Schnee - Orhan Pamuk - E-Book

Schnee E-Book

Orhan Pamuk

4,5

Beschreibung

Ein Fremder kommt nach Kars, eine türkische Provinzstadt, um eine merkwürdige Serie von Selbstmorden zu untersuchen: Junge Mädchen haben sich umgebracht, weil man sie zwang, das Kopftuch abzulegen. Plötzlich kommt es zu einem Putsch, inszeniert von einem Schauspieler. Ein Theatercoup? Doch es fließt echtes Blut, es intervenieren echte Soldaten, keiner kann die Stadt verlassen, weil es unaufhörlich schneit ... Ein aktueller Roman, in dessen Zentrum die Frage nach der Identität der Türkei zwischen "Verwestlichung" und Islamismus steht.

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Hanser E-Book

Orhan Pamuk

SCHNEE

Roman

Aus dem Türkischenvon Christoph K. Neumann

Carl Hanser Verlag

Die Originalausgabe erschien erstmals 2002 unter dem Titel

Kar bei İletişim in Istanbul.

Die Übersetzung wurde für die vorliegende Ausgabe neu durchgesehen.

ISBN 978-3-446-25231-8

© 2002 İletişim Yayıncılık A.Ş.

Alle Rechte der deutschen Ausgabe:

© Carl Hanser Verlag München 2005/2016

Schutzumschlaggestaltung: Peter-Andreas Hassiepen, München, unter Verwendung eines Motivs © Picture Arts/CORBIS

Satz: Satz für Satz. Barbara Reischmann, Leutkirch

Unser gesamtes lieferbares Programm und viele andere Informationen finden Sie unter www.hanser-literaturverlage.de

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Datenkonvertierung E-Book: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Inhalt

1. Die Stille des Schnees

2. Unsere Stadt ist ein friedlicher Ort

3. Gebt eure Stimme der Partei Allahs!

4. Bist du wirklich wegen der Wahl und der Selbstmorde gekommen?

5. Herr Professor, darf ich Sie etwas fragen?

6. Liebe, Religion und Dichtung

7. »Politischer Islamist« ist ein Name, den uns Leute aus dem Westen und Säkularisten gegeben haben

8. Selbstmörder sind Sünder

9. Verzeihung, sind Sie Atheist?

10. Warum ist dieses Gedicht schön?

11. Gibt es einen anderen Gott in Europa?

12. Wenn es Gott nicht gibt, was ist dann der Sinn all der Qualen, die die Armen durchmachen?

13. Ich diskutiere meine Religion nicht mit einem Atheisten

14. Wie schreiben Sie Gedichte?

15. Wir alle haben etwas im Leben, was wir wirklich wollen

16. Der Ort, an dem Allah nicht ist

17. »Vaterland oder Turban«

18. Schießt nicht, die Gewehre sind geladen!

19. Und wie schön fiel der Schnee

20. Segen möge es bringen Land und Volk!

21. Aber ich erkenne keinen von ihnen

22. Ganz der Mann für die Rolle Atatürks

23. Allah ist gerecht genug, um zu wissen, daß das Problem nicht ein Problem des Verstandes und des Glaubens, sondern eines des ganzen Lebens ist

24. Ich, Ka

25. Die einzige Zeit der Freiheit in Kars

26. Unsere Armut ist nicht der Grund, warum wir Gott so sehr anhängen

27. Halt durch, Mädchen, aus Kars kommt Hilfe!

28. Was die Qual des Wartens von der Liebe trennt

29. Was mir mangelt

30. Wann sehen wir uns wieder?

31. Wir sind nicht dumm, wir sind bloß arm

32. Ich kann nicht, solange in mir zwei Seelen leben

33. Ein Gottloser in Kars

34. Das akzeptiert Kadife nicht

35. Ich bin niemandes Spitzel

36. Sie werden doch nicht wirklich sterben, nicht wahr?

37. Heute abend sind Kadifes Haare der einzige Text

38. Wir haben wirklich nicht die Absicht, dich zu betrüben

39. Die Freuden gemeinsamen Weinens

40. Doppelagent zu sein ist sicher nicht leicht

41. Jeder hat eine Schneeflocke

42. Ich packe meinen Koffer

43. Frauen begehen Selbstmord aus Stolz

44. Heute mag Ka hier niemand mehr

Für Rüya

Unsere Aufmerksamkeit gilt den gefährlichen Rändern der Dinge

Dem ehrlichen Dieb, dem zärtlichen Mörder,

Dem abergläubischen Atheisten

Robert Browning, Die Apologie Bischof Bluegrams

Politik in einem Werk der Literatur ist wie ein Pistolenschuß mitten in einem Konzert: grob, aber man kann ihm seine Aufmerksamkeit nicht verweigern. Wir werden von sehr gemeinen Dingen sprechen …

Stendhal, Die Kartause von Parma

Vernichtet das Volk, brecht es, bringt es zum Schweigen! Denn die europäische Aufklärung ist wichtiger als das Volk.

Dostojewski, Arbeitsnotizen zu den Brüdern Karamasow

Der Abendländer in mir war erschüttert.

Joseph Conrad, Mit den Augen des Westens

1Die Stille des Schnees

DIE FAHRT NACH KARS

Die Stille des Schnees, dachte der Mann, der gleich hinter dem Busfahrer saß. Er hätte zu dem, was er in seinem Inneren empfand, »die Stille des Schnees« gesagt, wenn dies der Beginn eines Gedichtes wäre.

Er hatte den Bus, der ihn von Erzurum nach Kars bringen sollte, im letzten Augenblick erwischt. Nach einer zweitägigen Fahrt von Istanbul durch Schnee und Sturm hatte er den Busbahnhof von Erzurum erreicht, als er mit seiner Tasche in der Hand auf den schmutzigen und kalten Korridoren versuchte herauszufinden, wo es einen Bus gab, der ihn nach Kars brachte, hatte jemand ihm gesagt, daß gleich einer losfahre.

Der Fahrtbegleiter des alten Magirus-Busses hatte zu ihm gesagt: »Wir haben es eilig«, um die Ladeklappe nicht wieder öffnen zu müssen, die er gerade geschlossen hatte. Deswegen hatte er seine große, rotbraune Bally-Reisetasche, die jetzt zwischen seinen Knien stand, an sich genommen. Der Reisende, der da am Fenster saß, trug einen dicken aschgrauen Mantel, den er fünf Jahre zuvor im Frankfurter Kaufhof erworben hatte. Wir wollen vorausschicken, daß dieser schöne flauschige Mantel in den Tagen, die er in Kars verbringen würde, für ihn eine Quelle von Scham und Unbehagen, aber auch von Sicherheit sein sollte.

Gleich nachdem der Bus losgefahren war, machte der Reisende am Fenster seine Augen weit auf, in der Hoffnung, vielleicht etwas Neues zu sehen, und betrachtete die winzigen armseligen Krämerläden, die Bäckereien, die verfallenen Teehäuser in den Vierteln an Erzurums Stadtrand. Schon begann der Schnee zu fallen. Er war dichter und großflockiger als der Schnee, der auf dem Weg von Istanbul nach Erzurum gefallen war. Wäre der Reisende am Fenster nicht so müde von der Fahrt gewesen und hätte er etwas mehr auf die wie Flaumfedern vom Himmel fallenden Flocken geachtet, dann hätte er womöglich den starken Schneesturm, der da aufzog, gespürt und gefühlt, daß er sich auf eine Reise machte, die wohl sein ganzes Leben verändern würde, und wäre umgekehrt.

Aber umzukehren fiel ihm gar nicht ein. Während die Nacht hereinbrach, hatte er die Augen auf den Himmel gerichtet, der heller schien als die Erde, und betrachtete die immer dichter fallenden Schneeflocken, die der Wind vor sich hertrieb, nicht als Vorboten einer Katastrophe, sondern wie Zeichen einer endlich wiedererschienenen Freude und Reinheit aus seiner Kindheit. Der Reisende am Fenster war nach Istanbul, der Stadt, in der er seine Kindheit und die glücklichsten Jahre erlebt hatte, eine Woche zuvor zum erstenmal seit zwölf Jahren auf den Tod seiner Mutter hin zurückgekehrt, hatte sich dort vier Tage aufgehalten und war dann zu dieser gar nicht eingeplanten Reise nach Kars aufgebrochen. Er fühlte, daß der so wunderschön fallende Schnee ihn glücklicher machte als selbst Istanbul, das er nach so vielen Jahren wiedergesehen hatte. Er war ein Dichter und hatte vor Jahren in einem dem türkischen Leser kaum bekannt gewordenen Gedicht geschrieben, daß der Schnee einmal im Leben auch in unseren Träumen falle.

Während der Schnee lange und ruhig fiel, wie er das auch in Träumen tut, erlebte der Reisende am Fenster eine Läuterung; ihn erfüllte ein Gefühl der Reinheit und Unschuld, nach dem er seit Jahren leidenschaftlich gesucht hatte. Dabei glaubte er aufrichtig, daß er sich in dieser Welt zu Hause fühlen könnte. Etwas später tat er etwas, was er schon lange nicht mehr getan und gar nicht vorgehabt hatte: er schlief auf seinem Sitzplatz ein.

Wir wollen ausnützen, daß er schläft, und ihn leise ein wenig vorstellen. Er hatte zwölf Jahre lang im Exil in Deutschland gelebt, sich aber nie sehr mit Politik befaßt. Seine wirkliche Leidenschaft, all sein Denken galt der Dichtung. Er war zweiundvierzig Jahre alt und ledig (er hatte nie geheiratet). Man konnte das auf dem Sitz, auf dem er sich zusammengerollt hatte, zwar nicht erkennen, aber er war für einen Türken ziemlich groß gewachsen, seine Haut, die auf der Reise noch blasser werden sollte, war hell und die Farbe seiner Haare dunkelblond. Er war schüchtern und mochte das Alleinsein. Er hätte sich sehr geschämt, hätte er gewußt, daß sein Kopf, bald nachdem er eingeschlafen war, durch das Rütteln des Busses erst auf die Schulter, dann die Brust des Passagiers neben ihm rutschte. Es war ein ehrlicher Mensch mit guten Absichten, dessen Körper da auf den seines Nachbarn rutschte, und wegen dieser Eigenschaften war er melancholisch wie die Helden Tschechows, die stets passiv und erfolglos sind. Auf das Thema der Melancholie werden wir später immer wieder zurückkommen. Ich möchte gleich auch noch sagen, daß der Reisende, von dem mir klar ist, daß er in dieser unbequemen Haltung nicht mehr lange wird schlafen können, den Namen Kerim Alakuşoğlu führte, diesen aber nicht mochte und es deswegen vorzog, nach seinen Initialen Ka genannt zu werden, woran auch ich mich in diesem Buch halten werde. Schon in seiner Schulzeit setzte unser Held hartnäckig unter seine Hausaufgaben und Klassenarbeiten den Namen Ka, unterzeichnete auf der Universität die Anwesenheitslisten mit Ka und nahm deswegen jedesmal Streit mit Lehrern und Beamten in Kauf. Weil er auch seine Gedichtbände unter diesem Namen, den er bei seiner Mutter, seiner Familie und seinen Freunden durchgesetzt hatte, veröffentlichte, verband sich mit dem Namen Ka in der Türkei und unter den Türken in Deutschland eine gewisse Bekanntheit und etwas Mysteriöses. Wie der Fahrer, der nach Verlassen des Busbahnhofs von Erzurum den Passagieren eine gute Reise gewünscht hat, möchte ich jetzt noch hinzufügen: »Glückliche Fahrt, lieber Ka!« Aber ich möchte Ihnen nichts vormachen: Ich bin ein alter Freund von ihm und weiß schon, was ihm in Kars begegnen wird, bevor ich überhaupt zu erzählen beginne.

Hinter Horasan bog der Bus nordwärts nach Kars ab. Als auf einer der sich in Serpentinen hochwindenden Steigungen plötzlich ein Pferdefuhrwerk auftauchte und der Fahrer hart bremste, wachte Ka auf. Es dauerte nicht lange, bis er von der Stimmung brüderlicher Einheit erfaßt wurde, die sich im Bus ausbreitete. Wenn der Bus in den Serpentinen, am Rande des Felsabgrundes, langsamer wurde, stand er, wo er doch direkt hinter dem Fahrer saß, wie die Passagiere weiter hinten auf, um die Straße besser überblicken zu können, versuchte, mit dem Finger auf eine Stelle hinzuweisen, die ein Reisender übersehen hatte, der die stets aufs neue beschlagene Scheibe abwischte, um dem Fahrer zu helfen (seine Hilfeleistung wurde nicht bemerkt), und als der Schneesturm zunahm und die Scheibenwischer für die plötzlich ganz weiße Frontscheibe nicht mehr ausreichten, da versuchte auch er, wie der Fahrer, herauszubekommen, wohin sich der überhaupt nicht mehr sichtbare Asphalt erstreckte.

Die Verkehrsschilder waren schneebedeckt und nicht mehr lesbar. Als der Schneesturm noch heftiger wurde, machte der Fahrer das Fernlicht aus und löschte die Beleuchtung im Inneren des Busses, damit die Straße im Halbdunkel besser zu sehen war. Die Reisenden betrachteten furchtsam und ohne miteinander zu sprechen die Gassen der ärmlichen, schneebedeckten Siedlungen, die matten Lichter verfallener einstöckiger Häuser, die bereits unpassierbaren Straßen in ferne Dörfer und die von den Scheinwerfern undeutlich beleuchteten Abgründe. Wenn sie miteinander sprachen, dann flüsternd.

Kas Sitznachbar, dem er schlafend auf den Schoß gerutscht war, fragte ihn mit einem solchen Flüstern, wozu er nach Kars fahre. Es war leicht zu erkennen, daß Ka nicht aus Kars stammte.

»Ich bin Journalist«, flüsterte Ka. Das stimmte nicht. »Ich fahre wegen der Lokalwahlen und der Frauen, die Selbstmord begehen.« Das stimmte.

»Alle Zeitungen in Istanbul haben geschrieben, daß in Kars der Bürgermeister umgebracht worden ist und die Frauen Selbstmord begehen«, sagte der Nachbar, und Ka wußte nicht, ob der andere eher stolz darauf war oder ob er sich schämte.

Dieser schlanke, gutaussehende Dörfler, dem Ka drei Tage später mit tränenüberströmtem Gesicht auf der schneebedeckten Halit-Paşa-Straße wiederbegegnen sollte, sprach mit ihm die Fahrt über in Abständen immer wieder. Ka erfuhr, daß er seine Mutter nach Erzurum gebracht hatte, weil das Krankenhaus in Kars unzureichend sei, daß er in seinem Dorf in der Nähe von Kars Vieh züchtete, daß sie Mühe hatten, durchzukommen, aber nicht aufbegehrten, daß es ihm – aus geheimnisvollen Gründen, die er Ka nicht darlegte – nicht für sich selbst, sondern für sein Land leid tue und daß er froh sei, daß ein gebildeter Mensch wie Ka wegen der Probleme von Kars den ganzen Weg von Istanbul herkomme. Es lag etwas Edles in seinen einfachen Worten und der stolzen Art, was bei Ka Achtung erweckte.

Ka war aufgefallen, daß die Anwesenheit des Mannes ihm angenehm war. Er erinnerte sich an dieses Behagen, das er in Deutschland zwölf Jahre lang nicht verspürt hatte, aus den Zeiten, in denen es ihn gefreut hatte, jemanden, der schwächer war als er selbst, zu verstehen und ihm Anteilnahme entgegenzubringen. In diesen Zeiten hatte er sich bemüht, die Welt mit den Augen eines Mannes zu betrachten, der für sie Mitleid und Liebe empfand. Das tat er nun wieder, und er begriff, daß er sich vor dem Schneesturm weniger fürchtete, daß sie in keinen Abgrund stürzen, sondern, wenn auch zu später Stunde, in Kars ankommen würden.

Als der Bus mit drei Stunden Verspätung um zehn Uhr abends in die schneebedeckten Straßen von Kars einbog, erkannte Ka die Stadt überhaupt nicht wieder. Er konnte auch nicht feststellen, wo das Bahnhofsgebäude war, das zwanzig Jahre zuvor an einem Frühlingstag vor ihm aufgetaucht war, als er mit einem von einer Dampflokomotive gezogenen Zug eintraf, oder das Hotel Republik – mit Telefon in jedem Zimmer –, in das ihn der Kutscher gebracht hatte, nachdem er ihn zunächst durch die ganze Stadt gefahren hatte. Unter dem Schnee war alles wie ausgelöscht, wie verloren. Die ein, zwei Pferdefuhrwerke, die an der Busstation warteten, erinnerten an die Vergangenheit, aber die Stadt war viel melancholischer und ärmer, als Ka sie damals gesehen und im Gedächtnis behalten hatte. Ka sah aus den vereisten Busfenstern auf Mehrfamilienhäuser in Betonbauweise, wie sie im letzten Jahrzehnt überall in der Türkei entstanden waren, auf Werbeflächen aus Plexiglas, die jeden Ort jedem anderen ähneln lassen, und Wahltransparente, aufgehängt an Seilen, die über die Straße gespannt waren.

Sobald er aus dem Bus ausstieg und auf den ganz weichen Schnee trat, zog eine schneidende Kälte seine Beine hoch. Während er sich nach dem Hotel Schneepalast erkundigte, in dem er von Istanbul aus telefonisch ein Zimmer reserviert hatte, bemerkte er unter den Reisenden, die ihre Koffer vom Fahrtbegleiter entgegennahmen, vage bekannte Gesichter, konnte allerdings bei all dem Schnee nicht erkennen, wer diese Leute waren.

Er sah sie im Restaurant Grünes Land wieder, in das er ging, nachdem er sich in seinem Zimmer eingerichtet hatte. Ein abgelebter, erschöpfter, aber immer noch gutaussehender und seiner Ausstrahlung sicherer Mann und eine dicke, aber lebhafte Frau, die offensichtlich seine Lebensgefährtin war. Ka erinnerte sich aus dem Istanbul der siebziger Jahre an sie, wo sie in politischen Theatern mit vielen Schlagwörtern aufgetreten waren: Der Mann hieß Sunay Zaim. Während er die Frau ganz versunken betrachtete, fiel ihm auf, daß sie einer Klassenkameradin aus seiner Grundschule ähnlich sah. Er bemerkte auch den für Theatermenschen typischen blassen, fast leichenhaften Teint an den anderen Männern am Tisch: Was wollte diese kleine Theatertruppe in dieser verschneiten Februarnacht in dieser verlorenen Stadt? Bevor Ka das Restaurant verließ, in dem zwanzig Jahre zuvor krawattentragende Beamte die Stammkundschaft gewesen waren, glaubte er, an einem anderen Tisch einen der bewaffneten Helden der Linken aus den siebziger Jahren zu erkennen. Wie das verarmte und verblaßte Kars und das Restaurant, so war auch seine Erinnerung wie unter dem Schnee begraben.

War wegen des Schnees niemand auf der Straße, oder waren diese gefrorenen Bürgersteige sowieso immer menschenleer? Er las aufmerksam die an Mauern geklebten Wahlplakate, die Anzeigen von Universitätsvorbereitungskursen und Restaurants und die vom Gouverneursamt soeben aufgehängten Plakate gegen den Selbstmord, auf denen stand: »Der Mensch ist ein Meisterwerk Gottes, und Selbstmord ist Gotteslästerung!« In einer halbvollen Teestube mit teilweise vereisten Fenstern sah Ka eine größere Gruppe von Männern beim Fernsehen. Beim Anblick der alten, von Russen errichteten Steinbauten, die Kars in seiner Erinnerung zu einer besonderen Stadt machten, fühlte er sich wenigstens ein bißchen wohl.

Das Hotel Schneepalast war ein elegantes Beispiel russischer Ostsee-Architektur. Man betrat das zweistöckige Gebäude mit seinen schmalen hohen Fenstern durch einen Torbogen, der in einen Hof führte. Ka verspürte eine gewisse Nervosität, als er unter diesem Bogen durchging, der vor mehr als hundert Jahren so hoch gebaut worden war, daß Pferdewagen mühelos hindurchfahren konnten, war aber so erschöpft, daß er dem Grund dafür nicht nachging. Ich möchte gleich sagen, daß diese Nervosität etwas mit einem der Gründe zu tun hatte, aus denen Ka nach Kars gefahren war: Als er drei Tage zuvor die Zeitung Die Republik in Istanbul besucht hatte, hatte ihm sein Jugendfreund Taner erzählt, daß in Kars Lokalwahlen abgehalten würden und es dort genau wie in Batman unter jungen Mädchen eine seltsame Epidemie von Selbstmorden gebe. Er hatte ihm vorgeschlagen, dorthin zu fahren, wenn er nach zwölf Jahren die türkische Wirklichkeit sehen und etwas darüber schreiben wolle. Für diesen Job, den sonst keiner haben wolle, könne er ihm einen provisorischen Presseausweis geben. Außerdem hatte er noch erwähnt, daß ihre schöne Kommilitonin İpek in Kars sei. Sie lebe dort, obwohl sie sich von Muhtar getrennt habe, mit ihrem Vater und ihrer jüngeren Schwester im Hotel Schneepalast. Ka hatte an İpeks Schönheit gedacht, während er Taner, der in der Republik politische Kommentare schrieb, zuhörte.

Ka war erleichtert, als er das Zimmer 203 im zweiten Stock hinter sich abgeschlossen hatte. Der Rezeptionist Cavit, der in der Lobby mit ihrer hohen Decke fernsah, hatte ihm den Schlüssel gegeben. Er horchte sorgfältig in sich hinein. Anders als er gefürchtet hatte, war weder sein Herz noch sein Sinn damit beschäftigt, ob İpek im Hotel war. Mit dem Instinkt derer, die sich an ihr bescheidenes Liebesleben nur als eine Serie von Leid und Scham erinnern, fürchtete Ka wie den Tod, sich zu verlieben.

Um Mitternacht, bevor er sich in seinem dunklen Zimmer zu Bett legte, schob er, schon im Pyjama, den Vorhang einen Spaltbreit auf. Er sah zu, wie der Schnee in riesigen Flocken unaufhörlich fiel.

2Unsere Stadt ist ein friedlicher Ort

WEIT ENTFERNTE VIERTEL

Schnee hatte in ihm stets das Gefühl einer Reinheit erweckt, die den Schmutz, den Schlamm und das Dunkel der Stadt bedeckte und dadurch vergessen machte; aber in seiner ersten Nacht in Kars hatte Ka das Gefühl verloren, Schnee sei etwas Unschuldiges. Hier war Schnee eine ermüdende, erschöpfende, erschreckende Angelegenheit. Es hatte die ganze Nacht geschneit. Es hörte auch nicht auf, während Ka morgens durch die Straßen ging, in Teehäusern voller arbeitsloser Kurden saß, wie ein eifriger Journalist mit Stift und Papier in der Hand Wähler befragte, die steilen und vereisten Wege armer Viertel hochkletterte und mit einem ehemaligen Bürgermeister, dem stellvertretenden Gouverneur und den Angehörigen der Mädchen, die Selbstmord begangen hatten, Gespräche führte. Der Anblick verschneiter Straßen, der ihm in seiner Kindheit vom sicheren Fenster einer Wohnung in Nişantaşı wie der Teil eines Märchens vorgekommen war, erschien ihm jetzt wie der Anfang einer bescheidenen Lebensweise, die er seit Jahren als letzte Zuflucht in seiner Phantasie bewahrt hatte, und als der einer hoffnungslosen Armut, deren Ende er sich gar nicht vorstellen mochte.

Während die Stadt erst erwachte, war er am Morgen, ohne sich um den Schnee zu kümmern, mit schnellen Schritten die Atatürk-Straße abwärts in die gecekondu-Gebiete, die ärmsten, »über Nacht gebauten« Teile von Kars, gegangen, das Viertel unterhalb der Burg. Während er unter den Ölweiden und Platanen, deren Äste mit Schnee bedeckt waren, rasch voranschritt, betrachtete er die alten, verfallenen russischen Gebäude, aus deren Fenstern Ofenrohre schauten, den Schnee, der in die leerstehende armenische Kirche schneite, die zwischen Holzlagern und einem Trafohäuschen stand, die Prahlhänse von Hunden, die jeden anbellten, der über die fünfhundert Jahre alte Brücke über den zugefrorenen Fluß Kars ging, und die dünnen Rauchfäden, die aus den kleinen gecekondu-Häusern des Viertels aufstiegen, das unter dem Schnee richtig leer und verlassen aussah – und er wurde so traurig, daß ihm Tränen in die Augen stiegen. Zwei Kinder, ein Junge und ein Mädchen, die schon früh vom anderen Ufer des Flusses zum Bäcker geschickt worden waren, balgten sich mit den warmen Broten unter dem Arm und lachten dabei so fröhlich, daß auch Ka sie anlächelte. Was ihn so mitnahm, war nicht die Armut oder die Hilflosigkeit, sondern ein merkwürdiges und lächerliches Gefühl der Vereinsamung, das ihm dann überall begegnen sollte: in den leeren Schaufenstern der Fotografen, in den vereisten Scheiben der mit kartenspielenden Arbeitslosen vollbesetzten Teehäuser, auf den schneebedeckten, leeren Plätzen. Es war, als ob alle diesen Ort vergessen hätten und der Schnee schweigend am Ende der Welt fiele.

An diesem Morgen hatte Ka Glück. Er wurde wie ein wichtiger Journalist aus Istanbul behandelt, den jeder interessant fand und dem alle die Hand schütteln wollten: vom stellvertretenden Gouverneur bis zum Allerärmsten öffnete ihm jeder seine Tür und sprach mit ihm. Serdar Bey, der die Grenzstadtzeitung mit einer verkauften Auflage von 320 Exemplaren herausbrachte und manchmal lokale Nachrichten an die Republik schickte (die meistens nicht gedruckt wurden), stellte Ka den Leuten in Kars vor. Ka hatte als erstes, als er am Morgen sein Hotel verließ, diesen alten Journalisten, den man ihm gegenüber in Istanbul als »unseren Lokalkorrespondenten« bezeichnet hatte, an der Tür seiner Zeitung getroffen. Er hatte sofort begriffen, daß er ganz Kars kannte. Die Frage, die Ka in den drei Tagen, die er in Kars verbringen würde, Hunderte von Malen gestellt werden sollte, fragte ihn Serdar Bey als erster.

»Willkommen in unserer Grenzstadt, Meister! Aber was wollen Sie hier?«

Ka sagte, er wolle die Wahlen beobachten und vielleicht einen Artikel über die Mädchen schreiben, die Selbstmord begingen.

»Die Selbstmorde der Mädchen werden genau wie die in Batman übertrieben«, sagte der Journalist. »Wir sollten Kasım Bey, den stellvertretenden Polizeipräsidenten, besuchen. Besser ist besser, die sollen wissen, daß Sie da sind.«

Daß Fremde, die in die Kleinstadt kamen, sich erst einmal der Polizei vorstellten, sogar wenn sie Journalisten waren, war eine provinzielle Gewohnheit, die noch aus den vierziger Jahren stammte. Ka protestierte nicht, weil er ein politischer Exilant war, der nach Jahren in sein Land zurückkehrte, und weil die Präsenz von Guerillas der PKK – auch wenn niemand es aussprach – spürbar war.

Sie gingen von der Markthalle der Obst- und Gemüsehändler die Kâzım-Karabekir-Straße entlang, die von Läden mit Eisenwaren und Ersatzteilen gesäumt war, liefen dann vorbei an Teehäusern, in denen melancholische Arbeitslose fernsahen oder auf den fallenden Schnee blickten, und an Läden mit Molkereiprodukten, die riesige Räder von Kaşar-Käse ausstellten, und durchquerten in einer Viertelstunde die ganze Stadt.

Einmal blieb Serdar Bey auf dem Weg stehen und zeigte Ka die Ecke, an der der alte Bürgermeister erschossen worden war. Einem Gerücht zufolge war es wegen einer ganz banalen Angelegenheit geschehen, wegen eines ungenehmigten Balkons, der abgerissen worden war. Der Mörder war drei Tage nach der Tat mit seiner Waffe in der Scheune seines Hauses in dem Dorf, in das er geflohen war, festgenommen worden. Im Laufe dieser drei Tage hatte es so viele Gerüchte gegeben, daß keiner mehr glaubte, er sei der Mörder. Daß das Motiv für den Mord so simpel war, war eine Enttäuschung.

Das Polizeipräsidium von Kars war ein langes, dreistöckiges Gebäude, das sich an der Faikbey-Straße erstreckte. Diese säumten alte, steinerne Häuser – Hinterlassenschaften reicher Russen und Armenier –, die oft als Verwaltungsgebäude genutzt wurden. Während sie auf den stellvertretenden Polizeipräsidenten warteten, zeigte Serdar Bey Ka die hohe, geschnitzte Decke und erzählte, daß das Gebäude in der russischen Zeit von 1877 bis 1918 erst das Vierzig-Zimmer-Stadthaus eines reichen Armeniers, dann ein russisches Krankenhaus gewesen sei.

Der bierbäuchige stellvertretende Polizeipräsident Kasım Bey trat auf den Korridor hinaus und bat sie in sein Zimmer. Ka begriff gleich, daß er die Republik nicht las, weil er sie zu links fand, und daß es auch keine positive Wirkung auf ihn hatte, wenn Serdar Bey jemanden wegen seiner Gedichte pries, aber daß er sich vor ihm hütete, weil er der Eigentümer der meistverkauften Lokalzeitung von Kars war. Als Serdar Bey zu reden aufhörte, fragte der Polizeipräsident Ka: »Wollen Sie einen Leibwächter?«

»Wie bitte?«

»Ich weise Ihnen einen Zivilpolizisten zu. Das ist bequem für Sie.«

»Brauche ich das?« fragte Ka mit dem Ausdruck eines Kranken, dem der Arzt rät, von nun an am Stock zu gehen.

»Unsere Stadt ist ein friedlicher Ort. Wir haben die separatistischen Terroristen verjagt. Aber sicher ist sicher.«

»Wenn Kars ein friedlicher Ort ist, brauche ich das nicht«, sagte Ka. Im stillen wünschte er sich, der stellvertretende Polizeipräsident möge noch einmal betonen, daß Kars ein friedlicher Ort sei, aber Kasım Bey tat ihm nicht den Gefallen.

Zuerst gingen sie in die ärmsten, nördlichen Viertel der Stadt, in das Viertel unterhalb der Burg und nach Bayrampaşa. Unter dem Schnee, der fiel, als wolle er nie wieder aufhören, klopfte Serdar Bey an die Türen von Hütten aus Steinen, Briketts und gewellten Plastikplatten, fragte die Frau, die aufmachte, nach dem Herrn des Hauses, und wenn sie ihn kannten, erzählte er ihnen in vertrauenerweckendem Tonfall, sein Kollege, ein berühmter Journalist, sei wegen der Wahl aus Istanbul nach Kars gekommen, werde aber auch über die Probleme von Kars schreiben und über die Gründe, warum die Frauen sich umbrachten, und daß es auch für Kars gut sei, wenn sie ihm von ihren Sorgen berichteten. Einige freuten sich, weil sie glaubten, sie seien Kandidaten für den Bürgermeisterposten, die Kanister voll Sonnenblumenöl, Kartons voller Seife oder Pakete mit Keksen und Nudeln mitbrachten. Wer sich entschloß, sie aus Neugier und Gastfreundschaft hereinzubitten, sagte Ka als erstes, er solle sich nicht vor dem Hund fürchten, der da bellte. Andere öffneten die Tür in der Furcht, es handele sich um eine neue Razzia, wie sie seit Jahren immer wieder durchgeführt wurden, und hüllten sich auch dann in Schweigen, wenn sie sich überzeugt hatten, daß die, die da ankamen, mit dem Staat nichts zu tun hatten. Die Familien der Mädchen, die sich umgebracht hatten (Ka hatte in kurzer Zeit von sechs Fällen gehört), sagten immer nur, ihre Töchter hätten sich über keine Probleme beklagt und sie selbst seien wegen des Vorfalls sehr durcheinander und bestürzt.

Sie saßen auf alten Sofas oder krummen Stühlen in handtuchgroßen, eiskalten Zimmern, deren Boden aus Erde war oder den ein maschinengewebter Teppich bedeckte, zwischen Kindern, die von Haus zu Haus mehr zu werden schienen, die sich balgten und mit ausnahmslos zerbrochenem Plastikspielzeug (Autos oder Puppen, denen ein Arm abgerissen worden war), mit Flaschen und leeren Tee- und Arzneischachteln spielten, vor Holzöfen, die ständig geschürt werden mußten, oder vor Elektroöfen, die schwarz abgezapfter Strom speiste, und Fernsehern, die ohne Ton, aber ununterbrochen liefen. Sie hörten den nicht enden wollenden Sorgen der Armen von Kars zu, den Geschichten derer, die ihre Arbeit verloren hatten, und denen über junge Selbstmörderinnen. Mütter, die weinten, weil ihre Söhne arbeitslos geworden oder ins Gefängnis gesperrt worden waren, Badediener, die zwölf Stunden am Tag im Hammam arbeiteten und ihre achtköpfige Familie kaum durchbrachten, Arbeitslose, die es sich nicht leisten konnten, ins Teehaus zu gehen – sie alle erzählten Ka unter Klagen über ihr Pech, den Staat oder die Stadtverwaltung ihre Geschichten, als seien es die Sorgen des Landes und des Staats. Irgendwann überkam Ka das Gefühl, trotz des weißen, von den Fenstern hereinstrahlenden Lichtes herrsche Halbdunkel in diesen Häusern, so daß es ihm schwerfiel, die Einrichtungsgegenstände zu erkennen. Mehr noch, die gleiche Blindheit, die ihn zwang, seine Augen auf den draußen fallenden Schnee zu richten, umfing wie eine Art Tüllvorhang, wie Schneestille sein Hirn; sein Verstand und sein Gedächtnis verweigerten sich nun den Armuts- und Elendsgeschichten.

Trotzdem blieb ihm jede der Selbstmordgeschichten, die er da hörte, bis zu seinem Tode unvergeßlich. Was ihn so erschütterte, waren nicht so sehr die Armut, die Hilflosigkeit und das Unverständnis, auch nicht die Verständnislosigkeit der Eltern, die ihre Töchter ständig verprügelt und ihnen nicht einmal erlaubt hatten, das Haus zu verlassen, war nicht die Unterdrückung durch eifersüchtige Ehemänner oder der Mangel an Geld. Was Ka erschreckte und erschütterte, war, wie unangekündigt, umstandslos und plötzlich die Selbstmorde mitten im Alltag aufgetreten waren.

Ein Mädchen beispielsweise, das kurz davor stand, gegen seinen Willen mit dem alten Besitzer eines Teehauses verlobt zu werden, hatte wie an jedem Abend mit seiner Mutter, seinem Vater, seinen drei Geschwistern und der Großmutter zusammen gegessen. Nachdem sie noch wie immer die schmutzigen Teller mit ihren Geschwistern scherzend und zankend abgetragen hatte, war sie von der Küche, aus der sie den Nachtisch bringen sollte, in den Garten gegangen, durch das Fenster in das Zimmer der Eltern gestiegen und hatte sich mit dem Jagdgewehr ihres Vaters erschossen. Die Eltern, die nach dem Schuß den sich in seinem Blut windenden Körper ihrer Tochter, die sie in der Küche glaubten, im Schlafzimmer fanden, hatten so wenig begriffen, wie sie aus der Küche in das Schlafzimmer gelangt war, wie sie den Grund für ihren Selbstmord verstanden hatten. Eine Sechzehnjährige hatte sich wie an jedem Abend mit ihren beiden Geschwistern bis aufs Blut gestritten, welches Fernsehprogramm sie sehen würden und wer die Fernbedienung halten dürfe. Nachdem ihr Vater, der die Streitenden trennen wollte, ihr zwei kräftige Ohrfeigen gegeben hatte, war sie in ihr Zimmer gegangen und hatte eine riesige Flasche des Pflanzengifts Mortalin wie Limonade in einem Zug ausgetrunken. Eine andere war der Schläge ihres deprimierten, arbeitslosen Ehemannes – den sie mit fünfzehn Jahren aus Liebe geheiratet und dem sie sechs Monate zuvor ein Kind geboren hatte – so überdrüssig, daß sie nach einem gewöhnlichen Streit in die Küche ging, die Tür abschloß und trotz der Rufe des Mannes, der verstanden hatte, was da vorging, und versuchte, die Tür einzutreten, sich kurz entschlossen mit Hilfe eines Hakens und eines Seils, die sie vorher vorbereitet hatte, aufhängte.

In all diesen Geschichten war der Übergang vom alltäglichen Fluß des Lebens zum Tod von einer Geschwindigkeit und Hoffnungslosigkeit, die Ka faszinierten. In die Decke eingeschlagene Haken, vorher geladene Waffen und vom Nebenzimmer in das Schlafzimmer gebrachte Giftflaschen waren allerdings Beweise, daß die Mädchen sich schon länger mit dem Gedanken an Selbstmord getragen hatten.

Daß Mädchen und junge Frauen sich plötzlich umbrachten, war zuerst in Batman der Fall gewesen, das Hunderte von Kilometern von Kars entfernt liegt. Zunächst war einem eifrigen jungen Beamten am Staatlichen Institut für Statistik in Ankara aufgefallen, daß in Batman, während auf der ganzen Welt sich drei- bis viermal mehr Männer als Frauen umbringen, die Zahl der Selbstmörderinnen dreimal so hoch wie die der Selbstmörder war und die Suizidrate auf das Vierfache des Weltdurchschnittes gestiegen war. Die kleine Nachricht, die ein mit ihm befreundeter Journalist in der Republik veröffentlicht hatte, war in der Türkei unbeachtet geblieben. Erst als die Türkei-Korrespondenten deutscher und französischer Zeitungen, die die Meldung gelesen und interessant gefunden hatten, nach Batman fuhren und Reportagen in ihren Ländern veröffentlichten, nahmen die türkischen Blätter die Selbstmorde ernster. Zahlreiche Journalisten aus dem In- und Ausland waren in die Stadt gereist. Dieses Interesse und diese Nachrichten hatten nach Ansicht der mit der Angelegenheit befaßten Vertreter staatlicher Stellen einige Mädchen erst recht dazu ermutigt, sich umzubringen. Der stellvertretende Gouverneur, mit dem Ka sprach, sagte ihm, die Suizide in Kars hätten statistisch nicht das Niveau von Batman erreicht und er habe »einstweilen« nichts dagegen einzuwenden, wenn er mit den Familien der jungen Selbstmörderinnen redete. Er bat darum, bei diesen Gesprächen das Wort »Selbstmord« nicht zu häufig zu verwenden und die Angelegenheit nicht in der Republik hochzuspielen. Eine Arbeitsgruppe, zu der auf Selbstmordfälle spezialisierte Psychologen, Polizisten, Staatsanwälte und Vertreter des Direktorats für religiöse Angelegenheiten gehörten, habe mit den Vorbereitungen zu einer Reise von Batman nach Kars begonnen. Schon jetzt habe man Transparente aufgehängt, die das Direktorat für religiöse Angelegenheiten habe drucken lassen und auf denen »Der Mensch ist ein Meisterwerk Gottes, und Selbstmord ist Gotteslästerung!« stehe. Eine religiöse Broschüre mit demselben Titel sei zur Verteilung beim Amt des Gouverneurs eingetroffen. Aber der stellvertretende Gouverneur war nicht sicher, ob diese Maßnahmen die in Kars frisch ausgebrochene Selbstmordepidemie stoppen würden; vielmehr befürchtete er, diese »Maßnahmen« könnten zum genauen Gegenteil führen. Denn er glaubte, daß zahlreiche Mädchen den Entschluß zum Freitod nicht nur auf die Selbstmordnachrichten hin gefaßt hatten, sondern auch als Reaktion auf die Ermahnungen, die der Staat, ihre Väter, Männer und Prediger ihnen dauernd erteilten.

»Natürlich ist der Grund dieser Suizide das Gefühl extremen Unglücks bei diesen unseren jungen Frauen; daran besteht kein Zweifel«, sagte der stellvertretende Gouverneur zu Ka. »Aber wenn Unglücklichsein ein triftiger Grund für Selbstmord wäre, würde die Hälfte der Frauen in der Türkei den Freitod wählen.« Der Beamte, der einen Schnurrbart wie eine Bürste und ein Gesicht wie ein Eichhörnchen hatte, sagte, die Frauen seien wütend, weil ein Chor männlicher Stimmen – die Väter, die Imams, der Staat – sie ermahnten: »Bring dich nicht um!« Voller Stolz erklärte er Ka, er habe deswegen nach Ankara geschrieben, daß auch mindestens eine Frau Mitglied der Arbeitsgruppen sein sollte, die man zu Kampagnen gegen den Selbstmord aussende.

Die Idee, daß Selbstmord genauso ansteckend wie die Pest sei, war zuerst aufgekommen, als ein junges Mädchen von Batman nach Kars gekommen war, um Selbstmord zu begehen. Nachmittags sprach Ka zigarettenrauchend im Atatürk-Viertel in einem Garten unter schneebedeckten Ölweiden mit dem Onkel des Mädchens (man hatte ihn und seinen Begleiter nicht in das Innere des Hauses gebeten). Dieser erzählte Ka, seine Nichte habe in Batman, wohin sie vor zwei Jahren geheiratet habe, von morgens bis abends Hausarbeit machen müssen, und ihre Schwiegermutter habe dauernd auf sie geschimpft, weil sie kein Kind bekam. Er erklärte dann, all dies sei kein hinreichender Grund für einen Selbstmord, das Mädchen sei auf diese Idee in Batman gekommen, wo sich alle Frauen umbrächten, und die Verstorbene habe hier in Kars bei ihrer Familie sehr glücklich gewirkt. Deswegen seien sie ganz fassungslos gewesen, als sie gerade an dem Morgen, als die junge Frau nach Batman habe zurückkehren wollen, ihre Leiche im Bett gefunden hätten, mit einem Brief neben dem Kopfkissen, daß sie zwei Packungen Schlaftabletten geschluckt habe.

Einen Monat später hatte sich als erste die sechzehnjährige Cousine dieser Frau umgebracht, die den Selbstmordgedanken aus Batman nach Kars gebracht hatte. Der Grund für diese Selbsttötung, über den in allen Einzelheiten in der Zeitung zu schreiben Ka den trauernden Eltern versprach, war gewesen, daß ein Lehrer des Mädchens in der Klasse behauptet hatte, sie sei keine Jungfrau. Nachdem sich das Gerücht binnen kurzem in ganz Kars ausgebreitet hatte, hatte der Verlobte des Mädchens die Verbindung gelöst; und es war auch keiner von denen mehr aufgetaucht, die vorher vorgesprochen und um die Hand der schönen Frau angehalten hatten. Dann begann die Großmutter ihr zu erklären: »Du wirst ja sowieso nicht heiraten«, und als eines Abends, während sie alle zusammen im Fernsehen eine Hochzeitsszene anschauten, ihr betrunkener Vater zu weinen begann, nahm das Mädchen auf einen Schlag die ganzen Schlaftabletten, die sie aus der Pillendose ihrer Großmutter stibitzt und gehortet hatte, und schlief für immer ein (ebensosehr wie der Gedanke an Selbstmord war die Methode ansteckend). Als sich bei der Autopsie der jungen Selbstmörderin herausstellte, daß sie Jungfrau gewesen war, beschuldigte ihr Vater nicht nur den Lehrer, der das Gerücht in die Welt gesetzt hatte, sondern auch die junge Frau aus der Verwandtschaft, die aus Batman gekommen war und sich umgebracht hatte. Die Eltern hatten den Freitod ihrer Tochter in allen Einzelheiten geschildert, weil sie von Ka wollten, daß er in seinem Zeitungsartikel bekannt gäbe, daß die Anschuldigung unbegründet sei und er den Lehrer anprangere, der diese Lüge erfunden hatte.

Was Ka an all diesen Schilderungen merkwürdig deprimierte, war, daß die jungen Selbstmörderinnen die für den Freitod nötige Privatheit und Zeit nur mit Mühe hatten finden können. Diejenigen, die sich mit Schlaftabletten umbrachten, teilten sogar das Zimmer, im dem sie dann unbemerkt starben, mit anderen. Ka war mit westlicher Literatur im Istanbuler Viertel Nişantaşı aufgewachsen, und immer wenn er an seinen eigenen Selbstmord gedacht hatte, hatte er das Gefühl gehabt, daß er dafür viel Zeit und Platz und ein Zimmer benötigte, an dessen Tür tagelang niemand klopfen würde. Wenn sich Ka in Phantasien von seinem eigenen Selbstmord vertiefte, den er mit dieser Freiheit, mit Schlaftabletten und Whisky ganz langsam ausführen würde, hatte er sich vor der unendlichen Einsamkeit dabei derart gefürchtet, daß er einen Freitod auch nur ernsthaft zu erwägen nie geschafft hätte.

Die einzige Person, die mit ihrem Selbstmord in Ka das Gefühl dieser Einsamkeit erweckte, war das »Turban-Mädchen«, das sich vor fünf Wochen erhängt hatte. Sie war eine dieser Studentinnen von der Pädagogischen Hochschule, die sich weigerten, ihr Kopftuch abzulegen, deshalb erst am Unterricht nicht hatten teilnehmen dürfen und später auf einen Befehl aus Ankara hin nicht einmal mehr in das Schulgebäude gelassen wurden. Ihre Familie war unter denen, mit denen Ka gesprochen hatte, noch die wohlhabendste. Ka trank eine Coca-Cola, die der trauernde Vater aus der Kühlvitrine des kleinen Gemischtwarenladens, dessen Besitzer er war, gezogen, geöffnet und ihm gereicht hatte. Er erfuhr, daß das Mädchen, bevor es sich erhängt hatte, über seine Idee, sich umzubringen, sowohl mit seiner Familie als auch mit seinen Freundinnen gesprochen hatte. Es hatte vielleicht das Tragen des Kopftuchs von seiner Mutter und seiner Familie übernommen, aber es sich als Symbol des politischen Islams anzueignen, hatte es auf der Schule von repressiven Schulleitern und Freundinnen im Widerstand gelernt. Weil es sich trotz des Drucks von seiten seiner Eltern weigerte, das Kopftuch abzulegen, stand es kurz davor, wegen dauernden Unterrichtsversäumnisses von der Pädagogischen Hochschule geworfen zu werden, an deren Betreten es Polizisten hinderten. Das Mädchen hatte begonnen, seinem Vater und seinen Freundinnen zu erklären, daß »nichts im Leben noch Sinn« habe und daß es »nicht mehr leben« wolle, als es sah, daß einige seiner Freundinnen den Widerstand aufgaben und ihr Haupt entblößten, andere anstelle eines Kopftuchs eine Perücke aufsetzten. Weil sowohl das staatliche Direktorat für religiöse Angelegenheiten als auch die Islamisten mit Handzetteln und Transparenten ständig wiederholten und verbreiteten, daß der Selbstmord eine der allergrößten Sünden sei, hatte keiner auch nur für möglich gehalten, daß dieses fromme junge Mädchen sich umbringen könnte. Teslime, wie das Mädchen hieß, hatte sich in ihrer letzten Nacht still eine Folge der Serie Marianna angeschaut, Tee gemacht und ihren Eltern serviert, sich dann in ihr Zimmer zurückgezogen, die rituelle Waschung vorgenommen, das vorgeschriebene Gebet verrichtet, lange, lange ihren Gedanken nachgehangen und gebetet und sich dann mit ihrem Kopftuch am Haken der Lampe aufgehängt.

3Gebt eure Stimme der Partei Allahs!

ARMUT UND GESCHICHTE

Armut war für Ka in seiner Kindheit ein Ort, an den die Grenzen seines eigenen bürgerlichen Lebens in Nişantaşı und seines »Zuhauses« stießen, das aus dem Vater, einem Anwalt, der Mutter, einer Hausfrau, der süßen Schwester, dem treuen Personal, Möbeln, Radio und Vorhängen bestand – der Ort, wo eine andersartige Außenwelt begann. Dieses andere Land hatte in Kas Kindheitsphantasien eine metaphysische Dimension, weil ihm eine gefährliche, nicht mit Händen zu greifende Dunkelheit zu eigen war. Schwer zu erklären, warum ihn die Sehnsucht nach der Kindheit antrieb, als er mit einem in Istanbul plötzlich gefaßten Entschluß nach Kars aufbrach, wo doch diese Dimension sich inzwischen kaum verändert hatte. Trotz seines Lebens fern von der Türkei wußte Ka, daß Kars in den letzten Jahren die am meisten verarmte und vergessene Region des Landes war. Vielleicht kann man es so sagen: Nach seiner Rückkehr aus Frankfurt sah er beim Bummel mit den Freunden, die seine Kindheit geteilt hatten, daß all die Straßen Istanbuls, die Läden, die Kinos sich völlig verändert hatten, verschwunden oder ihrer Seele verlustig gegangen waren. Dies erweckte in ihm den Wunsch, die Kindheit und Reinheit woanders zu suchen, und deswegen hatte er sich auf die Reise nach Kars gemacht, um einer begrenzten mittelständischen Armut zu begegnen, wie er sie in seiner Kindheit zurückgelassen hatte. Der Anblick von Turnschuhen der Marke Gislaved, die er in seiner Kindheit getragen und seitdem in Istanbul nicht mehr gesehen hatte, von Öfen der Marke Vezüv und von runden Kars-Käseschachteln mit sechs dreieckigen Stücken darin – dem ersten, was er in seiner Kindheit über Kars gelernt hatte – in den Schaufenstern der Läden im Geschäftsviertel machte ihn deswegen derart glücklich, daß er sogar die Mädchen, die sich umgebracht hatten, vergaß und sich wohl fühlte, weil er in Kars war.

Nachdem sich Ka von Serdar Bey getrennt und mit den führenden Vertretern der Partei für die Gleichheit der Völker und der Aleviten aus Aserbaidschan gesprochen hatte, ging er gegen Mittag unter großflockigem Schnee allein durch die Stadt. Bei diesem traurigen Gang von der Atatürk-Straße über die Brücken in die ärmsten Viertel stiegen Tränen in seine Augen, als er fühlte, daß allein er den Schnee wahrnahm, der in der außer durch Hundebellen durch nichts unterbrochenen Stille auf die in der Ferne nicht mehr sichtbaren steilen Hänge, auf die aus der Seldschukenzeit stammende Burg und die von historischen Ruinen ununterscheidbaren s niederfiel, als ob er eine endlose Zeit bedecken wolle. Er sah den Jugendlichen im Gymnasiastenalter zu, die auf einem leeren Grundstück neben dem Spielplatz des Viertels Yusuf-Pascha (die Schaukeln abgerissen, die Rutschen zerbrochen) Fußball im Licht der Straßenlampen spielten, die das benachbarte Kohlenlager erhellten. Während er den vom Schnee gedämpften Schreien und Flüchen der Halbwüchsigen zuhörte, spürte er unter dem blaßgelben Licht der hohen Lampen und dem fallenden Schnee mit derartiger Gewalt, wie fern von allem und wie einsam diese Ecke der Welt war, daß in ihm der Gedanke an Gott auftauchte.

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