Das schwarze Buch - Orhan Pamuk - E-Book + Hörbuch

Das schwarze Buch E-Book und Hörbuch

Orhan Pamuk

3,8

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Beschreibung

Ein Mann auf der Suche nach der geliebten, grundlos verschwundenen Frau. Auch ihr Halbbruder ist unauffindbar, dessen Zeitungskolumnen erscheinen jedoch weiterhin. Ein geheimnisvoller Hinweis? Tagelang streift Galip, Orhan Pamuks Held, durch die schillernde Ober- und Unterwelt Istanbuls, begegnet Zuhältern, Derwischen, Betrügern. Pamuks Roman und Kriminalgeschichte ist wie die Stadt am Bosporus voller Labyrinthe, alles wird symbolisch. Suchend ergründet Galip die Mysterien der Stadt und der eigenen Vergangenheit. »Die Stadt Istanbul hat ihren Meister gefunden, wie einst Dublin in James Joyce, Prag in Franz Kafka.« STUTTGARTER ZEITUNG

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Seitenzahl: 844

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Zeit:9 Std. 19 min

Sprecher:Heikko Deutschmann

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Hanser E-Book

Orhan Pamuk

Das schwarze Buch

Aus dem Türkischen vonIngrid Iren

Carl Hanser Verlag

Die Originalausgabe erschien 1990 unter dem TitelKara kitap bei Yayınları Ltd. in Istanbul.

ISBN: 978-3-446-25232-5

© Orhan Pamuk 1994

Alle Rechte der deutschen Ausgabe

© Carl Hanser Verlag München Wien 1995/2016

Schutzumschlag: Peter-Andreas Hassiepen

Satz: Fotosatz Reinhard Amann Aichstetten

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Datenkonvertierung E-Book: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

INHALT

ERSTER TEIL

ERSTES KAPITELAls Galip Rüya zum erstenmal sah

ZWEITES KAPITELWenn der Bosporus austrocknet

DRITTES KAPITELViele Grüße an Rüya

VIERTES KAPITELAlaaddins Laden

FÜNFTES KAPITELKinderei ist das!

SECHSTES KAPITELMeister Bediis Kinder

SIEBTES KAPITELDie Lettern des Berges Kaf

ACHTES KAPITELDie drei Musketiere

NEUNTES KAPITELJemand folgt mir

ZEHNTES KAPITELDas Auge

ELFTES KAPITELWir haben unser Gedächtnis im Kino verloren

ZWÖLFTES KAPITELDer Kuß

DREIZEHNTES KAPITELSchau mal, wer da ist!

VIERZEHNTES KAPITELWir warten alle auf IHN

FÜNFZEHNTES KAPITELLiebesgeschichten einer Winternacht

SECHZEHNTES KAPITELIch muß ich selbst sein

SIEBZEHNTES KAPITELHaben Sie mich erkannt?

ACHTZEHNTES KAPITELDer Dunkelschacht des Hauses

NEUNZEHNTES KAPITELDie Zeichen der Stadt

ZWEITER TEIL

ERSTES KAPITELDie Geisterwohnung

ZWEITES KAPITELKönnen Sie nicht schlafen?

DRITTES KAPITELWer hat Şemsi Tebrizi ermordet?

VIERTES KAPITELDie Geschichte derer, die keine Geschichte erzählen können

FÜNFTES KAPITELRätsel in den Gesichtern

SECHSTES KAPITELDas Gesicht und sein Henker

SIEBTES KAPITELDas Geheimnis der Schriftzeichen und der Verlust des Geheimnisses

ACHTES KAPITELEin lange währendes Schachspiel

NEUNTES KAPITELEntdeckung des Geheimnisses

ZEHNTES KAPITELSiehe da, der Held bin ich

ELFTES KAPITELBruder mein!

ZWÖLFTES KAPITELDie Geschichte drang in den Spiegel ein

DREIZEHNTES KAPITELIch bin kein Geisteskranker, nur ein treuer Leser

VIERZEHNTES KAPITELDas Geheimnis der Bilder

FÜNFZEHNTES KAPITELNicht der Erzähler, die Erzählung

SECHZEHNTES KAPITELDie Geschichte des Prinzen

SIEBZEHNTES KAPITELIch aber, der dies schrieb

GLOSSAR

Für Aylın

Wie Ibni Arabi als wahre Begebenheit schildert, war einer seiner Freunde, ein Derwisch, den die Geister himmelwärts trugen, einmal zu dem die Erde umfangenden Berge Kaf gelangt und hatte gesehen, daß der Berg selbst von einer Schlange umwunden wurde. Heute ist klar, daß es keinen solchen Berg und keine den Berg umwindende Schlange gibt.

Enzyklopädie des Islam

ERSTER TEIL

ERSTESAls Galip Rüya zum erstenmal sah

Verwendet kein Epigraph, denn es tötet das im Text verborgene Geheimnis!

Adli

Stirbt es auf diese Weise, dann töte das Geheimnis, töte den falschen Propheten, der geheimes Wissen feilbietet.

Bahti

Rüya schlief, bäuchlings ausgestreckt, in der mollig-warmen Dunkelheit unter den Schattentälern und indigoweichen Hügeln des blaugewürfelten Steppdeckenreliefs, welches das Bett von oben bis unten überzog. Von draußen drangen die ersten Laute des Wintermorgens herein: einzeln vorbeifahrende Autos und alte Busse, vom Gehsteig her das dumpfe Klingen der Kupferkannen des Salepverkäufers, der sein heißes Getränk gemeinsam mit dem Pastetenhändler anbot, und die Trillerpfeife des Platzanweisers an der Dolmuşstation. Das Winterlicht, vom Dunkelblau der Vorhänge entfärbt, sickerte fahlgrau ins Zimmer. Noch schlaftrunken betrachtete Galip neben sich den Kopf seiner Frau, den die Steppdeckenkante freiließ. Rüyas Kinn war in den Federn des Kopfkissens vergraben. Etwas Unwirkliches umspielte die Neigungslinie der Stirn, man wurde ängstlich und zugleich neugierig auf die wunderbaren Dinge, die sich gerade jetzt in dem Gehirn dahinter abspielten. »Das Gedächtnis«, hatte Celâl in einer seiner Kolumnen gesagt, »ist ein Garten.« »Rüyas Garten, Rüyas Gärten …« war es Galip damals durch den Kopf gegangen, »nicht an sie denken, nicht daran denken, sonst wirst du eifersüchtig!« Doch Galip betrachtete die Stirn seiner Frau und dachte nach.

Er wollte jetzt durch Rüyas fest verschlossene Gärten streifen, in der friedlichen Versunkenheit ihres Schlafes, wollte unter Weiden, Akazien und Kletterrosen in der Sonne wandern. Angefangen von den Gesichtern, die ihm dort begegneten, beschämt und ängstlich: »Ach, du bist auch hier? Guten Tag!«, bis zu den unbequemen, bewußt erwarteten Erinnerungen, aber auch dem unvermuteten Anblick von Männerschatten, schmerzlich interessiert: »Verzeihung, mein Lieber, wo sind Sie meiner Frau begegnet, wo haben Sie sich kennengelernt?« »Vor drei Jahren bei Ihnen zu Hause; auf den Seiten einer Modezeitschrift, in Alaaddins Laden gekauft; in der von Ihnen gemeinsam besuchten Mittelschule; im Eingang des Kinos, das Sie beide Hand in Hand betreten haben …« Doch nein, vielleicht waren Rüyas Gedankengänge nicht so gedrängt voll, nicht so grausam, vielleicht auch befanden sich Rüya und Galip gerade in dem einzigen von einem Sonnenstrahl erhellten Winkel dieses dunklen Gedächtnisgartens auf einer Bootsfahrt. Sechs Monate nach der Ankunft von Rüyas Familie in Istanbul waren sie beide, Galip und Rüya, an Mumps erkrankt. Damals hatten manchmal seine, manchmal ihre Mutter, die schöne Schwägerin Suzan, oder auch beide Mütter gemeinsam die Kinder an der Hand genommen und mit ihnen nach einer Busfahrt über das holprige Kopfsteinpflaster in Bebek oder Tarabya ein Boot bestiegen. Mikroben waren in jenen Jahren berühmt, nicht die Medikamente, und man glaubte, ein Ausflug in der sauberen Luft auf dem Bosporus würde den mumpskranken Kindern guttun. Das Meer war ruhig gewesen in den Morgenstunden, der Kahn weiß und der Bootsmann stets von gleicher Freundlichkeit. Die Mütter und Schwägerinnen setzten sich dann ins Heck des Bootes, Galip und Rüya, von dem sich auf- und abwiegenden Rücken des Ruderers verdeckt, nebeneinander auf den Bug. Unter den vom Bootsrand baumelnden, einander so ähnlichen Füßen und schmalen Fesseln floß das Meer träge dahin, glitten Algen, regenbogenfarbene Ölflecken, kleine, fast durchscheinende Kiesel und noch leserliche Fetzen von Zeitungen vorbei, auf denen – schau mal, wer weiß?! – vielleicht einer von Celâls Artikeln stand.

Als Galip sechs Monate vor dem Mumps Rüya zum erstenmal begegnete, saß er zum Haareschneiden auf einem Hocker, den man auf den Eßtisch gestellt hatte. Der Barbier, ein großer Mann mit Douglas-Fairbanks-Bärtchen, kam damals fünf Tage die Woche ins Haus, um den Großvater zu rasieren. Es war die Zeit, als vor dem Geschäft des Arabers und Alaaddins Laden lange Schlangen nach Kaffee anstanden, Nylonstrümpfe schwarz verkauft wurden, sichdie 56er Chevrolet-Modelle in Istanbul vermehrten, Galip das erste Schuljahr und gleichzeitig sehr aufmerksam die zweite Seite der Zeitung Milliyet zu lesen begann, auf der fünfmal die Woche unter dem Namen Selim Kaçmaz ein Aufsatz von Celâl erschien; doch war es nicht die Zeit, in der er Lesen und Schreiben lernte, das hatte ihm seine Großmutter schon zwei Jahre zuvor beigebracht. Sie saßen an einer Ecke des Eßtisches: Nachdem die Großmutter mit rasselnder Stimme die größte Hexerei enthüllt hatte, nämlich, wie sich Buchstaben zu Wörtern verschlingen, blies sie den Rauch ihrer ständig an der Lippe hängenden Bafra-Zigarette von sich, was die Augen des Enkels zum Tränen brachte und das übergroße Pferdebild in seinem ABC-Buch durch den blauen Dunst lebendig werden ließ. Das mächtige Tier, unter dem die Buchstaben A + T = AT geschrieben standen, war größer als die knochigen Gäule vor den Karren des Wasserhändlers und des schlitzohrigen Trödlers. Damals dachte Galip daran, über dem kräftigen ABC-Pferd eine Zaubertinktur auszugießen, wie man sie verwendet, um Bilder lebendig zu machen, später jedoch, als er in der Schule noch einmal nach dem gleichen ABC Lesen und Schreiben lernen mußte, weil man ihm nicht erlaubte, mit der zweiten Klasse zu beginnen, sollte er diesen Gedanken unsinnig finden.

Wenn’s dem Großvater damals, wie versprochen, möglich gewesen wäre, diese Zaubertinktur in der granatapfelroten Flasche von draußen mitzubringen, dann hätte Galip gerne die Flüssigkeit über die Zeppeline aus dem Ersten Weltkrieg, über die alten, verstaubten Ausgaben der Illustration voller Kanonen und schlammbesudelter Leichen, über die Postkarten von Onkel Melih aus Paris und Marokko und über das von Vasıf aus der Welt ausgeschnittene Zeitungsbild der Orang-Utan-Mutter mit ihrem Jungen an der Brust und über die merkwürdigen, aus Celâls Zeitungen stammenden Gesichter ausgegossen. Doch der Großvater ging auch nicht mehr fort, nicht einmal zum Friseur, er blieb den ganzen Tag zu Hause. Trotzdem war er so gekleidet, als ginge er ins Geschäft, wie früher an bestimmten Tagen: eine alte englische Jacke mit breitem Kragen, dunkelgrau wie seine sonntäglichen Bartstoppeln, eine verknautschte Hose, Manschettenknöpfe und ein, wie der Vater meinte, dünner, langer Beamtenschlips. Die Mutter aber sagte nicht: »Schlips«, sie sagte: »Krawatte«, weil ihre Familie früher einmal reicher gewesen war. Danach fingen die Eltern an, vom Großvater wie von einem der alten, anstrichbedürftigen Holzhäuser zu sprechen, die Tag um Tag eins nach dem anderen niedergerissen wurden, und wenn sie schließlich den Großvater vergaßen und ihr Gespräch lauter wurde, wandten sie sich Galip zu: »Los, geh nach oben zum Spielen!« »Soll ich mit dem Fahrstuhl nach oben fahren?« »Allein soll er den Aufzug nicht benutzen!« »Soll ich mit Vasıf spielen?« »Nein, der ärgert sich!«

Was jedoch nicht stimmte. Vasıf war zwar taubstumm, aber wenn ich am Boden herumkroch, verstand er, daß ich mich nicht über ihn lustig machte, sondern »Geheimer Gang« spielte und das tiefste Dunkel des Wohnhauses, gleichsam das Ende der Höhle, unter den Betten hindurchgleitend erreichte und wie ein Soldat katzenhaft lautlos durch einen Tunnel bis zu den feindlichen Gräben vorstieß, doch die anderen wußten das nicht, außer Rüya, die später hinzukam. Manchmal blickten Vasıf und ich lange Zeit gemeinsam aus dem Fenster auf den Schienenstrang der Straßenbahn. Vom Betonerker des Betonhauses reichte der Blick auf einer Fensterseite bis zu der Moschee, dem einen Ende der Welt, auf der anderen Seite bis zu dem Lyzeum, dem anderen Ende der Welt, und dazwischen befanden sich die Polizeistation, der riesige Kastanienbaum, die Straßenecke und Alaaddins florierender Laden. Wenn Vasıf, während wir die ein- und ausgehenden Kunden beobachteten und uns gegenseitig die vorbeifahrenden Autos zeigten, plötzlich in Aufregung geriet und ein schauderhaftes Krächzen hören ließ, als würde er im Traum mit dem Teufel ringen, fuhr ich verstört zusammen. Ein wenig hinter uns saß der Großvater in dem Lehnstuhl mit einem zu kurzen Bein der Großmutter gegenüber, das Radio lief, beide rauchten wie die Schlote, und er sagte zu ihr: »Vasıf hat wieder den Galip erschreckt!«, was sie nicht beachtete, und dann fragte er, weniger aus Neugier als aus Gewohnheit: »Na, wie viele Autos habt ihr denn nun gezählt?« Doch wenn ich über die Anzahl der Dodges, Packards, De Sotos und neuen Chevrolets Auskunft gab, hörten sie gar nicht hin.

Die Großeltern unterhielten sich ständig, während aus dem Radio, auf dem friedvoll ein dichtbehaarter Nippeshund nichttürkischer Rasse ruhte, von morgens bis abends Musik alla turca und alla franca drang, dazu Nachrichten und Werbung für Banken, Eau de Cologne und die Staatslotterie. Wie über anhaltende Zahnschmerzen, die zur Gewohnheit werden, so klagten sie die meiste Zeit über die ständige Zigarette in der Hand, beschuldigten sich gegenseitig dafür, daß sie das Rauchen noch immer nicht lassen konnten, und wenn schließlich einer von ihnen einen Hustenanfall bekam, erklärte der andere zunächst fröhlich und siegesgewiß, später besorgt und zornig, wie sehr er doch recht habe. Gleich darauf aber geriet einer von beiden so richtig aus dem Häuschen: »Laß mich doch endlich in Ruhe! Ich habe doch nichts mehr vom Leben, außer dem Rauchen!« und fügte noch eine Zeitungsweisheit hinzu: »Soll gut sein für die Nerven!« Vielleicht schwiegen sie danach für kurze Zeit, aber diese stillen Pausen, in denen das Ticken der Wanduhr auf dem Flur zu hören war, hielten nicht lange an. Während die Zeitungen bald wieder in ihren Händen raschelten oder während sie nachmittags Bésigue spielten, redeten sie miteinander, desgleichen, wenn die anderen Bewohner des Hauses zum Abendessen oder zum gemeinsamen Radiohören kamen. Und nach dem Lesen von Celâls Kolumne in der Zeitung äußerte sich der Großvater: »Wenn er seinen eigenen Namen daruntersetzen dürfte, würde er vielleicht vernünftiger werden.« »Alter«, seufzte die Großmutter und stellte, als sei es das erstemal, mit höchst gespannter Miene stets die gleiche Frage: »Schreibt er so schlecht, weil sie ihm nicht erlauben, seinen eigenen Namen darunterzusetzen, oder erlaubt man’s ihm nicht, weil er so schlecht schreibt?« Einmal bei dieser, ein andermal bei jener Ansicht Trost suchend, gab dann der Großvater zurück: »Da man ihm nicht erlaubt, unter seinem Namen zu schreiben, versteht wenigstens kaum einer, daß er uns blamiert.« »Niemand versteht das«, meinte darauf die Großmutter nicht ganz aufrichtig, wie Galip spürte. »Wer sagt denn, daß in den Aufsätzen von uns die Rede ist?«, wobei es um einen jener Artikel ging, die Celâl in späteren Jahren, als er jede Woche Hunderte von Leserbriefen erhielt, leicht verändert unter seinem eigenen wohltönenden Namen nochmals veröffentlichen sollte, weil, wie manche meinten, der Fluß seiner Phantasie ausgetrocknet war oder, anderen zufolge, weil er wegen der Frauen und seiner politischen Tätigkeiten keine Zeit fand, oder auch einfach aus Faulheit; und der Großvater antwortete wie ein Schmierenkomödiant, der voll Überdruß und mit dem vagen Empfinden des Unechten einen schon hundertfach zitierten Satz zum x-tenmal wiederholt: »Ach du meine Güte, wer wüßte wohl nicht, daß in dem Artikel über das Etagenhaus von unserem Haus die Rede ist!«, worauf die Großmutter dann schwieg.

Damals hatte der Großvater erstmals von jenem Traum zu sprechen begonnen, den er später so häufig zu sehen bekam. Eine blaue Vision, die er mit hin und wieder aufblitzenden Augen beschrieb, so blau wie die Geschichten, die sich die Großeltern den ganzen Tag über immer von neuem erzählten. Da im Traum ununterbrochen ein dunkelblauer Regen fiel, wurden Haare und Bart des Großvaters ständig länger. Wenn die Großmutter der Traumgeschichte geduldig zugehört hatte, sagte sie: »Der Barbier kommt gleich«, doch der Großvater mochte gar nicht, daß der Barbier erwähnt wurde: »Er spricht zuviel und fragt zuviel!« Ein-, zweimal hatte Galip nach der Rede vom blauen Traum und vom Barbier den Großvater leise ausatmend sagen hören: »Wir hätten anderswo ein anderes bauen lassen müssen. Hat uns kein Glück gebracht, dieses Etagenhaus!«

Lange Zeit, nachdem man die Etagen-Wohnungen des Şehrikalp-Hauses eine nach der anderen verkauft, ein anderes Gebäude bezogen hatte und das Haus wie andere seiner Art in der Gegend von kleinen Konfektionären, Frauenärzten mit geheimer Abtreibungspraxis und Versicherungsagenten besetzt worden war, fragte sich Galip jeden Abend, wenn er an Alaaddins Laden vorbeikam und zu der häßlichen, dunklen Fassade hinüberschaute, warum der Großvater dies wohl gesagt haben mochte. Er wußte, daß dem alten Mann weder die Frage noch das Thema gefiel, wenn ihn der Barbier mehr aus Gewohnheit als aus Wißbegier bei jeder Rasur nach Onkel Melih fragte, der Jahre brauchte, um erst aus Europa und Afrika, dann aus Izmir nach Istanbul in das Haus der Familie heimzukehren (»Wann kommt denn, efendim, der große Junge aus Afrika zurück?«). So ahnte er damals schon, daß der Großvater die unglückbringende Bedeutung mit der Abreise und der Heimkehr seines ältesten und sonderbarsten Sohnes verband, der eines Tages Frau und Kind verließ, ins Ausland ging und dann mit einer neuen Frau und einer Tochter, Rüya, zurückkam.

Zu Beginn der Bauarbeiten für das Apartmenthaus sei Onkel Melih keine dreißig Jahre alt und noch hier gewesen, wie Celâl lange Zeit danach Galip erzählte. Abends waren der Vater und die Brüder aus der »Weißen Apotheke« in Karaköy und aus dem Zuckerwarenladen in Sirkeci gekommen, den sie zunächst, weil sie dem Süßwarenhersteller Haci Bekir und seinem Lokum keine Konkurrenz machen konnten, in eine Feinbäckerei, dann in ein Eßlokal umwandelten, wo sich die auf den Regalen aufgereihten Einmachgläser der Großmutter mit Quitten-, Feigen- und Morellenkonfitüren noch gut verkaufen ließen. Dann hatte auch Onkel Melih, um sie zu treffen, sein Büro verlassen, wo Zank und Streit die Rechtsgeschäfte überwogen und er auf den Seiten alter Prozeßakten mit Bleistift Schiffe und einsame Inseln zeichnete, war auf die Baustelle in Nişantaşı gekommen, hatte Jacke und Schlips abgelegt, die Ärmel hochgekrempelt und selbst mit angefaßt, um die gegen Feierabend nachlässig werdenden Arbeiter anzufeuern. Damals hatte er auch davon zu sprechen begonnen, daß jemand nach Frankreich und nach Deutschland reisen müßte, um die europäische Art der Süßwarenfabrikation zu lernen, um Silberpapier für die Verpackung glasierter Maronen zu bestellen, um mit den Franzosen gemeinsam die Herstellung bunter Badeseifen mit Luftballons zu organisieren, um aufzukaufen, was damals billig zu haben war, Maschinen aus den reihenweise Bankrott machenden Fabriken in Europa und Amerika und einen Konzertflügel für Tante Hâle, und um den tauben Vasıf zu einem guten Ohrenarzt und Gehirnspezialisten zu bringen. Das Haus war fertig gewesen, aber noch nicht bezogen worden, als Vasıf und Onkel Melih zwei Jahre danach mit der Tristana nach Marseille fuhren, einem rumänischen Dampfer, dessen rosenwasserduftendes Foto Galip irgendwann in einem von Großmutters Kartons entdeckte und der, wie Celâl acht Jahre darauf aus einem von Vasıfs Zeitungsausschnitten erfahren hatte, im Schwarzen Meer mit einer streunenden Mine zusammengestoßen und gesunken war. Vasıf war, als er nach Jahresfrist allein mit dem Zug nach Sirkeci zurückkehrte, immer noch taubstumm gewesen, »natürlich«, wie Tante Hâle mit Nachdruck betonte (wobei Galip, wenn das Gespräch darauf kam, den verborgenen Sinn dieses Ausdrucks jahrelang nicht finden konnte), doch er hatte ein Aquarium mit japanischen Fischen fest umklammert gehalten, die er niemals allein ließ in der ersten Zeit, die er manchmal atemlos und aufgeregt, dann wieder bekümmert mit nassen Augen betrachtete und mit deren Urgroßenkeln er noch fünfzig Jahre später befreundet sein sollte. Celâl und seine Mutter hatten damals in der später von einem Armenier gekauften dritten Etage gewohnt, sich dann aber im Dachgeschoß eingerichtet, das zunächst Abstellraum gewesen, dann aber zu einer kleinen, von der Front zurückgesetzten Wohnung ausgebaut worden war, so daß ihre Etage vermietet werden konnte, weil man Onkel Melih Geld schicken mußte, damit er in der Lage war, seine kommerziellen Forschungsgänge auf den Straßen von Paris fortzusetzen. Als seine Briefe mit Rezepten für Zuckerwerk und Torten, mit Formeln für Seifen und Eau de Cologne und mit den Bildern der Künstler und Ballerinen, den Käufern jener Produkte, spärlicher wurden, als immer weniger Pakete mit Pfefferminzzahnpasta, glasierten Maronen, Likörpralinen, mit Matrosen- und Feuerwehrmännermützen für Kinder ankamen, da hatte Celâls Mutter den Gedanken gefaßt, mit ihrem Sohn ins Elternhaus zurückzukehren. Doch erst mußte noch der Weltkrieg ausbrechen und Onkel Melih aus Bengasi eine Postkarte schicken, auf der ein Flugzeug und ein seltsames Minarett zu sehen waren, bevor sie endgültig den Entschluß fassen konnte, mit Celâl das Familienapartmenthaus zu verlassen und wieder nach Aksaray zu ziehen, in das Holzhaus zu ihrer Mutter und ihrem Vater, einem kleinen, in einer Stiftung tätigen Beamten. Im Anschluß an diese braun-weißen Postkarten mit der Nachricht, daß die Wege in die Heimat vermint seien, hatte Onkel Melih aus Marokko, wohin er lange nach Kriegsende gereist war, noch weitere, schwarzweiße Bildpostkarten geschickt. Eine handkolorierte Ansicht des Kolonialhotels, das später Drehort des amerikanischen Films mit den die gleichen Bardamen liebenden Waffenhändlern und Spionen wurde, hatte den Großeltern schließlich mitgeteilt, daß Onkel Melih in Marrakkesch eine junge Türkin kennengelernt und geheiratet hatte, daß die Braut aus dem Geschlecht des Propheten Mohammed stammte und somit eine Seyyide und außerdem sehr schön war. (Viele Jahre später, nachdem Galip aus den Fahnen, die man im zweiten Stock vom Hotelbalkon flattern sah, das jeweilige Land erraten hatte, dachte er beim Wiederbetrachten dieser Postkarte sekundenlang in der Celâlschen Weise an die Geschichten vom Beyoğlu-Ganoven und kam zu dem Schluß, daß eines der Zimmer in diesem cremetortenfarbigen Hotel der Ort gewesen sein müßte, wo »der erste Same gelegt wurde« für Rüyas Existenz.) Was die sechs Monate nach dieser Nachricht aus Izmir eingetroffene Karte betraf, so hatten sie bezweifelt, daß sie von Onkel Melih war, denn niemand glaubte mehr daran, daß er in die Türkei zurückkommen würde; gab es doch Gerüchte, denen zufolge er mit seiner neuen Frau gemeinsam Christ geworden sei, sich einer nach Kenia reisenden Gruppe von Missionaren angeschlossen habe und dort in einem Tal, wo die Löwen dreihörnige Hirsche jagten, dabei sei, eine Sekte zu gründen, die Halbmond und Kreuz vereinen wollte. Ein Neugieriger aber, der die Verwandtschaft der Braut in Izmir kannte, ließ wissen, daß Onkel Melih durch seine dunklen Geschäfte während des Krieges in Nordafrika (Waffenhandel, Bestechung eines Königs und so weiter) endlich auf dem Wege zum Millionär sei, daß er dem Drängen seiner auffallend schönen Frau nicht mehr widerstehen könne und mit ihr zusammen nach Hollywood gehen würde, um sie berühmt zu machen, daß jetzt schon die Bilder der jungen Frau in den arabisch-französischen Zeitschriften erschienen, et cetera. Tatsächlich aber hatte Onkel Melih das Heimweh nicht mehr ertragen können, war krank geworden und deswegen zu dem Entschluß gekommen, in die Türkei zurückzukehren, wie er auf dieser Postkarte schrieb, die wochenlang im Hause von einem Stockwerk zum anderen wanderte und wie ein Geldstück, an dessen Echtheit man zweifelte, stellenweise mit dem Fingernagel aufgekratzt und reichlich mitgenommen war. »Jetzt« gehe es ihnen gut, er habe sich der Handelsgeschäfte des Schwiegervaters mit Feigen und Tabak in neuer, einem modernen Finanzierungsgebaren entsprechender Weise angenommen. Bald darauf war von ihm eine Karte gekommen, bedeckt mit einem krausen Wust an Worten, die auf jeder Etage des Hauses, vielleicht wegen der fraglichen Anteilrechte, die künftig die ganze Familie in einen stillen Krieg hineinziehen sollten, eine andere Deutung erfuhr; doch Onkel Melih hatte nur, wie auch Galip später nachlesen konnte, in einer gar nicht so verschlungenen Sprache mitgeteilt, daß er in Kürze nach Istanbul zurückkehren wolle und daß er Vater einer Tochter geworden sei, deren Name noch nicht feststand.

Galip hatte Rüyas Namen zum erstenmal auf einer dieser Postkarten gesehen, mit welchen die Großmutter den Spiegel der Anrichte umsteckte, die zur Aufbewahrung etlicher Garnituren Likörgläser diente. Zwischen den Ansichten von Kirchen, Brücken, Türmen, Schiffen, Moscheen, Wüsten, Pyramiden, Hotels, Parks und Tieren, die dem riesigen Spiegel einen zweiten Rahmen verliehen und manchmal den Großvater wütend machten, staken auch Baby- und Kleinmädchenbilder von Rüya. Galip interessierte sich damals weniger für seines Onkels Tochter – mit dem neuen Ausdruck: Kusine – Rüya, die in seinem Alter war, wie es hieß, als für das Moskitonetz, diese unheimliche, die Phantasie erregende Schlafhöhle, in der sie lag, und für die traurig in die Kamera blickende Schwägerin und Seyyide Suzan, die mit einer Hand die schwarzweiße Höhle offenhielt und ihr darin liegendes Kind zeigte. Erst später hatte er begriffen, daß der Anblick dieser Schönheit jeden im Hause, Männer wie Frauen, gleicherweise fesselte, so daß sie für Augenblicke still und abwesend waren, wenn Rüyas Fotografien von einer Hand zur anderen wanderten. Man spekulierte damals oft darüber, wann wohl Onkel Melih und die Seinen nach Istanbul kommen und auf welcher Etage sie wohnen würden. Nachdem Celâls Mutter, wieder mit einem Rechtsanwalt verheiratet, in jungen Jahren an einer von jedem Arzt anders benannten Krankheit starb, war ihm das spinnwebverhangene Haus in Aksaray unerträglich geworden, und er hatte, auf Drängen der Großmutter in das Haus der Familie zurückgekehrt, das Dachgeschoß bezogen. Er bemühte sich in jenen Tagen, für das Blatt, in dem später seine tägliche Spalte unter einem Pseudonym erscheinen sollte, die Fußballspiele zu verfolgen und möglichen Absprachen auf die Schliche zu kommen, er schmückte Geschichten aus von mysteriösen, raffinierten Morden, die von den Rausschmeißern der Bars, Pavillons und Bordelle in den Hintergassen von Beyoğlu begangen wurden, erfand Kreuzworträtsel, deren schwarze Karos stets die Zahl der freien Felder überwogen, sorgte für die rechtzeitige Fortsetzung der endlosen Fortsetzungsserie des Meisters, wenn sie ins Stocken geriet, weil der Autor zu tief ins Glas mit opiumhaltigem Wein geschaut hatte, füllte von Zeit zu Zeit auch die Spalten »Ihre Persönlichkeit – Ihre Handschrift«, »Wir deuten Ihre Träume«, »Ihr Gesicht – Ihre Persönlichkeit«, »Glaub es oder glaub es nicht« und »Ihr Horoskop heute« (wie Verwandte, Bekannte und andere behaupteten, wurden in dieser Horoskopspalte seinen Geliebten erstmals Grüße zugesandt), rezensierte in seiner verbleibenden Zeit die neuesten amerikanischen Filme, die er umsonst in den Kinos sah, und man sagte, wenn er weiter allein im Dachgeschoß wohnen bleibe, könne er bei soviel Fleiß mit dem Geld, das er als Zeitungsmann verdiene, sogar noch heiraten. Während Galip viel später eines schönen Morgens das bejahrte Kopfsteinpflaster der Straßenbahnlinie unter einer sinnlosen Asphaltdecke verschwinden sah, war ihm der Gedanke gekommen, die vom Großvater als Unglück bezeichnete Sache könne vielleicht auch mit dieser merkwürdigen Enge, mit dieser Raumnot im Gebäude oder mit etwas ähnlichem zusammenhängen, das unklar und furchteinflößend war. Als Onkel Melih, wie um seinen Zorn zu zeigen, daß man seine Postkarten nicht ernst genommen hatte, eines Abends plötzlich mit seiner schönen Frau, seiner schönen Tochter und allem Sack und Pack nach Istanbul gekommen und im Haus der Familie aufgetaucht war, hatte er sich selbstverständlich mit den Seinen in dem bis dahin von Celâl bewohnten Dachgeschoß niedergelassen.

An jenem Frühlingsmorgen, als Galip zu spät zur Schule kam, hatte er geträumt, daß er zu spät zur Schule kommen würde. Er war mit einem schönen blauhaarigen Mädchen, das er nicht erkannte, in einem Linienbus der Stadt gefahren, der sich von der Schule entfernte, wo noch die letzten Seiten der ersten Fibel zu lernen waren. Nach dem Aufwachen wurde ihm klar, daß er nicht allein zu spät zur Schule, sondern auch der Vater zu spät zur Arbeit kommen würde. Die Eltern saßen am Frühstückstisch mit der blauweißen Schachbrettdecke, den die Sonne täglich eine Stunde lang bedachte, und sprachen von den Neuankömmlingen, die sich am Abend zuvor im Dachgeschoß niedergelassen hatten, wie von den Ratten, die man im Lichtschacht fing, oder wie von den Nachtmahren und Dämonen der Hausgehilfin Esma Hanım. Wie Galip nicht daran denken mochte, warum er nicht rechtzeitig zur Schule kam, und wie er sich für das Zuspätkommen schämte, so wollte er auch nicht darüber nachdenken, wer diese Leute da oben im Dachgeschoß waren. Er ging hinauf in die Wohnung der Großeltern, die stets das gleiche wiederholten, doch hier fragte der Barbier den recht unglücklich dreinschauenden Großvater während des Rasierens nach den Bewohnern des Dachgeschosses aus. Die sonst am Spiegel der Anrichte steckenden Postkarten lagen verstreut herum, hier und dort standen fremdartige Dinge, und es gab auch ein neues Parfum, nach dem er später süchtig werden sollte. Er fühlte sich plötzlich hohl im Innern, spürte Angst und Sehnsucht: Wie waren wohl die Länder, die er teils koloriert auf den Postkarten gesehen hatte? Und wie ging es der schönen Schwägerin, die er aus den Fotografien kannte? Er wollte groß werden und ein Mann sein! Die Großmutter freute sich, als er sagte, er sei zum Haareschneiden gekommen, doch wie die meisten schwatzhaften Leute hatte der Barbier kein Verständnis, er ließ Galip nicht in Großvaters Sessel sitzen, sondern auf einem Hocker, der auf den Tisch gestellt wurde. Außerdem war der Umhang, den er dem Großvater abnahm und Galip umband, viel zu groß, und nicht genug damit, daß er zum Ersticken eng gebunden war, hing er wie ein Mädchenrock hinunter bis weit über die Knie!

Als Galip sehr viel später, auch lange nach der Hochzeit, die, von ihm genau berechnet, neunzehn Jahre, neunzehn Monate und neunzehn Tage nach dieser ersten Begegnung stattfand, manchmal in der Frühe neben sich den im Kissen vergrabenen Kopf seiner schlafenden Frau betrachtete, meinte er, durch das Blau der Steppdecke, die Rüya umhüllte, die gleiche Unruhe zu spüren wie einst durch das Blau des Umhangs, den der Barbier nach dem Großvater Galip umgelegt hatte, doch in der Annahme, daß Rüya eines so vagen Grundes wegen den Deckenbezug nicht auswechseln würde, hatte er seiner Frau nichts gesagt.

Gewohnt, sich leicht und lautlos zu bewegen, schlüpfte Galip vorsichtig aus dem Bett, um die Zeitung zu holen, die unter der Tür durchgeschoben sein mußte, wie er meinte, doch seine Füße trugen ihn nicht zum Eingang, sondern zum Klo und dann zur Küche. Der Teekessel war nicht dort, und im Wohnzimmer konnte er nur das Kännchen finden. Rüya hatte hier wohl, lesend oder nicht lesend, bis zum Morgen mit einem neuen Kriminalroman verbracht, da der kupferne Aschenbecher voller Zigarettenstummel war. Er fand den Teekessel auf der Toilette – weil der Wasserdruck zu schwach war, wurde das Wasser statt in jenem »Boiler« genannten fürchterlichen Gerät in dem noch immer einzigen Wasserkessel ihres Haushaltes erhitzt. Sie machten manchmal, wie bei Großmutter und Großvater, wie bei Vater und Mutter üblich, treu und brav und ungeduldig das Wasser heiß, bevor sie sich liebten.

Doch die Großmutter, bei einer der mit »Laß diese Zigaretten!« beginnenden Streitereien als undankbar bezichtigt, hatte zum Großvater gesagt, sie habe morgens nicht ein einziges Mal das Bett nach ihm verlassen. Vasıf blickte neugierig. Galip hörte zu und überlegte, was die Großmutter gemeint haben könnte. In späterer Zeit schrieb Celâl etwas zu diesem Thema, doch nicht in dem von der Großmutter gemeinten Sinne: »Nicht nur das Aufstehen vor dem ersten Morgengrauen und im Stockfinsteren«, schrieb er, »auch das Aufstehen der Frauen vor den Männern ist eine bäuerische Angewohnheit.« Nach dem Lesen des letzten Abschnittes dieses Artikels, in dem die morgendlichen Aufstehgewohnheiten von Großmutter und Großvater (Zigarettenasche auf der Steppdecke, Zahnbürste und Gebiß in einem Glas, Überfliegen der Todesanzeigen mit geübtem Blick) nur gering verändert dem Leser dargeboten wurden, stellte die Großmutter fest: »Das heißt also, wir sind Bauern!«, und der Großvater meinte: »Wir hätten ihn morgens Linsensuppe essen lassen sollen, dann wüßte er, was es heißt, ein Bauer zu sein!«

Während Galip die Tassen ausspülte, nach einem sauberen Besteck und Tellern suchte, aus dem nach Pastırma riechenden Kühlschrank Weißkäse und Oliven nahm, die wie Plastikimitationen aussahen, und sich mit heißem Wasser aus dem Teekessel rasierte, wollte er eigentlich etwas Lärm machen, um Rüya aufzuwecken, doch dieser Lärm kam nicht zustande. Als er am Tisch sitzend seinen Tee trank, der nicht lange genug gezogen hatte, und thymianbestreute Oliven mit altbackenen Brotscheiben aß, nachdem er die druckfarbenfrische Zeitung von der Türschwelle geholt, sie neben dem Teller aufgeschlagen hatte und verschlafen die Wörter las, dachte er an andere Dinge: Sie könnten abends zu Celâl oder ins Konak-Kino gehen. Er warf einen Blick auf Celâls Kolumne und beschloß, sie spät nach der Heimkehr aus dem Kino zu lesen, und nach dem Lesen einer Zeile aus dem Artikel, die seinen Blick angezogen hatte, ließ er die Zeitung offen auf dem Tisch liegen, stand auf, zog seinen Mantel an, ging hinaus, kam wieder herein. Die Hände in den Taschen voller Tabakkrümel, Kleingeld und alter Billetts, betrachtete er still und eingehend und voller Respekt für einige Zeit seine Frau. Dann wandte er sich ab, zog leise die Tür hinter sich zu und verließ das Haus.

Die eben gewischten Treppen rochen nach feuchtem Staub und Dreck. Das Wetter draußen war kalt und schmuddelig, die Luft geschwärzt vom Kohle- und Heilzölrauch aus den Nişantaşer Schornsteinen. Galip blies Atemwölkchen vor sich her in die Kälte, ging zwischen den Abfallhaufen auf der Straße hindurch und stellte sich in die lange Wartereihe an der Dolmuşstation.

Ein alter Mann, der seiner Jacke mit hochgeschlagenem Kragen die Funktion eines Mantels verliehen hatte, traf auf dem Bürgersteig gegenüber beim Straßenhändler seine Wahl zwischen den Pasteten mit Käse oder Hackfleisch. Mit einem Satz sprang Galip aus der Reihe, lief um die Ecke zum Zeitungsmann, der seinen Stand in einem Haustor hatte, kaufte eine Milliyet und klemmte sie gefaltet unter den Arm. Er hatte einmal zugehört, wie Celâl mokant die Stimme einer nicht mehr ganz jungen Leserin nachahmte: »Ach, Celâl Bey, wir lieben Ihre Artikel so sehr, daß wir manchmal, Muharrem und ich, an einem Tage zwei Milliyet kaufen!« Nach dieser Imitation hatten sie alle zusammen gelacht, Galip, Rüya und Celâl. Nachdem er, durch den ekelhaften, tropfenweise einsetzenden Regen ziemlich durchnäßt, mit Drängeln und Stoßen in das Sammeltaxi eingestiegen war und schließlich begriffen hatte, daß sich in dem nach feuchten Polstern und Zigaretten stinkenden Fahrzeug kein Gespräch entwickeln würde, faltete Galip wie ein wirklich Süchtiger mit Sorgfalt und Vergnügen die Zeitung auf ein so kleines Format zusammen, daß er nur die Kolumne auf der zweiten Seite lesen konnte, blickte einmal zerstreut aus dem Fenster und begann, Celâls heutigen Artikel zu lesen.

ZWEITESWenn der Bosporus austrocknet

Nichts kann so erstaunlich sein wie das Leben – außer dem Schreiben!

Ibni Zerhani

Haben Sie schon bemerkt, daß im Bosporus der Wasserspiegel sinkt? Ich glaube nicht! Wer von uns, die wir einander mit der Lust und Wonne von Kindern im Festtagstrubel umbringen, liest denn heutzutage schon etwas über das Weltgeschehen? Selbst unsere Kolumnisten können wir nur noch bruchstückhaft lesen, im Ellenbogengedränge auf den Anlegestegen, hin- und hergeworfen auf den Plattformen der Busse oder auf den Sitzen der Dolmuşe, wo die Buchstaben zittrig tanzen. Ich habe die Nachricht einer französischen Geologiezeitschrift entnommen.

Das Schwarze Meer wird wärmer, das Mittelmeer kälter, heißt es. Deshalb soll das Wasser jetzt in riesige, gähnende Höhlen ablaufen, die sich öffnen und ausdehnen über dem Meeresgrund, und die gleichen tektonischen Regungen sollen bewirken, daß der Boden sich hebt in der Straße von Gibraltar, in den Dardanellen und im Bosporus. Einer der letzten Fischer, die wir am Bosporusufer trafen, erklärte uns, sein Boot sitze jetzt auf Grund, wo er früher eine Minarettlänge Ankerleine geworfen habe, um es festzumachen, und er fragte: Kümmert sich denn unser Ministerpräsident nicht um diese Sache?

Ich weiß es nicht. Doch ich weiß, was wir in Kürze sehen werden als Resultat dieser offenbar immer schneller voranschreitenden Entwicklung. Jener einst von uns als Bosporus bezeichnete paradiesische Ort wird sicherlich schon sehr bald in einen pechschwarzen Morast verwandelt, wo Galeonen-Kadaver wie Gespenster aufleuchten, die ihre blanken Zähne fletschen. Und wie leicht, sich auszumalen, daß am Ende eines heißen Sommers dieser Morast wie das bescheidene Bächlein eines Städtchens stellenweise trocken oder schlammig wird oder gar Gräser und Gänseblümchen wachsen und gedeihen an den Hängen, begossen von den niederrauschenden Abwässerkaskaden aus Tausenden weit offenen Rohren! Neues Leben beginnt in diesem tiefen, wilden Tal, aus dem der Leanderturm wie ein wirklich drohender Wächter auf einer Berghöhe herausragen wird.

Ich meine die neuen Viertel, die offen unter den Blicken der mit Strafzetteln hin und her hastenden städtischen Ordnungsdiener in der früher Bosporus genannten Leere entstehen werden, die über Nacht entstandenen Bauten, die Verkaufsbuden, Bars, Pavillons und Nachtlokale, die Lunaparks mit ihren Karussells, die Spielkasinos, Moscheen, Derwisch-Gemeinden und Nester marxistischer Fraktionen, die illegalen Plastikateliers und Nylonstrumpffabriken. Auf der Seite ruhende Wracks der Gemeinnützigen Dampfschiffahrtsgesellschaft und weite Felder, bestellt mit Quallen und Brauseflaschendeckeln, werden in diesem die Endzeit beschwörenden Hexenkessel zu sehen sein. US-Transatlantikdampfer wird es geben, am letzten Tag gestrandet durch den allzu schnellen Rückgang des Wassers, und zwischen algenverzierten ionischen Säulen Skelette von Kelten und Lykiern, die offenen Mundes zu unbekannten Göttern der Vorzeit flehen. Auch kann ich mir lebhaft vorstellen, wie sich inmitten von muschelbesetzten byzantinischen Schatztruhen und Silber- und Blechbestecken und tausendjährigen Weinfässern und Brauseflaschen und Galeerenrümpfen mit spitzem Bug eine Zivilisation erheben wird, deren Energie zum Betrieb ihrer antiken Herde und Lampen ein schäbiger rumänischer Öltanker liefert, dessen Schraube in den Schlamm geraten war. Worauf wir uns aber vor allem einstellen müssen, ist eine brandneue Seuche, welche diese verfluchte, von den dunkelgrünen Kloakenkaskaden ganz Istanbuls bewässerte Senke hervorbringen wird, inmitten von Giftgasen, emporquellend aus urzeitlichem Untergrund, von trocknenden Sümpfen, Delphin-, Steinbutt- und Schwertfischkadavern und Rattenheeren, die ihre neuen Paradiese entdecken. Ich weiß und warne: Die entsetzlichen Szenen jenes Tages, an dem man das Seuchengebiet mit einem Stacheldrahtzaun in Quarantäne legt, werden uns alle bis ins Mark erschüttern.

Balkone, von denen wir einst herabschauten auf das silbrige Spiel des Mondes über den Seidenfluten des Bosporus, werden nunmehr Ausblick geben auf die Helle bläulicher Rauchwolken, die von den unbeerdigt gebliebenen, eilig verbrannten Toten aufsteigen. An den Bosporusufern, wo wir einmal beim Raki an Tischen saßen im kühl betäubenden Duft von Judasbaum und Geißblatt, werden wir uns an den beizenden, modrig-sauren Verwesungsgeruch der Leichen gewöhnen. Keine Melodie aus den Bosporusfluten, keines Vogels Frühlingslied wird uns an den Kais mit Reihen von Fischerbooten Ruhe spenden, wir werden vielmehr die Schreie derer hören, die jetzt mit Schwertern, Dolchen, rostigen Pallaschen, Revolvern und Flinten aus dem einstigen Meer, der Ausbeute einer Tausende von Jahren währenden Angst vor Durchsuchungsbefehlen, in Todesfurcht übereinander herfallen. Die früher in den Uferdörfern ansässigen Istanbuler werden nicht mehr die Fenster im Autobus aufreißen, um den Algenduft zu genießen, wenn sie abends todmüde heimkehren, sie werden im Gegenteil die Fensterrahmen der Stadtbusse mit Lumpen und Zeitungen verstopfen, damit der Moder- und Leichengestank nicht eindringt, wenn sie in das entsetzliche, von Flammen erleuchtete Dunkel hinunterblicken. In den Ufercafés, einst unser Treffpunkt mit Luftballon- und Waffelverkäufern, werden wir keiner Flottenparade mehr zuschauen, sondern dem blutroten Leuchten von Minen, die neugierige Kinder befingern und mit denen sie sich in die Luft sprengen. Jene Leute, die sich früher nach dem Südweststurm mit dem Auflesen von Byzantiner Kupfergeld und leeren Konservendosen am Strande ein Stück Brot verdienten, werden sich nunmehr an Kaffeemühlen, an Schwarzwälder Uhren mit tangbehangenen Kuckucks und an muschelgepanzerte schwarze Pianos halten, die das Hochwasser einst aus den Holzhäusern am Ufer herausgespült und in den Tiefen des Bosporus angehäuft hat. Und an einem jener Tage werde ich mich um Mitternacht einschleichen in diese neuerstandene Hölle hinter dem Stacheldrahtzaun, um einen schwarzen Cadillac zu finden.

Der schwarze Cadillac ist vor nunmehr dreißig Jahren das Renommierstück eines Beyoğlu-Banditen gewesen (das Wort »Gangster« will mir nicht über die Lippen!), dessen Abenteuer ich als Reporter-Neuling verfolgte und der Patron einer Spelunke war, in deren Eingang zwei von mir bewunderte Istanbul-Bilder hingen. Der Eisenbahn-Krösus Dağdelen und Maruf, der Tabak-König, besaßen damals in Istanbul je ein Gegenstück zu diesem Automobil. Als der von uns Zeitungsleuten zur Legende erhobene Ganove, dessen letzte Stunden wir eine Woche lang als Fortsetzungsbericht brachten, eines Nachts von der Polizei gestellt wurde, raste er gemeinsam mit seiner Geliebten in seinem Cadillac – wie manche sagen, im Kokainrausch, einer anderen Behauptung zufolge aber ganz bewußt, wie der sein Pferd in den Abgrund lenkende Räuber – am Kap der Wilden Wasser hinunter in die dunklen Bosporusfluten. Ich aber weiß jetzt schon zu sagen, wo der tagelang von Tauchern in der Drift am Meeresgrund vergeblich gesuchte, von den Zeitungen und ihren Lesern nach kurzer Zeit vergessene Cadillac zu finden sein wird.

Da unten in der Tiefe des früher einmal Bosporus benannten späteren Tales, unterhalb einer schlammigen Schrunde, die markiert ist durch siebenhundertjährige Einzelschuhe und -stiefel, in denen Krebse hausen, durch Kamelknochen und Flaschen mit Liebesbriefen an die unbekannte Geliebte, dort hinter den Abhängen voller Schwamm- und Muschelwälder, in denen Diamanten, Ohrgehänge, Deckel von Brauseflaschen und Goldarmreifen glitzern, nicht weit entfernt von einem verrotteten Leichter-Rumpf, einst in aller Eile als Heroinlabor eingerichtet und für die illegale Wurstverarbeitung und zum Schlachten von Pferden und Eseln benutzt, deren eimerweise vergossenes Blut die sandigen Austern- und Seeschneckengründe tränkte, da wird er zu finden sein.

Wenn ich, das Gehupe der vorbeifahrenden Autos im Ohr, auf dem ehemals Uferstraße genannten, heute aber mehr einer Bergstraße gleichenden Asphalt ausgestiegen bin, um in der Lautlosigkeit dieses stinkenden Dunkels nach dem Wagen zu suchen, werden mir Skelette von Palastrebellen begegnen, noch immer verkrümmt in den Säcken, darin man sie ertränkte, und die Gebeine orthodoxer Priester, Kreuz und Hirtenstab umklammernd und Kugeln an den Fußgelenken. Wenn ich den bläulichen Rauch sehe, der aus dem als Ofenrohr benutzten Periskopschaft des englischen U-Boots steigt, welches seinerzeit die Gülcemal mit einem Truppentransport auf ihrem Wege vom Tophane-Kai nach Çanakkale torpedieren wollte, dabei mit der Schraube in die Fischnetze geriet, den Bug gegen die algenbewachsenen Felsen rammte und anschließend auf Grund sank, dann werde ich wissen, daß man die britischen Knochengerüste, deren Münder aus Luftmangel offen erstarrten, beseitigt hat und daß unsere Landsleute, nunmehr voller Behagen an ihre neuen Heimstätten made in Liverpool gewöhnt, ihren Fünf-Uhr-Tee genußvoll aus chinesischem Porzellan im samtgepolsterten Kapitänssessel einnehmen. Ein wenig weiter wird in der Finsternis der rostige Anker eines der Kaiser Wilhelmschen Kriegsschiffe liegen, und ein perlmuttern schimmernder Fernsehschirm wird mir zublinzeln. Ich werde die Reste eines geplünderten genuesischen Schatzes, einen Mörser mit schlammverstopftem Rohr, die muschelverkleideten Abbilder und Idole vergangener und vergessener Staaten und Stämme und die zerborstenen Birnen eines auf der Spitze balancierenden Messingkronleuchters sehen. Während ich über Morast und Gestein immer tiefer hinabsteige, werde ich geduldig zu den Sternen aufblickende Sklavengerippe betrachten, die mit Ketten an ihre Ruder gefesselt sind. Ein Collier, aufgehängt an Algenbäumen. Über Brillen und Schirme werde ich vielleicht hinwegsehen, die Kreuzfahrer jedoch, mit sämtlichen Waffen, Panzer und allem Drum und Dran auf ihren prachtvollen, noch immer trotzig standhaften Pferdeskeletten sitzend, die werde ich für einen Moment mit wachsamer Ehrfurcht anschauen. Und werde dann erschrocken bemerken, daß die Gebeine der Kreuzritter samt ihrer miesmuschelbedeckten Symbole und Waffen den direkt daneben stehenden schwarzen Cadillac bewachen.

Angstvoll, als müsse ich seine Leibgarde aus Kreuzfahrern um Erlaubnis bitten, werde ich mich verhaltenen Schrittes dem schwarzen Cadillac nähern, der ab und zu durch ein Phosphorleuchten obskurer Herkunft schemenhaft erhellt wird. Ich werde an den Türgriffen des Wagens rütteln, doch das gänzlich von Muscheln und Seeigeln umkleidete Fahrzeug wird mir keinen Zugang gewähren, die verklemmten, grünlichen Fenster werden kein bißchen nachgeben. So werde ich meinen Kugelschreiber aus der Tasche ziehen und nach und nach mit dem Griffende die pistaziengrüne Algenschicht von einer der Scheiben kratzen.

Das herrliche Steuer, die verchromten Zähler, Zeiger und Uhren werden noch immer glänzen wie die Ritterrüstungen, wenn ich um Mitternacht in dieser grausig verhexten Finsternis ein Streichholz entzünde, und ihr metallischer Widerschein wird mir auf dem Vordersitz die einander küssend umschlingenden Skelette des Banditen und seiner Geliebten enthüllen, die schlanken Frauenarme bereift, die Finger ringgeschmückt. Nicht nur die sich durchdringenden Kiefer, sondern die Schädel selbst werden in einem ewig währenden Kuß verschmolzen sein.

Und wenn ich, ohne ein neues Streichholz zu entzünden, wieder zu den Lichtern der Stadt zurückkehre, wird mir der Gedanke kommen, daß dies der glücklichste Weg wäre, im Desaster dem Tod zu begegnen, und ich werde meiner fern weilenden Liebe verzweifelt zurufen: Mein Leben, meine Sorge, mein Alles, die Zeit der Heimsuchung ist angebrochen, komm zu mir, wo du auch sein magst, in einem verräucherten Büro, in der von beißendem Zwiebelgeruch geschwängerten Küche eines wäschedunsterfüllten Hauses oder im Durcheinander eines blauen Schlafzimmers – ganz gleich, wo du bist, es ist soweit, komm zu mir, denn die Zeit ist da, in Stille und Zwielicht eines Zimmers hinter geschlossenen Vorhängen einander mit aller Kraft zu umarmen und den Tod zu erwarten.

DRITTESViele Grüße an Rüya

Mein Großvater nannte es die Familie …

Rilke

Während Galip an dem Morgen, als ihn seine Frau verlassen sollte, in dem Geschäftshaus an der Babıâli-Steigung mit der kurz zuvor gelesenen Zeitung unterm Arm die Treppe zu seinem Büro hinaufging, mußte er an den grünen Kugelschreiber denken, der ihm damals auf einer jener Kahnfahrten in den Bosporus gefallen war, zu denen die Mütter ihre mumpskranken Kinder, ihn und Rüya, mitgenommen hatten. Am Abend des gleichen Tages sollte er sich bei näherer Betrachtung des Abschiedsbriefes, den Rüya ihm hinterlassen hatte, daran erinnern, daß der grüne, für den Brief benutzte Kugelschreiber dem ins Wasser gefallenen haargenau entsprach. Weil er Galip so sehr gefiel, hatte ihm Celâl vor vierundzwanzig Jahren den Stift für eine Woche ausgeliehen. Nachdem er von dem Verlust erfahren und Antwort auf seine Frage erhalten hatte, wo der Kugelschreiber im Wasser versunken war, hatte Celâl gemeint: »Das gilt nicht als verloren! Wir wissen ja, an welcher Stelle er in den Bosporus gefallen ist.« Als Galip in seinem Büro noch einmal alle Einzelheiten des Artikels vom »Tag der Katastrophe« las, war er sehr erstaunt darüber, daß es einen weiteren Kugelschreiber geben sollte, den Celâl aus der Tasche ziehen würde, um damit den pistaziengrünen Algenbelag von der Scheibe des schwarzen Cadillacs zu kratzen. Denn das Zusammentreffen bestimmter Details jenseits der Jahre oder Jahrhunderte – wie zum Beispiel die vorausgesehene Begegnung zwischen den byzantinischen Münzen mit dem Abbild des Olymps und den Flaschendeckeln der Brause-Marke Olimpos –, das war ein Pfad, dem Celâl in seinen Aufsätzen bei jeder Gelegenheit mit Vergnügen folgte. Natürlich nur, wie er bei einem der letzten gemeinsamen Gespräche vorbrachte, falls sein Gedächtnis nicht schon reichlich nachgelassen hatte. »Wenn der Garten des Gedächtnisses auszutrocknen beginnt, pflegt der Mensch die noch verbleibenden Rosen und Bäume besonders zärtlich. Damit sie nicht verdorren, begieße und liebkose ich sie von morgens bis abends. Ich erinnere mich, erinnere mich, um nicht zu vergessen!« hatte Celâl an einem der letzten Abende gesagt.

Ein Jahr nach Onkel Melihs Paris-Reise und Vasıfs Rückkehr mit dem Aquarium auf dem Schoß seien Vater und Großvater nach Babiali zu Onkel Melihs Anwaltsbüro gefahren, hätten Möbel und Akten auf einen Pferdewagen laden, nach Nişantaşı befördern lassen und im Dachgeschoß des Etagenhauses untergestellt, erfuhr Galip von Celâl. Nachdem Onkel Melih dann mit seiner schönen Frau und Rüya aus dem Maghreb heimgekommen war, in Izmir durch seine Initiative den Handel seines Schwiegervaters mit getrockneten Feigen ruiniert hatte und man ihn, damit er die Familiengeschäfte nicht in den Bankrott trieb, vom Süßwarenladen und der Apotheke fernhielt, da hatte er beschlossen, seine Anwaltstätigkeit wieder aufzunehmen und, um seine Klienten zu beeindrucken, alle diese Sachen wieder in sein neues Büro bringen lassen. Im Laufe einer jener Nächte, in denen Celâl Jahre später voll Spott und Zorn Vergangenes zurückrief, hatte er Galip und Rüya erzählt, daß einer von den dabei beschäftigten Trägern, die solche delikaten Arbeiten wie Kühlschränke und Pianos transportieren fachmännisch ausführten, zweiundzwanzig Jahre zuvor beim Unterbringen der Sachen im Dachgeschoß ebenfalls dabei gewesen sei, nur hätten die Jahre seinen Kopf kahl werden lassen.

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