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»Motte« wird die Ich-Erzählerin von ihrem Vater genannt. Der Vater ist Arbeiter, Spieler, Trinker. Eigentlich hat Motte sogar zwei Väter: den einen, der schnell rennen kann, beim Spielen alle Verstecke kennt und sich auf alle Fragen eine Antwort ausdenkt. Und den anderen, der von der Werkshalle ins Büro versetzt wird, damit er sich nicht volltrunken die Hand absägt. Und das mit dem Alkohol, sagt die Mutter, war eigentlich bei allen Männern in der Familie so. Auch Motte trinkt längst mehr, als ihr gut tut. Schon als Kind hat sie beim Schützenfest Kellnerin gespielt und die Reste getrunken, bis ihr warm wurde. Jetzt, als junge Frau, schläft sie manchmal im Hausflur, weil sie mit dem Schlüssel nicht mehr das Schloss trifft. Ihr Freund stützt sie, aber der kann meistens selbst nicht mehr richtig stehen. Nur ihr Bruder, der Erzieher geworden ist, schaut jeden Tag nach ihr. Als bei ihrem Vater Krebs im Endstadium diagnostiziert wird, sucht Motte nach einem Weg, sich zu verabschieden – vom Vater und vom Alkohol. »Das Schwarz an den Händen meines Vaters« von Lena Schätte ist ein bewegender Roman über das Aufwachsen in einer Familie, die in den sogenannten einfachen Verhältnissen lebt und die zugleich, wenn es darauf ankommt, zusammenhält. Es ist ein harter, zarter Roman über die Liebe zu einem schwierigen Vater und den Weg ins Leben. »Die Wucht des sich behutsam entfaltenden Textes trifft unmittelbar.« Aus der Begründung zur Verleihung des W.-G.-Sebald-Preises
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Seitenzahl: 156
Veröffentlichungsjahr: 2025
Lena Schätte
Roman
»Motte« wird die Ich-Erzählerin von ihrem Vater genannt. Der Vater ist Arbeiter, Spieler, Trinker. Eigentlich hat Motte sogar zwei Väter: den einen, der schnell rennen kann, beim Spielen alle Verstecke kennt und sich auf alle Fragen eine Antwort ausdenkt. Und den anderen, der von der Werkshalle ins Büro versetzt wird, damit er sich nicht volltrunken die Hand absägt. Und das mit dem Alkohol, sagt die Mutter, war eigentlich bei allen Männern in der Familie so.
Auch Motte trinkt längst mehr, als ihr gut tut. Schon als Kind hat sie beim Schützenfest Kellnerin gespielt und die Reste getrunken, bis ihr warm wurde. Jetzt, als junge Frau, schläft sie manchmal im Hausflur, weil sie mit dem Schlüssel nicht mehr das Schloss trifft. Ihr Freund stützt sie, aber der kann meistens selbst nicht mehr richtig stehen. Nur ihr Bruder, der Erzieher geworden ist, schaut jeden Tag nach ihr. Als bei ihrem Vater Krebs im Endstadium diagnostiziert wird, sucht Motte nach einem Weg, sich zu verabschieden – vom Vater und vom Alkohol.
»Das Schwarz an den Händen meines Vaters« von Lena Schätte ist ein bewegender Roman über das Aufwachsen in einer Familie, die in den sogenannten einfachen Verhältnissen lebt und die zugleich, wenn es darauf ankommt, zusammenhält. Es ist ein harter, zarter Roman über die Liebe zu einem schwierigen Vater und den Weg ins Leben.
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Lena Schätte, geboren 1993 in Lüdenscheid, debütierte 2014 mit dem Roman »Ruhrpottliebe«. In den Folgejahren arbeitete sie als Psychiatriekrankenschwester im Ruhrgebiet, bis sie 2020 ein Studium des Literarischen Schreibens am Deutschen Literaturinstitut Leipzig aufnahm. Heute betreut sie suchtkranke Menschen in Lüdenscheid – und schreibt. Für einen Ausschnitt aus dem Roman »Das Schwarz an den Händen meines Vaters« wurde Lena Schätte mit dem W.-G.-Sebald-Literaturpreis 2024 ausgezeichnet.
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Danksagung
Für Papa
Meine Mutter bringt uns Töchtern Dinge bei. Andere Dinge, als mit geradem Rücken am Esstisch zu sitzen, als Danke und Bitte zu sagen, andere Dinge als ihrem Sohn. Sie bringt uns bei, dass Schnaps Ärger bedeutet. Dass Männer, die Bier trinken, harmlos sind: Sie tanzen und lallen und plaudern private Dinge aus, doch schließlich lassen sie sich ins Bett schubsen und schlafen friedlich ihren Rausch aus. Männer, die Schnaps trinken hingegen, werden aggressiv, suchen Streit, werden von der Polizei nach Hause gebracht oder kommen gar nicht erst heim. Da passiert irgendwas im Kopf, erklärt sie uns oft und tippt sich dabei mit dem Zeigefinger an die Schläfe. Aber sie bringt uns auch bei, dass alles in Ordnung ist, solange sie nur am Wochenende trinken. Nur wer wochentags trinkt, ist süchtig. Und sie bringt uns bei, dass eine Frau immer Fluchtgeld haben muss. Hinter einer lockeren Kachel in der Waschküche, in einem alten Winterstiefel im Kleiderschrank oder in einer Tupperbox im Gefrierfach, auf deren Aufkleber Linsensuppe steht. Genug, um jederzeit die Kinder aus dem Bett holen und verschwinden zu können. Manchmal habe ich Angst, sie würde mich vielleicht vergessen, mich nicht mitnehmen, und dann gehe ich mit Jacke und Schuhen ins Bett.
Wenn mein Freund nachts nach Hause kommt, nach Lagerfeuer und Alkohol riecht, sich zu mir auf die Matratze legt, sein Atem sich im Raum ausdehnt, dieser Geruch, dann denke ich an meinen Vater.
Wir haben Zahnbürsten und Schlafsachen beieinander. Wir fischen die Post des anderen aus dem Briefkasten und reißen sie auf. Wir kramen im Kühlschrank des anderen nach etwas Essbarem, doch wir wohnen nicht zusammen. Das hat nicht funktioniert.
Wenn er dann am Sonntag bei mir ist und verschläft, staubsauge ich, drehe das Radio auf, poltere in der Wohnung herum, lache laut, wenn er mich fragt, ob ich ihm einen Kaffee mache. Tue alles, um nicht zu sein wie meine Mutter.
Manchmal schämt sich mein Freund, wenn man ihn anspricht auf mich. Wie ich war, letzte Nacht in der Kneipe oder letzte Woche auf der Geburtstagsparty. Wenn eine Frau zu viel trinkt, ist das was anderes.
Als ich beginne zu trinken, trinke ich keinen Schnaps. Ich trinke buntes, süßes Zeug. Ich sage Dinge, die ich nüchtern niemals sagen würde und die sich nicht mehr zurücknehmen lassen. Ich sage meiner Schwester, dass ich mich lieber aufhängen würde, als ihr spießiges Scheißleben zu führen. Ich sage meinem Nachbarn, dass ich schon immer heimlich verliebt in ihn war und dass ich seiner Freundin die Umzugskartons raustrage, wenn er endlich Schluss mit ihr macht. Ich sitze weinend in der Taxizentrale, die Telefonistin legt mir eine Wolldecke um die Schultern und kocht mir einen Kaffee. Ich schlafe im Hausflur, weil ich mit dem Schlüssel nicht mehr das Schloss treffe. Ich wache auf, die Kleidung voller Erbrochenem, blaue Flecken und Kratzer, deren Herkunft ich nicht kenne.
Ich verliere meine Sachen, hole meine Handtaschen an Nachmittagen bei Kneipenwirten ab, die sie beim Putzen wiederfinden. Im Tageslicht sehen sie mich mitleidig an, und ich lasse als Dank ein wenig Trinkgeld da.
Ich lasse fremde Hände auf meinem Körper zu und berühre.
Ich schaffe es montags nicht mehr zur Arbeit, lasse dafür Großmütter sterben, erfinde Magen-Darm-Infekte, und meine Chefin murmelt Gute Besserung.
Meine Freunde fragen mich nicht mehr, ob ich mitkommen will, wenn sie zusammen ausgehen.
Zu meinem Geburtstag plant Mama eine Übernachtungsparty mit meinen besten Freundinnen. Im Kinderzimmer legen wir die Matratzen auf dem Boden eng nebeneinander, trinken Kinderpunsch durch Plastikstrohhalme und schlafen irgendwann ein, ein großes schnarchendes Kinderknäuel. In der Nacht werde ich von Marlenes spitzem Schrei geweckt. Sie steht in der Badezimmertür, und mein Vater liegt vor der Badewanne und schläft. Ich rüttele an ihm, kneife fest in seinen Oberarm, steh auf Papa, hier kannst du nicht schlafen, doch er rührt sich nicht. Ich wecke meine Mutter, sie schafft es, ihn zu wecken, nimmt ihn mit ins Schlafzimmer, zischt ihn durch zusammengepresste Zähne an. Marlene geht auf die Toilette und legt sich danach wieder schlafen. Am Montag darauf ist wieder Schule. Marlene erzählt niemandem davon. Ich sage ihr nie, wie dankbar ich ihr dafür bin. Stattdessen schlage ich mich den Rest der Schulzeit für sie.
Ich sehe es meinem Vater auf zig Meter Entfernung an. Kenne all die Phasen. Erst ein Lächeln, dann glasige Augen, dann diese gehobene Augenbraue, die plötzlich absteht, als wolle sie nicht mehr zum Rest des Gesichts gehören, bis alles nur noch eine blasse, verschwitzte Maske ist. Er sitzt in der dunklen Küche, hört Phil Collins, redet mit sich selbst, weint manchmal. Ich weiß nicht, warum, mir kommt alles nicht so schrecklich vor. Schleiche ich an ihm vorbei, sieht er mich an, doch sein Blick scheint nach innen gerichtet.
Wir fahren in den Urlaub. Meine Eltern holen meinen Bruder und mich von der Grundschule ab, den Kofferraum voller Taschen, das Muster meiner Weltraumbettwäsche an die Innenseite der Heckscheibe gepresst. Meine Schwester fährt schon selbst Auto, mit ihrem Freund sitzt sie im roten Fiat hinter uns. Auf der Autobahn winken wir uns zu und schneiden Grimassen. Meine Mutter legt die Hand auf das Knie meines Vaters. Wir halten an einer Raststätte, er sagt, er müsse auf die Toilette. Bleibt lange weg, wir spielen auf dem Rasenstreifen Fangen, ich trete in einen Hundehaufen.
Von hier fährt meine Mutter weiter, mein Vater sitzt still auf dem Beifahrersitz, mit schiefen Augenbrauen. Mein Bruder schläft ein, das Gesicht auf meinem Schoß, der Speichel aus seinem Mundwinkel hinterlässt einen dunklen Fleck auf meiner hellen Jeans. Meine Mutter dreht sich nach hinten, drückt mir die Kopfhörer noch ein bisschen fester auf die Kinderohren, dreht das Rädchen an meinem Discman, bis Bibi Blocksberg so laut ist, dass ich nur noch sie höre. Es ist die Folge, in der Bibi alleine zu Hause ist, einen Elefanten ins Wohnzimmer hext, der das Mobiliar zertrümmert, und Barbara Blockberg kommt heim und schimpft mit ihr. Wenn du so zu mir bist, habe ich immer das Gefühl, du hast mich gar nicht mehr lieb, meint Bibi. Ach, ich hab dich doch immer lieb, sagt die Mutter. Dann hexen sie den Elefanten gemeinsam zurück in den Zoo, meine Mutter fängt an zu weinen und schlägt auf das Lenkrad.
Als wir an der Ferienwohnung ankommen, ist es schon dunkel draußen. Mein Vater steckt uns ins Bett, ich trage noch meine Jeans, als er mir die Decke über die Knie legt. Sein Atem riecht scharf, sein Kuss ist nass und schwabbelig auf meiner Stirn. Wenn du so bist, hab ich das Gefühl, du hast uns gar nicht mehr lieb, sage ich, doch da ist er schon weg, zieht die Zimmertür mit einem Ruck ins Schloss.
Wenn er von der Arbeit nach Hause kommt, am späten Nachmittag, riecht er nach Schweiß und Maschinenöl. Eine Stunde lang dürfen wir Kinder ihn nicht ansprechen. Papazeit, nennt Mama das und drückt sich zischend den Zeigefinger auf den Mund. Ich beobachte ihn, wie er allein auf dem Balkon sitzt, ein paar Zigaretten raucht, ein erstes Bier trinkt und in die Nachbarschaft starrt.
Dann geht er ins Badezimmer, und ich höre dieses Geräusch bis in mein Kinderzimmer: wie er sich mit der Nagelbürste die Hände abschrubbt, mit festen Strichen, unter dem laufenden Wasserhahn. Danach liegt die Bürste mit verbogenen Borsten in einer grauen Pfütze aus Seife auf dem Waschbeckenrand.
Wenn wir anschließend zusammen essen, ist es still am Tisch. Droht eines von uns Kindern mit allem herauszuplatzen, was wir erlebt haben, wer uns geschubst und wer uns auf den Mund geküsst hat, wirft meine Mutter uns diese Blicke zu.
So starre ich auf seine Hände, während er isst. Montags grau, über die Woche immer dunkler. An Freitagen ist das Schwarz in jede Rille seiner Hornhaut gekrochen, das spröde Nagelbett tiefrot. Nur im Urlaub werden sie sauber.
Ein paarmal frage ich Mama, was er da macht, wo er jeden Tag hingeht. Na arbeiten, meint sie und hackt Zwiebeln auf einem Brett in der Küche. Mit Maschinen. Ob er nicht lieber zu Hause bei uns bleiben wolle, frage ich. Wenn er das nicht machen würde, hätten wir nichts. Nicht dieses Haus, nicht deinen Fruchtzwerg im Kühlschrank, nicht deine Ringelsöckchen, nix. Sie schubst die Zwiebeln vom Brett in den Topf und lächelt matt. Das Leben is’ Maloche.
An diesem Tag im sechsten Schuljahr, an dem Väter ihre Töchter mit zur Arbeit nehmen, weckt er mich mitten in der Nacht. Als wir zur Firma fahren, sind die Straßen leer, nur eine Frau im Bademantel geht mit einem kleinen, hässlichen Hund an der Ruhr spazieren. In der Halle der Firma ist es dunkel, nur ein paar flackernde Leuchtstoffröhren über unseren Köpfen, während eine Ratte vor uns davonrennt, ihre Krallen kratzen auf dem Beton. Wenn der Fluss zu voll ist, steht das Wasser bis in die Halle, erklärt mein Vater, während ich über die Pfützen springe. Auf der Innenseite seiner Spindtür hängt das Bild einer nackten Frau. Er gibt mir schwere Schuhe, mit Stahlkappen über den Zehen. Den ganzen Tag sehe ich ihm zu, den Geschmack von heißem, zerriebenem Metall im Mund.
In der Pause sitzen wir draußen, seine Kollegen unterhalten sich laut, ihre Tupperdosen auf den Knien. Ich sitze dicht neben ihm, während wir unsere Käsebrote kauen.
Als wir nach Hause fahren, krieche ich an einer Ampel über die Handbremse hinweg zu ihm hinüber und umarme ihn. Ich schluchze eine Rotphase lang, kann nicht erklären, warum, bei Grün fahren wir nach Hause. Schrubben uns nebeneinander im Bad die Hände sauber und ziehen die dreckigen Hosen von unseren müden Knien.
Er hört irgendwann auf zu arbeiten, weil er sonntags keine Pause mehr macht und montags nicht mehr nüchtern ist und weil die auf der Arbeit das merken und Angst haben, dass er sich eine Hand absägt oder sich die Finger klemmt oder das sonst etwas Schlimmes passiert. Also setzen sie ihn ins Büro, doch da will er nicht sein und geht irgendwann nicht mehr hin. Und dann verlieren wir das Haus, ziehen in eine Wohnung, in der die Wände ganz dünn sind und ich alles hören kann. Mein Bruder und ich teilen uns ein Bett, schlafen dicht an dicht, stecken zum Lesen die Köpfe unter die Decke, er hält die Taschenlampe, ich halte das Buch. Er liest besser als ich, ganz flüssig, während ich noch die Silben zusammenziehe, trotzdem will er immer, dass ich vorlese.
Das Schwarz an den Händen meines Vaters verschwindet. Doch noch immer spricht niemand beim Essen, und keiner erzählt, wen er geschubst oder wen er geküsst hat. Es gibt oft Nudeln mit Zucker und Dosenpflaumen. Mein Bruder liebt das, das ist wie Nachtisch zu Mittag. Ich starre nur auf Papas alte, durchäderte Hände, während er kaut.
Noch ein paar Jahre sitze ich ihm beim Mittagessen gegenüber, bis ich selbst einen Esstisch kaufe und Geschirr und Besteck, für mehr Personen, als ich kenne. Einen Tisch, an dem ich nie esse, stattdessen steht mein Teller auf dem Schreibtisch zwischen den herumliegenden Unterlagen oder neben dem Bett, manchmal tagelang, bis sich ein grüner Flaum auf dem Essen bildet.
Ich schlafe bei gekipptem Fenster, egal wie kalt es ist.
Mein Bruder arbeitet im Kindergarten nebenan. Ich höre, wie die Autos am Morgen anfahren, die Türen knallen, die Eltern sich verabschieden, die Kinder seinen Namen rufen, das Trappeln vieler Füße. Den Aufschlag, wenn jemand hinfällt, und das Weinen. Wie mein Bruder sie beruhigt und zum Lachen bringt. Dann müssen wir das Bein wohl abnehmen, kleine Madame.
In der Mittagspause platzt er in mein Schlafzimmer. Auf, du faule Sau, und dann zieht er mir die Decke weg, klopft mir auf die Oberschenkel oder den Rücken, als wäre ich ein altes Pferd.
Er sammelt die Kleidung auf, die ich in der Wohnung verstreut habe, und schmeißt sie in den Wäschekorb im Badezimmer. Mit der Klobürste lässt er die Kotzesprenkler in der Kloschüssel verschwinden und drückt die Spülung. Schaltet die Kaffeemaschine und das Radio an, nimmt sich einen Apfel und stellt sich kauend neben mein Bett. Bis ich aufstehe.
Ein hoher Zaun trennt meinen Garten von dem des Kindergartens. Sie haben ihn mit blickdichter Plane verhängt, doch die Kinder haben Löcher in das Plastik gefummelt. Sie stecken ihre Finger hindurch und schreien herüber. Durch die Löcher sehen mich kleine Augen an.
Am Nachmittag schließt mein Bruder den Kindergarten ab, und es wird still in der Straße. Manchmal bleibt dieser eine Junge übrig.
Einmal hat mein Bruder ihn mit zu mir herüber genommen. Er kletterte auf meinem Sofa herum, zog Bücher aus dem Regal und blätterte so schnell um, dass es die Seiten in Falten legte. Ich zuckte bei jeder seiner Bewegungen. Entspann dich doch mal, sagte mein Bruder zu mir, als ich mich auf den Teppich kniete und die Seiten wieder gerade strich, die Buchdeckel vorsichtig wieder zuklappte. Er schüttelte genervt den Kopf. Komm, wir warten draußen auf die Mama.
Durch das Fenster sah ich sie unten auf der Straße. Auf Nachbars Mauer balancieren. Der Gehweg das tosende Meer. Mein Bruder machte die Stimme eines Piraten nach, lachte, hielt seine kleine Hand.
Ich frage mich, wie zur Hölle er das aushielt.
Ich arbeite für den Reinigungsdienst der städtischen Kliniken. Mit dem Nachmittagsteam wische ich Böden, putze Badezimmer, fahre mit dem großen Wäschewagen durch die Flure und räume frische Bettwäsche und Handtücher in die Stationsschränke. Manche bekommen die steife weiße Wäsche mit den blauen Streifen ohne Knöpfe, andere die flauschigen rosa Bezüge mit den Reißverschlüssen. Ich befülle die Desinfektionsspender, sortiere die Wäschesäcke, wasche in der großen Maschine im Keller die Putzlappen, bringe den Müll in den Hinterhof und bestelle Putzmittel. Hin und wieder, wenn jemand vom Aufbereitungsteam krank ist, sortiere ich die Bestecke, mit denen sie die Körper geöffnet haben, die Schalen, in denen die herausgeschnittenen Teile gelegen haben, und schiebe alles in den Dampfsterilisator.
Jeden Mittag, wenn ich zur Arbeit komme, hängt ein Zettel an meinem Spind, mit der Station, auf der ich an diesem Tag putzen soll, und welche Arbeiten vom Frühdienst übrig geblieben sind. Am wenigsten mag ich die Intensivstation mit all den Kabeln, Geräten und Monitoren. Oft klebt Blut auf dem PVC, und sie warten ungeduldig darauf, dass ich fertig werde, damit sie das Bett wieder belegen können. Wenn ich in den Zimmern putze, in denen noch Menschen liegen, sind die oft bewusstlos, und ich rede ein wenig mit ihnen, aber so, dass es niemand sonst hört. Wie das Wetter ist, was im Fernsehen läuft. Sehe auf das Schild am Fußende und spreche sie mit Vornamen an, als würden wir uns kennen.
Am liebsten bin ich in der Psychiatrie, weil da die Leute oft mit mir reden. Sie fragen mich irgendwas oder erzählen mir, warum sie dort sind, oder wollen mir erklären, wer die Menschen auf den Fotos sind, die sie über ihr Bett auf die Tapete geklebt haben, und am Ende wünschen sie mir einen schönen Tag.
Einmal, als sie mich in der Entgiftung einsetzen, sitzt da ein junges Mädchen vor dem Aufnahmezimmer. Ihre Gesichtszüge zucken, die Hände suchen, knibbeln, kratzen, ballen Fäuste, reiben auf dem Hosenstoff der Oberschenkel.
Ich stehe auf einer kleinen Leiter und putze die hohen Fenster, recke mich nach oben, bis mir die Arme müde werden. Sie wird ins Aufnahmezimmer gerufen, kurz darauf kommt eine Krankenschwester mit ihr raus, begleitet sie zur Toilette, danach gehen sie gemeinsam zurück ins Aufnahmezimmer. Als ich beim letzten Fenster im Flur angekommen bin, stürmt das Mädchen weinend raus.
Kurz darauf schiebt die Schwester den Visitenwagen auf den Flur, und ich höre den Chefarzt sagen: Wenn sie’s doch nicht will, bieten Sie ihr einen Pro-Familia-Termin an. Ansonsten … sollen wir dem Kind schon mal einen Termin für in sechzehn Jahren geben, oder geht unser Kalender noch nicht so weit?
Mein Freund bekommt an der Supermarktkasse einen dieser Familienkalender geschenkt und hängt ihn in meine Küche. Er ist bunt und fröhlich und hat dutzende Spalten und Zeilen, für die Termine dutzender Kinder, doch wir sind zu zweit. Ich schreibe über eine Zeile Bier, über die andere Schnaps.