Das stille Haus - Orhan Pamuk - E-Book

Das stille Haus E-Book

Orhan Pamuk

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Beschreibung

Kurz vor dem Militärputsch im September 1980: Drei Geschwister verbringen eine Ferienwoche im alten Haus ihrer Großmutter Fatma am Marmarameer. Nilgün liest Turgenjew und träumt von einer Revolution in der Türkei, ihr Bruder Metin von einer Zukunft in den USA. Faruk, der Älteste, ist über die Trauer um seine geschiedene Frau zum Trinker geworden. Vor dem Hintergrund einer explosiven politischen Lage schildert der Nobelpreisträger Orhan Pamuk in diesem Frühwerk eine verlorene Jugend, die nach ihrem Platz in der Welt sucht und ihn nicht findet. Ein melancholischer, stimmungsvoller Roman, in dem Pamuk verschiedensten Personen eine ganz eigene Stimme verleiht.

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Hanser E-Book

Orhan Pamuk

Das stille Haus

Roman

Aus dem Türkischen von

Gerhard Meier

Carl Hanser Verlag

Die türkische Originalausgabe erschien 1983

unter dem Titel Sessiz ev bei Can Yayınları in Istanbul.

ISBN 978-3-446-25170-0

© İletişim Yayıncılık A. Ş., 1996

Alle Rechte der deutschen Ausgabe

© Carl Hanser Verlag München 2009/2015

Schutzumschlag: Peter-Andreas Hassiepen, München, unter Verwendung eines Fotos © imago/McPHOTO/Lovell

Satz: Satz für Satz. Barbara Reischmann, Leutkirch

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Datenkonvertierung E-Book:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

1

»Das Essen ist fertig, gnädige Frau«, sagte ich. »Kommen Sie bitte zu Tisch.«

Sie erwiderte nichts. Auf ihren Stock gestützt, blieb sie reglos stehen. Also ging ich zu ihr, hakte mich bei ihr ein und führte sie zu ihrem Stuhl. Sie grummelte nur. Ich ging in die Küche hinüber, holte ihr Tablett und stellte es vor sie hin. Sie betrachtete es, rührte aber das Essen nicht an. Als sie murrend den Hals vorstreckte, fiel mir ein, was ich vergessen hatte. Ich holte ihre Serviette heraus und band sie ihr hinter den großen Ohren fest.

»Was gibt’s denn heute abend?« fragte sie. »Was hast du uns da wieder zusammengekocht?«

»Auberginen mit Knoblauch. Wie Sie es gestern gewünscht haben.«

»Die von heute mittag?«

Ich schob ihr den Teller näher hin. Sie nahm ihre Gabel und stocherte missmutig in ihrer Aubergine herum. Nachdem sie sie ein wenig zerteilt hatte, begann sie zu essen.

»Ihr Salat steht auch schon da«, sagte ich und ging in die Küche. Ich nahm mir auch eine Aubergine, setzte mich und begann selbst zu essen.

Nach einer Weile rief sie: »Salz! Recep, wo ist denn das Salz?«

Ich stand auf, ging hinüber und sah, dass sie das Salz neben sich stehen hatte. »Da ist es doch.«

»Das sind ja ganz neue Sitten. Warum gehst du rüber, während ich esse?«

Ich antwortete nicht.

»Kommen sie jetzt morgen oder nicht?«

»Doch doch, sie kommen schon«, sagte ich. »Wollten Sie nicht salzen?«

»Was schert dich das! Sie kommen also?«

»Morgen mittag. Wie per Telefon angekündigt …«

»Was gibt es noch zu essen?«

Ich trug die halbgegessene Aubergine ab und brachte ihr auf einem sauberen Teller ein leckeres Bohnengericht. Als sie auch darin lustlos herumstocherte, ging ich nach nebenan, setzte mich und aß nun ebenfalls. Nach einer Weile rief sie »Pfeffer«, aber ich tat so, als hätte ich nichts gehört. Als sie »Obst« rief, ging ich hinüber und stellte ihr die Obstschale hin. Ihre knochige, dünne Hand fuhr wie eine müde Spinne langsam über die Pfirsiche. Dann hielt sie inne.

»Die sind ja alle faul! Wo hast du denn die her, unter dem Baum aufgeklaubt?«

»Die sind nicht faul«, sagte ich, »sondern reif. Das sind ausgezeichnete Pfirsiche, und sie sind gekauft. Sie wissen doch selbst, dass es hier keine Pfirsichbäume mehr gibt.«

Sie ging nicht darauf ein, sondern griff zu einem Pfirsich. Ich ging wieder hinüber, um meine Bohnen fertigzuessen, aber bald hieß es schon wieder: »Die Serviette! Recep, wo bist du denn! Mach sie mir ab!«

Ich eilte hinüber, und als ich nach ihrer Serviette griff, sah ich, dass sie auch den Pfirsich nur halb gegessen hatte.

»Soll ich Ihnen wenigstens noch eine Aprikose geben? Sonst haben Sie hinterher wieder Hunger und wecken mich mitten in der Nacht aus dem Schlaf.«

»Nein danke«, sagte sie. »So weit ist es zum Glück noch nicht mit mir, dass ich dein Fallobst essen muss. Jetzt mach sie schon ab!«

Ich knüpfte ihr die Serviette auf. Als sie sich den Mund damit abwischte, zog sie die Stirn in Falten und sah aus, als würde sie beten. Dann stand sie auf.

»Bring mich hoch!«

Sie stützte sich auf mich, und wir stiegen die Treppe hinauf. Auf der neunten Stufe blieben wir stehen, um zu verschnaufen.

»Hast du ihre Zimmer hergerichtet?« fragte sie außer Atem.

»Hab ich.«

»Na gut, also weiter«, sagte sie und stützte sich noch mehr auf mich.

Auf der letzten Stufe angelangt, rief sie aus: »Neunzehn, Gott sei Dank!« Dann ging sie in ihr Zimmer.

»Machen Sie das Licht an!« rief ich ihr hinterher. »Ich gehe jetzt ins Kino.«

»Ins Kino! Ein erwachsener Mensch! Bleib wenigstens nicht zu lang weg.«

»Ist gut.«

Ich ging wieder hinunter, aß meine Bohnen auf und spülte das Geschirr. Dann nahm ich die Schürze ab, die Krawatte saß noch, ich nahm meine Jacke, die Brieftasche war drin. Ich ging aus dem Haus.

Vom Meer wehte es kühl herüber, das tat mir gut. Die Feigenblätter raschelten leise. Ich schloss die Gartentür hinter mir und ging auf den Strand zu. Am Ende unserer Gartenmauer beginnen der Gehsteig und die neuen Betonhäuser. Die Leute sitzen auf ihren Balkons und in ihren winzigen Gärten, sie haben Fernseher und sehen die Nachrichten; vor den Holzkohlengrills sitzen die Frauen, auch sie bemerken mich nicht. Auf den Grills Fleisch und Rauch: Familien, Leben, ich beobachte das gerne. Wenn der Winter kommt, ist nichts davon übrig, dann höre ich in den leeren Straßen meine eigenen Schritte und erschauere. Mich fror jetzt, ich zog die Jacke an und bog in eine Seitenstraße ein.

Ein seltsamer Gedanke, dass sie alle gleichzeitig vor dem Fernseher sitzen und essen! Ich spaziere herum. In einer der Straßen, die auf den kleinen Platz hinausgehen, stieg ein aus Istanbul heimkommender müder Ehemann aus dem Auto, ging mit seiner Tasche eilig ins Haus, um nichts von den Nachrichten und vom Essen zu verpassen. Als ich wieder ans Ufer ging, hörte ich die Stimme İsmails.

»Nationale Lotterie, Ziehung in sechs Tagen!«

Er sah mich nicht. Und ich gab keinen Laut von mir. Fortwährend mit dem Kopf nickend, ging er durch die Tischreihen eines Restaurants. Er wurde zu einem Tisch gerufen und hielt einem kleinen Mädchen mit weißem Kleid und Haarschleife sein Bündel mit Lotterielosen hin. Das Mädchen wählte mit Bedacht eines aus, die Eltern setzten dazu ein wohlgefälliges Lächeln auf, ich drehte mich weg, ich schaue nicht mehr hin. Wenn ich İsmail etwas zugerufen und er mich gesehen hätte, dann wäre er eilig zu mir hergehinkt. Mensch, Bruderherz, warum schaust du denn nie bei uns vorbei, hätte er dann gesagt. Und ich: Weil ihr so weit weg wohnt, und noch dazu ganz oben auf dem Hügel. Und er: Ja, stimmt schon, wenn ich damals, als Doğan uns das Geld gab, nicht auf dem Hügel, sondern hier was gekauft hätte, ach Recep, wenn ich nicht gedacht hätte, dort oben beim Bahnhof ist es günstiger, sondern hier am Ufer gekauft hätte, dann wäre ich heute Millionär. Ja: Immer der gleiche Dialog. Und seine hübsche Frau sitzt immer da und schweigt. Warum soll ich also hin zu ihnen? Aber manchmal will ich schon, wenn ich in Winternächten so gar niemanden zum Reden habe, dann will ich schon und gehe auch hin, aber es läuft immer aufs gleiche hinaus.

In den Strandlokalen herrscht gähnende Leere. Überall läuft der Fernseher. Hunderte von Teegläsern sind aneinandergereiht und glänzen blitzsauber im starken Lampenlicht. Alles wartet darauf, dass die Nachrichten vorbei sind und die Menschen auf die Straße gehen. Unter den leeren Tischen sitzen Katzen. Ich gehe weiter.

Am Hafendamm sind Boote an Land gezogen. Der kleine schmutzige Strand ist menschenleer. Es hat vertrocknetes Moos ans Ufer geschwemmt, Flaschen, Plastikunrat. Das Haus des Bootsverleihers İbrahim soll abgerissen werden, angeblich auch das Kaffeehaus. Als ich die hell erleuchteten Fenster des Kaffeehauses sah, wurde mir plötzlich warm ums Herz. Vielleicht ist dort jemand, irgendeiner, der nicht Karten spielt, dann reden wir, er fragt, wie’s mir geht, und ich erzähle, er hört zu, und ich frage ihn, wie es ihm geht, und er erzählt, und ich höre zu. Wir schreien fast, um den Fernsehlärm und das Stimmengewirr zu übertönen: Freundschaft. Vielleicht geht er ja auch ins Kino mit.

Doch als ich das Kaffeehaus betrat, war es mit meiner Vorfreude auch schon wieder vorbei, denn es saßen wieder die beiden jungen Kerle da. Als sie mich erblickten, schauten sie sich sofort aufgekratzt lachend an, aber ich habe euch nicht gesehen, ich schaue auf meine Uhr, ich suche einen Freund. Da vorne links sitzt Nevzat und sieht den Kartenspielern zu. Ich setzte mich zu ihm. Froh lächelte ich ihn an.

»Hallo, wie geht’s?«

Er gab keine Antwort.

Ich sah ein wenig zum Fernseher hin, die Nachrichten gehen zu Ende. Dann blickte ich auf die Karten, die auf den Tisch flogen, und auf den kiebitzenden Nevzat und wartete das Ende der Runde ab, doch als es soweit war, sprachen und lachten sie nur untereinander und nicht mit mir. Dann spielten sie weiter, konzentriert, und wieder ging es zu Ende. Als die Karten erneut verteilt wurden, hatte ich das Gefühl, endlich etwas sagen zu müssen.

»Die Milch war gut, Nevzat, die du mir heute morgen verkauft hast.«

Er nickte, ohne den Blick von den Karten zu wenden.

»Es gibt nichts Besseres als frische Vollmilch.«

Er nickte wieder. Ich sah auf meine Uhr, fünf vor neun. Dann sah ich eine Weile geistesabwesend auf den Fernseher, bis ich merkte, dass die jungen Kerle gickernd lachten. Als ich die Zeitung sah, die sie in Händen hielten, erschrak ich: Mein Gott, ist etwa wieder so ein Bild drin? Sie sahen nämlich abwechselnd auf mich und auf die Zeitung und lachten dazu dreckig. Kümmre dich nicht darum, Recep! Trotzdem dachte ich: Manchmal bringen sie so ein Bild in der Zeitung und schämen sich nicht dabei, und wie bei den Bildern von nackten Frauen oder von Bärenbabys im Zoo schreiben sie dann einen blödsinnigen, unqualifizierten Text dazu. Ich drehte mich zu Nevzat und sagte gedankenlos: »Wie geht’s dir so?«

Kurz wandte er sich zu mir und murmelte dabei etwas, aber da ich in Gedanken ganz bei dem Bild war, fand ich nichts zu sagen und ließ mir so die Gelegenheit zu einem Gespräch entgehen. Belemmert sah ich wieder zu den beiden Jungen hin. Als unsere Blicke sich trafen, grinsten sie noch mehr. Ich sah wieder weg. Auf den Tisch flog gerade ein König. Die Kartenspieler fluchten, freuten und ärgerten sich. Dann begann ein neues Spiel; Karten und Freuden wurden neu verteilt: Ist etwa wirklich ein Bild drin? Mir kam ein Gedanke.

»Cemil!« rief ich. »Bring mir doch einen Tee!«

So hatte ich wenigstens kurzfristig etwas, um mich abzulenken, aber lang hielt es nicht an, dann fiel mir wieder die Zeitung ein, die die beiden Jungen so sehr amüsierte. Als ich mich wieder zu ihnen umdrehte, sah ich, dass sie die Zeitung Cemil gegeben hatten, der nun seinerseits auf die bewusste Stelle schaute. Als Cemil meinen unruhigen Blick bemerkte, war ihm selbst nicht mehr wohl, so dass er die beiden Jungen plötzlich anfuhr: »Ihr frechen Kerle!«

Nun ist die Katze aus dem Sack. Ich kann nicht mehr so tun, als wüsste ich von nichts. Eigentlich hätte ich schon lange aufstehen und gehen müssen. Die beiden Jungen lachen nun lauthals.

»Was ist denn los, Cemil? Was steht da drin in der Zeitung?«

»Nichts!« sagt er. »Schon komisch!«

Jetzt ist die Neugier nicht mehr zu ertragen. Ich würde mich gerne beherrschen, aber ich kann nicht. Wie verzaubert stand ich von meinem Stuhl auf und ging schwerfällig an den verstummenden Jungen vorbei auf Cemil zu.

»Gib mir die Zeitung!«

Er machte eine Geste, als wollte er die Zeitung verstecken. Dann sagte er mit schuldbewusster Miene: »Komisch! Ob es so was wirklich gibt? So richtig in echt?« Dann zischte er den beiden Jungen noch einmal ein »Frechlinge!« zu und reichte mir Gott sei Dank endlich die Zeitung.

Ich riss sie ihm wie ein hungriger Wolf aus der Hand und schlug sie auf, dabei pocht mir wild das Herz. Wie ein Erstickender giere ich nach der Stelle, die er mir aufgeregt zeigt, aber halt, da ist ja gar kein Foto.

»Wo ist es denn?«

»Da!« sagte Cemil und deutete angespannt mit dem Finger darauf.

Schnell überflog ich die Stelle:

Geschichtskolumne … Die historischen Schätze von Üsküdar … Der Dichter Yahya Kemal und Üsküdar … Darunter dann kleinere Überschriften: Die Rum-Mehmet-Paşa-Moschee … Die Ahmediye-Moschee und ihr Brunnen … Die Şemsi-Paşa-Moschee und ihre Bibliothek … Dann rückte Cemils Finger zögernd nach unten, und ich sah es: Das Liliputanerhaus in Üsküdar!

Mir schoss das Blut in den Kopf. Auf einen Sitz las ich den Artikel.

Außerdem gab es in Üsküdar einmal ein Liliputanerhaus. In diesem Haus, das eben nicht für gewöhnliche Menschen, sondern nur für Liliputaner bestimmt war, fehlte es an nichts. Es war lediglich so, dass alle Zimmer, Fenster, Treppen auf Zwergenmaß zugeschnitten waren und normal gewachsene Menschen sich drinnen nur gebückt bewegen konnten. Der Kunsthistoriker Prof. Dr. Süheyl Enver hat herausgefunden, dass die Errichtung des Hauses von Handan Sultan veranlasst wurde, der Frau von Sultan Mehmet II. und Mutter von Sultan Ahmet. Das Faible dieser Frau für Liliputaner nimmt in der Haremsgeschichte einen bedeutenden Platz ein. Sie hatte den Wunsch geäußert, dass auch nach ihrem Tod ihre Lieblinge in ungestörter Trautheit zusammenleben konnten, und daraufhin war Ramazan, der Oberste Schreinermeister am Hof des Sultans, mobilisiert worden. Es heißt, dass ihm bei den Zimmerer- und Schnitzarbeiten des Hauses ein kleines Meisterwerk gelungen sei. Da jedoch von dem großen Reisenden Evliya Çelebi, der in jenen Jahren auch durch Üsküdar kam, der Bau mit keinem Wort erwähnt wird, kann nicht mit letzter Bestimmtheit gesagt werden, ob so ein merkwürdiges Haus tatsächlich existiert hat. Falls es das Haus aber wirklich gegeben hat, so muss es dem Großbrand zum Opfer gefallen sein, von dem 1642 ganz Üsküdar verwüstet wurde.

Ich bin ganz aufgewühlt. Mir zittern die Beine, und mein Rücken ist schweißnass.

»Lass doch, Recep«, sagte Cemil. »Was kümmerst du dich um solche Rotznasen?«

Ich verspüre in mir den fürchterlichen Wunsch, den Artikel noch einmal zu lesen, doch habe ich gar nicht die Kraft dazu. Mir ist, als bekäme ich keine Luft. Die Zeitung entgleitet mir und fällt zu Boden.

»Jetzt setz dich erst mal hin«, sagte Cemil. »Dann beruhigst du dich schon wieder. Kein Wunder, das hat dich eben gekränkt.« Und zu den beiden Jungen gewandt, sagte er noch einmal: »Freche Kerle!«

Auch ich sah zu ihnen hin, immer noch mit zittrigen Beinen. Sie betrachteten mich mit unverhohlener Neugier.

»Ja«, sagte ich, »das hat mich sehr wohl gekränkt.« Dann verstummte ich und sprach erst weiter, als ich ein wenig Kraft gesammelt hatte.

»Mich kränkt aber nicht, dass ich so kleingewachsen bin, sondern dass die Menschen so schlecht sind, dass sie mit einem fünfundfünfzig Jahre alten Liliputaner ihre Späße treiben.«

Daraufhin herrschte Stille. Anscheinend hatten auch die Kartenspieler etwas mitbekommen. Nevzats und meine Blicke trafen sich. Ob er wohl alles verstanden hat? Die beiden Jungen blicken zu Boden und schämen sich jetzt doch ein wenig. Mir dreht sich der Kopf, der Fernseher dröhnt.

»Freche Kerle«, sagte Cemil ausdruckslos.

Und zu mir gewandt sagte er: »Halt, Recep, wo willst du denn hin?«

Ich gab keine Antwort. Schwankend tat ich ein paar Schritte und ließ das gleißende Licht des Kaffeehauses hinter mir zurück. Ich bin wieder draußen im kühlen Dunkel der Nacht.

Ich kann aber kaum laufen und komme nur mühsam ein paar Schritte vorwärts, dann setze ich mich auf einen Poller am Kai. Tief sauge ich die reine Luft ein, mein Herz pocht immer noch zu schnell. Was soll ich tun? In der Ferne blinken die Lichter der Lokale; in die Bäume haben sie bunte Lampen gehängt, unter deren Licht Menschen miteinander reden und essen: Mein Gott!

Die Tür des Kaffeehauses ging auf, und ich hörte Cemil rufen.

»Recep, Recep! Wo bist du?«

Ich meldete mich nicht. Da er mich nicht sah, ging er wieder hinein.

Als ich später das Brummen des Triebwagens nach Ankara hörte, stand ich auf. Es musste zehn nach neun sein, und ich dachte mir: Sind das alles nicht bloß Worte, ist das nicht nur eine Wolke von Lauten, die sich auflöst, sobald sie sich ins Leere entlädt? Ich beruhigte mich ein wenig. Nach Hause möchte ich nicht, aber was anderes habe ich auch nicht zu tun: also ins Kino. Mein Schweiß ist erkaltet, das Herz schlägt ruhiger, es geht mir wieder besser. Ich atme tief durch und gehe los.

Da hinten ist das Kaffeehaus, sie haben mich und die Worte schon vergessen, der Fernseher läuft, und falls Cemil die beiden Jungen nicht rausgeworfen hat, suchen sie sich jemand anders zum Verspotten; ich bin wieder draußen auf der Straße, es sind viele Leute unterwegs, sie haben gegessen, und bevor sie sich wieder vor den Fernseher oder in ein Vergnügungslokal setzen, machen sie einen Verdauungsspaziergang. Sie essen Eis, reden miteinander, grüßen sich, die Frauen, die abends aus Istanbul heimkommenden Männer und die an irgend etwas knabbernden Kinder, sie alle kennen sich und grüßen immer wieder. Ich komme an den Lokalen vorbei, İsmail sehe ich nirgends. Vielleicht hat er seine Lose alle verkauft und steigt jetzt den Hügel bis zu seinem Haus hinauf. Soll ich statt ins Kino zu ihm gehen, zum Reden? Aber es ist ja immer das gleiche.

Die Straße füllt sich immer mehr. Vor den Eisständen wartende Autos und Leute, die zu dritt oder viert nebeneinander hergehen, halten den Verkehr auf. Mit meiner Krawatte und meiner Jacke ist alles in Ordnung, aber diese Menschenmenge halte ich trotzdem nicht mehr aus, ich biege in eine Seitengasse ein, aus deren Häusern es von den vielen Fernsehern bläulich herausleuchtet. Zwischen parkenden Autos spielen Kinder Verstecken. Ich dachte, wie gut ich das als Kind hätte spielen können, doch damals traute ich mich nicht, mich so wie İsmail unter die anderen zu mischen. Ansonsten hätte keiner sich so gut verstecken können wie ich, etwa hier, in den Trümmern des Hauses, in dem laut meiner Mutter einmal die Pest herrschte, oder im Dorf hätte ich mich im Stall verstecken können, und wenn ich dann nicht herausgekommen wäre, über wen hätten sie sich dann lustig machen sollen; aber meine Mutter hätte mich gesucht und gefragt, İsmail, wo ist dein Bruder, und İsmail hätte die Nase hochgezogen, wie soll ich das wissen, und ich hätte die beiden belauscht und hätte gesagt, Mutter, ich lebe hier heimlich und ganz allein, und keiner sieht mich, und nur meine Mutter hätte so sehr geweint, dass ich gesagt hätte, schon gut, schon gut, ich komme ja raus, schau, da bin ich, ich verstecke mich nicht mehr, und meine Mutter hätte gefragt, warum versteckst du dich denn überhaupt, und ich hätte gedacht, ja, stimmt, was gibt es denn zu verbergen? Das hätte ich nämlich einen Augenblick lang vergessen.

Als ich schnell die Hauptstraße entlangging, da sah ich: Sıtkı, groß geworden, anscheinend verheiratet, daneben seine Frau und ein Junge, etwa so groß wie ich. Er erkannte mich, lächelte, blieb stehen.

»Hallo Recep«, sagte er, »wie geht’s dir denn?«

Ich warte immer ab, bis die anderen mich ansprechen.

»Hallo Sıtkı, danke, gut.«

Sıtkı und ich schüttelten uns die Hand. Seine Frau und ich nicht. Der Junge sieht mich furchtsam und neugierig an.

»Weißt du, Schatz, Recep gehört zum Urgestein von Cennethisar.«

Seine Frau nickt und lächelt. Ich freue mich. Urgestein zu sein, macht mich stolz.

»Ist Großmutter wohlauf?«

»Ach«, sagte ich, »sie jammert in einem fort!«

»Wie lang ist das alles her!« sagte er. »Wo ist Faruk denn jetzt?«

»Morgen kommen sie alle.«

Er wandte sich seiner Frau zu und erklärte ihr, Faruk und er seien als Kinder Freunde gewesen. Dann verabschiedeten wir uns, ohne Händedruck, nur mit einem Nicken, und gingen auseinander. Jetzt erzählt er seiner Frau von seiner Kindheit, von mir und wie ich sie damals zum Teich geführt und ihnen beigebracht habe, wie man Äschen fängt, und dann fragt ihn endlich der Junge: Papa, warum ist denn der Mann so klein? Früher sagte ich immer: Weil er ein uneheliches Kind war. Sıtkı hat also geheiratet. Faruk auch, aber Kinder hat er keine, und da es bei meiner Mutter genau umgekehrt war, hat die gnädige Frau damals meine Mutter und uns aufs Dorf geschickt. Als sie uns zuvor noch erst mit Worten und dann auch mit dem Stock so übel zusetzte, soll meine Mutter gerufen haben, bitte nicht, bitte nicht, was können denn die Kinder dafür? Mir kommt es manchmal so vor, als hätte ich diese Worte selbst gehört, an jenem furchtbaren Tag …

Ich bog in die Straße mit dem Kino ein, hörte die Musik, die immer gespielt wird, bevor der Film anfängt. Hier ist es sehr hell. Ich sah mir die Bilder an: Treffen wir uns im Paradies. Ein alter Film: Auf einem Bild umarmen sich Hülya Koçyiğit und Ediz Hun, dann ist Ediz im Gefängnis, dann singt Hülya ein Lied, aber in welcher Reihenfolge das geschieht, weiß keiner, der den Film nicht gesehen hat. Wahrscheinlich hängen sie deshalb draußen die Bilder auf, damit man neugierig wird. Ich ging zur Kasse, einmal bitte, der Mann riss die Karte ab und hielt sie mir hin, danke, und ich fragte: »Ist der Film gut?«

Er sagt, er habe ihn nicht gesehen. Manchmal will ich einfach mit jemandem reden. Ich ging hinein, setzte mich, wartete. Der Film fing an.

Erst lernen sie sich kennen, das Mädchen ist Sängerin und mag ihn nicht, aber eines Tages rettet er sie vor irgendwelchen Kerlen, und dann mag sie ihn und merkt sogar, dass sie ihn liebt, aber ihr Vater ist gegen die Ehe. Dann kommt der Mann ins Gefängnis. Pause, ich blieb sitzen, statt wie die anderen hinauszugehen. Dann ging der Film weiter, und das Mädchen heiratete den Besitzer eines Vergnügungslokals, aber sie bekamen keine Kinder und taten auch nichts dafür. Als ihr Mann einem Flittchen hinterherlief und Ediz aus dem Gefängnis ausbrach, trafen sie sich in einem Haus in der Nähe der Bosporusbrücke, und Hülya Koçyiğit sang ein Lied. Als ich das Lied hörte, wurde mir seltsam zumute. Als schließlich der Mann sie von ihrem bösen Gatten befreien wollte und diesen seine Strafe ganz von selbst ereilte, war klar, dass sie nun heiraten konnten. Der Vater des Mädchens sieht den beiden gerührt hinterher, wie sie Arm in Arm weggehen und gehen und gehen und immer kleiner werden und ENDE.

Die Lichter gingen an, wir gehen hinaus, alles redet angeregt über den Film. Ich würde auch gern mit jemandem über den Film reden. Es ist zehn nach elf, die gnädige Frau wartet, aber ich will noch nicht nach Hause.

Ich ging in Richtung Strand hinunter. Vielleicht hatte ja der Apotheker Kemal Notdienst und konnte nicht schlafen. Dann störe ich ihn, wir reden, ich erzähle, und er hört zu und sieht dabei selbstvergessen auf die jungen Leute, die in der Helligkeit vor dem Kiosk gegenüber herumschreien und mit ihren Autos um die Wette fahren. Als ich in der Apotheke Licht sah, freute ich mich: Er war also noch nicht im Bett. Ich machte die Tür auf, die Klingel ging. Ach Gott: Nicht Kemal war da, sondern seine Frau.

»Guten Abend«, sagte ich und dann, nach kurzem Zögern: »Ein Aspirin bitte.«

»Eine Schachtel oder nur eine Tablette?« fragte sie.

»Zwei Tabletten. Ich habe Kopfweh. Ich bin gerade nicht gut drauf … Kemal …« sage ich, doch das übergeht sie. Sie greift zur Schere, schneidet das Aspirin ab und gibt es mir. Ich reiche ihr das Geld.

»War Kemal heute morgen beim Fischen?« fragte ich.

»Kemal ist oben und schläft.«

Ich sah kurz zur Decke empor. Da oben schläft er also, zwei Handbreit über der Decke. Wenn er aufwachte, würde ich ihm alles erzählen, und er würde über die zwei frechen Kerle etwas sagen oder auch nicht und würde sinnierend nach draußen schauen, und ich würde reden, wir würden reden. Ich nahm das Wechselgeld an mich, das seine Frau mir mit ihren kleinen weißen Händen hingelegt hatte. Sie wandte sich sofort wieder der Zeitschrift zu, die da neben ihr auf der Theke lag, wohl ein Fotoroman. So eine schöne Frau! Ich wünschte eine gute Nacht, ging diskret hinaus, die Klingel schepperte wieder. Auf den Straßen war es ruhig geworden, die Verstecken spielenden Kinder waren weg. Was soll’s, ich gehe nach Hause.

Als ich das Gartentor zumachte, sah ich durch die Fensterläden, dass bei der gnädigen Frau noch Licht brannte: Bevor ich nicht ins Bett gehe, schläft sie nicht. Ich ging durch die Küchentür hinein, schloss hinter mir ab, trödelte noch ein wenig herum, dann ging ich schwerfällig die Treppe hinauf, und da kam es mir in den Sinn: Ob jenes Haus in Üsküdar wohl auch eine Treppe gehabt hatte? Welche Zeitung war es gleich wieder, morgen gehe ich zum Krämer und kaufe sie mir, hast du die Tercüman von gestern noch, Faruk braucht sie, der ist doch Historiker und will die Geschichtskolumne lesen … Oben angekommen, ging ich in ihr Zimmer, sie liegt im Bett.

»Ich bin da.«

»Bravo«, sagte sie. »Hast also doch noch heimgefunden.«

»Na ja, der Film hat eben so lange gedauert.«

»Hast du die Türen gut zugemacht?«

»Habe ich. Brauchen Sie noch etwas? Ich gehe jetzt ins Bett. Nicht dass Sie mich nachher wieder aufwecken.«

»Sie kommen also morgen?«

»Ja«, sagte ich. »Ich habe die Betten gemacht und die Zimmer hergerichtet.«

»Na gut. Mach meine Tür richtig zu.«

Ich ging hinaus und schloss die Tür. Ich werde mich jetzt sofort schlafen legen. Ich gehe die Treppe hinunter.

2

Ich höre, wie er Stufe um Stufe die Treppe hinuntergeht. Was macht er denn so spät draußen auf der Straße? Denk gar nicht dran, Fatma, sonst ekelt dich nur. Neugierig bin ich trotzdem. Hat er wenigstens die Türen richtig zugemacht, der hinterhältige Zwerg? So etwas kümmert ihn doch gar nicht! Der legt sich augenblicklich ins Bett, und um zu beweisen, dass er von der Dienstbotenrasse abstammt, schnarcht er sich ohne Unterbrechung durch die Nacht. Schlaf nur deinen sorglosen Dienerschlaf, du Zwerg, schlaf, damit die Nacht nur mir gehört. Ich kann nämlich nicht schlafen. Ich denke immer, dass ich schlafen und vergessen werde, doch warte ich nur auf den Schlaf, und während ich so warte, begreife ich, dass ich vergeblich warte, und warte weiter.

Dein Schlaf ist doch auch nur ein chemischer Vorgang, sagte Selâhattin immer, wie alles andere ist auch der Schlaf etwas Erklärbares, Fatma, und so, wie einst H2O als Formel für das Wasser entdeckt wurde, werden sie eines Tages auch die Formel des Schlafes finden. Natürlich nicht unsere Holzköpfe hier, sondern leider wieder die Europäer, aber dennoch wird dann niemand mehr zur Überwindung seiner Müdigkeit in einem lächerlichen Schlafanzug unter eine alberne, blümchengemusterte Bettdecke kriechen so wie deine hier und dann untätig auf den nächsten Morgen warten. Es wird nämlich genügen, abends ein Glas Wasser mit drei Tropfen aus einem Fläschchen zu trinken, um sich so quicklebendig zu fühlen, als hätte man eine ganze Nacht durchgeschlafen. Kannst du dir vorstellen, Fatma, was man in den schlaflosen Stunden, die wir dann hätten, alles anfangen könnte, kannst du dir das eigentlich vorstellen?

Ich brauche mir das nicht vorzustellen, Selâhattin, ich weiß es nämlich: Ich sehe an die Zimmerdecke und warte in der Hoffnung, dass irgendein Gedanke mich davonträgt, aber der Schlaf will nicht kommen. Wenn ich Wein und Raki trinken könnte, würde ich vielleicht schlafen so wie du, aber diesen hässlichen Schlaf, den will ich gar nicht. Zwei Flaschen hast du stets getrunken: Ich trinke nicht zum Vergnügen, Fatma, sondern um mich von den Mühen der Enzyklopädie zu erholen und einen klaren Kopf zu bekommen. Dann lagst du mit offenem Mund schnarchend neben mir, und mir wurde so elend von dem Rakigestank aus diesem Mund, der aussah wie ein Brunnen, in dem sich Frösche und Skorpione paaren, und so floh ich unser Bett. Du kalte, dumme Frau, du bist wie Eis und ohne Seele! Wenn du auch nur ein Glas mittrinken würdest, dann könntest du mich verstehen! Na los, trink doch, Fatma, ich befehle es dir, glaubst du denn nicht, dass du deinem Gatten gehorchen musst? Doch, du glaubst es, denn sie haben es dir beigebracht, also gebe ich dir jetzt einfach einen Befehl. Trink schon, das kommt nicht in dein Sündenregister, sondern in meines, los, trink, Fatma, tu es zur Rettung deines Verstandes, schau, dein Gatte will es von dir, na los, mein Gott, wie diese Frau mich bitten und betteln lässt, ich habe diese Einsamkeit so satt, los, Fatma, trink ein Glas leer, oder lehnst du dich gegen deinen Mann etwa auf?

Nein, ich falle auf diese Lüge im Schlangengewand nicht herein! Ich habe nie etwas getrunken. Das heißt, ein einziges Mal. Aus Neugier. Als niemand sonst zu Hause war. Ein Geschmack auf der Zunge wie Salz, Zitrone und Gift. Dann geriet ich in Panik, bereute den Versuch, spülte mir den Mund aus, kippte den Rest schnell weg, wusch dreimal und viermal das Glas und dachte, dreht sich mir jetzt gleich der Kopf, und um nicht umzufallen, setzte ich mich, mein Gott, werde ich etwa genauso betrunken wie er immer, aber nein, es passierte nichts. Da durchströmte mich ein beruhigender Gedanke: Der Teufel kann mir nichts anhaben.

Ich sehe zur Decke hinauf. Wenn ich schon nicht schlafen kann, dann stehe ich eben auf. Ich ging zum Fenster und öffnete leise die Läden, die Mücken lassen mich nämlich in Ruhe. Der Wind hatte sich gelegt, eine stille Nacht, im Feigenbaum regt sich kein Blättchen. Receps Licht ist schon aus, er hat ja auch an nichts zu denken, der Zwerg, also schläft er sofort ein. Kochen, das bisschen Wäsche und Einkaufen auf dem Markt, und dann kommt er mir noch mit angefaulten Pfirsichen daher, und dazu treibt er sich stundenlang auf der Straße herum.

Ich sehe zwar das Meer nicht, denke aber daran, von wo bis wo es sich erstreckt und bis wohin es noch weiter reicht, ohne dass wir das sehen: Diese riesige Welt! Das Meer riecht gut, wenn die lauten Motorboote weg sind und die Ruderboote, auf denen die Leute nackt herumfahren. Ich höre die Grille wieder. In einer Woche ist sie einen Schritt weitergekommen. Ich dagegen nicht. Früher dachte ich, die Welt sei doch schön, da war ich ein Kind, war dumm. Ich schloss die Läden wieder, verriegelte sie: Soll die Welt doch draußen bleiben.

Langsam setzte ich mich auf einen Stuhl, ich sehe auf den Tisch. Still liegt alles da. Reglos die halbvolle Karaffe und das Wasser darin. Wenn ich trinken will, nehme ich den gläsernen Stöpsel ab, schenke mir ein Glas ein, sehe und höre, wie das Wasser herausfließt; das Glas klingt, das Wasser sprudelt, Kühle umweht mich; eine willkommene Ablenkung, aber jetzt trinke ich nichts. Noch nicht. Mit allem, was die Zeit einteilt, ist sparsam umzugehen. Ich sehe auf meine Bürste und die Haare, die sich darin verfangen haben. Ich nahm die Bürste und begann die Haare herauszuziehen. Die dünnen, feinen Haare einer Neunzigjährigen. Eines nach dem anderen fallen sie mir aus. Die Zeit, murmelte ich, das, was sie Zeit nennen, fällt genauso aus und weg. Ich hielt inne und legte die Bürste wieder hin, mit den Borsten nach oben: Sie lag da wie ein auf den Rücken gepurzelter Käfer, und mich schauderte. Wenn ich alles so liegen ließe und tausend Jahre lang niemand an uns rührte, dann würde tausend Jahre lang alles so verharren. Der Schlüssel auf dem Tisch, die Karaffe, sämtliche Gegenstände: ein seltsamer Gedanke, alles so völlig reglos! Auch meine Gedanken würden dann zu einem Eisklumpen gerinnen, farblos, geruchlos, hart.

Aber morgen kommen sie ja, daran kann ich denken. Hallo, hallo, wie geht es dir, und dir, sie werden mir die Hand küssen, wie geht es Ihnen denn, Großmutter, nun, Großmutter, wie geht es Ihnen, danke der Nachfrage. Ich werde sie mir genauestens anschauen. Redet doch nicht alle durcheinander, komm du doch mal her zu mir, komm, setz dich. Erzähl mal, was machst du so? Ich weiß, dass ich frage, um angeschwindelt zu werden, und so höre ich mir eben den Schwindel eine Weile an! Soll das etwa alles sein? Mehr habt ihr eurer Großmutter nicht zu erzählen? Sie schauen sich an, reden untereinander, lachen, ich höre zu und begreife. Sie werden immer lauter. Schrei doch nicht so, ich höre Gott sei Dank noch recht gut. Entschuldigung, Großmutter, aber unsere andere Großmutter wird allmählich taub. Ich bin aber nicht die andere Großmutter! Entschuldigung, Entschuldigung! Na los, erzählt mir doch was, irgendwas, von der anderen Großmutter zum Beispiel, was macht sie denn so? Verwundert schweigen sie: Ja, was macht die andere Großmutter eigentlich? Da merke ich, dass sie es nicht lernen, zu sehen und zu verstehen, aber was soll’s, ich werde weiterfragen, aber nicht um das Gehörte zu glauben, doch während ich mir das noch sage, haben sie mich schon vergessen: Nicht mit mir sind sie beschäftigt, sondern mit dem Zimmer, nicht mit meinen Fragen, sondern mit ihren eigenen Gedanken, und schon bin ich wieder für mich allein …

Ich beuge mich zu dem Teller vor, nehme eine Aprikose, esse sie, warte. Nein, das hat nichts geholfen. Ich bin hier, inmitten all der Sachen, nicht in meinen Gedanken. Ich sehe auf den Tisch. Zehn vor zwölf. Neben der Uhr das Kölnisch Wasser, daneben die Zeitung, daneben ein Taschentuch. Verharrende Gegenstände. Ich sehe sie an, lasse meine Blicke über sie wandern, prüfe sie, ob sie mir nicht etwas erzählen können, doch haben sie mich an schon so viel erinnert, dass sie mir nichts mehr zu sagen haben. Nur eine Flasche Kölnisch Wasser, eine Zeitung, ein Taschentuch, ein Schlüssel und eine Uhr: Die tickt, doch was die Zeit ist, weiß niemand, nicht einmal Selâhattin. Ein Augenblick und dahinter gleich noch einer und noch einer, winzig kurz, lass nur meine umherschweifenden Gedanken nicht an einem dieser Augenblicke hängenbleiben, hüpft weiter, hüpfen wir hinaus, hinaus aus der Zeit, hinaus aus diesem Zimmer. Ich aß noch eine Aprikose, aber hinaus kam ich nicht. Jetzt sehe ich noch angestrengter auf all die Gegenstände und will mich schaudernd mit dem einen Gedanken ablenken: Wenn ich nicht wäre und niemand wäre, dann würden diese Dinge bis in alle Ewigkeit so verharren, und niemand würde daran denken, dass er nicht weiß, was das Leben ist, niemand!

Nein, das lenkte mich nicht ab. Ich stand auf, ging zur Toilette, wusch mich, ließ die in der Ecke hockende Spinne zurück und ging wieder ins Schlafzimmer. Als ich den Schalter drehte, ging die Deckenlampe aus, nur das Nachttischlämpchen brennt noch, und ich gehe ins Bett. Es ist heiß, aber ohne Bettdecke kann ich nun mal nicht sein, etwas zum Umarmen, zum Darunterkriechen, zum Verstecken. Ich lehne den Kopf auf das Kissen und warte und weiß doch, dass der Schlaf nicht gleich kommt. Der schwache Widerschein des Lämpchens an der Decke, ich lausche der Grille. Warme Sommernächte!

Mir kommt es aber so vor, als seien die Sommer früher heißer gewesen. Wir tranken Limonade, eisgekühlten Fruchtsaft. Aber nicht auf der Straße, von weißgeschürzten Männern zubereitet, meine Mutter sagte: Wir lassen ihn zu Hause machen, sicher ist sicher, Fatma; wir kommen aus der Stadt zurück; nichts Neues in den Geschäften. Am Abend warten wir auf meinen Vater, er kommt, er erzählt, wir hören zu; er riecht nach Tabak, hustet immer wieder. Eines Tages sagte er: Fatma, da ist ein Doktor, der hält um deine Hand an. Ich antworte nicht! Ein Doktor, ich schweige, und mein Vater sagt nichts mehr, aber am nächsten Tag sagt er es wieder, ich war achtzehn, und meine Mutter sagte, schau, er ist Doktor, und ich dachte: Seltsam, woher kennt er mich denn? Mir war bange, und ich fragte nicht, und ich dachte: Ein Doktor. Mit einem Totenschädel? Dann sagte mein Vater wieder etwas und fügte hinzu: Er scheint eine glänzende Zukunft zu haben, Fatma, ich habe mich erkundigt, er ist fleißig, vielleicht ein wenig zu ehrgeizig, ein Ehrenmann und klug, überleg es dir gut. Ich sagte nichts. Es war sehr heiß, wir tranken Fruchtsaft: Ich weiß nicht recht. Schließlich sagte ich, na gut, da nahm mein Vater mich beiseite: Du verlässt jetzt dein Vaterhaus, lass dir eines gesagt sein, Männern darf man nicht zu viele Fragen stellen, Neugier ist nur was für Katzen, gut, Papa, das weiß ich sowieso, ich sage es dir aber lieber noch einmal, und leg deine Hand nicht so hin, und kau nicht an den Fingernägeln, wie alt bist du eigentlich, gut, Papa, ich werde nicht viel fragen, nein, wirst du nicht, nein, tat ich nicht.

Ich fragte nicht. Nach vier Jahren hatten wir noch immer kein Kind, es hieß, das liege am Klima von Istanbul, später aber begriff ich; an einem heißen Sommerabend ging Selâhattin nicht in seine Praxis, sondern direkt zu mir und sagte: Wir werden von Istanbul wegziehen, Fatma! Ich fragte nicht, warum denn, Selâhattin, aber er sagte es mir und hampelte dabei mit den Armen herum wie ein zappeliges Kind: Wir werden von Istanbul wegziehen, heute hat mich Talat Paşa zu sich gerufen und gesagt: Doktor Selâhattin, du wirst von jetzt an nicht mehr in Istanbul wohnen und dich fernhalten von der Politik! Der elende Kerl hat zu mir gesagt, du bist ein Starrkopf und spielst gern den Helden, aber du willst doch nicht, dass ich dich zusammen mit den anderen auf dem erstbesten Schiff in das Gefängnis von Sinop schicke, was sollen wir machen, du hast uns ziemlich zugesetzt, bist hergezogen über die Partei, dabei machst du doch einen ganz vernünftigen Eindruck, denk doch mal nach, du bist verheiratet, bist Arzt, hast einen guten Beruf, kannst genug verdienen, um irgendwo auf der Welt ein ruhiges Leben zu führen, Französisch kannst du doch auch, nicht wahr? Der Teufel soll ihn holen! Verstehst du, Fatma, die Jungtürken drehen durch, sie halten die Freiheit nicht aus, was unterscheidet sie da überhaupt noch von Abdülhamit? Nun gut, Talat Efendi, wenn ich deine Einladung annehme und auf der Stelle meine Sachen packe, dann nicht etwa, weil ich mich vor dem Gefängnis in Sinop fürchte, weit gefehlt! Weil ich euch die gehörige Antwort besser von Paris aus geben kann als hinter irgendwelchen Kerkermauern, werden wir nach Paris gehen, Fatma, verkauf also ein paar von deinen Ringen und Diamanten! Du willst nicht? Gut, ich habe von meinem Vater noch ein paar Immobilien, dann gehen wir eben nicht nach Europa, sondern nach Saloniki, warum sollen wir auch ins Ausland, gehen wir nach Damaskus, schau, Doktor Rıza ist nach Alexandrien, er schreibt, dass er dort gut verdient, wo sind denn seine Briefe, ich finde sie nicht, habe ich nicht gesagt, ihr sollt meinen Schreibtisch nicht anrühren, mein Gott, Berlin ginge natürlich auch, oder wie wär’s mit Genf, die sind ja schlimmer geworden als Abdülhamit, jetzt schau mich doch nicht so fassungslos an, pack lieber unsere Koffer und Truhen, die Frau eines Freiheitskämpfers muss stark sein, nicht wahr, es gibt nichts zu befürchten. Ich schwieg, ja ich sagte nicht einmal, du musst es wissen, und Selâhattin redete in einem fort weiter und sagte, was sie damals Abdülhamit von Paris aus angetan hätten, das werde nun er wiederum ihnen antun, und zwar wieder von Paris aus, und wenn es erst einmal so weit sei, dann würden wir triumphal mit dem Zug von Paris aus nach Hause fahren! Dann sagte er, nein, lieber Damaskus oder Izmir, und am Abend hieß es dann, auch Trabzon wäre mir recht, wir müssen unser Hab und Gut verkaufen, Fatma, bist du zu diesem Opfer bereit? Ich will nämlich meine ganze Kraft diesem Kampf widmen, und vor den Dienstboten kein Wort, die Wände haben Ohren, aber Talat Efendi, du brauchst mir gar nicht zu sagen, dass ich gehen soll: In diesem Sumpf namens Istanbul ist meines Bleibens sowieso nicht mehr, aber wo sollen wir nur hin, Fatma, sag doch du etwas! Ich sagte nichts und dachte nur: Was für ein Kind! So leicht konnte der Teufel doch nur ein Kind verführen, und ich begriff, dass ich einen Jungen geheiratet hatte, der sich schon durch zwei, drei Bücher von seinem Weg abbringen ließ. Um Mitternacht war ich damals aus meinem Zimmer gegangen, um etwas zu trinken, es war heiß, und als ich in seinem Zimmer noch Licht sah, machte ich leise die Tür auf, und was sehe ich: Selâhattin sitzt am Tisch, den Kopf auf die Hände gestützt, und weint: Von der schwachen Lampe fällt auf sein Gesicht ein hässlicher Schein. Der Totenschädel, ohne den er nicht sein kann, steht auf dem Tisch und sieht ebenfalls zu, wie das ausgewachsene Mannsbild schluchzt. Ich zog leise die Tür wieder zu, trank in der Küche ein Glas Wasser und dachte nur, ein Kind, ganz klar, ein Kind.

Langsam steige ich wieder aus dem Bett, setze mich an den Tisch und sehe auf die Karaffe. Wie schafft es das Wasser nur, sich so still zu verhalten? Ich schaute, als gäbe es da etwas zu bewundern, als sei eine Karaffe voll Wasser etwas Bestaunenswertes. Einmal hatte ich eine Wespe eingesperrt, indem ich ein Glas über sie stülpte. Wenn mir langweilig war, stand ich aus dem Bett auf und sah ihr zu: Zwei Tage und zwei Nächte lang kroch und flog sie darin herum, bis sie einsah, dass es keinen Ausweg für sie gab, dann blieb sie an einer Stelle hocken, weil es nichts anderes mehr zu tun gab, als bewegungslos zu verharren und zu warten, ohne zu wissen, worauf eigentlich. Da graute mir vor ihr, ich machte die Läden auf, schob das Glas bis zum Tischrand und hob es dann hoch, um sie davonfliegen zu lassen, aber das dumme Tier rührte sich nicht! Dumpf blieb es auf dem Tisch einfach sitzen. Ich rief Recep und sagte ihm, er solle das abscheuliche Vieh zerquetschen. Er aber riss ein Stück Zeitungspapier ab, setzte die Wespe behutsam drauf und warf sie dann zum Fenster hinaus. Er konnte ihr nichts zuleide tun. Er ist auch so wie die anderen.

Ich schenke mir ein Glas voll, trinke es in heftigen Zügen leer. Was soll ich jetzt machen? Ich stand auf, ging ins Bett, legte den Kopf seitlich aufs Kissen und dachte an die Zeit zurück, als wir dieses Haus hier bauen ließen. Selâhattin nahm mich immer bei der Hand und führte mich herum: Hier wird meine Praxis sein, hier das Esszimmer, hier eine Küche nach europäischer Art; jedes Kind bekommt sein eigenes Zimmer, denn jeder soll sich in sein Zimmer zurückziehen und seine eigene Persönlichkeit entwickeln können, ja Fatma, drei Kinder will ich; wie du siehst, lasse ich an den Fenstern keine Holzgitter anbringen wie an den traditionellen Häusern, Frauen sind schließlich keine Tiere, die man einsperrt, wir sind alle frei, wenn du willst, kannst du mich verlassen, wir bringen Fensterläden an, wie drüben in Europa, überhaupt soll es zwischen dort drüben und hier keinen Unterschied mehr geben, und wir lassen auch keine Erker bauen, sondern einen Balkon, ein Fenster zur Freiheit, ist das nicht ein schöner Ausblick, Istanbul muss dort hinter diesen Wolken sein, Fatma, fünfzig Kilometer weit weg, gut, dass wir in Gebze aus dem Zug gestiegen sind, die Zeit vergeht schnell, ich glaube sowieso nicht, dass sich die Dummköpfe lange an der Regierung halten, vielleicht werden die Jungtürken gestürzt, bevor unser Haus überhaupt fertig ist, und dann gehen wir sofort nach Istanbul zurück, Fatma …

Dann wurde das Haus fertig, und mein Doğan kam auf die Welt, und es brach wieder ein Krieg aus, doch die dumme Jungtürken-Regierung war noch immer an der Macht, und Selâhattin sagte zu mir, fahr doch wenigstens du nach Istanbul, Fatma, Talat hat es ja mir verboten und nicht dir, warum fährst du nicht hin, zu deinen Eltern, zu den Töchtern von Şükrü Paşa, zum Einkaufen, ja, kauf dir was Neues zum Anziehen oder zeig wenigstens deiner Mutter, was du dir selbermachst, wenn du den ganzen Tag lang das Pedal deiner Nähmaschine trittst und dir dann am Abend auch noch mit den Stricknadeln die Augen verdirbst, also Fatma, warum fährst du nicht mal hin? Ich aber sagte, nein, wir gehen zusammen hin, Selâhattin, wenn sie einmal gestürzt worden sind, zusammen machen wir das, aber sie wurden und wurden nun mal nicht gestürzt. Und eines Tages las ich es dann in der Zeitung; die Zeitung Selâhattins kam immer mit drei Tagen Verspätung, aber er stürzte sich nicht mehr darauf wie früher. Er kümmerte sich nicht mehr um die Kriegsnachrichten, die nun aus Palästina, aus Galizien und sogar von den Dardanellen kamen, und da er schließlich sogar vergaß, wenigstens nach dem Abendessen zerstreut in der Zeitung herumzublättern, las ich sie als erste, und als ich erfuhr, dass die Jungtürken gestürzt waren, legte ich ihm diese Meldung auf einen Teller wie eine reife Frucht. Als er um die Mittagszeit von seiner Enzyklopädie aufsah und zum Essen herunterkam, sah er die Zeitung und die Meldung sofort, sie war nämlich in riesigen Lettern geschrieben. Er las sie und sagte nichts darauf. Ich fragte auch nichts, doch da ich über mir bis zum Abend unablässig seine Schritte hörte, war mir klar, dass er den ganzen Nachmittag nicht eine Zeile an seiner Enzyklopädie schrieb. Als Selâhattin beim Abendessen wieder nicht sprach, sagte ich lediglich: Hast du gesehen, Selâhattin, sie sind gestürzt worden? Ach ja, stimmt, sagte er, die Regierung ist weg vom Fenster, nicht wahr, die Jungtürken haben den Staat ruiniert und sind abgehauen, und den Krieg haben wir auch verloren! Er konnte mir nicht in die Augen sehen, und wir schwiegen beide. Als er dann vom Tisch aufstand, mied er wieder meinen Blick und sagte, als müsste er eine schändliche Sünde beichten, die er am liebsten vergessen hätte: Wir gehen nach Istanbul zurück, wenn ich mit der Enzyklopädie fertig bin, denn verglichen mit dem, was ich hier leiste, ist das, was diese Dummköpfe in Istanbul Politik nennen, nichts anderes als unerhebliches Alltagsgewäsch, ich mache hier etwas viel Bedeutsameres und Wichtigeres, ich erfülle eine Aufgabe, die noch in Hunderten von Jahren ihre Wirkung tun wird; diese Arbeit darf ich nicht im Stich lassen, Fatma, und deswegen gehe ich auch jetzt gleich wieder rauf, sagte Selâhattin, und tatsächlich ging er gleich wieder hinauf, und so lange, bis er den Tod entdeckte und sich nach dieser Entdeckung vier Monate lang in unglaublichen Schmerzen wand, bis ihm das Blut in den Mund schoss und er starb, schrieb er noch dreißig Jahre lang an dieser widerwärtigen Enzyklopädie, und dafür, dass er so lange schrieb, einzig und allein dafür bin ich dir dankbar, Selâhattin, denn so bin ich seit siebzig Jahren hier in Cennethisar und bin davor errettet worden, mich in den Sündenpfuhl zu begeben, den du »das Istanbul der Zukunft und den Staat der Gottlosen« nanntest, nicht wahr, ich bin errettet worden, Fatma, schlaf jetzt in Ruhe ein …

Aber ich kann nicht schlafen und lausche auf den von ferne herannahenden Zug, auf das Pfeifen, das lange anhaltende Motorenbrummen und das Schienengeratter. Früher liebte ich diese Geräusche. Ich stellte mir in der Ferne sündenlose Länder, Häuser, Gärten vor, ich war ein Kind, leicht zu täuschen. Wieder ein Zug vorbei, ich höre ihn nicht mehr, wohin, denk nicht daran! Das Kissen unter meiner Wange ist warm geworden, ich drehe es um. Als ich wieder den Kopf darauflege, ist es kühl unter meinem Ohr. Die Winternächte waren kalt, aber keiner schmiegte sich an den anderen heran. Selâhattin schnarchte vor sich hin, und mir graute so sehr vor dem Alkoholgeruch aus seinem Mund, dass ich mich im Nebenzimmer in die Kälte setzte. Einmal bin ich auch in das andere Zimmer gegangen, um einen Blick auf jene Papiere zu werfen, sehen wir doch mal, was er von morgens bis abends so schreibt: Für den Artikel über den Gorilla als Großvater des Menschen, schreibt er; in diesen Tagen werden wir Zeuge so bedeutender wissenschaftlicher Fortschritte im Westen, dass die Frage nach der Existenz Gottes nunmehr als Lappalie abgetan werden kann, schreibt er; dass der Orient immer noch in den fürchterlichen Untiefen dunkler Mittelalterlichkeit verharrt, darf uns paar Intellektuelle nicht in Verzweiflung stürzen, sondern sollte uns ganz im Gegenteil zu noch größerem Arbeitseifer anspornen, schreibt er; ganz eindeutig müssen wir dieses ganze Wissen nicht einfach von dort importieren, sondern es für uns selbst völlig neu erfinden, schreibt er; um die seit wer weiß wie vielen Jahrhunderten bestehende Kluft schneller zu überwinden, schreibt er; im siebten Jahr meines großen Unternehmens sehe ich, dass die durch Gottesfurcht verdummten Massen, schreibt er, mein Gott, Fatma, lies nicht weiter, doch ich tat es; um einen Haufen Schlafmützen aufzuwecken, muss ich also seltsame Dinge tun, die man in fortgeschritteneren Ländern als völlig lächerlich empfinden würde, schreibt er; wenn ich wenigstens einen Freund hätte, mit dem ich das alles besprechen könnte, aber nein, genauso wie ich keinen einzigen Freund habe, setze ich auch in diese kalte Frau nun keinerlei Hoffnung mehr, du bist mutterseelenallein, Selâhattin, schreibt er; morgen zu erledigen, schreibt er auf einen Zettel; für die Karte mit den Flugrouten der Störche und anderer Zugvögel die Karte im Buch von Polikowsky verwenden, drei einfache Fabeln, um den Schlafmützen zu beweisen, dass es keinen Gott gibt, schreibt er; nein, ich kann das nicht mehr lesen, es reicht, Fatma, ich schleuderte die sündhaften Papiere von mir weg, stürzte aus dem eiskalten, verfluchten Zimmer hinaus und betrat es erst wieder an jenem kalten, verschneiten Tag, an dem er schon tot war. Am nächsten Morgen begriff Selâhattin sofort: Warst du gestern nacht, als ich schlief, in meinem Zimmer, Fatma? Ich schweige. Du bist doch hineingegangen, Fatma, und hast in meinen Papieren herumgewühlt? Ich schweige. Du hast herumgewühlt, hast sie durcheinandergebracht und einige auf den Boden geworfen, Fatma, aber das macht nichts, lies darin, soviel du willst, lies nur! Ich schweige. Du hast sie gelesen, gut so, Fatma, bravo, und was sagst du dazu? Ich schweige. Du weißt doch, dass ich das will, Fatma, lies. Lesen ist das Allerbeste, lies und lerne, denn es gibt ja so viel zu tun. Ich schweige noch immer. Wenn du liest, Fatma, wirst du eines Tages erwachen und sehen, was alles noch zu tun ist im Leben, so viel! So viel!

Nein, so wenig: Es sind neunzig Jahre, ich weiß es, so wenig. Dinge, Zimmer; ich schaue, sehe; von hier nach da; dann ein wenig Zeit; unaufhaltsame Tropfen aus einem Wasserhahn, der sich auch mit Gewalt nicht zudrehen lässt: In meinem Kopf und meinem Körper ist jetzt schon vorhin und vorhin jetzt, Augen zu, Augen auf, Fensterläden auf, Fensterläden zu, Tag und Nacht, ach, ein neuer Morgen, aber ich falle nicht darauf herein. Und trotzdem warte ich. Morgen kommen sie. Hallo, hallo! Danke, danke. Sie küssen mir die Hand, lachen: ein komischer Anblick, die Haare, wenn ihre Köpfe sich über meine Hand beugen. Wie geht es Ihnen, Großmutter, wie geht es Ihnen? Was kann jemand wie ich da sagen? Ich lebe, ich warte. Gräber, Tote. Komm, Schlaf, komm.

Ich drehe mich um im Bett. Die Grille höre ich jetzt nicht mehr. Auch die Wespe ist weg. Wie lang ist noch bis zum Morgen? Morgens auf den Dächern die Krähen, die Elstern, ich erwache früh und höre sie. Stimmt es eigentlich, dass Elstern diebisch sind? Den Schmuck von Königinnen und Prinzessinnen soll eine Elster gestohlen haben, daraufhin sind alle hinter ihr her. Ich frage mich, wie der Vogel bei all dem Gewicht noch fliegen konnte. Wie können diese Tiere überhaupt fliegen? Heißluftballons, Zeppeline und jener junge Mann, hatte Selâhattin geschrieben: Wie fliegt dieser Lindbergh? Wenn er nicht eine, sondern zwei Flaschen trank, dann vergaß er, dass ich ihm gar nicht zuhörte, und fing nach dem Essen zu erzählen an. Heute habe ich über Vögel, über Flugzeuge und über das Fliegen als solches geschrieben, mit dem Artikel über die Luft bin ich bald fertig, hör zu: Die Luft ist gar nicht leer, Fatma, sie enthält Teile, und genauso wie ein Boot auf dem Wasser eine bestimmte Verdrängung bedeutet, so ist auch, aber nein, ich verstehe es nicht, ich weiß nicht, wie die Ballons und die Zeppeline fliegen, aber Selâhattin steigerte sich ins Erzählen hinein, und wenn er dann zu dem immergleichen Schluss kam, schrie er regelrecht: Das und so vieles andere müssen wir wissen, das brauchen wir, eine Enzyklopädie, wenn den Leuten alle Natur- und Gesellschaftswissenschaft bekannt ist, dann ist Gott endlich tot, aber ich höre dir doch schon lange nicht mehr zu! Ich höre auch nicht auf das, was er sagt, wenn er erst mal die dritte Flasche getrunken hat und völlig außer sich gerät: Ja, Fatma, es gibt keinen Gott mehr, es gibt jetzt die Wissenschaft. Dein Gott ist tot, du dummes Weib! Wenn ihm dann kein anderer Glaube mehr übrigblieb als der an die Liebe zu sich selbst, an die Abscheu vor sich selbst, dann überfiel ihn eine abstoßende Wollust, und er rannte in die Hütte im Garten. Denk nicht dran, Fatma. Eine Dienstbotin … Denk nicht dran … Beides Krüppel! Denk an was anderes! An den schönen Morgen, die alten Gärten, die Pferdewagen … Komm, Schlaf, komm.

Meine Hand streckt sich vor wie eine schleichende Katze, und das Nachttischlämpchen geht aus. Stilles Dunkel! Aber durch die Läden hindurch scheint ein totes Licht herein, das weiß ich. Ich kann die Dinge nicht mehr sehen, sie sind meinen Blicken entzogen, ziehen sich schweigend in sich selbst zurück, als würden sie sagen, dass sie auch ohne mich reglos auf der gleichen Stelle verharren können, aber ich kenne euch: Ihr seid da, ihr Dinge, ihr seid da, ganz in meiner Nähe, als würdet ihr mich bemerken. Hin und wieder ein Knacken, ich kenne dieses Geräusch, es ist mir nicht fremd, auch ich möchte ein Geräusch von mir geben und denke: Wie seltsam ist diese Leere, in der wir uns befinden! Die Uhr tickt und zerteilt die Leere. Fest entschlossen. Ein Gedanke, dann noch einer. Dann kommt der Morgen, und sie sind da. Hallo, hallo! Ich muss eingeschlafen sein, bin dann wieder aufgewacht, muss lang und gut geschlafen haben. Sie sind da, gnädige Frau, sie sind da! Während ich warte, pfeift noch einmal der Zug. Wohin? Auf Wiedersehen! Wohin, Fatma, wohin? Wir gehen weg, Mutter, wir dürfen in Istanbul nicht bleiben. Hast du deine Ringe dabei? Ja! Die Nähmaschine? Auch. Die Diamanten, die Perlen? Die wirst du dein ganzes Leben lang brauchen, Fatma. Komm aber bald zurück! Wein nicht, Mutter. Die Truhen, die Sachen werden in den Zug geladen. Ich habe noch kein Kind geboren, wir gehen auf Reisen, wer weiß, in welche Länder mein Mann und ich verbannt werden, wir besteigen den Zug, ihr seht uns an, ich winke euch, auf Wiedersehen Vater, auf Wiedersehen Mutter, schaut nur, ich fahre weg, weg in die Ferne.

3

»Ja bitte«, sagte der Obsthändler, »was darf’s sein?«

»Wir verkaufen Karten«, sagte Mustafa. »Für eine Veranstaltung der nationalistischen Jugend.«

Ich zog die Einladungen aus der Mappe.

»Zu so was geh ich nicht«, sagte der Obsthändler. »Dafür habe ich keine Zeit.«

»Aber Sie werden doch wenigstens ein paar davon nehmen, um die nationalistische Jugend zu unterstützen?« sagte Mustafa.

»Ich habe erst letzte Woche welche genommen.«

»Von uns?« fragte Mustafa. »Letzte Woche waren wir doch gar nicht da.«

»Wenn Sie allerdings die Kommunisten unterstützt haben, dann ist das natürlich was anderes«, versetzte Serdar.

»Nein«, erwiderte der Obsthändler. »Die kommen nicht hierher.«

»Und warum nicht?« sagte Serdar. »Weil sie keine Lust haben?«

»Was weiß ich«, sagte der Obsthändler. »Lasst mich in Frieden. Ich kümmere mich nicht um so was.«

»Ich kann Ihnen sagen, warum die nicht hierherkommen«, sagte Serdar. »Weil sie vor uns Angst haben. Wenn wir nicht wären, dann würden die Kommunisten von den Leuten hier genauso Schutzgelder erpressen wie in Tuzla.«

»Da sei Gott vor!«

»Aha! Sie wissen also, wie es den Geschäftsleuten in Tuzla ergeht? Erst mal werden ihnen die Schaufensterscheiben zerdeppert …«

Ich schaute mich zu seinem Schaufenster um: eine blitzsaubere schöne Scheibe.

»Und soll ich Ihnen auch sagen, was passiert, wenn sie dann immer noch nicht zahlen?«

Friedhöfe, dachte ich. Wenn es die Kommunisten immer so machen, dann müssen doch in Russland die Friedhöfe proppenvoll sein. Der Obsthändler hat anscheinend begriffen, woran er ist: Er hat die Hand an die Hüfte gelegt und schaut uns mit hochrotem Kopf an.

»So«, sagte Mustafa, »wir haben unsere Zeit nicht gestohlen. Um wie viele Lira wollen Sie welche?«

Ich zeigte ihm die Eintrittskarten.

»Er nimmt zehn Stück«, sagte Serdar.

»Ich habe doch letzte Woche schon welche genommen«, wehrte der Obsthändler ab.

»Nun gut!« sagte Serdar. »Wir verlieren hier nur unsere Zeit, Jungs. Es gibt also hier im Ort nur diesen einzigen Laden, dessen Besitzer keine Angst hat, dass ihm die Scheibe eingeschlagen wird. Einen einzigen Laden … Das dürfen wir nicht vergessen. Hasan, schreib dir doch schon mal die Hausnummer auf.«

Ich ging hinaus, notierte mir die Nummer und ging wieder hinein. Das Gesicht des Mannes war jetzt noch röter.

»Seien Sie uns nicht böse, guter Mann«, sagte Mustafa. »Wir wollen es in keiner Weise an Respekt fehlen lassen. Sie könnten ja vom Alter her unser Großvater sein, und wir sind schließlich keine Kommunisten.« Und zu mir gewandt sagte er: »Gib ihm fünf, das soll für diesmal genug sein.«

Ich hielt dem Mann fünf Karten hin. Er nahm sie mit spitzen Fingern in Empfang, als ekelte er sich davor. Dann las er genau, was darauf geschrieben stand.

»Sollen wir Ihnen eine Rechnung ausstellen?« fragte Serdar.

Ich musste lachen.

»Keine Respektlosigkeiten!« mahnte Mustafa.

»Von diesen Karten habe ich schon fünf«, sagte der Obsthändler. Aufgeregt wühlte er im staubigen Dunkel seiner Schublade herum, wühlte noch weiter und holte schließlich triumphierend die Karten hervor. »Das sind doch die gleichen, oder?«

»Ja«, sagte Mustafa. »Die müssen Ihnen die Kollegen aus Versehen gegeben haben. Sie müssen aber von uns welche nehmen.«

»Das habe ich ja.«

»Es würde Sie ja nicht umbringen, noch fünf zu nehmen, oder?« sagte Serdar.

Das überhörte der alte Geizkragen lieber und deutete statt dessen mit dem Finger auf eine der Karten.

»Das ist ja schon lange vorbei. Der Abend war schon vor zwei Monaten. Hier steht Mai 1980.«

»Haben Sie vor, die Veranstaltung zu besuchen?« fragte Mustafa.

»Wie soll ich denn zu einer Veranstaltung gehen, die vor zwei Monaten war?«

Jetzt riss auch mir bald der Geduldsfaden wegen dieses Theaters um lächerliche fünf Karten. Uns bringen sie in der Schule das Falsche bei. Mit Geduld verliert man nur seine Zeit, und sonst gar nichts. Wenn ich darüber einen Aufsatz schreiben sollte, dann wüsste ich so viel zu sagen, dass mir selbst der Türkischlehrer eine gute Note geben müsste, obwohl er sonst nur darauf aus ist, mich sitzenbleiben zu lassen. Serdar platzte nun auch der Kragen. Er ging hin zu dem Geizkragen, nahm roh den Stift an sich, den der Mann hinter dem Ohr hatte, kritzelte etwas auf die Karten und gab sie dem Obsthändler zusammen mit dem Stift zurück.

»Ist es jetzt recht so?« fragte er. »Wir haben die Veranstaltung um zwei Monate verschoben. Macht fünfhundert Lira!«

Endlich rückte er das Geld heraus. So ist es nun mal: Dass man mit Schmeichelworten eine Schlange aus ihrem Loch herauslocken kann, glauben auch nur die dummen Türkischlehrer in unserer Schule. Ich war so verärgert, dass ich dem knausrigen Alten noch irgend etwas antun wollte, ihm irgendwie weh tun. Als wir schon draußen waren, blieb ich noch mal stehen und nahm von den Pfirsichen, die neben dem Eingang aufgetürmt waren, ganz unten eine heraus. Aber der Mann hatte Glück, der Turm stürzte nicht ein. Ich steckte den Pfirsich in die Mappe. Dann gingen wir zum Friseurladen.

Der Friseur war gerade dabei, einem Kunden die Haare zu waschen. Im Spiegel sah er uns kommen.

»Ich nehme zwei Stück, Jungs«, sagte er, ohne den Kopf des Kunden loszulassen.

»Wenn Sie wollen, können Sie auch zehn haben«, sagte Mustafa. »Und sie hier im Laden weiterverkaufen.«

»Zwei reichen, habe ich gesagt«, erwiderte der Friseur. »Seid ihr vom Verein?«

Zwei Stück! Da wurde es mir zu bunt.

»Nein, Sie nehmen nicht zwei, sondern zehn«, rief ich und zählte ihm die zehn Stück hin.

Sogar Serdar war überrascht. Tja, meine Herren, wenn man mich reizt, werde ich zum Tier. Der Friseur aber nahm die Karten nicht.

»Wie alt bist du denn?« fragte er.

Auch der eingeseifte Kopf in den Händen des Friseurs sah mich aus dem Spiegel heraus an.

»Sie nehmen sie also nicht?« setzte ich nach.

»Achtzehn«, antwortete Serdar.

»Wer vom Verein hat dich denn geschickt? Du machst einen übereifrigen Eindruck.«

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, und sah Mustafa an.

»Seien Sie ihm nicht böse«, sagte Mustafa. »Er ist neu und kennt Sie noch nicht.«

»Das merkt man, dass er neu ist. Lasst mir zwei Stück da, Jungs.«