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Nach dem gewaltsamen Tod seiner Verlobten Laura und ihrem ungeborenen Kind Anne kehrt Dr. Wolfgang Heck Stuttgart den Rücken und versucht einen Neuanfang in seiner alten Heimat Sheepjesholm. Seine Mutter Kerstin und deren neuer Mann Dr. Alfred Spiegel leben in dem kleinen Ort am Meer. Wolfgang hatte sich damals von ihnen im Streit getrennt, als er seine Mutter in den Armen von Alfred sah. Nach seiner Rückkehr trifft er seine alten Freunde Hauptkommissar Finn Schöller und den Pathologen Dr. Moritz Lahm wieder. Die Feier zum 70. Geburtstag von Alfred fällt ins Wasser. Das Grauen zieht nach Sheepjesholm. Das für Alfred gedachte Geburtstagsgeschenk von Sören Kilgus und seiner Mutter Johanna entpuppt sich als schrecklicher Auftakt einer Flut von Toten. Hannes Biermann, Sohn von Marlene und Klaus Biermann, wird mitsamt einem Netz voller Krabben, die eigentlich für Alfred gedacht waren, als Leiche aus dem Wasser gezogen. Die Polizei tappt im Dunkeln. Wolfgang und Alfred sind dem Täter auf der Spur!
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Seitenzahl: 484
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Es war eine dunkle Nacht Mitte April. Der Himmel hatte all seine Sterne und auch den Mond hinter dunklen Wolken versteckt. Es roch nach Frühsommer, was hier bedeutete, dass das Meer blühte. Es war ein ganz eigenartiger Geruch. Manche konnten ihn kaum ertragen, und andere liebten den Duft, der von weit draußen vom Wasser herkam. Er schmeckte nach Salz, nach Tang und nach Weite. In der Ferne konnte man die Wellen hören, wie sie an den Sandstrand rollten. Ein Bild des Friedens, das alles Böse zudeckte wie ein graues Leichentuch. Ein Bild, das jeden täuschte, der es nicht kannte.
Aus der Sicherheit eines Steinhaufens löste sich der Schatten eines Menschen, eines Mannes in einem langen Mantel und mit einem großen Hut, der sein ganzes Gesicht verdeckte. Er zögerte einen Moment lang, dann stapfte er in Richtung Strand. Seine Schritte waren sicher, als wäre er diese Strecke schon viele Male gegangen. Sein Kinn bedeckte ein wallender weißer Rauschebart, und mit seinem übergroßen Körper, der in dem dunklen langen Mantel aus grobem Stoff steckte, wirkte wie eine edle Galionsfigur.
Von dort draußen war er damals gekommen, ein Schiffbrüchiger, ein Heimatloser. Sein kleines Boot hatte alles beinhaltet, was er in den Jahren seines Reisens erstanden und ergaunert hatte, was sein Leben ausmachte. Gold war es gewesen, viel Gold, das er hütete wie seinen Augapfel.
Die kaum fünfzig Einwohner des kleinen Ortes ohne Namen hatten ihn akzeptiert, ohne zu fragen, woher er kam und warum er ausgerechnet bei ihnen bleiben wollte, ein junger Mann, wild und entschlossen, sich hier eine Heimat aufzubauen.
Wann war das gewesen? Er wusste es nicht mehr, hatte auch keine Ahnung, welcher Tag, oder besser, welche Nacht heute war. Da, wo er lebte, gab es keine Zeit. Alles geschah jetzt. Damit konnte er sich noch immer nicht anfreunden. Er war es inzwischen gewöhnt und doch war es ihm fremd geblieben. Manchmal überkam ihn solch eine Sehnsucht nach zu Hause, dass er sich in Gedanken auf die Reise machte. So wie diese Nacht.
Er schaute sich um, dann entdeckte er die überlebensgroße Statue. Er marschierte drauf zu und blieb in gebührendem Abstand stehen. Diese Statue zeigte ihn selbst, wie er als junger Mann ausgesehen hatte. Auf dem Sockel der Statue prangte eine große Platte. Holmger Nielsen stand darauf, Gründer von Sheepjesholm, 1736 - 1808.
Er zuckte erschrocken zusammen, als er erkannte, dass diese Statue tatsächlich ihn darstellte. Man hatte für ihn ein Denkmal gesetzt. Eine Sehnsucht nach den Freunden von früher stieg in ihm hoch, die ihn zurück trieb in Richtung dem Ort, der seinen Namen trug.
Sheepjesholm.
Hier hatte er gelebt, hierhin hatte ihn die Sturmflut getrieben, die sein Schiff zerstört hatte. Ein Boot war ihm geblieben, in das er hastig sein wichtigstes Hab und Gut packen konnte, ehe sein prächtiger Kutter sich ins Meer verabschiedete.
Mit dem Gold konnte er sich ein neues Zuhause aufbauen. Zurück aufs Meer wollte er auf keinen Fall. Er wollte endlich sesshaft werden, wissen, wohin er gehörte. Er hatte sich nach kurzer Zeit bereits eine riesige Schafherde angeschafft, sein Vermögen war immer mehr gewachsen, und er hatte seine Gewinne in den Aufbau des Ortes gesteckt. Sheepjesholm war gewachsen, und als sie einen Namen für den wachsenden Ort suchten, da hatten sie ihm zu Ehren diesen Namen gewählt, unter dem er bei seinen Mitbewohnern bekannt geworden war, Holmger mit den Schafen. Holm hatten sie ihn genannt, als sie ihn besser kannten. Eine größere Freude hätten sie ihm gar nicht machen können.
Mit raschen Schritten marschierte er auf den Ort zu. Überall brannte Licht, auch die breite Straße war hell erleuchtet. Die Häuser sahen allesamt neu und stabil aus, nicht solche windschiefen Hütten, die er in Erinnerung hatte.
War das Sheepjesholm, sein Sheepjesholm? Wo waren seine Freunde, die zu seiner Familie geworden waren? Auch ihre Häuser waren nicht mehr da. Alles sah ganz anders aus, als er es in Erinnerung hatte.
Da fiel es ihm wieder ein. Er lebte ja nicht mehr hier, seit über zweihundert Jahren gab es ihn nicht mehr. Doch das hatte keine Bedeutung für ihn. Was waren schon zweihundert Jahre? Sie hatten nichts zu bedeuten. Für die Menschen in diesem Ort jedoch schon, das konnte er ganz deutlich erkennen.
Traurig stellte er fest, dass dies nicht mehr sein Zuhause war. Alles war anders als zu seiner Zeit. Er stand noch lange am Ortsschild von Sheepjesholm, doch als zwei Lichter wie feurige Augen ziemlich schnell auf ihn zu rasten, wusste er, dass seine Zeit gekommen war. Er trat zurück in den Schatten und wartete, bis die zwei Feueraugen an ihm vorbeigefahren waren. Dann drehte er sich um und lief zum Meer zurück. Sein Körper verschwamm, die Konturen seines massigen Brustkorbes vermischten sich mit der Umgebung. Plötzlich war er verschwunden, als hätte die Nacht ihn verschluckt.
Die Wellen rollten an den Strand und ließen schleimige Algen zurück. Holmger Nielsen kehrte zurück in ihren Duft, in die Erinnerung, die ihn am Leben hielt. Er würde wiederkommen, irgendwann, wenn das Meer das nächste Mal blühte.
*
Marlene Biermann war eine kluge Frau. Ihre Menschenkenntnis hatte ihr oft geholfen, war ihr aber auch gelegentlich im Weg gestanden, wenn sie jemanden kennenlernte, der Interesse an ihr als Frau zeigte. Sie war überzeugt davon, dass jeder etwas von ihr wollte und kein Mann aus lauter Liebe ihre Gesellschaft suchte. Mit ihrem Wissen und ihren daraus folgenden Ängsten stand sie sich selbst im Weg, weil sie niemandem mehr vertrauen konnte. So gern sie nach dem Tod ihres Mannes wieder einen Partner an ihrer Seite gehabt hätte, mehr als ein unverbindliches Treffen hatte nie stattgefunden, weil sie, wie Hannes stets ironisch bemerkte, nicht nur ein Haar in der Suppe gefunden hatte, sondern gleich eine ganze Perücke.
Hannes grinste, während er die letzten vierunddreißig Lebensjahre vor seinem geistigen Auge Revue passieren ließ. Wann hatte sich das Verhältnis zu seiner Mutter verändert? Der Tod seines Vaters fiel ihm ein. Er war ein herrischer Mann gewesen, der seiner Frau nicht gerade den Himmel auf Erden bereitet hatte. Bis auf die letzten Jahre, als er diesen neuen Job angenommen hatte. Da war er auf einmal ein ganz anderer geworden, und sogar Marlene und sein Sohn hatten davon profitiert. Er brachte etwas mehr Geld nach Hause und war noch seltener als früher für die Familie da. Dafür waren die wenigen Tage mit ihm jedoch meist entspannt und manchmal sogar fröhlich.
Die Zeit war gut gewesen, doch im Nachhinein hätte sie besser nicht stattgefunden, denn vor allem Marlene trauerte unendlich um diesen wundervollen Mann, der sie, ihrer Meinung nach, auf Händen getragen hatte. An die vielen schlimmen Jahre zuvor dachte sie nicht mehr, es war, als hätten die nie stattgefunden.
»Musst du heute unbedingt noch mal weg, Junge? Wohin gehst du denn? Triffst du dich mit jemandem? Hast du eine Freundin? Dann bring sie doch mit. Bei diesem Wetter jagt man keinen Hund vor die Tür.« Die früh gealterte Frau saß am Küchentisch aus rauem, unbehandeltem Holz und hielt krampfhaft ihre Tasse in der Hand. Hellgrauer Rauch stieg von dem Getränk auf, das nach schwarzem Tee und Rum mit Vanille duftete. »Morgen soll es besser werden.«
Hannes Biermann stand an der Spüle und wusch sich die Hände. Sie waren voller Schmutz und Schmieröl, was sich auf seiner trockenen Haut zu einem dicken Film zusammengefunden hatte. Selbst die körnige Reinigungspaste, die er immer im Haus hatte, schaffte es erst beim dritten Versuch, die Hände einigermaßen sauber zu bekommen. »Halt den Mund, Mutter, ich weiß schon, was ich tue«, knurrte er ungehalten, obwohl ihm klar war, dass sie Recht hatte. »Ich hab keine Freundin, ich gehe meinen Geschäften nach.«
»Um diese Zeit? Das können keine sauberen Geschäfte sein«, nörgelte sie und nahm noch einen kräftigen Schluck. »Warum tust du das, Hannes? Wir haben doch genug.« Ihre zittrige Stimme klang alt, obwohl sie noch kaum die sechzig erreicht hatte. »Das kann nicht gut gehen. Bleib zu Hause, Junge. Ich hab kein gutes Gefühl.«
»Lass mich zufrieden, Mutter. Ich bin kein kleines Kind mehr. Doch wenn es dich beruhigt, kann ich dir versichern, dass ich gestern zum letzten Mal raus gefahren bin. Danach werde ich den Kutter verkaufen. Das Meer ist nichts mehr für mich. Heute bringe ich nur noch die Ware zu dem Empfänger, und dann ist Schluss. Ich werde mich endlich richtig um meinen Laden und um Aufträge bemühen, sonst muss ich wirklich Insolvenz anmelden, was der Himmel verhüten möge.«
»Warum willst du den Kutter verkaufen? Früher hast du Krabben gefischt und ich hab sie verkauft. Das hat uns etwas Zusatzgeld eingebracht. Wovon sollen wir leben, wenn ich keine Krabben mehr verkaufen kann? Dein Laden kann uns nicht ernähren und meine Rente reicht gerade mal so bis zum Monatsende. Aber da darf nichts dazwischen kommen, keine Zusatzausgaben oder so.«
»Er wird es, glaub mir. Ich hab in den letzten Wochen einige gute Geschäfte getätigt, deshalb konnte ich den Kutter auf Vordermann bringen. Wenn ich den verkaufe, bringt er ganz schön was ein. Das stecke ich in den Laden. Wir werden unser Auskommen haben. Ich werde heute mit einem Interessenten reden, und dann sind wir saniert. Man muss es nur klug anfangen.«
»Klug – du?« All die Zweifel, die sie in dem Augenblick hatte, schwangen in diesen beiden Worten mit. Sie schüttelte den Kopf. »Das kann nicht gut gehen.« Resigniert leerte sie ihre Tasse in einem Zug. »Tu, was du nicht lassen kannst.« Sie starrte blicklos vor sich hin und war nicht bereit, noch ein Wort mit ihm zu reden. »Du erzählst mir irgendeine Geschichten, damit ich zufrieden bin. In Wirklichkeit triffst du dich mit diesem Weib, hab ich Recht? Was will die von dir? Dein Geld?« Sie schüttelte bedächtig den Kopf. »Nein, nein, ich hab kein gutes Gefühl bei der Sache.«
Hannes zuckte zusammen. »Wen meinst du? Ich kann mich nicht erinnern, dass ich dir jemals von einer Frau erzählt hätte. Welches Geld meinst du?« Er lachte vor sich hin, doch es war keine Fröhlichkeit in seiner Stimme.
»In Büsum pfeifen es die Spatzen von den Dächern, dass du dich mit dieser komischen Fremden eingelassen hast. Keiner kennt sie. Sie lebt seit einigen Jahren dort, aber für alle ist sie nur ›der Schatten‹, weil man sie nur sehr selten zu Gesicht bekommt. Man hat dich aus ihrem Haus kommen sehen. Zeitig in der Frühe, also warst du die Nacht bei ihr. Was willst du denn von der?«
»Nichts, was ich dir unbedingt erzählen wollte«, knurrte Hannes und fuhr sich mit den Fingern seiner rechten Hand durch die etwas speckigen rotblonden Locken, die ungepflegt von seinem Kopf abstanden. Eigentlich hatte er noch Haare waschen wollen, doch jetzt reichte die Zeit dafür nicht mehr.
»Ich bin deine Mutter, Hannes. Warum schließt du mich aus deinem Leben aus? Früher haben wir immer alles geteilt. Jetzt bist du auf einmal wie ein Fremder für mich. Du wirst deinen Vater immer ähnlicher.«
»Damals hattest du auch noch nicht deinen besten Freund, der dich fertig macht, ohne dass du es merkst.« In seiner Stimme schwang Verachtung mit. Männer hatten in seinen Augen durchaus das Recht, sich bis fast zur Bewusstlosigkeit zu besaufen. Frauen durften das natürlich nicht. Sie mussten Vorbilder sein, unantastbar, eine Mutterfigur, zu der man aufsehen und sich im notfalls flüchten konnte, wenn man Fehler gemacht hatte. Das war aber nicht möglich, wenn die Mutter selbst volltrunken in der Ecke lag.
»Freund? Welchen Freund?«, fragte Marlene verständnislos. »Ich hab keinen Freund. Den ganzen Tag hock ich hier allein herum. Früher durfte ich dir im Laden helfen, jetzt hast du dir einen Praktikanten gesucht, den du bezahlen musst. Ich hab immer alles umsonst gemacht, ohne Bezahlung.«
»Früher … früher, da war sowieso alles anders. Hör endlich auf damit, immer nach hinten zu schauen, da war es auch nicht besser, nur eben anders. Alex muss ich nicht bezahlen, solange ich ihm keinen Arbeitsvertrag gebe. Er weiß das, und er ist zufrieden damit. Sein Vater sagte, dass er froh ist, seinen Sohn erst mal gut untergebracht zu haben. Dafür mache ich hin und wieder kleine Reparaturen bei ihm, dann gleicht sich das aus.«
»Dass mir die Decke auf den Kopf fällt und ich vor lauter Einsamkeit bereits an Selbstmord denke, ist dir egal.« Sie schniefte und goss sich einen Kaffee ein, der vom Vortag übrig geblieben war. Sie hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, ihn auf den Herd zu stellen. Es war ihr schlichtweg egal, dass er längst kalt war, wie so vieles anderes inzwischen auch. »Ich weiß doch, wer dieses Weib ist«, murmelte sie vor sich hin. »Was hat die bloß an sich, dass die Männer ihr alle reihenweise zu Füßen fallen.«
»Dann freu dich drüber, dass du es weißt. Übrigens ist sie kein Weib, sie heißt Paula, und ich mag sie gern.« Er überlegte, ob er jetzt einen Fehler gemacht hatte, als er ihr von der neuen Frau in seinem düsteren Leben erzählt hatte. Sie war ja nicht einmal seine Freundin. Also, von seiner Seite aus schon, aber sie zierte sich noch immer, wenn er Andeutungen in dieser Richtung machte. Mehr als einige Küsse und eine Nacht, in der vermutlich auch nichts passiert war, waren noch nicht drin gewesen, dafür aber immer wieder so seltsame Andeutungen, mit denen er nichts anfangen konnte.
»Wie hast du die denn kennengelernt? Du gehst doch nie irgendwo hin.« Jetzt war die Neugierde in Marlene geweckt. Endlich tat sich wieder einmal etwas. »Erzähl doch, Junge. Ich bin deine Mutter. Mir kannst du alles sagen.«
Hannes zögerte, doch er wusste, dass er vorher keine Ruhe bekommen würde, solange sie ein Geheimnis bei ihm witterte. »Sie stand vor meinem Laden und hat auf mich gewartet.« Er kicherte. Wider Erwarten kam ihm diese Lüge ganz einfach über die Lippen. Er wollte nicht zugeben, dass er total besoffen mit ihr gegangen und die Nacht auf ihrem Sofa verbracht hatte.
»Sie hat auf dich gewartet?«, fragte Marlene entsetzt. »Sie kannte dich doch gar nicht.«
»Das hatte ich sie auch gefragt, und sie hat behauptet, sie hätte mich einige Male beobachtet, wie ich morgens gekommen bin. Da wollte sie mehr über mich erfahren.« Das war jetzt keine Lüge mehr, doch dieses Gespräch hatte später stattgefunden, als er wieder nüchtern war und sie ihn zu seinem Laden gefahren hatte. Dass sie auf ihn in der Kneipe aufmerksam geworden war, hatte sie wirklich gesagt. Zumindest hatte er es noch so in seiner Erinnerung.
»Das klingt nicht gut«, murmelte Marlene und schüttete einen Schluck Rum in den Rest ihres Kaffees. »Glaubst du ihr?« Sie beäugte nachdenklich ihren Sohn, als hätte sie ihn noch nie so deutlich gesehen. »So schön bist du nun auch wieder nicht.«
»Mutter …« Hannes schluckte. Marlene war eine grundehrliche Frau, doch manchmal konnte sie richtig taktlos sein. »Die Schönheit liegt im Auge des Betrachters. Sicher hab ich etwas an mir, das sie an etwas erinnert, von dem sie glaubte, es längst vergessen zu haben.«
Marlene starrte ihren Sohn an. »So etwas Kluges hab ich noch nie von dir gehört?«, flüsterte sie heiser. »Ich hab manchmal das Gefühl, ich kenne meinen Sohn, mein eigen Fleisch und Blut, nicht.«
»Da siehst du mal«, antwortete Hannes zufrieden. Dass er keine Schönheit im landläufigen Sinne war, hatte er längst akzeptiert. Doch auch er hatte seine Qualitäten, davon war er überzeugt.
»Willst du sie heiraten?«
»Was ist schon heiraten.« Jetzt kam er an den Tisch zurück und zog den Stuhl geräuschvoll zu sich her. »Was kann ich ihr denn bieten? Ich bin nichts und ich hab nichts. Wie lange sie es mit mir aushält, weiß ich nicht. Sie ist ziemlich gut gestellt.«
»Das auch noch … Du meinst, sie hat genug Kohle?«, fragte Marlene vorsichtig nach und kicherte. »Was will sie dann von dir? Bist du so ein toller Hecht in ihrem Bett?« Anscheinend war sie an diesem Abend fest entschlossen, den letzten Rest von Selbstbewusstsein in ihrem Sohn zu demontieren. Sie hätte selbst nicht sagen können, warum sie das tat, denn sie liebte Hannes, und sie war trotz allem stolz auf ihn. Vielleicht lag es an der unerklärlichen Angst, die gerade immer größer wurde in ihr. Es war die Furcht, ihn an eine andere Frau zu verlieren, und die Angst vor etwas Dunklem, Unheimlichen, das sie nicht erklären, nicht greifen konnte.
»Danke für die gute Meinung, die du von mir hast«, sagte er traurig. Im Grunde hatte seine Mutter mit ihrer Frage voll ins Schwarze getroffen. Er würde sie niemals beantworten können, denn er wusste nicht, was Paula von ihm dachte, was sie von ihm erwartete. Eine Nacht hatte er bei ihr verbracht, doch daran hatte er nur eine bruchstückhafte Erinnerung. Er war viel zu blau gewesen, um ein toller Hecht in ihrem Bett sein zu können.
Paula lebte in einer teuren Eigentumswohnung in Büsum, die Möbel waren vom Feinsten, und die Klamotten, die sie trug, hatte sie bestimmt nicht im Second Hand Laden gekauft. Das wusste er noch. Aber das war auch schon alles und verschwand mit jedem Tag mehr aus seiner Erinnerung, an dem er keinen Kontakt zu dieser geheimnisvollen Frau hatte.
Sie war in sein Leben gestolpert, als hätte es so sein müssen. Hannes glaubte nicht an Vorsehung, an Schicksal. Es war ganz einfach Zufall gewesen, dass sie zur selben Zeit in dieselbe Kneipe wollten. Er hatte sie noch nie hier gesehen, sie ihn anscheinend auch nicht. Auch die Erklärung, er sei ihr gleich aufgefallen, war mit Sicherheit gelogen. Und doch hatte es sofort gefunkt. Zumindest glaubte er das eine Zeit lang. Den ganzen Abend hatten sie zusammen verbracht, und er hatte so viel geredet wie schon lange nicht mehr. Nur hin und wieder war der Verdacht in ihm aufgestiegen, dass ihr Treffen von Paula arrangiert worden war, auch wenn er sich keinen Grund dafür vorstellen konnte. Als er genügend Alkohol im Blut hatte, war dieser Verdacht wieder verflogen.
*
Paula war sehr großzügig gewesen an jenem Abend, hatte ihm bereits ein neues Glas bestellt, auch wenn das alte noch halb voll war. Und sie war an allem interessiert, was er machte, was er erzählte. Vor allem an seinem alten Kutter, Bella hieß er, schien sie einen Narren gefressen zu haben. Sie wollte sogar mit ihm aufs Meer, fragte ihm ein Loch in den Bauch, wie weit er damit hinaus könne, ob er immer aufs Meer durfte, denn sie hatte als Stadtkind keine Ahnung von der christlichen Seefahrt. Angespornt von ihren meist naiven Fragen plauderte er alles aus, was sie wissen wollte. Dabei fühlte er sich stark und erwachsen, denn da war eine hübsche Frau, erfolgreich in allem, was sie tat, und doch gab es etwas, bei dem er ihr an Wissen überlegen war.
Es war ein toller Abend gewesen, und als sie weit nach Mitternacht beschlossen, ihn zu beenden, da hatte sie ihn sogar mit zu sich nach Hause genommen. Sie hatten geschmust, dazwischen weiter getrunken, und ihre Hände waren überall an seinem Körper. Zumindest hatte sich das für ihn so angefühlt. Als er mehr wollte, hatte sie nur gelacht und behauptet, sie hätten bereits miteinander geschlafen. Einmal sei genug für den Anfang. Er konnte nicht widersprechen, denn er war so betrunken, dass ihm eine ganze Zeitspanne zwischen der Kneipe und Paulas Wohnung fehlte. Später jedoch war er sich sicher gewesen, dass sie ihn angelogen hatte.
»Hast du mit der schon rumgemacht?«, fragte Marlene neugierig, als hätte sie seine geheimen Gedanken gehört. Einen Moment lang schwieg sie erschrocken, denn so hatte sie mit ihrem Sohn noch nie geredet. Doch als Hannes nicht einmal reagierte, hakte sie nach. »Was hat sie dafür von dir verlangt?«
Hannes schaute auf, als würde sein Verstand aus weiter Ferne zurückkehren. Erst nach und nach wurde ihm der Sinn ihrer Frage bewusst. Er spürte, wie es ihm heiß ins Gesicht stieg. Die Zornesader an seiner hohen Stirne schwoll gefährlich an. Plötzlich schlug er mit der flachen Hand auf den Holztisch. »Jetzt reicht es aber«, schrie er sie an. »So weit bin ich noch nicht, dass ich für Liebe bezahlen muss.«
»Liebe …« Marlene lachte freudlos. »Was verstehst du unter Liebe? Vermutlich reicht es dir, wenn sie die Beine breitmacht und dir hinterher sagt, wie toll du warst. Dabei weiß sie zu dem Zeitpunkt bereits, dass dies das erste und das letzte Mal war. Oder? Wie oft habt ihr euch seither getroffen? Sie hat keine Zeit mehr, stimmt`s?«
Hannes antwortete nicht. Was hätte er auch sagen sollen? Jede seiner Fragen nach einem erneuten Treffen hatte sie wegen zu viel Arbeit oder wegen unerwartetem Besuch abgeblockt. In seinem Innern hatte er längst akzeptiert, dass Mama Recht hatte. Doch er wollte es nicht wissen, es sich nicht eingestehen. Wenn er mit Marlene darüber redete, tat er jedoch genau das. Dann musste er zugeben, dass er für sie vermutlich nur ein Spielzeug gewesen war, der Lückenfüller für einen einsamen Abend.
Nachdenklich betrachtete Hannes seine Mutter. Sie war eine sehr kluge Frau. Trotz Alkohol. Früher einmal musste sie sehr schön gewesen sein, das konnte man jetzt noch erahnen. Mit etwas Mühe könnte sie noch immer eine schöne Frau sein, doch Klaus hatte sie mit seiner Gleichgültigkeit dahinwelken lassen. Früher hätte sie jeden Mann haben können. Doch sie wollte nur einen, den einen, der ihr später das Leben zur Hölle machte mit seiner unberechtigten Eifersucht und später mit seiner Unzufriedenheit.
Das hatte sich erst gegeben, als er die Arbeit im Maschinenraum des Linienschiffes angeboten bekam. Natürlich griff er sofort zu, obwohl er sich finanziell nur wenig verbesserte. Doch diese Arbeit führte ihn für drei Wochen im Monat weg von zu Hause, weg aus dieser eintönigen Einsamkeit, die er schon immer gehasst hatte. Marlene hatte sich zähneknirschend gefügt und sich von da an ihren Liebhaber zweiter Wahl mit ins Bett genommen, den Rum.
Wenn Klaus nach einer Fahrt nach Hause kam, war er meist fröhlich und ausgeglichen, und auch Marlene und Hannes kamen hin und wieder in den Genuss seiner positiven Stimmungslage. Einmal flüsterte Marlene ihrem Sohn zu, dass die spontane Entscheidung, diesen neuen Job anzunehmen, die beste war in Klaus` Leben. Dadurch, dass sie immer gleich drei Wochen am Stück getrennt waren, hätte er vermutlich erst gemerkt, wie wichtig ihm seine Familie war und wie sehr er seine Frau Marlene noch liebte, stellte sie fest.
Hannes tat sich sehr schwer, das zu glauben, doch er wollte seiner Mutter die Freude nicht verderben. Aber er spürte genau, dass hinter der guten Laune seines Vaters etwas anderes steckte, nämlich eine andere Frau. Zwar hatte er keine Beweise dafür, doch sein Einfühlungsvermögen war von Kindesbeinen an auffallend gewesen. Damit hatte er schon so manchen Mitmenschen in Verlegenheit gebracht. Eigentlich war das auch heute noch so, doch inzwischen hatte er gelernt, vor manchen Dingen lieber die Augen zuzumachen, wenn er seine innere Ruhe behalten wollte.
Hannes liebte seine Mutter, sie war sein Fels in der Brandung. Auf sie konnte er sich immer verlassen, denn sie war einmal stark gewesen, kämpfte für ihre Familie wie eine Löwin. Er hatte ihr vertraut, daran geglaubt, dass sie immer wusste, was zu tun war.
Doch nach dem unerwarteten Tod des Vaters war plötzlich alles anders. Marlene Biermann suchte immer öfter Zuflucht bei ihrem neuen Partner, dem Rum. Für ihn, den einzigen Sohn, war in diesem Zweiergespann kein Platz mehr, obwohl er auch oft einen über den Durst trank. Aber eine Mutter durfte so etwas nicht.
Der Alkohol machte ihre Trauer kleiner, schenkte ihr zeitweises Vergessen, wenn sie dahin dämmerte und hoffte, einschlafen zu können. Trotz aller Gleichgültigkeit, trotz aller Herzlosigkeit, die sie von ihrem Mann erfahren hatte, liebte sie ihn noch immer.
Das Meer hat ihn geholt, sagte die Mutter, und die Leute im Ort hatten nur noch geflüstert, wenn sie in der Nähe war. Über ein Jahr war es jetzt her, dass er während der Rückreise bei hohem Seegang von Bord gespült worden war. Zwar konnte niemand erklären, wie so etwas passierte, doch da er nicht gefunden wurde, war dies die einzige plausible Erklärung. Auch Hannes hatte gelitten. Der Vater war, auch wenn er ihn nur selten zu Gesicht bekam, der Freund, der Kumpel, den er sich so sehr wünschte. Wenn er einmal das Wort an seinen Sohn gerichtet, ihn wirklich wahrgenommen hatte, war das für Hannes ein Gefühl wie Ostern und Weihnachten zugleich. Dass Klaus nie ein wirklicher Vater gewesen war, wollte er sich nicht eingestehen.
Doch dann, kaum einen Monat nach dem Verschwinden des Vaters, war Paula in sein Leben getreten. Es fühlte sich fast so an, als hätte Klaus ihm aus dem Jenseits einen Strohhalm geschickt, der ihn vor der ewigen Verdammnis retten sollte. Paula war schön, und sie wusste mit Männern umzugehen. Sie hätte jeden haben können, doch nur für ihn, Hannes, der sich Frauen gegenüber eher etwas tollpatschig benahm, hatte sie in jener Nacht Augen gehabt.
»Wirst du sie wiedersehen?«, hakte Marlene neugierig nach. Sie hatte plötzlich ein ganz komisches Gefühl in der Magengrube, und das kam nicht vom Rum. Es war eher wie ein Kribbeln im Oberbauch, im Sonnengeflecht, wie sie mal gelesen hatte. Das hatte mit Sicherheit nichts Gutes zu bedeuten.
»Das weiß ich jetzt noch nicht«, antwortete er ausweichend. »Ich hab anderes, um das ich mich kümmern muss.«
»Gehst du heute zu ihr?« Lauernd starrte sie ihn an. »Lüg mich nicht an, Hannes. Ich bin deine Mutter und ich werde immer auf deiner Seite stehen, egal, was du tust. Nur sag es mir, sonst werde ich verrückt vor Sorge.«
»Ich muss arbeiten«, antwortete er nur.
»So spät am Abend? Du warst gestern erst draußen. Fährst du heute schon wieder hinaus? Gehst du krumme Wege, Junge? Bitte – ich hab schreckliche Angst um dich. Bleib zu Hause und mach keine Dummheiten.«
»Danke für dein Vertrauen, Mutter«, knurrte er verärgert. Er blickte hastig auf die Uhr über dem Herd. Höchste Zeit für ihn, wenn er den Termin einhalten wollte. »Warte nicht auf mich, Mutter. Ich weiß noch nicht, wann ich zurück bin. Und mach dir keine Sorgen. Ich bin heute mit dem Auto unterwegs. Ich fahre nach Büsum, treffe mich da mit einem Freund.« Er griff nach seinem Rucksack, der offensichtlich ohne Inhalt war. Schlurfend verließ er das alte Haus, das er längst hätte renovieren sollen. Doch das kostete Geld, viel Geld, das er nicht hatte. Noch nicht.
Vorsichtig schaute er sich um, war froh über die Dämmerung, die sich inzwischen fast vollständig verbreitet hatte. Dann ging er zu dem hölzernen Anbau, wo früher die Hasenställe gestanden hatten. Heute diente die windschiefe Hütte als Rumpelkammer für alles, was man nicht mehr gebrauchen konnte.
Ein muffiger Geruch schlug ihm entgegen, als er eintrat. Das Licht funktionierte schon lange nicht mehr, deshalb schaltete er die Taschenlampe an seinem Handy an. Feiner Staub wirbelte durch die Luft und bildete zarte Formationen von tanzenden, aufgescheuchten Partikeln, in denen sich Licht verfing und zu grotesken Formen wirbelte.
Im Lichtschein entdeckte er den Farbeimer, der zwischen einer Kiste und einem Sack mit Abfällen stand. Ihm wurde etwas übel, als er ihn an sich nahm. Der Boden unter seinen Füßen schwankte wie sein Kutter bei starkem Wellengang. Er spürte, wie plötzlich kalter Schweiß auf seiner Stirne stand. Das hatte er in der letzten Zeit öfter gehabt, sich aber nicht viel dabei gedacht. Vermutlich lag es an der Aufregung, die ihn bei diesen Touren immer befiel. Auch sein Herz klopfte so seltsam gegen die Brust, als würde es gleich zu hüpfen anfangen. Für kurze Zeit wurde ihm die Luft zu knapp, obwohl er hektisch atmete. Dieser Anfall dauerte nicht lange, dann war er wieder vorbei.
Er stellte den Farbeimer auf die Werkbank und hob den Deckel. Hier hatte er die Tüte versteckt, die er gestern mitsamt der roten Boje aus dem Wasser gefischt hatte. Es war noch alles da. Sehr viele kleine Päckchen in verschiedenen Größen lagen darin, in Folie mit Luftkammern gewickelt, geschützt vor eventuell eindringendem Wasser. Er nahm sie aus der Tasche und steckte alles in seinen Rucksack. Obenauf schob er seinen Pulli aus grober Schafwolle, den ihm seine Mutter vor vielen Jahren einmal gestrickt hatte. Damals war seine Welt noch in Ordnung gewesen.
Jetzt war er zufrieden. Es lief alles nach Plan. Dennoch lief ihm der kalte Schweiß in Rinnsalen von der Stirne und über die Wangen, sammelte sich an seinem Kinn und tropfte vermutlich irgendwann auf den Boden, wenn er ihn nicht vorher abwischte. Aber das wusste er nicht, er konnte es nur vermuten. Ärgerlich strich er sich über Wangen und Kinn, weil es anfing zu jucken. Dann schaute er auf seine Armbanduhr. Höchste Zeit, stellte er fest und holte tief Luft. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Es war das fünfte Mal, dass er seinen Auftrag als Kurier erfüllte, ohne zu wissen, was genau er transportierte. Insgeheim vermutete er Drogen, doch die waren gewöhnlich in Tüten und nicht in Schachteln. Das hatte er jedenfalls im Fernsehen so gesehen. Einmal hatte er den Empfänger gefragt, es war der Apotheker von Sheepjesholm, was sich in den Schachteln befand, doch der hatte nur gelacht und gesagt, er solle sich keinen Kopf machen. Seine Aufgabe sei so unbedeutend, dass er es nicht zu wissen brauchte. Seine Arbeit sei ein Segen für kranke Menschen, hatte er gesagt. Typisch Torsten …
Er brauchte ein paar Minuten, bis er sich soweit gesammelt hatte, dass er das Licht ausschalten und mit dem Rucksack die Hütte verlassen konnte. Er hatte es nicht weit bis zum Parkplatz, wo er sein Auto immer dann abstellte, wenn er noch einmal weg wollte. Doch heute fiel ihm der kurze Weg besonders schwer. Etwas war anders, sein Körper war anders. Er zeigte eine Schwäche, die ihm Angst machte.
Er schnaufte heftig, und dann hatte er sogar das Gefühl, als würde das Rauschen in seinen Ohren den Gesang des Meeres in der Ferne übertönen, so laut war es. In seinem Körper breitete sich eine Kälte aus, die ihm den Atem nahm. Er blieb stehen und keuchte. Ihm kam wieder der unangenehme Gedanke, dass etwas mit ihm nicht stimmte. Um ihn jedoch weiterzuverfolgen, dafür reichten weder seine Zeit noch sein momentanes Interesse. Morgen, wenn er wieder zu Hause war, wollte er ihn noch einmal von vorne angehen.
Lang würde es nicht mehr dauern, bis die Nacht den Strand vollends verschluckt hatte. In gleichmäßigem Takt rollten die Wellen zum Ufer und wieder zurück, der Glanz der Sterne, die heute besonders hell zu strahlen schienen, spiegelten sich in der Wasseroberfläche und bewegten sich in demselben Takt.
Das war die Zeit, die Hannes Biermann bis jetzt immer einmal alle zwei Wochen mit seinem kleinen Kutter aufs Meer getrieben hatte. Heute war der zweite Teil seiner Mission, mit dem Kutter war er gestern draußen gewesen.
Mit raschen Schritten marschierte er zu seinem Auto. Der Tank war voll, und in seinem Rucksack hatte er die Waren, die er heute ausliefern würde. Er hoffte, dass es das letzte Mal war, denn er hatte die Abmachung gekündigt. Seine Nerven hielten es nicht mehr aus. Außerdem hegte er noch immer die heimliche Hoffnung, Paula könnte mehr als nur ein einmaliges Intermezzo gewesen sein. Wie sollte er ihr erklären, dass er krumme Geschäfte getätigt hatte, wenn er womöglich erwischt und verurteilt wurde? So einer Frau konnte man nur mit einer sauberen Weste imponieren.
Ihm graute vor der Konfrontation mit der Chefin, wie Torsten seine Auftraggeberin ehrfürchtig nannte. Er wusste, dass es nicht einfach werden würde, denn der Apotheker hatte ihn bereits gewarnt, als er ihm von seiner Entscheidung berichtete. Das war der Grund, weshalb er sich heute mit Torsten außerhalb von Büsum treffen sollte. Er wollte ihn der Chefin vorstellen, und diese sollte dann entscheiden, wie es weitergehen konnte. In dieser Branche durfte nicht einer allein alle Entscheidungen treffen, hatte sie wohl gesagt, und Torsten gab ihre Worte genauso weiter.
Hannes war überzeugt davon, dass er die Chefin kannte. Es musste sich um Elke handeln, Torstens Frau und auch die Besitzerin der Apotheke, in der er arbeitete. Diese Branche … Hannes musste grinsen. Das hatte sie sehr elegant ausgedrückt, die Apothekerin Elke Kalwitz. Er glaubte ihr jedenfalls kein Wort. Er war nur gespannt, wie sie ihm heute entgegentreten würde. Er wollte sie fragen, weshalb sie ihn alle angelogen hatten. Mit der Wahrheit hätte er bedeutend besser umgehen können, denn früher, als sie noch Kinder waren, hatten sie zusammen die Gegend unsicher gemacht und waren beste Freunde gewesen. Sie hätten ihm doch sagen können, dass Elke die Drahtzieherin war und nicht Manfred als großer Unbekannter.
Es stand viel auf dem Spiel für sie, aber auch für ihn. Hannes liebte sein ruhiges, beschauliches Leben. Tagsüber arbeitete er als Elektriker in Eigenregie. Er hatte einen kleinen Handel mit verschiedenen Haushaltsgeräten, und wenn eine Reparatur an einer häuslichen Stromleitung oder an Geräten nötig war, konnte man ihn jederzeit anrufen.
Als er bei einem Klassentreffen in Büsum mit einem seiner früheren Lehrer, Manfred Bredow, näher in Kontakt gekommen war, nahm sein persönliches Unglück seinen Anfang. Damals stand er vor der Entscheidung, ob er für seinen Handel Insolvenz anmelden sollte, weil er nicht mit den größeren Märkten mithalten konnte.
Hannes war ein ehrlicher Mann, der auch aus seinen Misserfolgen kein Hehl machte. Mit dem ihm eigenen Vertrauen, das man ihm schon in die Wiege mitgegeben hatte, erzählte er Manfred von seinen Problemen, auch, dass er mit seinem alten Krabbenkutter nichts verdienen konnte, weil die Reparaturkosten ihn zusätzlich auffraßen.
Manfred hatte nur gelacht und ihm vorgeschlagen, dass er ihm helfen wolle. Er würde die Reparatur an seinen Krabbenkutter finanzieren, danach hätte er ein sehr gutes Geschäftsmodell für ihn.
Hannes wollte ihm vertrauen, denn immerhin war er sein Fachlehrer in Biologie und Physik gewesen, also durchaus eine Respektsperson, sollte man meinen. Zwar waren sie nicht gerade die besten Freunde gewesen, doch es war auch nie eine Feindschaft zwischen ihnen.
Hannes kannte Manfreds Geschäfte nicht, war eigentlich der Meinung, er würde noch immer als Lehrer arbeiten. Manfred lachte ihn nur aus, als er danach fragte, murmelte etwas von einem Geheimnis, das er noch nicht mit ihm teilen könne. Doch dass diese Geschäfte nicht ganz legal waren, lag in Anbetracht von Manfreds komischen Verhalten auf der Hand. Womit konnte man sonst solche Summen verdienen, von denen Manfred redete? Sicher nicht als Fachlehrer.
Doch das störte Hannes in dem Moment nicht, als Manfred ihm glaubhaft versicherte, dass dadurch niemand zu Schaden kommen würde. Aber dass es funktionierte, war ihm klar, denn schon früher hatte Manfred sein Geld lieber mit Nachdenken als mit Arbeiten verdient.
Nach kurzer Zeit jedoch bereute Hannes, dass er sich Manfred angeschlossen hatte. Er hatte nicht viel zu tun außer alle zwei Wochen mit seinem inzwischen reparierten Kutter aufs Meer hinauszufahren zu einer angegebenen Stelle zu einer bestimmten Zeit. Da konnte er meist in der Ferne das riesige Schiff noch sehen, das kurz vorher seine Bahn gekreuzt hatte. Jemand auf diesem Schiff hatte ein Paket ins Wasser geworfen. Es hing an einer roten Boje, die er nicht übersehen konnte.
Hannes nahm erleichtert die vielen Geldscheine entgegen, die Manfred ihm bei der ersten Übergabe zusteckte. In Zukunft würde er selbst nicht mehr in Erscheinung treten. Er musste mit einer anderen Person zusammenarbeiten, die er schon lange kannte, hatte Manfred ihm noch gesagt und verschwörerisch gegrinst, dann war er gegangen. Seitdem hatte er ihn nicht mehr wiedergesehen. Als die nächste Übergabe bei Torsten in der Apotheke stattfinden sollte, war er aus allen Wolken gefallen. Damit hatte er nicht gerechnet. Ausgerechnet Torsten, der früher als Feigling verschrien war.
Seine Ruhe, sein innerer Frieden waren dahin. Er hatte seinen kleinen Laden erst mal am Leben halten können, und Manfreds Versprechen, er würde keinem Menschen damit schaden, im Gegenteil, er würde damit für deren Gesundheit sorgen, hatte sein Gewissen ein bisschen weichgespült. Doch er wusste auch, dass er, wenn er erwischt wurde, erst mal keinen Laden mehr brauchen würde. Er hatte einen Pakt mit dem Teufel geschlossen, das war klar.
Mit seinem Seelenfrieden war es trotz aller beschönigenden Worte von Manfred vorbei. Wo war seine Ruhe geblieben, die Langeweile am Feierabend, die ihn immer störte, die er jetzt schmerzlich vermisste. Er wollte doch nur leben, einfach so, ohne Stress, ohne sinnlose Aufregungen, deshalb hatte er auch bis jetzt noch keine Familie gegründet. Dabei hatte er früher davon geträumt, eine liebe Frau, ein oder zwei Kinder und eine glückliche Beziehung auf Augenhöhe zu haben, die seiner Mutter nicht vergönnt gewesen war.
Immer öfter dachte er an Greta, die er vor einigen Jahren kurz umworben hatte. Sie hatte ihm gut gefallen, doch als er aus der harmlosen Freundschaft eine Beziehung machen wollte, hatte Greta ihn brüsk zurückgewiesen. Auch sie wollte frei sein, genau wie Hannes bis jetzt. Gegen gelegentliche intime Begegnungen jedoch hatte sie nichts einzuwenden gehabt. Doch das war nicht das, was er damals wollte. Deshalb hatte er sich nicht mehr mit ihr verabredet.
Er seufzte auf. Mehrmals. Und mit jedem Seufzer wurde ihm etwas leichter zumute. Endlich hatte er den Mut gehabt, seine Mitarbeit zu kündigen, das heißt, er war nach Ladenschluss zu Torsten in die Apotheke gegangen, um ihm seine Entscheidung mitzuteilen.
*
Torsten war nicht bereit, ihn aus seinem Versprechen zu entlassen. Er solle sich mit Manfred besprechen, hatte er gesagt. Der wüsste vielleicht einen Ausweg. Es sei Sache der Chefin, da hätten sie beide nichts zu sagen, hatte er gekrächzt. Zuerst hatte er ihm freundschaftlich erklärt, dass seine Bedenken völliger Blödsinn waren, doch als er an dieser Entscheidung festhielt, war er regelrecht ausgeflippt.
So hatte er Torsten noch nie erlebt. Seine Augen waren plötzlich ganz hell und rund geworden, die Pupillen hatten sich zu schmalen Strichen zusammengezogen, zu Schafaugen, wie man diese auch nannte. Das hatte er noch nie zuvor gesehen. Er hatte schwer geatmet, und schließlich, als er an seinem Entschluss weiterhin festhielt, war er total ausgerastet. Mit sich schier überschlagender Stimme hatte er ein Füllhorn von Drohungen über ihm ausgeschüttet und ihn schließlich aus der Apotheke geworfen. Als er bereits auf der Treppe stand, gab er Torsten das Versprechen, sich seine Entscheidung noch einmal gut zu überlegen. Deshalb hatte er auch in diese Tour eingewilligt, die er gerade dabei war zu erfüllen. Wie es danach weitergehen sollte, hatte er zwar in seinem Innern beschlossen, aber ob er den Mut haben würde, noch einmal dazu zu stehen, das wusste er nicht so genau.
Dieses letzte Mal, oder besser, diese Nacht war gestern gewesen. Mit dem Gefühl, sich auf dünnem Eis zu bewegen, hatte er seinen reparierten Kutter flott gemacht und war zu der vereinbarten Stelle ins Meer hinausgefahren. Von einem Schiff war nichts mehr zu sehen gewesen, doch die rote Boje konnte er im Licht seiner Scheinwerfer ziemlich schnell entdecken.
Seine Hände zitterten ein wenig, als er die Ware hochholte. Er atmete erst auf, als er die Päckchen zu Hause in der Scheune verstaut hatte. Wenigstens hatte ihn niemand erwischt. Der Rest war nicht mehr aufregend, eigentlich. Doch dieses Mal würde er mit einem der obersten Auftraggeber konfrontiert werden, das wusste er, denn so einfach würden sie ihn nicht aus ihren Fängen lassen. Dazu hatte er in der Vergangenheit zu viel Einblick gehabt. Er rechnete damit, dass auch Manfred ihm noch mal gehörig zusetzen würde, doch Hannes hatte sich vorgenommen, stark zu bleiben, egal, wer der Chef über Manfred war.
Der Rucksack drückte ihn schwer auf die Schultern. War es wirklich das Gewicht seines Inhaltes oder schleppte er dazu in ungewohnter Weise an seinem Gewissen? Es war ihm gesagt worden, dass mit seiner Ware Menschen nicht zu Schaden kommen würden. Im Gegenteil. Dennoch beging er zweimal im Monat eine Straftat, für die er teuer würde bezahlen müssen, wenn er erwischt wurde. Also konnte es so legal nicht sein, wie man ihm glauben machen wollte.
Inzwischen raubte ihm diese Vorstellung nicht nur seine Nachtruhe, sondern auch einen großen Teil seiner Lebensfreude. Er zahlte einen hohen Preis, um den kleinen Elektroladen, den er sich aufgebaut hatte, am Leben halten zu können. Kunden gab es nicht mehr viele, denn mit den Preisen der großen Supermärkte und Onlinehändler konnte er nicht mithalten.
Er hatte in den letzten Tagen eingesehen, dass er nicht mehr lange durchhalten würde. Vermutlich war es das Beste, wenn er sich wieder auf den Krabbenfang konzentrierte. Damit konnte er zwar nicht reich werden, aber es sicherte ihm für sich und seine Mutter ein bescheidenes Auskommen. Dazu kam die Rente, die seine Mutter seit einem Jahr bezog. Die war zwar auch nicht sehr groß, doch solange sie zusammen taten, ging es ihnen gar nicht so schlecht.
Er warf den Rucksack auf den Beifahrersitz und stieg ein. Leise Musik drang aus dem Lautsprecher, die ihn ein wenig beruhigte. Durch den Ort fuhr er langsam, um nicht unangenehm aufzufallen, doch als er die letzten Häuser hinter sich gelassen hatte, gab er Gas. Der Wagen schoss die fast gerade Uferstraße entlang. Es war ziemlich dunkel, und er wusste, dass ihm auf diesem Weg kaum ein Auto entgegenkommen würde. Im außergewöhnlich ruhigen Meer spiegelte sich der Sternenhimmel und verzerrte ihn zu bizarren Formen.
In Gedanken legte er sich die Worte zu Recht, die er als Argument für seine Kündigung anbringen wollte. Niemand konnte ihn zwingen, die Aufträge weiterhin auszuführen, sagte er sich. Doch die Angst vor den nächsten Stunden kroch wie eine Giftspinne über seinen Rücken den Nacken hoch.
Endlich hatte er Büsum hinter sich gelassen. Jetzt war es nicht mehr weit bis zu dem Treffpunkt, vielleicht zehn Minuten noch. Er trat auf die Bremse und fuhr nun ganz langsam die Uferstraße entlang. Die Einsamkeit, die um diese späte Stunde hier herrschte, legte sich drückend auf sein Gemüt. Dann hatte er die Anlegestelle erreicht, wo mehrere kleinere Schiffe auf dem unruhigen Wasser schaukelten. Warum er sich ausgerechnet hier treffen wollte, war ihm schleierhaft.
Er entdeckte den Kiosk, der um diese Zeit bereits geschlossen hatte. Da sollte er mit seinem Rucksack warten, bis er abgeholt wurde. So stand er eine ganze Weile an einen der Tische gelehnt, die tagsüber von zahlreichen Touristen besucht wurden. Jetzt waren nur noch einige Unentwegte unterwegs, die ihn jedoch nicht beachteten.
»Na, da bist du ja.«
Die Stimme kam ihm bekannt vor, sogar sehr bekannt. Er drehte sich um. »Torsten? Also doch du«, sagte er leise und schaute sich vorsichtig um. »Ich dachte, deine Frau ist die geheimnisvolle Chefin.«
Der Angesprochene grinste. »Ich wüsste nicht, was meine Frau hier zu suchen hätte. Sie hat keine Ahnung davon. Ihr Leben ist die Apotheke und der Backofen. Hast du alles dabei?«
»Wie besprochen«, murmelte Hannes und bemühte sich, ihm seine Überraschung nicht zu zeigen. »Aber warum bist du hier? Ich dachte, die Chefin wollte mit mir sprechen. Wo ist Manfred?« Suchend schaute er sich um.
»Was willst du von Manfred? Der ist mit dir durch. Du hast ihn sehr enttäuscht. Dass jetzt die Rückzahlung deines Kredits fällig ist, wenn du nicht mehr für uns arbeitest, ist dir hoffentlich klar«, verkündete er mitleidlos.
Hannes war noch immer so aufgeregt, dass er kaum antworten konnte. Die ganze Fahrt über hatte er sich gut zugeredet und sich immer wieder versichert, dass ihm niemand etwas tun würde. Doch jetzt fühlte er sich zunehmend schlechter. »Ich habe damit gerechnet, dass es Folgen haben wird. Aber ich weiß im Augenblick nicht, woher ich das Geld nehmen soll«, sagte er leise. Nein, an das Geld, das Manfred ihm für seinen Kutter gegeben hatte, daran hatte er nicht mehr gedacht. Aber es war logisch, dass er es zurückzahlen musste. »Das ist Erpressung«, keuchte er verzweifelt. »Kann ich es in Raten abzahlen?«
Torsten Kalwitz begann zu lachen. »Glaubst du noch an den Weihnachtsmann? Das ist ja der Sinn der Sache. Wir haben dich in der Hand. Du bist ausgesprochen wertvoll für uns. So ein unbeschriebenes Blatt wie dich lässt man nicht einfach gehen. Man darf nicht auffallen. Deshalb hatten wir ja auch dich ins Boot geholt. Du bist friedlich, unspektakulär, und niemand schaut ein zweites Mal hin, wenn du an ihm vorbeigehst, was für deine Mission absolut von Vorteil ist. Ich dachte immer, das ist nur der erste Eindruck, den man von dir bekommt. Doch nach deiner Ankündigung, du wolltest unsere kleine Familie verlassen, bin ich mir da nicht mehr ganz sicher. Du scheinst nicht sehr klug zu sein, sonst würdest du auf solch eine Idee gar nicht kommen.«
»Wie meinst du das?«, fragte Hannes arglos. »Welche Familie?«
»Wir sind alle eine Familie und sitzen im selben Boot, in deinem Kutter, wenn du es so willst. Hast du das nicht kapiert, Junge? Wenn einer auffliegt, geht der Rest von uns mit unter. Wir können das nicht riskieren. Deshalb rate ich dir, deine Entscheidung zu überdenken. Wir gehen jetzt zusammen auf die Olga, und dort setzen wir uns bei einem guten Schnaps zusammen und reden noch einmal ausführlich darüber.«
»Dann bist du der Kopf dieser … Familie?« Hannes konnte es nicht fassen. Sie waren zusammen zum Fußball gegangen, hatten gemeinsam für ihren Verein gekämpft. Dann hatte Torsten, nach einem Einserabitur, weiterführende Schulen besucht und anschließend Medizin studiert. Schließlich war er als Apotheker nach Sheepjesholm zurückgekehrt, weil er Elke, die einzige Tochter des damaligen Apothekers, kennengelernt hatte. Sie war zwar noch mitten im Studium gewesen, denn sie sollte eines Tages die gut florierende Apotheke übernehmen, doch ihrem Vater war es gerade Recht gewesen, dass sich sein Sonnenschein, wie er Elke meist nannte, ausgerechnet in einen Apotheker verliebt hatte.
Torsten grinste nur und schüttelte den Kopf. »Nicht der Kopf«, antwortete er sanft, »nur ein bisschen Gehirn. Ich hab das Fachwissen und kann sagen, wo und was …« Er brach ab. Zu viel wollte er Hannes nicht verraten.
»Dann werden wir noch jemanden treffen?« Hannes` Erleichterung schlug in Entsetzen um. Seine Hoffnung hatte sie aufgelöst wie eine Seifenblase. Er hatte das moderne Schiff betreten und schaute sich um. »Ist er hier?« Er spürte wieder diesen unangenehmen Schwindel, der ihm kalten Schweiß auf die Stirne trieb. War das Angstschweiß? Auch seine Hände waren auf einmal klatschnass. Nein, das war kein Angstschweiß, solche Anfälle hatte er auch, wenn er gelangweilt in seinem Laden stand. Es musste irgendeine Krankheit sein. Gleich morgen würde er zu Doktor Alfred gehen und sich untersuchen lassen.
Was erwartete ihn? Würden sie versuchen, ihn umzustimmen, oder waren seine Stunden gezählt, wenn er auf seinem Entschluss beharrte? Fast schon war er bereit, seine Arbeit in der Familie weiterzuführen, wie Torsten es vorhin so treffend genannt hatte.
Torsten antwortete nicht. Er führte ihn zu einem weißen Tisch entlang der Reling, von wo aus man einen guten Blick aufs Meer hatte. »Trink ein Gläschen mit mir, das klärt dein etwas vernebeltes Gehirn. Sicher wirst du bald anders über deine Entscheidung denken. Wir sind eine gute Familie, wer zu uns gehört, dem wird es an nichts mangeln«, spöttelte er und bedeutete Hannes mit einer Handbewegung, dass er sich setzen sollte. »Ich hab ein gutes Tröpfchen gesehen. Bin gleich wieder da.« Eilig ging er davon, während Hannes sich zögernd auf die Holzbank setzte. Leises Brummen war zu hören, doch er dachte sich nichts dabei. Versuchte lediglich, das aufgeregte Flattern in seinem Magen zu beruhigen.
Torsten blieb länger weg, und als er mit einer Flasche Wein in der Hand auf ihn zu eilte spürte Hannes, dass sich das Schiff in Bewegung setzte. Das also war das Brummen gewesen. Die Angst in ihm wuchs, wurde zu einem Monster, das ihn zu verschlingen drohte.
»Nimm einen Schluck, dann wird dir gleich besser.« Der Apotheker füllte ein Glas mit tiefrotem Wein, der wundervoll duftete. Hannes liebte Wein, doch der billige aus dem Tetrapack, den er sich sonst gelegentlich am Feierabend gönnte, konnte diesem erlesenen Tropfen ganz bestimmt nicht das Wasser reichen. Er nahm einen Schluck. »Extravagant«, kommentierte er, in der Hoffnung, gebildet zu wirken. »Was willst du mir damit sagen?«
Torsten Kalwitz sah man an, dass er mehr als vierzig Jahre intensiv gelebt hatte. Er wäre auf den ersten Blick durchaus auch als Mittfünfziger durchgegangen. Er nahm erneut einen Schluck aus seinem Glas und ließ sich den samtweichen Roten auf der Zunge zergehen. Dann schluckte er ihn mit einem genüsslichen Augenaufschlag hinunter. »Noch ein Glas?«
Hannes ließ sich nicht bitten, sondern stellte ihm sein Glas vor die Nase. Wer weiß, wann ich wieder so etwas Leckeres bekomme, überlegte er und beschloss, aus dieser Begegnung für sich das Beste herauszuholen. Nach dieser Nacht würde der Luxus vorbei sein, wenn er bei seiner Entscheidung blieb.
Er ließ seinen Blick über die ungewohnt ruhige Meeresoberfläche schweifen, in der sich der dicke Vollmond spiegelte und mit jeder Wellenbewegung groteske Figuren auf das Wasser zauberte. »Ich liebe das Meer«, murmelte er vor sich hin. »Ich wollte niemals anderswo leben.«
»Das ist schön«, antwortete Torsten ohne großes Interesse. Er saß da und beobachtete sein Gegenüber wie die Schlange das Kaninchen, bereit, jeden Moment zum Angriff überzugehen. »Hast du es dir überlegt?«
»Was meinst du?«, fragte Hannes, um Zeit zum Nachdenken zu gewinnen.
»Lass diese Spielchen. Wir haben in dich große Erwartungen gesetzt und viel Geld in deinen maroden Kutter investiert. Du hast die besten Möglichkeiten, die … mhm … Ware einzuholen, ohne entdeckt zu werden. Wir haben dich lange beobachtet, ehe wir dir diesen Job gegeben haben. Du verdienst nicht schlecht, vergiss das nicht.«
»Ich kann es nicht mehr«, jammerte Hannes plötzlich, weil ihm schon wieder schwindelig wurde und er mit Atemnot kämpfen musste. »Ich bin … ich habe … ich kann nicht …« Er brach ab. »Mein Körper macht nicht mehr mit. Ich bin … krank.« Hannes sagte es als Ausrede, doch wie nahe er damit der Wirklichkeit kam, ahnte er nicht.
Torsten sah, wie sehr er um eine Antwort kämpfte, aber er entdeckte auch die vielen Schweißperlen an seiner Stirne, die im Mondlicht wie kleine Edelsteine funkelten. Es ging ihm wirklich nicht gut, das konnte man auf den ersten Blick erkennen. Für einen Moment lang stieg Mitleid in ihm auf, das jedoch im nächsten Moment wieder verschwunden war. »Ich könnte dir ein leichtes Beruhigungsmittel geben, wenigstens für die Zeit, in der du unterwegs bist«, schlug er vor.
»Und was ist die Zeit dazwischen? Nachts kann ich nicht mehr schlafen, und am Tag bin ich so unkonzentriert, dass ich ständig irgendetwas falsch mache. Torsten, ich schaff das nicht mehr.« Sein Atem ging schwer, die Hand, mit der er sich über die nasse Stirne wischte, zitterte so sehr, dass er später kaum das Glas halten konnte, ohne etwas zu verschütten.
»Ich weiß gar nicht, warum du dich so aufregst.« Ohne zu fragen füllte Torsten sein Glas noch einmal. »Du gehst keinerlei Gefahr ein, zumindest nicht mehr, als wenn du mit deinem Kutter aufs Meer fährst, um Krabben zu fangen.«
»Ich geh schon lang nicht mehr mit dem Kutter raus«, knurrte Hannes und starrte in sein Glas. »Der war so kaputt, dass es sich fast nicht mehr lohnte, ihn zu reparieren. Ich hab Manfred nicht verstanden, weshalb er ihn auf seine Kosten flott machen ließ. Meine Mutter will nicht mehr auf dem Markt stehen und Krabben verkaufen. Es rentiert sich nicht, sagt sie. Für uns brauche ich den Kutter nicht mehr.«
»Was redest du für einen Schwachsinn?«, fragte Torsten ungeduldig. »Du verstehst offenbar nichts. Wir sind eine Familie, deine Familie, und jeder weiß von jedem alles. Manfred hat deinen Kutter reparieren lassen, damit du für uns arbeitest, und wir alle haben dafür bezahlt. Halte mich nicht für blöd, das könnte teuer werden.« Das immer so dienstbeflissene freundliche Gesicht des Apothekers hatte sich erschreckend verändert. Er sah aus, als wollte er sich mit ausgefahrenen Krallen auf sein Gegenüber stürzen und ihm die Augen auskratzen.
»Ich … ja, ich …« Hannes hatte Mühe, nicht vom Stuhl zu fallen. Der Boden unter ihm war weich wie Watte, und er hatte auf einmal das Gefühl, als könnte er fliegen. Er atmete so heftig, dass er nicht mehr sprechen konnte.
»Ich hoffe, wir haben uns jetzt verstanden«, knurrte Torsten ärgerlich und warf einen heimlichen Blick auf seine protzige Armbanduhr. Er war stolz auf diese Uhr, denn er hatte sie von seinem eigenen Verdienst gekauft, nicht von dem gemeinsamen Geld, das Elke und er sich als Gehalt jeden Monat auszahlten.
Eigentlich hatte Torsten heute Abend etwas anderes vorgehabt. Elke war für drei Tage zu einem Klassentreffen in Hamburg, also hätte er sturmfreie Bude gehabt, oder besser, unbeaufsichtigten Ausgang. Solch eine Gelegenheit gab es nicht so oft, deshalb hatte er sich mit Greta treffen wollen. Sie war seit einiger Zeit seine heimliche Geliebte. Er liebte sie nicht, und als er in ihr Leben getreten war, hatte er eigentlich eine ganz andere Mission zu erfüllen. Doch als sie sich ihm freiwillig anbot, nahm er natürlich, was möglich war. Hannes hatte ihm mit seiner Ankündigung den schönen, mit Sicherheit leidenschaftlichen Abend mit seiner Freundin versaut. So etwas steckte der Apotheker nicht so einfach weg. Er ärgerte sich, und das sollte Hannes auch spüren.
»Du solltest noch einmal über deine Entscheidung nachdenken, Hannes. Es wird nicht dein Schaden sein«, begann Torsten jetzt erneut und versuchte, friedlich zu sein, obwohl er ihm lieber an die Gurgel gegangen wäre. Er füllte das Glas seines Gegenübers zum dritten Mal. Er wollte das Gespräch so schnell wie möglich hinter sich bringen, und zwar mit Erfolg.
»Ich kann das nicht mehr«, jammerte Hannes wieder und kippte das Glas in einem Zug hinunter in der Hoffnung, sich danach etwas besser, etwas stärker und mutiger zu fühlen. »Aber wenn es so wichtig ist, was ich tue, dann will ich noch einmal drüber nachdenken.« Als er in Torstens Gesicht schaute, erkannte er, dass ihm jetzt aller Mut, den er nicht hatte, auch nicht mehr helfen würde. Er musste zurückrudern und sich für die nächste Zeit bereiterklären, weiterhin als Kurier zu arbeiten.
»Nun, wie hast du dich entschieden? Bist du sicher, dass du dein Angebot ernst gemeint hast?«
»Was passiert, wenn ich es nicht tue?« Hannes wunderte sich über sich selbst. »Lasst mich einfach in Ruhe. Ich will diese ganze Geschichte vergessen.« Es war sein letzter Rettungsversuch.
»Keine Selbstanzeige bei der Polizei?«
Hannes schüttelte den Kopf. »Keine Selbstanzeige«, antwortete er mit zitternder Stimme. »Ich hab es kapiert. Ich bin doch nicht lebensmüde. Damit würde ich euch in Schwierigkeiten bringen und ihr würdet mich dafür aus dem Verkehr ziehen.«
»Kluger Junge«, lobte der Apotheker. »Und jetzt denkst du noch einmal so schön nach wie eben, und in fünf Minuten wirst du mir gestehen, dass es eine saublöde Idee von dir war, dich von uns zu trennen. Am Dienstag erwarten wir einen großen Posten wichtiger Medikamente, auf die bereits viele sehr kranke Menschen warten.«
»Schon wieder? Zwei Wochen sind doch noch nicht um«, jammerte Hannes und leckte sich über die Lippen. »Bald kann ich nichts anderes mehr tun, als eure Lieferungen einzusammeln.«
»Du tust es nicht nur für uns, für dich, sondern für die vielen Verzweifelten, denen du damit wieder Hoffnung gibst.« Er gab Hannes absichtlich einen kleinen Brosamen an Information, damit er ihm beweisen konnte, wie sehr er ihm vertraute. »Du siehst, es ist eine gute Tat, was du tust. Willst du diesen Kranken deine Hilfe versagen? Bringst du übers Herz, dass einige von ihnen mit Sicherheit sterben werden, wenn du uns nicht hilfst? Keiner von uns kann das Paket aus dem Wasser holen. Und stoppen können wir die Lieferung auch nicht mehr. Sie ist bereits unterwegs. Wenn du sie nicht holst, wird sie jemand anderes finden, oder sie wird mit der Zeit im Wasser verrotten oder von den Fischen gefressen werden.«
»Ihr habt wieder bestellt, obwohl ihr nicht wusstet, wie ich mich entscheiden würde. Ich weiß es ja selbst noch nicht.« Er wollte wieder nach seinem Weinglas greifen, doch er fasste ins Leere. Seine Hand zitterte so stark, dass er den Wein ohnehin verschüttet hätte. Der Schweiß rann in Bächen von seiner Stirne, auch im Nacken hatten sich Rinnsale gebildet, die ihn bereits am Rücken juckten, und er atmete so heftig ein, dass ihm kaum Zeit zum Ausatmen blieb. »Torsten, ich … was ist mit mir los? Hast du mir etwas in den Wein geschüttet?« Die Angst schnürte ihm die Kehle zu. Torstens Gesicht kam ihm ganz nahe und dann verschwand es wieder. Er wusste, dass dies nicht der Fall war, dass ihm seine Augen oder sein Gehirn einen Streich spielten. Aber das machte es nicht besser.
Der Apotheker war ehrlich verwirrt. Etwas lief hier gehörig schief, und darauf hatten weder Hannes noch er selbst Einfluss. »Bist du des Wahnsinns, Hannes? Warum sollte ich dich vergiften wollen? Wir brauchen dich, sehr sogar. Ohne dich sind wir am Ende, zumindest für einige Zeit. Aber du siehst wirklich nicht gut aus. Wir sollten dich ins Krankenhaus bringen.« Seine Stimme klang nicht so, als hätte er das wirklich vor, doch etwas Besseres wollte ihm auch nicht einfallen.
»Ins Krankenhaus, ja, das ist eine gute Idee. Ich kann nicht mehr denken. Ich will nach Hause.« In Panik schaute er sich um, aber rundherum war nur Wasser. Er spürte, wie ihm immer wieder die Sinne schwanden. Er konnte kaum mehr die Augen offen halten.
»Ich denke, es wird Zeit, dass ich dir den zweiten Mann, die zweite Frau, vorstelle. Vielleicht geht es dir dann schlagartig besser. Das ist der Kopf unserer Vereinigung. Du wirst dich freuen, wenn du siehst, wer es ist. Du kennst ihn – oder besser sie.«
Hannes hing wie betäubt auf dem Stuhl und hatte das Gefühl, als würde er gleich zu Boden stürzen. Er konnte kaum mehr die Augen offen halten. Torstens Stimme kam wie aus weiter Ferne, und seine Worte erreichten ihn nicht einmal. Worauf hatte er sich da nur eingelassen? Er bereute seine Entscheidung bitter. Wenn Torsten ihn vergiftet hatte, dann hatte er sicher auch das Gegenmittel. »Ich … will noch nicht sterben«, krächzte er.
»Schlaf nicht ein, Hannes«, kam da Torstens Stimme. Sie hörte sich an, als würde sie aus den Tiefen des Meeres an sein Ohr dringen, fast wie ein Echo aus einer anderen Welt. »Hannes, was ist mit dir? Ich hab dir nichts in den Wein getan, das schwöre ich bei meinem Berufsstand als Apotheker. Mach jetzt nicht schlapp. Das wird schon wieder. Halte durch, wir fahren gleich zurück, dann wird dir geholfen.«
Hannes riss die Augen auf, doch sie wollten ihm gleich wieder zufallen. »Was hast du mir in den Wein gemischt?«, wiederholte er seine Frage, doch seine Stimme war nur noch ein Flüstern.
»Du bist einfach nur fertig, Junge. Die Aufregung war ganz einfach zu viel für dich. Eine lange Nacht zum Ausschlafen bringt dich wieder auf die Beine. Wir fahren zurück und ich bring dich heim. Dann reden wir morgen wieder.«
»Danke«, stöhnte Hannes. »Ich … ich bleibe bei euch«, keuchte er mit letzter Kraft. »Ich mach weiterhin mit, will wieder dazu gehören.« Er röchelte nur noch, seine Worte waren kaum zu verstehen.
