Das Schwert von Avalon - Marion Zimmer Bradley - E-Book

Das Schwert von Avalon E-Book

Marion Zimmer Bradley

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Beschreibung

Der neue Avalon-Bestseller um das fantastische Nebelreich und das berühmteste Schwert der Welt

Immer wieder sieht die Hohepriesterin von Avalon ihn in ihren Träumen vor sich: Mikantor, den Prinzen und einzigen Retter des bedrohten Königreichs Azan. Er schmiedet das gewaltige Schwert Excalibur, das Jahrhunderte später auch einem noch mächtigeren Herrscher gute Dienste leisten wird — König Artus in dem Weltbestseller »Die Nebel von Avalon«.

Britannien 1200 v. Chr.: Azan wird von Galids Heer niedergebrannt, doch der Priesterin von Avalon gelingt es, den Sohn des Königs zu retten. Sie bringt den kleinen Mikantor in ein Dorf, wo er unter falschem Namen aufwächst und erzählt ihm von seiner Berufung, die Stämme zu einen. Als junger Mann kommt Mikantor seiner Aufgabe nach und begegnet dem Mörder seines Vaters erneut: in seiner Hand das machtvolle Schwert Excalibur und in seinem Herzen Tirilan, die schöne Tochter der Priesterin von Avalon, die sich ebenfalls den Göttern geweiht hat ...

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Seitenzahl: 807

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Inhaltsverzeichnis
Titel
Widmung
PROLOG
EINS
ZWEI
Copyright
Für Steve, wie ich Schmied von Worten
Die Insel der Macht
PROLOG
Morgaine erzählt …
Man sagt, dass die Alten nur wenig schlafen, als benötigten sie angesichts des baldigen letzten Schlafs des Körpers keine Ruhe. Ob nun das Alter oder das Gewicht der Erinnerungen mich wachhält, ich schlafe nicht die ganze Nacht durch, und ich stehe früh auf. An diesem Morgen habe ich mein Bett verlassen, ohne meine Jungfrauen zu wecken, um in der dunstigen Stunde zwischen Dunkelheit und Dämmerung am See spazieren zu gehen, jener Stunde, in der die Vögel ihr Versprechen in die Luft schmettern, dass das Licht zurückkehren wird. Als die Morgensonne durch die Wolken schimmerte, durchdrang ein Lichtstrahl das Wasser, und für einen kurzen Moment sah ich die leuchtende Klinge des Schwerts.
Um mich herum flossen die Zeiten ineinander, und noch einmal stand ich in der Heiligen Barke von Avalon, und Arthur lag sterbend in meinen Armen. Lancelot warf Excalibur in den See und sah, wie die Herrin vom See es entgegennahm. Mir stockte der Atem, während ich wartete, ob ihre Hand noch einmal auftauchen und das Schwert aus der Tiefe zurückgeben würde, um einen neuen König zur Rettung Britanniens zu küren.
Vision folgte auf Vision, doch was ich sah, war Feuer - das Metall, das zuerst in den himmlischen Feuern geschmiedet und als Sinnbild der Macht von dem Volk umjubelt wurde, das schon auf dem Kreideland lebte, lange bevor ein Druide oder ein Eingeweihter von den Versunkenen Inseln diese Ufer erreichte. Ich sah das Feuer des Schmiedeofens, in dem ein Meisterschmied, der vor dem Schicksal seines Volks geflohen war, es zu einem Schwert verarbeitet hatte, das in die Hand eines Königs gehörte. Verborgen und erneuert, zerbrochen und neu geschmiedet, war es in den Zeiten der größten Not zurückgekehrt, um Britannien den Sieg zu bringen.
Ich starrte vor mich hin und sah mit klarem Blick die Oberfläche des Sees, die wieder grau und ruhig war. Dann kamen die Tränen, und selbst dieses Bild verschwamm. Das dunkle Volk der Berge, welches das Schwert bewacht hatte, gibt es nicht mehr. Wasser, nicht Feuer verbirgt das Schwert, das Arthurs Hand geführt hatte, und es gab keinen König der alten Linie, um es wieder herbeizurufen. Das Glänzen, das ich gesehen hatte, kam von einem springenden Fisch, mehr nicht.
Und doch merkte ich, als ich weiterging, dass die Tränen in meinen Augen keine Tränen der Verzweiflung waren. Als Excalibur im See versank, wusste ich, dass damit ein Zeitalter zu Ende ging, dass all das verloren war, was ich geliebt hatte. Und dennoch besteht Avalon hinter seinem Schleier aus Dunst weiter. Der Sternenstahl war nur ein Metall, bis das Können eines Schmieds und die Leidenschaft einer Priesterin ihm eine Seele gaben. Was sie in jenen Tagen vollbrachten, als die Welt, die sie kannten, verloren schien, wird vielleicht noch einmal vollbracht werden können, wenn die Herrin der Schmiedekunst ihren Hammer erneut schwingt.
Das Schwert ist verschwunden, aber die Hoffnung stirbt nicht.
EINS
Feuer. Der beißende Gestank brennender Strohdächer steigt ihr in die Nase, dann bringt der Rauch sie zum Husten. Panik schießt in ihre Glieder, als rotes Licht durch die Diele flackert. Sie reißt das weinende Kind an sich. Die Tierhaut vor der Tür ist weggerissen. Dahinter sieht sie flüchtig Gestalten und glänzende Schwerter.
Eine Frau schreit so schrill, dass es das Aufeinanderprallen der Bronzewaffen und das Kampfgeschrei übertönt. Der Schrei ist ihr eigener, und doch scheint der Teil ihres Bewusstseins, der das weiß, von dem heißen Atem der Flammen weit entfernt. Das Kind hustet und schlägt um sich, es hat kräftige Gliedmaßen, einen starken Geist, der ums Überleben kämpft. Ein Dachbalken stürzt über dem Eingang herunter, und sie wimmert, gequält von einer Angst, die über die Schmerzen des Körpers hinausgeht. Sie blickt in die Flammen, sucht nach einem Fluchtweg, und die Gesichter der Feinde starren sie an. Sie weicht zurück und sinkt zu Boden, Rauch nimmt ihr den Atem, als ein Schrei die Seele von den Gefühlen trennt - »Jetzt stirbt der Sohn der Hundert Könige!«
Ihre Aufmerksamkeit richtet sich nach draußen - sie sieht die Strohdächer der königlichen Festung einstürzen, als das Feuer sich ausbreitet; die Stierhörner, die über dem großen Tor angebracht sind, fallen zu Boden. Die Körper der Soldaten, nackt aus dem Schlaf hochgefahren, liegen kreuz und quer auf dem blutgetränkten Boden, während die Feinde die Bronzekessel einsammeln, die feinen Webereien, die Kelche und den Zierrat aus Gold.
Die Zeit vergeht schnell, und die verkohlten Balken von Azan-Ylir werden zu verrußten Klumpen, die bald von Grün bedeckt sein werden. Doch die Flammen breiten sich aus, und die Ai-Giru, die Ai-Ilf, die Ai-Utu und die Ai-Akhsi und die Ai-Ushen, ja, sogar die Ai-Siwanet weit im Norden werden der Reihe nach verschlungen. Die Stämme der Insel der Macht gehen einander an die Kehle wie verhungernde Hunde, Generation um Generation. Und wenn die Schiffe mit den bemalten Segeln sich den weißen Felsen der Insel nähern, kann niemand den blonden Soldaten entgegentreten, die auf den Sand springen, während ihnen ihre gestreiften und karierten Kleider um die Knie flattern. Sie ziehen randalierend durch das Land, brennen nieder, was die früheren Kriege übrig gelassen haben, und die Lieder, die Künste, die Weisheit der Sieben Stämme gehen unter, als hätte es sie nie gegeben.
»Göttin, was kann uns retten?«, ruft ihr Geist.
Und als Antwort hört sie einen Schrei: »Aus den Sternen wird das Schwert des Königs kommen!«
»Herrin, seid Ihr krank? Was ist mit Euch?«
Zitternd öffnete Anderle die Augen. Kiri beugte sich über sie, das alte Gesicht vor Sorge zerfurcht. Rauch hing in der Luft, doch es war der scharfe Geruch nach brennender Kohle, nicht nach Stroh … nicht nach verbrennendem Fleisch. Sie hielt den Atem an, betrachtete die rußgeschwärzte Decke der Schmiede auf der Insel der Jungfrauen, die Bäume und das Sonnenlicht auf der grünen Spitze des Heiligen Bergs.
Endlich hatte der Sommer im Sumpfland Einzug gehalten. Die Wolken hatten sich verzogen, und alles Lebende machte das Beste aus Manoahs Licht. Eine frohlockende Flut aus Grün verstopfte die Wasserläufe und hing über den Teichen, Insekten summten in der feuchten Luft.
»Setzt Euch hin, meine Herrin«, schimpfte Kiri und half ihr, sich auf der Bank neben der offenen Seite der Hütte niederzulassen, wo vom Meer her eine leichte Brise wehte. »Ihr seid ohnmächtig geworden durch die Hitze des Tages und der Schmiede.« Kiri sah den Schmied vorwurfsvoll an.
»Macht mir keine Vorwürfe«, gab er zurück und blickte finster drein. »Sie weiß, dass sie sich nicht über das Feuer beugen sollte.« Der Priesterschmied trug nur einen Lendenschurz unter der schweren Schürze. Anderle wünschte, sie könnte es ihm gleichtun, doch die blauen Gewänder der Hohepriesterin waren ein Symbol ihrer Würde, und die alte Kiri, die ihr seit Kindertagen diente, würde ihr niemals gestatten, den Heiligen Berg ohne den feinen Leinenschleier zu verlassen.
»Ihr habt geschrien«, sagte die kleine Ellet und fächelte ihr Luft zu. »Ich dachte, Ihr hättet euch verbrannt.«
»Ich bin in Ordnung. Ich habe … Bilder gesehen … in den Flammen.«
»War es eine Vision, Herrin?« Ellets blaue Augen wurden ganz rund. Ihr braunes Haar war fein und neigte dazu, sich aus dem Zopf zu lösen und sich wie die Federn eines jungen Vogels um ihr Gesicht zu bauschen.
»Bei der Göttin, ich hoffe nicht!«, rief Anderle. »Azan-Ylir brannte - alle kamen um, sogar Irnanas Kind.«
Sie strich eine Strähne ihres dicken, dunklen Haars zurück und seufzte. Sie und Irnana stammten beide von dem alten Geschlecht ab, aus dem so viele Priester und Priesterinnen von Avalon hervorgegangen waren, doch ihre Kusine hatte dessen Größe und das rote Haar der Familie geerbt, während Anderle nach dem schlanken, dunklen Volk des Dorfs am See kam oder vielleicht auch, wie die Legende besagte, nach dem Volk jener Anderswelt, die nur einen Herzschlag von ihrer eigenen entfernt war.
Kiri presste die Lippen zusammen. Unter den Stämmen und Klans der Insel der Macht hatte es immer feindliche Überfälle gegeben, doch im vergangenen Jahr hatte sich die Lage verschlimmert. Die älteren Priesterinnen sprachen von einer Zeit, als das Wetter wärmer gewesen war; aber die Regenfälle nahmen Jahr für Jahr zu, und das Hochwasser dauerte länger und verwandelte jeden Flecken, der ein wenig höher lag, in eine Insel. Es wurde gemunkelt, dass es irgendwann gar keinen Sommer mehr geben werde. Und der Stier von Azan, der die Soldaten des Stamms befehligte, war alt; seine erwachsenen Söhne waren im Kampf gefallen, in dem auch der Sohn der Schwester, der sein Erbe hätte werden sollen, getötet worden war. Vor drei Jahren hatte er Irnana zur Frau genommen. Mikantor war ihr einziges Kind.
»Wir wissen nichts davon …«, sagte Eran und runzelte die Brauen.
»Auf den Feldern standen nur noch Stoppeln«, sagte Anderle langsam. »Es war später im Sommer, zu der Zeit, wenn die Heuernte bereits eingebracht ist …«
»Die Hitze ließ Euch fantasieren«, erklärte Kiri. Anderle seufzte. Sie war von Leuten umgeben, die sie kannten, seit sie ein Kleinkind gewesen und durch das Wort ihrer Großmutter und den Willen der Sterne zu ihrer Erbin bestimmt worden war. Sie hatte den Schmuck der Hohepriesterin zum ersten Mal angelegt, als ihre Brüste noch kaum sichtbar gewesen waren. Es war nicht anders zu erwarten, als dass die Leute sie wie eine Ikone und nicht wie eine Erwachsene mit einem eigenen Willen behandelten. Doch jetzt war sie achtzehn und erwartete ein Kind. Sie legte eine Hand auf ihren sich wölbenden Bauch. Vielleicht würden sie begreifen, dass sie eine erwachsene Frau war, wenn sie sie mit einem Säugling an der Brust sahen.
»Trinkt dieses Wasser, meine Liebe, und lasst die Angst von Euch weichen. Solchen Dingen nachzuhängen ist nicht gut für Euch und das Kind!«
Vielleicht war es nur Fantasie, dachte Anderle und trank aus der Schale aus Ulmenholz. Aber vielleicht war es auch eine Warnung. So beängstigend die Vision gewesen war, war es der Schrei, der ihr nachhing. Der Verlust eines jeden Kindes war eine Tragödie; der Tod des Kindes ihrer Kusine wäre ein persönlicher Verlust. Doch die Stimme hatte Mikantor als etwas Größeres betrauert, als den Erben des königlichen Geschlechts, das von den Versunkenen Ländern jenseits des Meeres zu der Insel der Macht gekommen war. Sie konnte Stammesfehden nicht verhindern, selbst wenn sie diejenigen bedrohten, die ihr lieb waren, doch dieses Erbe zu schützen war ganz sicher ein Teil ihrer Pflicht als Herrin von Avalon.
»Ruht Euch jetzt aus. Wir schicken nach einer Sänfte, um Euch zurück zum Heiligen Berg zu bringen.«
Anderle nickte und ließ den Schleier fallen, für dessen Schutz sie jetzt dankbar war. Besser, Kiri hielt sie für müde, als dass sie nachfragte, warum sie noch immer so finster dreinblickte.
Anderle zuckte zusammen, als die Landschaft aus ihrer Vision vor ihr auftauchte. Sie passierten den Durchlass in der steinernen Ummauerung, die am Rand der Hügel verlief. Die Stoppeln auf den Feldern von Azan leuchteten golden nach der Ernte. Zu ihrer Rechten lag parallel zur Straße eine Reihe von Grabhügeln. Zur Linken erhoben sich die kahlen Steine des Henge. Die Reisegruppe bewegte sich bergab, um das seichte Flussbett zu durchqueren, das der Aman in die Ebene geschnitten hatte; dahinter lag die Festung des Klans. Sie hatte vergessen, dass die Ernten in der Ebene schneller reiften als im Sumpfland um Avalon.
Durrin schloss zu ihr auf, die blonden Brauen besorgt hochgezogen.
»Es ist nichts. Das Kind hat nur getreten«, sagte sie schnell.
»Du hättest nicht so weit gehen dürfen«, sagte er tadelnd.
Wenn Priester und Priesterinnen bei dem Großen Ritual zusammenlagen, sollten sie sich eigentlich nicht erinnern, wer die Sterblichen waren, die die Kraft der Götter in sich trugen, doch jeder wusste, dass Durrin das Kind gezeugt hatte, das jetzt in ihrem Bauch wuchs, und er führte sich gern so auf, als wäre er nicht nur der Vater des Kindes, sondern auch ihr Ehemann.
»Hätte ich mich den ganzen Weg in einer Sänfte durchschütteln lassen sollen? Oder in einem von Uldans Streitwagen? Laufen ist angenehmer, das versichere ich dir.« Anderle unterdrückte den Drang, ihn anzufahren. Er hätte ihr verziehen - jeder wusste, dass schwangere Frauen reizbar waren. Doch sie war die Herrin von Avalon und sollte über eine solche Schwäche erhaben sein.
»Du solltest auf dem Heiligen Berg sein. In deinem Zustand hätte ich dich diese Reise gar nicht antreten lassen sollen«, antwortete er mit rotem Gesicht.
Mit dieser Meinung stand er nicht allein da, dachte sie seufzend. Als sie ihre Absicht kundgetan hatte, ihre Kusine in Azan zu besuchen, hatten alle, von der alten Kiri an abwärts, ihre Einwände vorgebracht. Kiri war zu alt, um so weit zu reisen, doch sie hatte ihr Ellet, die zwar ein wenig naiv, ihr aber zutiefst ergeben war, als ihre Stellvertreterin mitgegeben. Anderle war entschlossen, all die Besorgnis zu ertragen. Sie kannte Irnana, und sie kannte den alten König. Sie würden nicht auf einen Boten hören. Würden sie auf sie hören? Wenn nicht, konnte sie womöglich Uldans Schwester, die Königin, überzeugen. Der Krieg war Männersache, doch die Königin war die oberste Autorität.
»Nun, wir dürften bald da sein.« Durrin meisterte seinen Ärger und sah sie mit jenem Lächeln an, das ihr Herz immer wieder erfreute. Die Götter hatten ihn mit einer überdurchschnittlichen Schönheit gesegnet. Sie hoffte, dass ihr Kind nach ihm schlagen würde.
Sanft hörten sie in der Ferne den Klang eines Horns. Man hatte ihre Ankunft zur Kenntnis genommen, und bald würde die Familie ihrer Kusine sie mit einem kalten Getränk und einem weichen Lager willkommen heißen. Trotz der stolzen Worte, die sie an Durrin gerichtet hatte, schmerzte ihr Rücken inzwischen ständig. Der Pfad führte zu der königlichen Festung, einer von einem Graben umgebenen Anlage mit einem Wall und einer Palisade. Männer kamen die Pfade entlanggerannt, die von den Feldern zu den kleineren Toren führten. Die strohgedeckten Kuppen einiger Rundhäuser tauchten über der Einzäunung auf und schließlich auch der von einem Paar Auerochsenhörnern und einer Sonnenscheibe aus vergoldeter Bronze gekrönte Querbalken über dem Haupttor. Die zotteligen roten Rinder, die auf den Heimatwiesen weideten, hoben neugierig die Köpfe, als die Gesellschaft aus Avalon an ihnen vorbeizog. Die Soldaten des königlichen Haushalts hatten sich zu zwei Reihen formiert; sie waren große Männer in wollenen Kilts, die von breiten Ledergürteln zusammengehalten wurden, und trugen runde Schutzschilde aus bemaltem Leder und breitblättrige zeremonielle Speere. Aus dem Innern des Lagers hörte Anderle das tiefe Dröhnen einer Trommel.
Sie hob die Hand zum Segen, als sie an den Soldaten vorüberging.
»Achi! Achi!«, ertönte es von jeder Seite. Als die Männer die Speere zum Gruß erhoben, blitzte die untergehende Sonne auf den goldenen Armreifen und Speerspitzen aus geschliffener Bronze. Der Prunk erklärte fast schon, warum König Uldans Nachbarn ihn beneideten. Anderle unterdrückte ein besorgtes Zittern, als sie unter dem Schatten der Hörner das Tor passierten.
»Wie du siehst, wissen wir uns zu verteidigen.« Der König stellte seinen goldenen Becher mit Gerstenbier ab. Er war ein hochgewachsener Mann und noch immer stark, obwohl seine Muskeln langsam schlaffer wurden und graue Strähnen das braune Haar durchzogen. Er zeigte auf den Kreis aus stämmigen Säulen, die das Dach der Festhalle trugen; sie wurden von eingeschnitzten und gemalten Zickzackleisten und Spiralen geziert, die im Flackern des Feuers aufleuchteten und wieder verblassten. Stark mochten sie sein, doch die Wände, an der Außenseite weiß gewaschen und innen mit feinen Webereien behangen, bestanden nur aus verputzten Weidenruten. Ein Feind, der die Palisade durchbrach, würde die Halle mit Leichtigkeit einnehmen.
»Die Wölfe mögen vor meinen Toren heulen, aber keiner wird mich zu Fall bringen«, fuhr er fort, »ob er nun zwei oder vier Beine hat.«
Anderle seufzte. In der letzten Zeit waren die einen wie die anderen verwegener geworden. Ein Wolfsrudel streifte in den Bergen oberhalb der Ebene herum, doch die Herden des Amanhead-Stamms, dessen Land jenseits der Flussmündung im Norden lag, waren durch die Raubzüge der Ai-Ushen dezimiert worden. Der Hammel, der mit Kräutern und Gerste langsam für das Fest gegart worden war, lag ihr wie ein Stein im Magen. Das lief nicht gut.
»Das sieht das Auge«, sagte sie geduldig. »Doch ich bin geschult worden, mit dem Geist zu schauen, und in einer Vision habe ich diese Dächer brennen sehen …« Der Anblick des Herdfeuers brachte alles wieder zurück.
Irnana rümpfte die Nase. »Solche Reden von Visionen mögen das gemeine Volk beeindrucken, Kusine, aber auch ich bin in Avalon aufgewachsen. Haben unsere Lehrer uns nicht gesagt, dass genaue Zeitbestimmungen in einer Prophezeiung immer am schwierigsten sind?« Sie tätschelte Anderles Arm. »Ich erinnere mich, wie ich mir Sorgen gemacht habe, als ich mit Mikantor schwanger war. Du hast selbst gesagt, dass es ein warmer Tag war. Ist es nicht viel wahrscheinlicher, dass es eine aus deinen eigenen Ängsten geborene Fantasie war?«
Anderle hielt eine scharfe Erwiderung zurück. Irnana mochte mit dem mächtigsten König auf der Insel der Macht verheiratet sein, doch sie musste sich den Wünschen von Uldans Schwester Zamara beugen, die hier Königin war. Die Priesterin nahm an, dass ihre Kusine es nie verwunden hatte, dass Anderle und nicht sie erwählt worden war, Avalon zu regieren.
»Natürlich hätten meine eigenen Ängste mir eine Gefahr für mein Kind gezeigt«, sie legte eine Hand schützend auf die harte Wölbung ihres Bauches, in dem sich das wachsende Kind streckte und drehte. »Das Kind aber, das ich zu retten versuchte, war deins.«
»Anderle«, sagte der König, »wir schätzen Eure Fürsorge. Doch die Verantwortung und das Recht, meinen Sohn zu beschützen, liegen bei mir und nicht bei der Herrin von Avalon!« Er leerte seinen Becher und hielt ihn dem Mädchen zum Nachschenken hin, das den Bierkübel in der Halle herumtrug.
Anderle legte die Hand auf ihren Becher. Sie hatte genug getrunken und konnte gut darauf verzichten, einen Kater zu den anderen Übeln ihrer Schwangerschaft hinzuzufügen. Sie verlagerte ihr Gewicht auf der mit Kissen belegten Bank, hatte jedoch den Verdacht, dass es für sie vor der Geburt des Kindes keine bequeme Position geben würde.
»Und wer sollte uns deiner Meinung nach angreifen?«, fragte Irnana. »Die Ai-Ushen machen an unserer Nordgrenze Ärger, doch sie werden von Eltan angeführt. Er ist noch ein Junge, dem das Ansehen fehlt, einen richtigen Feldzug zu unternehmen. Und die Ai-Utu im Südwesten waren immer unsere Freunde.«
»Nicht alle Feinde befinden sich außerhalb der eigenen Grenzen«, sagte Anderle neutral. »Sind die Stammeshäuptlinge mit Eurer Herrschaft zufrieden?«
Uldans Gesicht verfinsterte sich. »Priesterin, Ihr geht zu weit! Meint Ihr, ich kenne meine Männer nicht, die Soldaten, mit denen zusammen ich gekämpft habe und die mir den Rücken gedeckt haben, wenn ich unseren Feinden gegenüberstand?«
Er zeigte auf die Bänke, die um das Feuer herum aufgestellt waren. Anderle erkannte die Stammeshäuptlinge von Amanhead und Oakhill, Carn Ava und Belsaira und den anderen Stämmen und wunderte sich. Sie wusste, dass Galid von Oakhill zum Beispiel vor Kurzem seine Familie durch eine Krankheit verloren hatte, die regelmäßig das Land heimsuchte, und dass Hochwasser die Felder von Amanhead überschwemmt hatte. Glaubten ihre Häuptlinge noch immer an das Glück des alten Stiers?
Sie sehen, dass du älter wirst und dass deine Schwester keinen Sohn hat … Anderle senkte die Augen. Sie fühlte, wie sich Durrin hinter ihr anspannte, und legte ihm eine Hand auf den Arm. Niemand ist so taub wie der Mann, der sich weigert zu hören.
»Zwanzig Winter und länger sind sie mir gern gefolgt«, fuhr Uldan fort. »Die Ebene ist das Herz unseres Landes. Wie könnte sie von Amanhead oder Carn Ava oder Oakhill aus regiert werden?«
»Wir bewachen den Henge und die Ahnengräber«, sagte Irnana stolz. »Das ist das heilige Zentrum von Azan.«
»Interessiert das noch jemanden?«, fragte Anderle bitter. »Du und ich, wir stammen von dem Volk der Weisheit ab, das den Henge erbaut hat, und wir sind mit den Geschichten groß geworden, die von seiner Kraft künden - doch was bedeutet das den Stammesmüttern der Ai-Zir? Wer schert sich um Grabhügel, wenn unsere Leute die Asche ihrer Toten in Urnen im Boden vergraben? Wäre das anders, könnte Carn Ava Euch angreifen - ihr Steinkreis ist ebenso heilig wie der Henge. Doch von dort droht Euch meiner Meinung nach keine Gefahr. Ich hoffe nur, dass Ihr die anderen vier Stämme genauso gut kennt, wie Ihr denkt, es zu tun.«
»Frieden.« Durrins sanfte Stimme nahm seiner Rüge den Stachel. Er lächelte Irnana zu, und die Frau lehnte sich seufzend zurück.
Durrin hatte diese Wirkung auf die meisten Frauen, dachte Anderle und versuchte, ihre Bitterkeit zu unterdrücken. Als sie in dem Ritual zusammengekommen waren, hatte sie die Kraft der Göttin ebenso in sich getragen wie er die Kraft des Gottes, und jetzt war sie mit seinem Kind schwanger. Doch hätte er ihr auch nur einen Blick geschenkt, wäre sie nicht die Herrin von Avalon?
»Natürlich kennt Ihr Eure Leute am besten«, fuhr er fort, und die Spannung wich.
Vielleicht, dachte Anderle grimmig. Ich muss mit Zamara reden. Es verhieß nichts Gutes, dass die Königin nicht zu dem Willkommensfest erschienen war. Sie war älter als ihr Bruder und würde keine Söhne mehr gebären. Um die königliche Linie weiterzuführen, musste Uldan an der Macht bleiben, bis Mikantor alt genug war, die Soldaten für Zamaras Tochter zu befehligen. Die wechselnden Streitigkeiten und Bündnisse der Stämme im Auge zu behalten war Aufgabe der Königin. Wenn der Kummer um ihren Sohn sie nicht gänzlich übermannt hatte, würde Zamara wissen, wo Gefahr lauern könnte.
»Genug von diesem Gerede«, sagte Irnana in das Schweigen hinein. »Ich weigere mich entschieden, mich von solchen Gerüchten ängstigen zu lassen, wo klar ist, dass die Ebene von den Göttern gesegnet ist. Du musst morgen mit mir hinauskommen und dir ansehen, wie die Färsen in diesem Jahr gewachsen sind.«
Als wollte es zustimmen, trat das Kind in Anderles Bauch kräftig aus. Irnana bemerkte, wie Anderle zusammenzuckte, und lachte. »Hast du einen Soldaten in deinem Bauch, der sich mit meinem Mikantor messen will?«
Anderle schüttelte den Kopf. Die Priesterinnen hatten ihr versichert, dass das Kind ein Mädchen war, eine Tochter, die die Herrschaft über Avalon erben würde, doch was sollte das bringen, wenn die Stämme sich gegenseitig vernichteten? Wir sollten danach streben, unseren Kindern eine bessere Welt zu hinterlassen, dachte sie unglücklich, als ihre Kusine weitersprach.
»Du hast zu viel Zeit mit deinen Gebeten verbracht, Herrin von Avalon. Das Kind wird sich zweifelsohne freuen, wenn du dich etwas bewegst.«
Sie gab dem Mädchen, welches das Bier ausschenkte, ein Zeichen weiterzugehen, und Anderle tat es ihr gleich, doch Durrin und Uldan hielten die Becher hin und ließen sie sich erneut füllen. Vielleicht war das gut so. Wenn sie zusammen tranken, konnte Durrins einnehmendes Wesen möglicherweise erreichen, was Anderles Autorität nicht vermocht hatte.
»Möchtest du mit mir gehen, Kusine? Sollen die Männer sich ruhig betrinken - morgen früh werden sie es bereuen.« Irnana stand auf.
»Auf jeden Fall. Wenn du mich morgen durch die Ebene scheuchen willst, sollte ich mich jetzt besser ausruhen.« Anderle brachte ein Lächeln zustande.
Das Bett war zu weich. Im Haus der Herrin von Avalon schlief selbst die Hohepriesterin auf einem Strohlager auf dem Boden. In Azan war die für hohe Gäste vorgesehene Bettstatt von einer ganz anderen Qualität; eine weiche Matratze aus Gänsedaunen lag auf einer aus Stroh, die wiederum von einem Netz aus Seilen gehalten wurde, das in einen Rahmen gespannt war. Jedes Mal, wenn Anderle oder Ellet sich drehten, knarrte und schaukelte sie. Anderle hatte erwartet, schnell einzuschlafen. Die jüngere Priesterin war eingenickt, sobald sie sich zurückgezogen hatten, doch Anderle lag wach und lauschte dem Prusten und Pfeifen, das aus den anderen Teilen der Wohnstatt drang. Die Unterteilungen aus Weidenruten oder gewebter Wolle zwischen Pfosten und Wand taten wenig, um die Geräusche zu dämpfen.
Selbst die Techniken, die Teil der Ausbildung einer Priesterin waren, brachten ihr nicht mehr als nur ein paar Stunden Ruhe. Richtigen Schlaf fand sie keinen, und schließlich setzte sie sich mit einem Seufzer vorsichtig auf. Ellet bewegte sich und erkundigte sich murmelnd, was los sei.
»Schlaf, Kind«, flüsterte sie. »Ich verschaffe mir nur etwas Erleichterung. Es besteht kein Grund, dass du auch aufstehst.« Es war nur zu wahr, dass sie seit Monaten nicht mehr durchgeschlafen hatte, da das Kind auf ihre Blase drückte, doch ob der Grund für ihre gegenwärtige Unruhe nun eher Unbehagen oder Ängstlichkeit war, Anderle konnte nicht länger still liegen.
Sie schob die Vorhänge, die ihren Schlafplatz abgrenzten, zur Seite und stieg über Durrin, der schnarchend auf einem Strohlager davor ruhte. Der blasse Schein der Kohlen gab genug Licht, dass sie sich den Weg zwischen den Soldaten, die am Feuer lagen, hindurchbahnen und durch den Vorhang aus Tierhaut hinausschlüpfen konnte, der vor der Haupttür hing.
Es war die stille Stunde unmittelbar vor der Dämmerung, feucht und kühl. Bodennebel stieg zwischen den Gebäuden auf. Anderle atmete tief durch und trat hinter der Wand aus Weidenruten hinaus ins Freie. Sie hustete, als ein beißender Rauch ihre Lungen füllte. Vor Schreck stellten sich ihr sämtliche Härchen auf den Armen auf. Das war kein Nebel! Das war Rauch, erhellt von dem ersten zarten Schein eines Feuers. Das Strohdach eines der kleineren Rundhäuser brannte. Einen Moment lang war sie vor Verzweiflung wie gelähmt. Das war die Szene aus ihrer Vision. Doch in ihrer Vision war sie nicht hier gewesen.
Sie unterdrückte einen Schrei, als sie sich über den Hof zurückschleppte. Wozu war eine Warnung gut, wenn sie den Ausgang des Geschehens doch nicht ändern konnte? Schnell schlüpfte sie durch die Tür und bückte sich, um den ersten schlafenden Soldaten an der Schulter zu rütteln.
»Wach auf, Mann! Feinde sind in der Anlage. Aber leise, dann überrascht ihr sie vielleicht, bevor sie wissen, dass ihr gewarnt seid.«
Sie fühlte die nahezu lautlosen Bewegungen mehr, als dass sie sie sah, sobald die Nachricht die Runde machte. Männer sprangen auf die Beine, drängten sich, um ihre Schwerter von den Haken an den Pfosten und ihre Schilde von der Wand zu nehmen. Anderle klammerte sich an eine der Säulen. Im Innern des Gebäudes riskierte sie, vom Feuer eingeschlossen zu werden, aber war sie draußen sicherer? Kein Mann der Stämme würde der Herrin von Avalon absichtlich ein Leid zufügen, doch selbst wenn sie die blauen Gewänder ihres Standes getragen hätte statt eines Unterkleides und eines Schals, würde man sie in der Dunkelheit möglicherweise nicht erkennen. Sie versuchte sich davon zu überzeugen, dass sie hier am sichersten war.
Metall klirrte und jemand fluchte. Sie hörte Uldans Stimme, leise, aber bestimmt, und fühlte, wie sich ihr Herzschlag beruhigte. Der Mangel an Vorstellungskraft, der ihn ihre Warnung hatte in den Wind schlagen lassen, hielt ihn jetzt davon ab, in Panik zu verfallen. Stämmige Gestalten drängten sich an ihr vorbei und versammelten sich im Eingang. Dann ließ ein knapper Befehl sie vorwärtsstürmen. Ein Schrei erklang, Bronze prallte gegen Bronze.
»Ai-Zir! Fürchtet die Hörner des Stiers!«, ertönte ein Schrei aus voller Kehle.
»Fürchtet den Hauer! Ai-Ushen!«, ertönte ein schrilles Wolfsgeheul als Antwort.
Sie hätte damit rechnen müssen. Der Stamm im Norden stand unter dem steten Druck der Bergbewohner, denen es noch schlechter ging. Ohne Zweifel waren die Färsen, mit denen Irnana geprahlt hatte, bereits auf dem Weg zu den Weiden der Ai-Ushen. Fruchtbares Land war der größte Schatz, doch mit Gold und Bronze konnte man Nahrung von denen kaufen, die noch Felder hatten, auf denen Getreide wuchs.
Jemand stocherte in der Feuerstelle herum, und sie sah, wie Ellet sie entsetzt anstarrte. Durrin kämpfte sich auf die Beine und guckte verständnislos angesichts der Aufregung um ihn herum.
»Nehmt eure Umhänge! Irnana, bist du hier?«
Doch die Frau des Königs drängte sich bereits zu ihr hin. Ihr rotes Haar stand wild vom Kopf ab, als sie Anderles Arm umklammerte. Draußen war das Rufen lauter geworden und der Geruch nach Rauch stärker.
»Hilf mir, Mikantor zu holen!«
Einen kurzen Moment starrte die Priesterin sie an. Dann erinnerte sie sich, dass das Kind mit seiner Amme in einem der anderen Rundhäuser schlief. Anderles Mut sank in Anbetracht des Aufruhrs, den sie von draußen hörte. Ihr Geist und erst recht ihr Körper waren geschwächt von Kiris Fürsorge. Proteste nutzten nichts, sie war nicht in der Lage zu helfen - Uldans Männer kämpften, Ellet und Durrin sahen sie an und warteten auf ihre Anweisungen. Schwanger oder nicht, jegliche Kraft, über die sie verfügte, galt es zu nutzen. Wenn der Herrin von Avalon keine Schutzzauber mehr einfallen, verdient es unser Geschlecht unterzugehen, dachte sie.
»Wir gehen zusammen. Seid still und erinnert euch an eure Ausbildung!«, sagte sie laut. »Atmet tief durch, trübt die Luft um euch herum. Wenn wir panisch hinauslaufen, werden sie uns niedermetzeln!« Sie hoffte, dass Zamara vernünftig genug war, drinnen zu bleiben. Ihr Haus stand inmitten der Anlage, war durch das Muster auf seinen Pfosten gekennzeichnet. Selbst die Ai-Ushen-Wölfe würden es nicht wagen, eine Königin zu töten.
Wir müssen Schatten sein … Sie zog Kraft aus der Erde und hüllte sie darin ein, weitete ihre innere Achtsamkeit aus, um den Fluss der Energien draußen wahrzunehmen. Niemand war in ihrer Nähe. Sie drückte Irnanas Arm und zog sie durch die Tür.
Einer der Hauswächter war auf der Schwelle tot in sich zusammengesunken, weitere Tote lagen über den Boden verstreut, und bei dem Haupttor blitzte Bronze auf, als sich kämpfende Gestalten in und aus dem unruhigen Schein des Feuers bewegten. Eine Frau schrie auf, als ein Soldat sie niederzwang und ihr die Kleider vom Leib riss. Anderles Eingeweide verkrampften sich beim Weinen eines Kindes.
»Welches Haus?«, flüsterte sie, während sie vorwärtsdrängten, und Irnana zeigte auf ein kleineres Gebäude hinter der Wohnstatt der Königin.
In ihrem Rücken flammte Licht auf, als jemand das Strohdach von Uldans Festhalle mit einer Fackel in Brand steckte. Männer rannten hinein und wieder hinaus, packten Sachen und Geräte in die wollnen Vorhänge, mit denen die Wände verhängt gewesen waren. Hätte Irnana sie nicht um Hilfe gebeten, wäre sie in der Halle gewesen. Konnten weder Rang noch Zauberkraft sie vor den Männern retten, die vor Kampfeslust und Gier verrückt geworden waren?
Sie hatten das Haus fast erreicht, in dem Mikantor mit den anderen Kindern schlief. Anderle wich zurück, die Hände in einer Geste der Abwehr ausgestreckt, als eine schlanke Gestalt auf sie zustürmte, die sie bald als eins der Mädchen erkannte, die in der Festhalle bedient hatten.
»Meine Herrin, Ihr seid in Sicherheit …« Das Mädchen umklammerte Irnanas Arm.
»Sei still, du Närrin«, zischte Anderle. Aber es war bereits zu spät. Die Bewegung des Mädchens hatte die Aufmerksamkeit eines Soldaten auf sich gezogen, wie das Huschen einer Maus eine Eule. Als der Mann auf sie zusprang, versteifte sich Anderle, dann erkannte sie die stämmige Gestalt des Häuptlings von Oakhill, der mit in der Festhalle gesessen hatte.
»Galid!«, schrie Irnana. »Beschütze uns - ich muss zu meinem Sohn!«
Der Mann schüttelte den Kopf, seine Lippen kräuselten sich zu einem freudlosen Grinsen. »Soll Uldans Brut sterben, wie auch meine Söhne gestorben sind. Die Götter sind Uldan nicht länger hold.«
Einen Herzschlag lang starrte Irnana ihn nur an. »Warst du das? Bist du der Verräter, der die Wölfe hereingelassen hat?«
Galids Blick glühte, als er sie von oben bis unten musterte; der Schein des Feuers funkelte auf den Bändern, mit denen die vielen Zöpfe in seinem Haar zusammengebunden waren. »So ist es, und du bist ein blökendes Mutterschaf, wenn auch ein schönes. Wenn du dich benimmst, verschone ich dich, um mein Bett zu wärmen.«
Ihr Gesicht funkelte vor Wut - nein, Anderle sah es so deutlich, weil das Haus der Kinder brannte. Als Galid die Hand nach ihr ausstreckte, tauchte Irnana unter seinem Arm hindurch und schlüpfte hinein.
Während Galid sich wieder umdrehte, richtete Anderle sich vor ihm auf, Wut und Entsetzen pulsierten in ihren Adern. »Ihr wagt es, Euch der Macht von Avalon zu widersetzen!«
Seine Augen weiteten sich. Was sah er? Es war das erste Mal, dass Anderle den Zauber der Dunklen Mutter wirklich angewandt hatte. Sie hatte nicht gewusst, ob sie dazu in der Lage sein würde, vor allem jetzt. Not hatte die Kraft freigesetzt, begriff der Teil ihres Verstands, der nicht bibberte, Not, die durch die Disziplinen von Avalon kanalisiert worden war. Sie hatte diese Kraft vorher nie wirklich gebraucht.
»Gebt den Weg frei«, sagte sie mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete. »Wir sind nicht Eure Feinde …«
Ihr Herz machte einen Satz, als sie gewahrte, dass der grausame Triumph in seinem Gesicht der Furcht wich. Sie drehte sich um, um Irnana zu folgen.
»Anderle, es ist zu spät!« Durrin griff nach ihrem Arm. Hitze versengte ihr Gesicht, und sie sah, dass nicht nur das Dach, sondern auch die Wände brannten. Hatte der Rauch die Menschen in dem Haus bereits getötet? Ihr Geist nahm Fühlung auf, und sie hörte den jammernden Schrei eines Kindes.
Jetzt stirbt der Sohn der Hundert Könige!
»Nein!« Anderle ließ die Worte, die in ihrem Gedächtnis widerhallten, nicht gelten. Die qualmende Tierhaut, die vor der Tür hing, wurde zur Seite gerissen. Durch einen Rauchwirbel machte sie Irnana aus, die ihren Sohn an die Brust drückte.
»Rette ihn!«
Anderle befreite sich aus Durrins Griff und beugte sich in den Hitzeschwall, der aus der Schmiede eines Dämons zu kommen schien, taumelte, als Irnana ihr das Kind in den Arm drückte und zurückschwankte, in Feuer gewandet, mit Feuer gekrönt. Im nächsten Moment verzerrte sich ihr triumphierendes Lächeln. Anderle wirbelte herum und schloss die Augen. Das Bild von Ruhm verwandelte sich in einen Horror aus loderndem Haar und versengender Haut.
Ihr Schrei durchbrach Galids Trance. Als er das Kind in ihren Armen sah, grinste der Soldat und schwang das Schwert.
»Anderle!«, schrie Durrin und drängte an ihr vorbei, um Galids Arm zu packen. »Lauf!«
Ellet schob sie von den kämpfenden Männern fort. Anderle sah, wie Durrin zusammenbrach. Sein schmerzgeplagter Blick suchte ihren. Auch Galid drehte sich um. Durrin rief seinen Namen und warf sich in Galids Schwert.
»Lauf …« Die Bitte erreichte ihr Herz, nicht ihre Ohren. Weinend ließ sie sich von Ellet fortziehen.
ZWEI
Herrin, hier können wir nicht bleiben!« Ellet starrte das dunkle Hügelgrab an. »Das ist ein Ort der Geister!«
Ellet umklammerte Mikantor, der zu schreien begann. Trotz ihrer Worte nahm die jüngere Priesterin den Ort in Augenschein. Sie hatte das Kind den größten Teil des Wegs durch die Furt des Aman und während des Aufstiegs getragen, und selbst ihre jugendliche Energie war nun erschöpft.
»Die Ahnen werden uns keinen Schaden zufügen. Aber wenn wir uns jetzt verausgaben, werden wir ihnen bald Gesellschaft leisten.« Anderle bekam ihren Atem unter Kontrolle. Ich bin ebenfalls schwanger, dachte sie grimmig, auch wenn mein Kind weniger wiegt als Irnanas … Sie blickte zurück auf den Weg, den sie gekommen waren.
Das Bild unterhalb von ihnen war das Gegenteil dessen, das sich ihnen bei ihrer Ankunft geboten hatte. Der Gestank von brennendem Stroh hatte den Geruch des Heus überlagert. Die Tiere, die auf den Feldern gegrast hatten, waren fort, und aus den Rundhäusern, die hinter der Palisade so traulich gewirkt hatten, waren Flammengarben geworden, in deren Schein schwarze Gestalten herumtollten. Den Göttern war Dank, dass die Schreie nicht mehr bis zu ihnen drangen.
Auf dem Weg hinter ihnen war keine Bewegung auszumachen.
Waren die Ai-Ushen-Wölfe einfach zu beschäftigt, um nach Flüchtenden Ausschau zu halten? Die Bilder der letzten Minuten in der Festung zerrissen Anderle das Herz. Sie hatte gesehen, wie Galid Durrin niedergestreckt hatte. Er ist gestorben, um uns zu retten. Wenn wir in Sicherheit sind, werde ich um ihn trauern … Diese Litanei gab ihr die Kraft, weiter der Straße zu folgen.
Galid würde sie verfolgen. Durrins Opfer hatte ihnen Zeit erkauft, keine Sicherheit, und es war an Anderle, diese Zeit gut zu nutzen. Wenn seine Männer die Verfolgung aufnahmen, würden sie die Flüchtenden auf der Straße nach Avalon vermuten. Es war nur eine Frage der Zeit.
Ein Hund heulte, und Ellet begann erneut zu zittern. Offensichtlich erinnerte sie sich an die Geschichten über den Dämon Guayota, der einsame Plätze heimsuchte und von dem man sagte, dass er die Gestalt eines Hundes annahm.
»Du hast recht - ich denke, wir sollten die Straße verlassen.«
»Aber wohin sollen wir uns wenden?« Ellet starrte in die sich sanft ausbreitende Landschaft, die mit Hügelgräbern übersät war, erbaut von Männern, deren Namen nicht länger im Gedächtnis hafteten, deren Kraft ihr jedoch immer noch innewohnte.
»Gib mir Mikantor.« Die Priesterin nahm das wimmernde Kind aus den Armen des Mädchens. Der Junge war erst drei Monate alt, aber groß für sein Alter.
Nach einigen Minuten beruhigte sich Ellets Atem. Anderles Blick wanderte zum Henge, zu den aufragenden Blöcken aus Dunkelheit. Selbst von hier aus spürte sie die von ihm gebündelte Energie als feines Surren entlang ihrer Nervenbahnen. In Avalon hieß es, dass ein Priester von jenseits des Meeres ihn erbaut hatte, ein Ahne von ihr und dem Kind in ihren Armen. Sie war in den Disziplinen unterrichtet worden, mit denen sich seine Kraft wecken ließ, doch dies zu tun könnte für ihr ungeborenes Kind gefährlich sein. Ihre Lage war jedoch nicht so aussichtslos. Noch nicht. Immerhin stammte Mikantor sowohl von den Männern ab, die diese Grabhügel errichtet, als auch von denen, die Avalon gebaut hatten. Vielleicht waren sie bereit, ihm zu helfen.
»Ihr Ahnen!«, rief sie leise. »Großmütter und Großväter von Azan, erhört mich! Schaut euren Erben an!« Sie hob das weinende Kind hoch und drehte sich langsam um. Mikantor hörte auf zu wimmern und sperrte die Augen auf. Auch Ellets Augen weiteten sich in dem bleichen Gesicht, da sie ebenfalls die Veränderung in der Luft spürte. Etwas hörte ihnen zu. Anderle atmete tief durch und fuhr fort: »Die Feste des Stamms ist zerstört. Feinde verfolgen ihn. Nur ihr könnt uns jetzt helfen. Beschützt unseren Weg. Verwirrt unsere Verfolger.« Ihr Griff um die kräftigen Glieder des Jungen wurde fester. »Beim Blut von eurem Blute und bei den Knochen von euren Knochen beschwöre ich euch! Führt sie in die Irre und uns sicher nach Hause!«
Anderle taumelte und drückte das Kind an sich, als plötzlich ein Wind um sie herum zu flüstern begann. Sobald sie wieder etwas sehen konnte, war das Gras ruhig. Doch ihre konzentrierte Aufmerksamkeit nahm einen Glanz über dem Hügelgrab wahr. Das gleiche Licht leuchtete über den anderen Grabhügeln, die in der Ebene verstreut lagen. Es funkelte von den mächtigen Steinen des Henge.
»Siehst du das?« Sie drehte sich zu Ellet um, Verwunderung löste die Furcht ab. Sie berührte die Stirn des Mädchens und Ellet keuchte. Lange Zeit hatte in der Ebene reiches Ackerland gelegen. Ihre Toten waren zahlreich. Sie waren mächtig, und sie waren noch immer hier … Ein Königreich der Toten umgab sie, und ihr Frieden machte einem pochenden Ärger Platz, der Anderle an den Armen Gänsehaut bekommen ließ.
»Komm«, flüsterte sie und schlug einen Weg ein, der von der Straße fortführte. Sie sah jetzt viele solcher Pfade, die zwischen den rechteckigen Abgrenzungen der alten Felder entlangführten. Für den vordergründigen Blick waren sie unsichtbar, doch die Erde erinnerte sich an sie. Alle Zeiten waren hier gegenwärtig; das Land bewahrte die Erinnerung an jede Handlung für die, die Augen hatten zu sehen.
»Aber wie sollen wir unseren Weg finden?« Ellet klammerte sich an ihren Arm.
»Der Weg wird uns führen. Von einem Hügelgrab zum anderen - die Ahnen werden uns den Weg weisen.«
Mikantor war eingeschlafen, er lag warm und entspannt in ihren Armen. Sie lächelte schwach und gab ihn dem Mädchen zurück. So setzten sie ihren Weg fort, während die Sterne zum Morgen hin verblassten. Sie bewegten sich mühelos auf den alten Pfaden und kletterten über die neuen Steinwälle, die über die Wege gebaut worden waren. In der grauen Stunde vor der Dämmerung erwachte Mikantor erneut und schrie ärgerlich.
Anderle sah sich seufzend um. Das funkelnde Licht, das sie geführt hatte, verblasste mit dem Herannahen des Tages. Im Norden krönte ein letzter Schimmer ein großes Hügelgrab, dessen abfallende Seiten mit Büschen und Bäumen bewachsen waren. Das Kind wimmerte jetzt verzweifelt.
»Er hat Hunger …«, sagte Ellet.
»Am nächsten Fluss machen wir Rast«, antwortete die Priesterin. »Wir können ihm mit einer Ecke meines Schleiers Wasser in den Mund träufeln.« Und wirklich, das Kind saugte gierig, doch es dauerte nur wenige Minuten, bis es wieder zu schreien begann. Die Energie, die Anderle so weit hatte kommen lassen, versiegte ebenfalls. Als sie zum zweiten Mal stolperte und nur eine schnelle Drehung sie vor einem Sturz rettete, wusste sie, dass sie nicht nur etwas zu essen, sondern auch einen Rastplatz finden mussten, und das bald. Doch wohin konnten sie sich wenden?
Anderle zwang sich, tief einzuatmen und beim Ausatmen den Schmerz mit hinausströmen zu lassen. Sie war noch immer müde, doch für einen Moment konnte sie zumindest innerlich vollkommen im Gleichgewicht auf der Erde stehen und sich daran erinnern, dass sie mehr war als eine herumstolpernde Kreatur aus Fleisch und Blut.
Der Himmel begann zu leuchten. Die alten Lehren stärkten ihr den Rücken und ließen sie die Arme heben, um den kommenden Tag zu begrüßen.
»Oh du schöner Tagesstern am östlichen Horizont,lass aufgehen dein Licht über diesem Tag,du Stern des Ostens,erwache, erhebe dich!«
Ni-Terat, fügte sie im stillen Gebet zu der Göttin hinzu, Du, die du aus der Dunkelheit den Tag entstehen lässt, hab Erbarmen mit diesem kleinen Kind, und verbirg uns vor unseren Feinden!
Manoahs goldener Bogen loderte am Horizont auf. Geblendet schloss sie die Augen und - das Bild noch vor sich - drehte sich herum. Dann trat sie einen Schritt zurück, und als sie den Fuß hob, hörte sie, noch bevor sie ihn wieder auf den Boden aufsetzte, ein Geräusch, das nicht von dem Kind kam.
»Was war das?«, ertönte Ellets Stimme hinter ihr.
»Die Antwort der Herrin.« Anderle kämpfte darum, ihre Stimme unter Kontrolle zu bekommen. »Folge mir …« Gemeinsam arbeiteten sie sich durch das Gewirr aus Weißdorn, Hagebutten und Brombeeren, das am Fuß des alten Grabhügels wuchs.
Ellet schrie auf, als sich hinter einem Holunderbusch etwas bewegte, erst schwarz, dann weiß - waren dort zwei Gestalten? Vorsichtig hob Anderle einen Brombeerzweig an und sah sich dem elenden Blick einer Geiß gegenüber, deren Hörner sich in den Zweigen verfangen hatten. Sie unterdrückte ein Lachen. Schafen, diesen dummen Geschöpfen, passierten immer wieder solche Missgeschicke, aber trotzdem war es ungewöhnlich, auf eine Geiß zu stoßen, die in einer solchen Klemme saß.
»Hab keine Angst, Ziege!«, sagte sie sanft, als das Tier an den Zweigen riss und noch einmal blökte. »Hast du dein Zicklein verloren?«, fragte sie, als sie das geschwollene Euter sah, das bei jeder Bewegung des Tiers hin und her schwang. »Wir haben einen Säugling, der seine Mutter verloren hat, vielleicht können wir einander helfen …« Unter den Eschen, die oben auf dem Hügelgrab wuchsen, war eine kleine Lichtung.
Einen Herzschlag lang sahen die gelben geschlitzten Augen sie abschätzend an. Dann neigte die Ziege den Kopf. Jetzt, wo die Anspannung nachließ, schien sie eher in den Zweigen zu ruhen, als gegen sie anzukämpfen. Ihre vordere Hälfte war schwarz, die hintere weiß mit schwarzen Flecken. Kein Wunder, dass sie nur schwer zu sehen gewesen war.
»So … so …« Anderle bewegte sich auf sie zu, bis sie die zottige Flanke der Ziege streicheln konnte. Schwereres Deckhaar verbarg ein weicheres Wollhaarkleid. Die Zweige des Holunders waren mit Fellbüscheln geschmückt, wo die Ziege versucht hatte sich zu befreien, und alle Ästchen in der Nähe waren abgegrast. »Ganz ruhig, wir helfen dir.«
»Ellet«, sagte sie leise, »bring Mikantor, und halte ihn an die Zitzen.« Summend strich sie der Ziege mit einer Hand über die Flanke, während die andere zum Euter wanderte. Das Tier versteifte sich leicht bei der Berührung, versuchte jedoch nicht zu treten oder zurückzuzucken.
»Steh still, und ich verschaffe dir Erleichterung«, murmelte Anderle und segnete in Gedanken die Tradition, die es verlangte, dass die Priesterinnen die praktischen Fähigkeiten erlernten, die zum Erhalt der Gemeinschaft erforderlich waren. Sie führte die Zitze an die geschürzten Lippen des Kindes und drückte. Ein dünner Milchstrahl traf seinen Mund und lief an seiner Wange hinunter. Einen Moment lang riss Mikantor erstaunt die Augen auf, dann öffnete sich sein Mund. Der zweite Strahl lief hinein, bevor er sich entschieden hatte, ob er schreien sollte oder nicht. Er hustete, schluckte und öffnete erneut den Mund.
Als die Milch der Ziege langsam versiegte, schlossen sich Mikantors Augen, und er glitt zum ersten Mal seit ihrer Flucht in einen friedlichen Schlaf. Anderle setzte sich mit einem Seufzer zurück und streckte die Arme aus.
»Ich kann mich jetzt um ihn kümmern. Ich möchte, dass du deinen Gürtel als Haltestrick nimmst und mit der Ziege zurück zu dem Bächlein gehst, damit sie trinken kann. Sie muss halb verdurstet sein.«
»Und was ist mit Euch?«
»Ich habe etwas Wasser getrunken, als wir den Bach überquert haben. Du und ich, wir kommen bis zum Einsetzen der Nacht ohne Wasser aus und unsere Amme auch, wenn sie sich erst vollgetrunken hat. Halte die Ohren offen! Du kannst sie ein wenig grasen lassen, aber du musst zurück sein, bevor der Tag richtig anbricht.«
»Und wenn mich die Ai-Ushen-Wölfe aufspüren?«, fragte die jüngere Frau, während sie die Zweige entwirrte, in denen sich die Hörner der Ziege verfangen hatten.
»Nun ja, du bist eben ein Mädchen von einem der Höfe in der Nähe, das sich verlaufen und die Nacht draußen verbracht hat, um seine ausgerissene Ziege wiederzufinden. Sie suchen nach einer Frau mit einem Säugling, und ich versichere dir, dass dich niemand für eine Priesterin aus Avalon hält, wenn du das Haar offen trägst, sodass es den Halbmond auf deiner Stirn verdeckt!« Mit den braunen Haaren und den blauen Augen, den Kletten in ihrem Schal und dem zerrissenen und mit Matsch befleckten Saum ihres Schlafhemds war Ellet eine typische, wenn auch sehr schmutzige Tochter dieses Landes. »Versuch, dich dumm zu stellen und nicht nervös zu werden, dann werden sie dich bestimmt in Ruhe lassen, denke ich.«
»Ich werde mir vorstellen, dass Meister Belkacem uns nach der Abstammungslinie der Hohepriesterinnen fragt«, sagte das Mädchen trocken. »Namen lähmen meinen Geist für gewöhnlich.«
Anderle lehnte sich gegen den Stamm der Esche, als das Mädchen und die Ziege sich langsam den Grabhügel hinunter entfernten. Dieses Gefühl von Sicherheit war eine Illusion, aber wenigstens saß sie. Sie hatte nicht gewusst, wie sehr die Wanderung sie erschöpft hatte. Wahrscheinlich könnte sie sich nicht einmal dann erheben, wenn die gesamte Kriegsmeute der Ai-Ushen unter ihr aufmarschieren würde.
Sie verbrachten den Tag auf dem Hügelgrab, schliefen unruhig, während die Ziege, die sie Ara getauft hatten, weiter den Boden unter den Eschen abgraste. Sie erwies sich als großzügige Amme, ihre Milch reichte sowohl für Mikantor als auch für die beiden Priesterinnen. Durch die Milch, die Beeren von den Brombeersträuchern und die Kresse, die Ellet von dem Bach mitgebracht hatte, fühlten sie sich stark genug, bei Anbruch der Dunkelheit weiterzuziehen und die Ziege mitzuführen.
Der zweite Nachtmarsch verlief ohne Zwischenfälle, und sie fanden ein weiteres Hügelgrab, das ihnen Schutz bot, als der Tag heraufzog. Bislang hatten sie keine Verfolger gesehen, und am dritten Morgen begann Anderle zu glauben, dass sie ihren Feinden entkommen waren. Ihre Wanderung hatte sie von der schnellsten Route weg nach Norden geführt, doch selbst wenn ein Umweg nach Hause sie Zeit kostete, bot er ihnen Sicherheit.
Die alte Kiri bekäme sicher einen Schlaganfall, könnte sie mich jetzt sehen, dachte Anderle, während sie mit gerafften Röcken und zu einem Knoten aufgesteckten und um einen Dorn gewundenen Haaren weitermarschierte. Bevor diese Reise ihre Ausdauer auf die Probe gestellt hatte, war ihr nicht klar gewesen, dass sie selbst diese angezweifelt hatte. Doch dann sah sie Ellets eingefallene Wangen und wusste, dass ihre eigenen ebenso aussehen mussten. Eine Diät aus Beeren und Ziegenmilch reichte nicht aus bei einem derartigen Energieverbrauch.
»Wenn ich mich recht erinnere, liegt direkt hinter diesem Hügel die Siedlung, aus der Chrifa kam.«
»War sie nicht das große Mädchen, das so gute Geschichten erzählt hat? Sie hatte ihre Ausbildung gerade beendet, als ich kam, und verließ Avalon, um in Carn Ava zu dienen.«
»So ist es, und ich denke, ihre Leute werden gewiss einer Priesterin helfen, die von ihrer Eskorte getrennt worden ist.«
»Einer Priesterin?« Ellet sah sie wachsam an.
Anderle nickte. »Ich glaube, dass wir in Sicherheit sind, doch wir sollten keine unnötigen Risiken eingehen. Ich bleibe mit Mikantor und Ara in dem Wald bei dem alten Grab, während du zu ihnen gehst und sie im Namen Avalons um Brot und Käse bittest.«
»Und wenn sie mich zu überreden versuchen, dort zu bleiben?«
»Sie werden es nicht wagen, Einwände zu erheben, wenn du erklärst, dass du in den Wald gehen und ein Opfer darbringen musst.«
Das Hügelgrab war so alt, dass die Erde an einem Ende abgetragen war. Die nackten Steine, die das vorderste Grab einfassten, schimmerten im Morgenlicht rosa. Eine dunkle Öffnung dahinter ließ auf eine weitere Kammer tiefer im Grab schließen. Nach einem Gruß an diejenigen, deren Körper hier bestattet waren, befestigte Anderle den Haltestrick der Ziege an einem Haselnussstrauch, ließ sich neben einem anderen nieder und bettete Mikantor in ihre Armbeuge. Den Göttern war Dank, dass er noch nicht krabbeln konnte.
Eine Zeit lang genügte es ihr, sich an der soliden Unterlage aus Erde und Steinen zu erfreuen. Irgendwo über ihr grüßte ein Waldsänger die Sonne mit einem Ruf, der in einem Triller endete. Sie blickte durch das Dach aus Buchenblättern zum Himmel, bis sie den blassgrünen Schemen des Vogels sah. Hier herrschte Frieden, dachte sie schläfrig. Die Belastungen des Lebens in Avalon und die Gewalttätigkeit des Angriffs auf Azan schienen mit einem Mal weit entfernt. Welche Leidenschaften die hier Begrabenen auch umgetrieben hatten - sie waren seit Langem verblasst. Anderle versuchte, sich wach zu halten und auf Ellets Rückkehr zu warten, doch die warme Luft umarmte sie sanft.
Nicht die leichten Schritte eines Mädchens, sondern der feste Schritt eines Mannes in Sandalen weckte sie. Und vielleicht war ihr Schlaf doch nicht so tief gewesen, wie sie gedacht hatte, denn ohne erst nachzudenken, schob Anderle Mikantor durch die Spalte zwischen den Steinen und zwang ihren geschwollenen Leib hinterher.
»Ich habe gesehen, wie sich etwas bewegt hat«, hörte sie die Stimme eines Mannes, gedämpft durch Erde und Steine.
Anderle rollte sich im Schmutz zusammen. Das Herz hämmerte in ihrer Brust - es musste in dieser Kammer aus Stein wie eine Trommel widerhallen.
»Bei dem Grab?«, antwortete ein zweiter Mann. »Dieser Platz gehört den Toten, and während des Tages laufen sie nicht herum!«
War noch etwas von ihrer Kleidung zu sehen? Sie versuchte, über die Rundung ihrer Hüfte zu spähen.
»Warum bleibst du dann zurück, Izri?« Das war der Akzent des Nordens. »Der Häuptling sagt, dass wir jeden Hof, jedes Versteck kontrollieren sollen. Ich weiß nicht, ob Geister einem etwas antun können, aber ich weiß, dass Ramdane es kann!«
»In dieser Gegend gibt es zu viele Gräber …«, war die zweite Stimme wieder zu hören. »Die Toten helfen ihrer Zauberin, sonst hätten wir eine Spur gefunden.«
Ein wenig Erde fiel herunter, als jemand auf das Grab kletterte. Anderle bekämpfte eine Vision, in der sich durch die Belastung das Gleichgewicht, das den Steinen Halt gab, veränderte, große Steinmassen ins Rutschen kamen und sie und das Kind zerquetschten. Zumindest würden sie ein würdiges Begräbnis haben, dachte sie grimmig.
»Beim Gott der Jagd, es ist eine Ziege!«, rief die erste Stimme.
»Dann sei ihm Dank …«, antwortete der Nordländer. »Eine schöne Abwechslung zu der gekochten Gerste.«
Anderle versteifte sich; unbewusst drückte sie das Kind fester an sich. Mikantors Protest wurde von Aras plötzlichem Blöken übertönt.
»Lass sie in Ruhe!«, sagte einer der anderen Männer. »Das kann eine Opfergabe sein!«
Ihr Ahnen, versteckt uns, und ich bringe euch wahrlich ein Opfer dar!, betete die Priesterin. Füllt ihre Herzen mit Angst, auf dass sie fliehen! Plötzlich spürte sie, dass sie nicht alleine war. Die Soldaten spürten es auch.
»Wenn du willst, dass deine Eier verkümmern und deine Ernte verdirbt, mach weiter, aber ich sehe, dass ich hier wegkomme!« Die Geräusche zertretener Blätter und brechender Zweige sagten Anderle, dass der erste und dann auch der zweite Mann das Weite suchten.
»Gut, gut, aber ich halte euch für Feiglinge«, antwortete der Mann aus dem Norden. »Hättet ihr nur etwas Mumm, hätten wir nicht Azan angegriffen …« Sein Gemurmel verklang, als seine Schritte sich im Wald entfernten.
Eine lange Zeit lag Anderle zitternd da, doch dann beruhigte sich ihr Herzschlag, und ihre angespannten Muskeln lockerten sich. Der Verstand sagte ihr, dass die Soldaten zu ängstlich waren, um zurückzukommen, doch im Augenblick reichte das nicht, sich dazu zu bewegen, diesen irdenen Schoß zu verlassen. Nie zuvor war es ihr in den Sinn gekommen, die Ahnen zu beneiden. Hier aber beschützte sie ewiger Stein, alle Leidenschaften waren verbraucht, jegliche Gefahren vorüber.
Oder zumindest einige, dachte sie dann. Ein anderer Teil lebte in Fleisch und Blut ihrer Nachkommen weiter, und noch ein anderer wanderte durch die Jahrhunderte von Leben zu Leben, um sein Schicksal zu erfüllen. Und dieser Teil würde selbst diese Steine hier überdauern …
Von Zeit zu Zeit tauchte eine Erinnerung an andere Zeiten in den Meditationen der Leute von Avalon auf. Selbst die kleine Ellet hatte geträumt, dass sie mit einer Geweihhacke den Boden des Heiligen Bergs bearbeitete, um den spiralenförmigen Weg anzulegen, der um ihn herumführte; die älteren Priesterinnen hielten es für wahrscheinlich, dass sie eine der Akolythen gewesen war, die von den Königreichen, die jetzt im Meer versunken lagen, nach Avalon gekommen waren. Doch Anderles Visionen drehten sich um den Untergang, um die letzte verhängnisvolle Explosion, als der Berg erzitterte und ihre Stadt in Flammen aufging.
Falls ich wirklich dort war, habe ich es nicht überlebt - wurde ihr plötzlich klar. Vielleicht hat es mich deshalb so geängstigt, die Zerstörung von Azan vorherzusehen … Mikantor bewegte sich in ihren Armen, und sie drehte sich auf die Seite, um ihm mehr Platz zu geben. Und wer warst du in diesen Tagen, mein Kleiner? Bist du das Kind, das gerettet wurde, um ein neues Land zu erben? Für den Moment reichte es aus, ihn vor dem Feuer gerettet zu haben.
Es hieß, dass Micail, der den großen Henge erbaut hatte, von einem Geschlecht von Königen abstammte, obwohl er sein Leben als Priester und nicht als Herrscher gelebt hatte. Es kam ihr so vor, als wäre die Dunkelheit zu einem Wandteppich geworden, auf dem sich dunkle Figuren bewegten, kämpften, tanzten, große Steine wälzten. Während sie weiter zu verstehen versuchte, schlief sie so tief ein wie die Ahnen.
Als Anderle wieder erwachte, war der Lichtstreifen, der durch die Öffnung des Grabes drang, kaum heller als die Dunkelheit drinnen. Einen Moment lang wusste sie nicht, wo sie
Die Originalausgabe Sword of Avalon erschien 2009 bei ROC, an imprint of New American Library, a division of Penguin Group (USA) Inc., New York.
SWORD OF AVALON Copyright © by The Marion Zimmer Bradley Literary
Trust and Diana L. Paxson, 2009
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c/o BAROR INTERNATIONAL, INC., Armonk, New York, U.S.A in association with the Howard Morhaim Literary Agency, Inc.
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