schreibt in einer seiner Kolumnen über Fassbinder: »Das einzige, was er auszudrücken hat, sind seine Mitesser im Gesicht.« Andere Münchner Zeitungen schreiben gern Schauergeschichten über den »hässlichen Jungfilmer«, der in den Kneipen säuft, es mit Männern treibt und sein Filmteam schikaniert und ausbeutet. Ich glaube, ich würde vor Scham eingehen, wenn über mich derart negativ berichtet würde.

Außerdem – ich sehe keine Mitesser in Fassbinders Gesicht. Vielleicht ein paar kleine Narben in der Haut an den Wangen. Sigi Sommer ist zwar ein Münchner Original, einer, der Leute beobachtet und witzig über sie schreibt – aber vom neuen deutschen Autorenfilm hat er ganz offensichtlich keine Ahnung. Wahrscheinlich kennt er Fassbinder nicht einmal. Und damit auch nicht seine Arbeitsweise. Dass er zum Beispiel sein Filmteam schikaniert, scheint mir schiere Erfindung. Das glaube ich nach zwei Tagen Beobachtung sagen zu können. Auch der Produktionsleiter des WDR, Fred Ilgner, der schon vier Fassbinderfilme betreut hat, sieht das so: »Es ist auffallend, dass diesem Regisseur seine Arbeit Spaß macht. Er arbeitet ganz einfach professionell, verlangt das auch von den anderen Teammitgliedern. Schon in seinen Drehbüchern gibt es eine genaue linke Seite, auf der steht, was der Zuschauer sieht, also Drehort, Kameraeinstellung und so weiter. Rechts steht das, was der Zuschauer hört, also die Dialoge etc. Bei Fassbinder ist genau aufgeschrieben, wie der Film später aussehen soll.

Der Ausstatter und ich haben die ziemlich schwere Aufgabe, Drehorte zu finden, die dem Buch entsprechen. Fassbinder verlässt sich da voll auf uns. Wenn wir nun aus Kostengründen Kompromisse machen müssen, improvisieren, uns anpassen, ist Fassbinder einfach grandios. Er knurrt zwar und brummt, doch dann hockt er sich in eine Ecke und tictictic baut er sich seine ursprüngliche Vorstellung um. Fassbinder ist immer bereit, eine vernünftige Lösung zu suchen, und das ist dann eine kostengünstige Lösung. Darauf achtet er sehr, auch wenn das Geld vom WDR kommt. Da er aber oft selber produziert, weiß er, was Filme kosten. Es macht ihm unheimlichen Spaß, wenn ihm für ein bestimmtes ästhetisches Problem eine möglichst einfache, einleuchtende Lösung eingefallen ist. Schauspieler, die zum ersten Mal mit Fassbinder arbeiten, wundern sich oft, weil sie eine so ausgeprägt ökonomische Arbeit von keinem anderen gewöhnt sind. Sie machen dabei gern mit, weil sie wissen, dass ihre Arbeitskraft respektiert wird. Ich glaube, es macht Fassbinder auch Spaß, bei neuen Leuten den Eindruck zu erwecken, dass er zum Fürchten sei. Aber man kann sehr schnell durchschauen, dass er im Grunde nur gerne geliebt werden will, wie jeder Mensch. Aber bei ihm ist das besonders ausgeprägt.«

Und woher kommen dann die Gerüchte um Fassbinder?

Ilgner: »Also erstens: Vielleicht war er früher ja mal anders und hat sich mittlerweile gemausert. Und zweitens: Ich stelle mir manchmal vor, dass Fassbinder heimlich ein Büro unterhält, das ständig furchtbare Sachen über ihn ausstreuen muss, damit die Leute, wenn sie ihn treffen, sich freuen, dass er ganz anders ist.«

Eines scheint sicher: Fassbinder hat darum gekämpft, dass man ihn kennt. Seine enorme Begabung stellt jedenfalls niemand in Frage, auch wenn man ihn gelegentlich, wie der ›Spiegel‹ zum Beispiel, den »Buhmann des Kulturbetriebs« nennt. Vielleicht erweckt er tatsächlich manchmal den Eindruck, als sei er zum Fürchten.

Eine Woche später treffe ich Fassbinder in München, um den Vertrag zu unterschreiben. Danach habe ich eine Verabredung mit einem Makler. Er soll für mich und meine Söhne hier in München eine Wohnung suchen. Ich träume das nicht länger, ich schaffe Tatsachen. Die Kinder sind einverstanden, auch wenn sie Abschied nehmen müssen von der geliebten Höll’, dem Waldstück unterhalb unseres Hauses, in dem sie ihr Paradies haben. Abschied auch von vielen Freunden. So wie ich. Aber ich bin erwachsen, der Plan ist meiner, nicht ihrer. Doch sie sind solidarisch, vertrauen mir. Ohne sie wäre ich ein Nichts.

Ich schiebe eine Kassette mit Beatle-Songs ins Autoradio ein und singe mit: Hey Jude, don’t make it bad, take a sad song and make it better ... dann: Lucy in the sky with diamonds ... und, ganz laut, We all live in a yellow submarine ... Ich fühle noch die Energie Fassbinders in mir (»Sie haben Talent, Sie können schreiben, arbeiten Sie bloß weiter!«), ich weiß, wenn ich jetzt nicht in eine andere Richtung gehe, werde ich es nie mehr tun ...

Unweit des Friedensengels, an dem ich mich orientiert habe, sehe ich die Villa Stuck, fahre am Prinzregentenbad vorbei in die Possartstraße und finde dann rasch die Wohnung Lilo Eder-Fassbinders. Sie spielt in ›Angst vor der Angst‹ eine Ärztin, und ich bin mit ihr und Brigitte Mira während einer Drehpause zum Kaffeetrinken gegangen. Brigitte Mira berichtete mir, dass sie Fassbinder alles verdanke. »Was hab ich für ein Glück, dass Rainer auf mich aufmerksam geworden ist. Bei ihm krieg ich endlich ernsthafte Rollen. Wenn er nicht wäre, säße ich auf dem Abstellgleis.« Lilo Eder bemerkte sarkastisch, dass ihr Sohn zu Brigitte Mira viel liebenswürdiger sei als zu seiner Mutter. »Wenn er mich anmeckert und ich ihm vorhalte, dass er Brigitte ständig lobt, sagt er: ›Sie ist eben eine Gelernte.‹« Damit meint Fassbinder, dass Brigitte Mira vom Theater kommt und seine Mutter nicht. Trotzdem hat sie in einigen seiner Filme kleine Rollen, zum Beispiel in ›Warum läuft Herr R.Amok?‹ und ›Effi Briest‹. Sie spielt unter dem Namen Lilo Pempeit, ihrem Mädchennamen. Ich fand sie am Drehort sehr wach, sehr präzise. Sie tut schlicht, was der Regisseur anordnet.

Die Possartstraße gefällt mir gut. Schöne alte Bürgerhäuser, die altmodisch solide wirken, fast Gemütlichkeit verbreiten. Vielleicht findet der Makler so ein Zuhause auch für meine Söhne und mich.

Als Lilo Eder mir die Türe öffnet, bin ich wieder verblüfft, wie ähnlich sie ihrem Sohn ist. Oder er ihr. Vor allem der Schnitt der Augen ist identisch, die Melancholie, die auch beim Lächeln bleibt. Aus dem Hintergrund des Flurs taucht Fassbinder auf, sein Gesicht noch verschattet, aber sichtbar freundlich. Flüsternd begrüßt er mich, bittet uns, leise zu sein. »Armin schläft, aber später wird er uns Steaks braten, das kann er ganz wunderbar.« Das Letzte sagt er zu mir gewendet, seine Augen leuchten, er wirkt wie ein glücklicher Bräutigam. Ich kenne den gutaussehenden, grünäugigen Armin Meier, er spielt in ›Angst vor der Angst‹ den Karli und ist mir so sympathisch, dass ich die Rolle gerne größer geschrieben hätte. Und jetzt begreife ich erst, was am Set so nebenbei erwähnt wurde: Fassbinder und Armin sind ein Paar. Es heißt, dass Fassbinder sich häufig verliebt. In Männer oder auch in Frauen. Er hat sogar geheiratet. 1970 ist das gewesen, und 1972 hat er sich von Ingrid Caven, die ihn ohnehin mit Liebhabern teilen musste, wieder getrennt. Seitdem zog er es vor, sich immer wieder mit neuen Männern zu liieren. Und wahrscheinlich bezieht er aus dieser ständigen Verliebtheit seine Energie und Kreativität.

Wieder bin ich schüchtern und verlegen. Es ist einmal mehr diese Mischung aus Respekt, Bewunderung und Distanz, die mich verunsichert und wortkarg macht. Außerdem– Fassbinder beobachtet mich. Das ist mir schon in Köln aufgefallen. Wenn ich mit jemandem vom Team geredet habe, spürte ich plötzlich, dass er mich ansieht. Ich weiß aber nicht, was ihn an mir interessiert. Meine Weiblichkeit kann es kaum sein, er ist ja in Armin verliebt wie Don Quichotte in seine Dulcinea. Er wird auch nicht müde, die Vorzüge Armins zu preisen. Seine Schönheit, seine Freundlichkeit und dass er wie kein anderer kochen könne. Mich muss Fassbinder nicht überzeugen, und ich glaube, sein glühender Erklärungseifer ist auf seine Mutter gerichtet, die mir eher verdrießlich zu sein scheint über die neue Schwiegertochter, die wieder mal ein Schwiegersohn ist. Über Ingrid Caven dagegen, ihre Ex-Schwiegertochter, sagt sie, dass ihr Sohn, über die Scheidung hinaus, mit niemandem so gut reden könne wie mit ihr.

Armin bringt die Steaks. Er hat einen Salat dazu angerichtet, alles ist köstlich. Als er seine Teller auf dem Tisch abgesetzt hat, begrüßt er mich mit einem Kuss auf die Wange. Wir tauschen kleine Komplimente aus, blödeln ein bisschen herum. Ob das Fassbinder gefällt? Er hat die Zigarette in der Hand, die Hand am Kinn aufgestützt. Es ist nicht klar, ob er uns wahrnimmt oder ob er an sein neues Filmprojekt ›Ich will doch nur, dass ihr mich liebt‹ denkt. Doch ich habe das Bedürfnis, Armin zu zeigen, dass er ein liebenswerter Mensch ist. Schon in Köln ist er mir sofort vertraut gewesen, denn ich spürte, dass er ein Außenseiter ist im Team. Der Metzgergeselle, sagten sie. Selbst Fassbinder scheint nicht recht zuzuhören, wenn Armin etwas moniert oder einen Vorschlag macht.

Auch hier, in der Wohnung Lilo Eders, ist Armin außen vor. Da kann Fassbinder noch so verliebt sein – Armin bewegt sich wie ein Gast. Genau wie ich auch. Doch als ich eine Zeit lang mit Lilo Eder allein bin, sagt sie, dass sie mich möge, dass sie sich gern an unsere Gespräche am Drehort erinnere. Mir geht es ebenso, doch ich wundere mich trotzdem, wie offen Lilo Eder dann mit mir über ihren Sohn redet. »Eigentlich«, sagt sie, »habe ich gar kein Verhältnis zu ihm. Ich finde es sogar gut, dass wir zeitweilig nichts miteinander zu tun haben. Das heißt, wir lassen einander in Ruhe. Es gibt so viele Eltern-Kind-Beziehungen, wo man sich keine Ruhe lässt. Immer wieder alte Wunden aufreißt. Wenn Rainer mich braucht, kann er sicher sein, dass ich für ihn da bin. Umgekehrt aber auch.«

Für mich, die ich ein ausgesprochen enges Verhältnis zu meinen Söhnen habe, sind die Aussagen von Fassbinders Mutter erstaunlich bis befremdend. Brigitte Mira hat mir erzählt, dass schon der kleine Junge Rainer Werner Fassbinder völlig allein gewesen sei. Er wurde in großbürgerliche Verhältnisse hineingeboren, seine Vorfahren waren Professoren, Priester, Lehrer. Und schon einmal gab es eine Berühmtheit in der Familie; Rainers Tante Klara Maria Fassbinder, Claudel-Übersetzerin und engagierte katholische Pazifistin. In der Politik nannte man sie herablassend »Friedensklärchen«, wahrscheinlich, weil sie unbequem war, da wollte man sie lächerlich machen. Als man ihr einen französischen Orden verlieh, weigerte sich der grenzdebile Bundespräsident Lübke, ihn ihr auszuhändigen.

In einer Familie mit derart engagierten, kultivierten Menschen hätte das Kind Rainer Werner vielleicht behütet aufwachsen können, aber es waren noch Kriegszeiten. Fassbinders Vater war Arzt, die Mutter Studentin, geheiratet wurde eigentlich aus Angst vor dem Krieg, in dem kurz vor Schluss alles an die Front abkommandiert wurde, was noch laufen konnte. Die Eltern zogen 1944 nach München, der Vater richtete sich in der Sendlinger Straße in einer großen Wohnung eine Arztpraxis ein. Der Sohn wurde geboren und wenige Monate später zu Verwandten aufs Land gebracht, da der Vater fürchtete, das Kind könne die Hungerzeiten in der Stadt nicht gesund überstehen. Nach einem Jahr holten die Eltern das Kind zurück. Zeit, sich um ihn zu kümmern, hatten sie nicht. Das blieb auch so, als die Eltern des Fünfjährigen sich scheiden ließen. Rainer blieb mit seiner Mutter allein, war frech und aufsässig ihr und seinen Lehrern gegenüber, wechselte von der Steinerschule aufs Gymnasium, in ein Internat, dann lebte er ein paar Jahre in Köln bei seinem Vater, besuchte dort ein Abendgymnasium, fuhr wegen Streitigkeiten zurück nach München, besuchte eine Schauspielschule, und bald ging es auch schon los mit dem Inszenieren von Theaterstücken und dem Produzieren von Filmen...

Lilo Eder hat mir ihr ruhiges, flächiges Gesicht zugewandt, sie richtet ihre Augen– Fassbinders Augen – etwas erstaunt auf mich – vermutlich weil ich so lange schweige–, und ich komme aus meinen Gedanken zurück, frage sie, wie es sich so lebt mit einem berühmten Sohn.

»Ach«, sagt sie trocken, »Sorgen mach ich mir. Wenn ich an die vielen Zigaretten denke, die er raucht, wenn ich sehe, wie Rainer finanziell immer wieder alles einsetzt, alles für den nächsten Film – dann frag ich mich, wie das weitergehen soll. Ich bin ein Kind der Inflation, 1922 geboren. Wir haben unser Geld verloren. Seitdem lebe ich in dem Gefühl, mich absichern zu müssen. Rainer tut nichts zur Seite. Der hat dafür überhaupt keinen Sinn.«

Ich frage sie, ob RWF unter den vielen Menschen, die ihn umgeben, eigentlich wirkliche Freunde hat. Es ist zu spüren, dass sie darüber viel nachdenkt, denn sie antwortet sofort, dass ihr Sohn wirtschaftlich sicher niemals von jemandem abhängen wird. »Aber menschlich wird es für ihn immer schwer sein, jemandem zu vertrauen.« Sie lauscht ein wenig, ob Fassbinder in der Nähe ist, dann sagt sie, dass neulich der Hund eines Schauspielers mit im Synchronstudio gewesen sei, der sei RWF nicht von der Seite gewichen und habe es sich schließlich auf seinem Schoß gemütlich gemacht. »Ich sagte, schau doch mal, wie der dich mag. Rainer winkte ab, sagte, der will doch nur eine Rolle.«

Gefallen ihr seine Filme? Sie holt tief Luft, ich meine, etwas Stolz in ihrer Stimme zu spüren. »Ich glaube, er macht jetzt eine Entwicklung durch. Er macht ja immer neue Sachen. Eine Zeit lang wollten sie ihn auf die Hinterhöfe festlegen, doch er lässt sich nicht festlegen. Ich kann nicht mit allen Filmen was anfangen. Einige gefallen mir dann wieder sehr. Ich beneide ihn oft, dass er sich so konsequent verwirklichen kann. Wer kann das schon? Rainer war immer mutig und kompromisslos. Es stimmte ja auch seine ganze Umgebung, nicht wahr? Wenn ich daran denke, wie es mir gegangen ist. Meine Jugend stand im Zeichen des Nationalsozialismus. 1945 war ich völlig verunsichert. Ich sollte Lehrerin werden. Was sollte ich meinen Schülern denn beibringen? Ich wusste ja nicht einmal, wer ich selber war. Ich glaube, das ist vielen Müttern meiner Generation so gegangen. Sonst hätte es diese Revoluzzer-Generation nicht gegeben. Natürlich haben diese Kinder viel entbehrt. Sie bekamen keine Grenzen gesetzt. Rainer ja auch nicht.«

Sie verstummt abrupt. Fassbinder kommt herein, er bringt den Vertrag, den wir beide unterschreiben, obwohl ich weiß, dass der Passus »nach einer Idee von« nicht korrekt ist. Aber ich erwähne das nicht. Alles andere, Honorar, Auswertung und so weiter, ist mir gleichgültig. Wirtschaftliche Sorgen habe ich nicht und ich verdanke Fassbinder so viel – viel mehr, als er sich vorstellen kann. Ich hätte ihm meine Geschichte auch geschenkt.

Am 8.Juli 1975, abends um 21Uhr, wird der Film ›Angst vor der Angst‹ vom WDR gesendet. Er bekommt viele Kritiken, positive, andere. Erika Wisselinck, eine bekannte Journalistin, schreibt, ich solle meinen Text doch einem verantwortungsvolleren Regisseur geben, der Stoff wäre lieblos heruntergedreht worden. Ziemlich viele Briefe bekomme ich, sogar von Männern, die mir bescheinigen, ich habe das Leben ihrer Frau beschrieben. Eine Frau entweicht aus der psychiatrischen Anstalt, in der sie untergebracht ist, steht vor meiner Haustür und sagt gleichfalls wortreich, dass ihr Leben Vorbild für den Film gewesen sei. Ehe ich reagieren kann, ist sie bereits im Haus. Als ich bemerke, dass sie hochgradig gestört ist, kriege ich es mit der Angst zu tun. Unter einem Vorwand gehe ich ins obere Stockwerk ans Telefon, frage bei der Polizei, ob irgendwo eine Patientin aus der Psychiatrie abgängig sei. Sie vertrösten mich, wollen sich erkundigen, ich solle nur ruhig bleiben. Ich hoffe, dass meine Söhne bald vom Spielen heimkommen, schlage der Frau vor, für meine Kinder Pfannekuchen zu backen. Sie ist begeistert, kann das besser als ich. Beim Teigrühren sagt sie, ich solle auf ihr Schloss kommen, sie habe Pferde, alles, was ich wolle, und ich könne bei ihr in Ruhe schreiben. Ja, wunderbar, sage ich und horche zur Tür, ob nicht endlich jemand kommt und mir diese Verrückte abnimmt. Doch eigentlich ist sie sehr liebenswürdig, sie weiß sogar, dass der Teig ein wenig ruhen muss, und sagt, das Backen in der Pfanne müsse aber ich machen, das täte bei ihr auch immer die Köchin.

Schließlich kommen meine Söhne, sie wundern sich nur wenig über den Besuch, hören interessiert zu, wie die Frau von ihren Pferden erzählt, die in Spanien gezüchtet würden, und dass wir alle zu ihr auf ihr Schloss kommen sollen. Wir decken den Tisch, essen gemeinsam, und ich entspanne so langsam, weil meine Söhne unbefangen sind und die Frau offensichtlich gut finden. Sie ist mir auch sympathisch, keine Frage. Als es klingelt, ist es der Krankenwagen, und die Frau geht ruhig mit, als ein Arzt und ein Pfleger sie abholen. Mein jüngster Sohn fragt den Arzt, ob unsere Besucherin wirklich spanische Pferde habe, und der Arzt bejaht das. Auch ein Schloss gehöre ihr, ein großer Besitz. Aber sie sei krank, habe oft schwere schizoide Schübe.

Einen Tag später fahre ich im Auto durch eine ziemlich belebte Straße. Muss an der Ampel halten. Wieder ist es eine Frau, diesmal sehr jung, die ins Autofenster hereinschaut, dann neben meinem Auto herrennt und, als ich bremse, sich auf die Kühlerhaube wirft und unbedingt mitgenommen werden will, da nur ich sie verstehen könne. Jetzt bin ich sicher, dass ›Angst vor der Angst‹ viele verstörte, einsame Menschen angesprochen hat. Briefe, die ich noch nach Wochen bekomme, bestätigen das.

*

Ein Jahr später sehe ich Fassbinder wieder. Er hat mich eingeladen, bei den Dreharbeiten zu seinem Film ›Chinesisches Roulette‹ im fränkischen Schloss Stöckach dabei zu sein. Es ist die Geschichte eines frustrierten Ehepaares, das sich durch die Intrige der gehbehinderten Tochter, die ihre Eltern hasst, mit den jeweiligen Zweitpartnern auf dem Landsitz der Familie wiederfindet, obwohl doch eigentlich beide nach Oslo beziehungsweise Mailand geschäftlich verreist waren. Margit Carstensen spielt die betrogene Ehefrau, Brigitte Mira ist die Hausdame. Auch Armin Meier ist wieder dabei. Kameramann ist Michael Ballhaus, dem das Schloss Stöckach gehört. Ballhaus entstammt einer bekannten Theaterfamilie. Sein Vater Oskar Ballhaus leitete lange Zeit das fränkische Theater Schloss Maßbach und brachte viel beachtete Inszenierungen heraus. Michael Ballhaus ist für Fassbinder ein langjähriger Freund und Wegbegleiter, die beiden haben vierzehn Filme zusammen gemacht, bis Michael Ballhaus nach Hollywood geht.

Ich freue mich, unter all den fremden Schauspielern Brigitte Mira wiederzusehen, die Carstensen begrüßt mich freundlich, auch Armin Meier. Er hat sich verändert, ich weiß nicht genau, ob es am Äußeren liegt oder an seiner gedrückten Stimmung. Mir fällt eine Bemerkung von Fassbinder ein, in der er sinngemäß sagte, dass die Beziehungen von Homophilen auch nicht anders verlaufen als die von Heterosexuellen. Jedenfalls ist Fassbinder entspannt, lässig. Ich sehe ihn zum ersten Mal in Lederkleidung. Total Leder. Er trägt sogar Lederstiefel mit Sporen und freut sich kindlich, wenn die beim Gehen klirren. Keine Spur von dem Ärger, den er mit seinem Stück ›Der Müll, die Stadt und der Tod‹ hat. Das Stück darf nicht aufgeführt werden, Fassbinder wird Antisemitismus vorgeworfen. Wie steckt er eine solche Unterstellung weg? Er gibt das Stück seinem Freund Daniel Schmid, der es verfilmt und im Drehbuch wortgetreu das heiß umstrittene Theaterstück adaptiert. Unter dem Titel ›Schatten der Engel‹ wird das Fassbinder-Stück verfilmt und Schmid bringt es als Schweizer Wettbewerbsbeitrag zum Festival in Cannes. Es kommt zu Protesten, aber auch zur Verteidigung des Werkes.

Geredet wird über diese rabiate Geschichte nicht. Fassbinder dreht. Die schöne Schauspielerin Anna Karina spielt die Konkurrentin von Margit Carstensen, deren Liebhaber Ulli Lommel für mich deshalb besonders interessant ist, weil er sehr gut aussieht und weil ich seinen Vater kenne, der als Kabarettist in Köln auftrat und dessen Namen ich als Kind komisch fand. Schon in ›Effi Briest‹ kam Ulli Lommel mir umwerfend schön vor. Die attraktive Anna Karina scheint auch dieser Meinung zu sein. Wenn ich was von Verliebten verstehe, sind die beiden im berühmten siebten Himmel, und Fassbinder macht auch manchmal entsprechend sarkastische Bemerkungen. Sicher ist er insgeheim neidisch. Mir will er dauernd einreden, dass Michael Ballhaus sich für mich interessiere, doch ich lache ihn aus. Immerhin liegt Frau Ballhaus zufrieden auf der Terrasse in der Sonne, und Michael Ballhaus ist nichts als freundlich zu mir.

Inzwischen habe ich gehört, dass Fassbinder nichts lieber tut, als die Leute in seiner Umgebung durch seine angeblichen Beobachtungen gegeneinander auszuspielen. Ich bin mir sicher, dass Fassbinder alles frei erfunden hat und nur mal eben testen will, ob ich auf ihn hereinfalle. Vielleicht hat er mich nur deshalb nach Stöckach eingeladen. Zuzutrauen ist ihm alles.

*

München 1980.Redaktionskonferenz. Ich bin seit drei Jahren Redakteurin bei einer Frauenzeitschrift und habe mich darauf spezialisiert, interessante Menschen aus dem Kulturbetrieb zu interviewen. Die Arbeit gefällt mir. Die Redaktion auch. Viele gescheite Frauen, eine kultivierte und hochgebildete Chefredakteurin, die den Laden souverän schmeißt. Doch heute sind alle nervös: Eine Titelgeschichte ist geplatzt. Woher einen Ersatz nehmen? Da fällt mir ein, dass Fassbinder in München dreht – ›Berlin Alexanderplatz‹. Viel Hoffnung habe ich zwar nicht, dass er mich empfängt. Wenn ich etwas über seine Arbeitsweise gelernt habe, dann, dass Fassbinder sportlichen Ehrgeiz daran setzt, mit so wenig Drehtagen wie möglich auszukommen. Doch das Wunder geschieht.

Letztes Jahr, erinnere ich mich, überreichte Italiens Staatspräsident ihm den »Luchino-Visconti-Preis«. Jenseits des Atlantik gar, wo in New York – am Broadway und in Greenwich Village– Fassbinder-Filme ein Stammpublikum haben, sind sich die Kritiker einig: »Der faszinierendste, begabteste, fruchtbarste, originellste junge Filmemacher in Westeuropa« (›New York Times‹). Ähnliche Urteile sind in Zeitungen rund um den Erdball zu finden. Dem Pariser Magazin ›L’Express‹ vertraute Fassbinder 1977 an: »Ich möchte für das Kino sein, was Shakespeare fürs Theater, Marx für die Politik und Freud für die Psychologie war: jemand, nach dem nichts mehr ist wie zuvor.« Und ich möchte nur ein Gran von seinem Selbstbewusstsein. Wenn es echt ist. Aber sein Erfolg gibt ihm schließlich recht.

Daran arbeitet er lebenslang mit größter Leidenschaft und bewundernswertem Stehvermögen. Diesmal hat er sich ein weiteres Werk der Weltliteratur vorgenommen. Fassbinder erklärt das so: »Vor zwanzig Jahren etwa, ich war gerade vierzehn, vielleicht fünfzehn, begegnete ich auf meiner ganz und gar unakademischen, extrem persönlichen, nur meinen ureigenen Assoziationen verpflichteten Reise durch die Weltliteratur Alfred Döblins Roman ›Berlin Alexanderplatz‹. Für Fassbinder ist der Roman vor allem die Liebesgeschichte zweier Männer, Franz Biberkopf und Reinhold, deren bisschen Leben auf dieser Erde daran kaputtgeht, wie es Fassbinder ausdrückt. Klar, dass das Buch dem jungen Rainer »echte, nackte, konkrete Lebenshilfe und für den Verlauf meines Lebens mitentscheidend war«.

Nun soll daraus eine Fernsehserie werden, dreizehn Folgen und ein Epilog sind geplant, insgesamt fünfzehn Stunden Sendelänge. Schon für das Drehbuch muss Fassbinder sich einen neuen Arbeitsrhythmus angewöhnen: »Ich habe immer vier Tage durchgearbeitet, habe dann vierundzwanzig Stunden geschlafen, wieder vier Tage durchgearbeitet. Eine gesunde Art des Schreibens ist das sicher nicht.«

Auf meiner Fahrt zu den Bavaria-Studios in Geiselgasteig denke ich daran, wie viel hervorragende Filme Fassbinder schon vorgestellt hat. Ob das ›Händler der vier Jahreszeiten‹ ist oder ›Die bitteren Tränen der Petra von Kant‹, ›Angst essen Seele auf‹ oder ›Effi Briest‹, wo der Titel in seiner Erweiterung ein Postulat für alle Fassbinder-Filme enthält: ›... oder Viele, die eine Ahnung haben von ihren Möglichkeiten und Bedürfnissen und dennoch das herrschende System in ihrem Kopf akzeptieren durch ihre Taten und es somit festigen und durchaus bestätigen‹. Das trifft auch auf die Figur der Maria in ›Die Ehe der Maria Braun‹ zu, und in besonderem Maße wird es das Leitmotiv sein für sein jetziges Großprojekt ›Berlin Alexanderplatz‹. So ist es auch keineswegs ein Zufall, dass schon im frühen Werk Fassbinders viele Figuren »Franz« heißen. Wenn Fassbinder zum Beispiel selbst den Schnitt macht bei einem Film, dann heißt der Cutter »Franz Walsch«, in ›Faustrecht der Freiheit‹ sogar Franz Biberkopf, den er auch selbst spielt.

Auf dem Studiogelände der Bavaria finde ich schnell die »Berliner Straße«, die schon für den Film ›Das Schlangenei‹ von Ingmar Bergman nachgebaut wurde. Fassbinder, der gelernt hat, mit geringstem Budget zu arbeiten, hat diesmal dreizehn Millionen Mark zur Verfügung – wohl das aufwändigste Projekt, das derzeit in Deutschland realisiert wird. Unter den Titeln der dreizehn Folgen ist mir der letzte aufgefallen: ›Das Äußere und das Innere und das Geheimnis der Angst vor der Angst‹. Darüber freue ich mich. Es ist nicht das erste Mal, dass Fassbinder meinen Titel zitiert. Einmal sagt er in einem Statement: »Ich habe keine Angst vor der Angst.«

Ich finde den Regisseur in einer Berliner Kneipe, die Bude ist voll künstlichem Rauch, von einer Nebelmaschine immer wieder neu herausgeschleudert. Fassbinder hat erlaubt, dass ich bei den Dreharbeiten zusehe. Leise setze ich mich an einen kleinen Tisch, wo ich nicht störe. Am Zeitungsständer hängt das ›Deutsche Tagblatt‹ vom Freitag, 28.Juni 1929, zum Preis von fünfzehn Pfennig. Durch den Qualm sehe ich Fassbinder an der Kamera, sehe Elisabeth Trissenaar und Günter Lamprecht, der die Haare hochgeschoren hat. Fassbinder ruft: »Ruhe bitte, ich möchte eine kleine Probe machen!« Dann spricht er den Schauspielern den Text vor, wie ich das schon des öfteren erlebt habe – ruhig, freundlich. Er beschreibt Haltungen, wie er sie sich wünscht, macht aber wenig vor. Es entsteht alles wie selbstverständlich.

Bald darauf setzt er sich zu mir. Er trägt ein weißes Jackett über einem schwarzen Hemd, dazu eine weiße Krawatte und einen dunklen Hut mit breitem Rand. Fassbinder ist vor allem müde. Erschöpft. Er hat letzte Nacht nur eine Stunde geschlafen. »Besser, ich wär überhaupt nicht ins Bett gegangen.«

Auf dem Tisch vor ihm liegt ein Brötchen. Der Fotograf will, dass es weggenommen wird. Fassbinder meint, erst das Brötchen würde das Bild zum Kunstwerk machen – doch er spürt, dass der Fotograf ihm da nicht folgen kann, und nimmt friedfertig seine unwillkommene Semmel weg.

Vier Jahre ist es her, seit ich ihn in Köln getroffen habe. In meinem Leben hat sich seitdem viel verändert, durch ihn, aber das weiß er nicht. Muss er auch nicht wissen. Doch sein Name hat mir viele Türen geöffnet: »Ach ja, ich weiß, Ihr Text ist von Fassbinder verfilmt worden.« Ich bin nicht sicher, ob ich mich ohne sein Urteil getraut hätte, die Redakteursstelle anzutreten. Ohne das Beispiel seines Mutes hätte ich vielleicht die Verantwortung für meine Söhne nicht alleine übernommen. Dass ich hier bin und über ihn schreiben kann, verdanke ich zu einem Teil ihm selber.

Ich schaue ihn an. Der dichte Bart rahmt sein Gesicht ein, der Schnauzbart und die dunkle Brille wirken fast wie Arbeitskleidung aus den Gangsterfilmen der dreißiger Jahre. Das ist bei ihm keineswegs Kostüm. Er passt da hinein. Fassbinder besitzt, so sagt er, außer diesem Anzug nur noch seine Lederjacke und – seit der Preisverleihung in Italien – einen Smoking.

In Fassbinders Gesicht lässt sich alles hineinprojizieren, für mich jedenfalls, die ich ihn so oft als Schauspieler gesehen habe. Es kann Wut ausdrücken, Verzweiflung, Melancholie, Zärtlichkeit, Hilflosigkeit, auch Zynismus, Bitterkeit.

»Ich soll Sie von Hans Christoph Blumenberg grüßen«, beginne ich wahrheitsgemäß. »Die ›Zeit‹ wartet auf einen Essay über den neuen Film von Ihnen.«

»Wenn er mir genügend Zeit gibt«, brummt Fassbinder. »Blumenberg hat ausdrücklich gesagt, dass er Ihnen nicht auf die Nerven fallen will, er kommt nächste Woche nach München und würde Sie gerne sehen.«

»Er kann gerne vorbeikommen, er kann was sehen, ich zeige ihm was. Ich bin ihm noch nicht einmal böse. Das weiß er. Dass der aber auch so eitel ist.«

»Blumenberg?«

»Ein bisschen schon. Er ist halt auch nicht unfehlbar. Klar, der sitzt auf so einem doofen Posten, wo alle Leute Seriosität von ihm erwarten–«

»Er ist Kritiker.«