Das silberne Auto - Annie Hruschka - E-Book

Das silberne Auto E-Book

Annie Hruschka

0,0

Beschreibung

Frau Gottschalk empfing den Privatdetektiv in ihrem Büro, einem Turmzimmer, das behaglich eingerichtet war und in dem nur der Schreibtisch darauf hindeutete, daß hier die Fäden der Verwaltung eines großen Besitzes zusammenliefen. Frau Gottschalk war eine verschlossen wirkende Dame von etwa fünfzig Jahren, die Hempel liebenswürdig entgegentrat und sich bei ihm ob des ungastlichen Empfanges entschuldigte. »Ich brauche Ihren Rat und Ihre Hilfe in einer Angelegenheit, die mich bedrückt«, begann sie ohne Umschweife. »Es darf niemand, weder im Dorf noch hier im Hause, ahnen, warum Sie eigentlich nach Tannroda kamen. Ich habe mir daher gleich von vornherein erlaubt, Sie – da unser Bibliothekar kürzlich starb –, als dessen Nachfolger auszugeben.« Hempel sah sie nur an und ließ sie reden. Als er seine Schuhe betrachtete, bemerkte er, daß der Strumpf an der linken Ferse ein großes Loch hatte. In der Eile hatte er wohl gestern abend die alten Socken angezogen. Er zog den Fuß unter den Sessel. Frau Gottschalk sagte gerade: »... Vielleicht täusche ich mich ja, vielleicht beruht alles auf falschen Vermutungen ...« »Um was für Vermutungen handelt es sich?« fragte nun Hempel. »Um den Tod unseres alten Bibliothekars Gottfried Kluge. Er wurde vor acht Tagen im Archiv aufgefunden, erschossen. Man nahm Selbstmord an, auch die Polizei. Doch ehe ich mich dieser Ansicht anschließe ... Nein, es muß ein Mord vorliegen!«

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 177

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Annie Hruschka

Das silberne Auto

Kriminalroman

idb

ISBN 9783961505517

Zuerst erschienen: 1910

1

Am Abend eines milden Vorfrühlingstages befand sich Hermann Hempel ausnahmsweise daheim in seiner Wohnung und überließ sich zufrieden der Ruhe in einem sonst mit Arbeitshetze angefüllten Dasein. Er schlenderte zwischen den Käfigen seiner gefiederten Freunde, einer Anzahl mehr oder weniger zahmer Vögel umher, die in dem großen Gartenzimmer untergebracht waren.

Ihre Behausungen hatte Hempel selbst erdacht und mit Liebe und Geschicklichkeit so eingerichtet, daß die gefangenen Tiere sich wie in ihrer natürlichen Umgebung wohlfühlten. Knorriges Geäst und grüne Schlingpflanzen, kleine Sandbecken und Wassertümpel bildeten eher einen belebten fröhlichen Wintergarten als einen trübseligen Vogelkäfig. Zudem strömten Luft und Licht zu den Türen herein, die auf die Terrasse und in den etwas verwilderten Garten führten. So hatte sich der Junggeselle Hermann Hempel sein Heim geschaffen, das ihm Familie und Freunde ersetzen mußte.

Hier, bei der Pflege und Fütterung seiner Vögel, konnte er auch seinen Beruf vergessen. Der Papagei und die Wellensittiche waren die verständigsten Vögel und durften sogar hin und wieder den Käfig verlassen und sich ihm auf die Schulter setzen. Der jungen Eule, die er eines Morgens mit gebrochenem Flügel im Gebüsch gefunden hatte, ließ er ein dunkles Eckchen bauen, in dem sie sich langsam erholte, bis sie wieder freigelassen werden konnte. Hempels besondere Freude war das zierliche Zaunkönigspaar, sein Stolz der farbenprächtige Eisvogel. Während er ihnen Futter gab, betrachtete er die Bachstelze, die auf dem Rande des Vogelteichs wippte, als sei er ihr genau so lieb wie die Ufer des Wiesenbaches.

Hempel war so vertieft in seine Beschäftigung, daß er das kräftige Klingeln an der Haustür vollkommen überhörte und sehr erstaunt aufblickte, als seine Haushälterin Kata, eine Deutschböhmin, das Zimmer betrat und ihm ein Telegramm reichte. Ihr etwas zerzaustes Äußere ließ darauf schließen, daß Hempel sich mit einer »Perle vom Lande« versehen hatte.

»Hat gebracht ein Mann«, sagte sie in ihrem komischen Deutsch, das der jahrelange Aufenthalt in der Stadt kaum verbessert hatte.

Hempel öffnete die Depesche, die in einer kleinen Stadt der Steiermark aufgegeben worden war.

Erbitte sofortige Besprechung Leonie Gottschalk Tannroda über Grainau

Der Name Gottschalk sagte ihm nichts. Es war ein in der dortigen Gegend üblicher Familienname. Aber TANNRODA – eine Erinnerung tauchte vor ihm auf, als wäre ihm vor Jahren, auf einer Fußwanderung durch das steirische Bergland, ein großes Herrschaftshaus aufgefallen, das freundlich das Tal beherrschte und in der Nähe des Dörfchens Grainau gelegen sein mußte. War es dieses Tannroda?

Er warf einen Blick auf seine Uhr. Es war acht Uhr abends. Um elf ging der nächste Zug in dieser Richtung. Dann wäre er bereits in der frühesten Morgenstunde in Tannroda. Er hatte also Zeit genug, in Ruhe zu Abend zu essen und die nötigen Sachen zu packen.

Zuerst machte er sich für die Reise zurecht, packte Anzüge und Wäsche ein und kramte dann zwischen den Reisebüchern nach dem Führer durch die Steiermark, den er als Lektüre mit ins Eßzimmer hinüber nahm.

Während Kata ihm das Abendessen auftrug, vertiefte er sich in das Buch, das ihm über alles erstaunlich genauen Aufschluß gab.

Zum Herrenhause gehörten ausgedehnte Waldungen und einiges Ackerland. Die Fischereirechte am See waren in Pacht gegeben. Die jetzige Besitzerin war Frau Leonie Gottschalk, deren Gatte im ersten Weltkrieg gefallen war.

Hermann Hempel klappte den Reiseführer zu. Nun, das ging ihn eigentlich alles nichts an. Weshalb er telegraphisch hingerufen wurde, war ihm rätselhaft. Er hatte in den Tageszeitungen nichts gelesen, was auf ein Verbrechen, einen Mord oder Einbruch hindeutete.

Kurz nach elf verließ sein Zug den Hauptbahnhof. Er zog den Mantel über sich und versuchte zu schlafen.

Am nächsten Morgen um halb sechs hielt der Zug eine Minute auf der Station Grainau, und Hermann Hempel beeilte sich, auszusteigen. Er sah sich suchend auf dem Bahnsteig um. Weder ein Gepäckträger noch sonst jemand war zu sehen! So übergab er sein Gepäck dem Bahnhofsvorstand, der ihm auch noch den Weg zum Herrenhaus erklärte.

Die Sonne war bereits aufgegangen. Hinter der Ortschaft stieg der Hügel an, auf dem Hempel das Herrenhaus Tannroda vermutete. Bis jetzt entzog es sich noch seinen Blicken durch ein Wäldchen, das er nach einer Viertelstunde kräftigen Ausschreitens erreichte. Von hier aus öffnete sich der Blick auf das Herrenhaus. Es war ein massiver Bau mit steilem Schieferdach und vier Ecktürmen.

Die Fenster der Vorderfront gleißten in der Morgensonne. Auf dem Kiesvorplatz plätscherte ein alter Springbrunnen. Sonst war kein Laut zu hören.

Hempel setzte sich auf eine der Bänke, die vor den Blumenrabatten standen. Es war ihm angenehm, sich zuerst in aller Ruhe mit dem Bau vertraut zu machen, in dem er vielleicht längere Zeit bleiben mußte. Im obersten Stock waren die Fensterläden geschlossen. Nichts deutete darauf hin, daß hier irgend etwas geschehen war, was sein Eingreifen erforderlich machte.

Jetzt wurde die Haustür aufgesperrt. Ein weißhaariger Diener erblickte Hempel, stutzte einen Augenblick und kam dann auf ihn zu.

»Verzeihen Sie, sind Sie vielleicht Herr Hempel, der neue Bibliothekar –«

»Ja ..., mein Name ist Hempel«, sagte Hempel und betrachtete den alten, schon etwas zittrigen Diener, der mit leiser und ergebener Stimme auf ihn einsprach.

»Dann sind Sie ja mit dem Nachtzug gekommen? Es tut mir leid, daß ich nicht an der Bahn war, aber Frau Gottschalk meinte, ihre Depesche könne Sie kaum vor Abgang des Nachtschnellzuges erreicht haben. Wollen Sie bitte mitkommen, damit ich Sie in Ihr Zimmer führen kann! Es ist alles bereit. Das Frühstück wird Ihnen sofort aufs Zimmer gebracht. Vielleicht darf ich Sie danach abholen und zu Frau Gottschalk ins Büro bringen?«

»Ist Frau Gottschalk denn schon auf?«

»Ja, sie ist immer die Erste. Ich werde in einer halben Stunde wiederkommen.«

Damit verabschiedete sich der Diener.

2

Frau Gottschalk empfing den Privatdetektiv in ihrem Büro, einem Turmzimmer, das behaglich eingerichtet war und in dem nur der Schreibtisch darauf hindeutete, daß hier die Fäden der Verwaltung eines großen Besitzes zusammenliefen. Sonst standen bequeme Sessel herum, an den Wänden hingen Aquarelle in freundlich-hellen Farben, und die zum Nebenzimmer offenstehende Tür zeigte einen großen Flügel.

Frau Gottschalk war eine verschlossen wirkende Dame von etwa fünfzig Jahren, die Hempel liebenswürdig entgegentrat und sich bei ihm ob des ungastlichen Empfanges entschuldigte.

»Ich brauche Ihren Rat und Ihre Hilfe in einer Angelegenheit, die mich bedrückt«, begann sie ohne Umschweife. »Es darf niemand, weder im Dorf noch hier im Hause, ahnen, warum Sie eigentlich nach Tannroda kamen. Ich habe mir daher gleich von vornherein erlaubt, Sie – da unser Bibliothekar kürzlich starb –, als dessen Nachfolger auszugeben.«

Hempel sah sie nur an und ließ sie reden. Als er seine Schuhe betrachtete, bemerkte er, daß der Strumpf an der linken Ferse ein großes Loch hatte. In der Eile hatte er wohl gestern abend die alten Socken angezogen. Er zog den Fuß unter den Sessel. Frau Gottschalk sagte gerade:

»... Vielleicht täusche ich mich ja, vielleicht beruht alles auf falschen Vermutungen ...«

»Um was für Vermutungen handelt es sich?« fragte nun Hempel.

»Um den Tod unseres alten Bibliothekars Gottfried Kluge. Er wurde vor acht Tagen im Archiv aufgefunden, erschossen. Man nahm Selbstmord an, auch die Polizei. Doch ehe ich mich dieser Ansicht anschließe ... Nein, es muß ein Mord vorliegen!«

Hempel gähnte mit Anstand. »Mord! Aber gnädige Frau! Sprechen wir nicht gleich von Mord!«

»Ich kannte Kluge gut genug. Er hätte nie Hand an sich gelegt. Er war ein ruhiger, beherrschter Mensch. Was sollte er auch schon für Gründe haben. Man bringt sich doch nicht mit siebzig Jahren um, wenn man keine Ursache dazu hat.«

»Das allerdings nicht. Aber war Herr Kluge nicht so ein wenig eigen ... Ich meine so ein wenig ...« Hempel deutete an die Stirne.

»Nein, nein! Trotz seines Alters war er von erstaunlicher Frische. Unser Hausarzt, Dr. Thomaier, hatte ihn ja noch kürzlich untersucht.«

»Und was nahm die Polizei als Ursache an?«

»Ach, die Polizei! Einfach Selbstmord. Die Gründe dafür sind für diese Leute ja uninteressant. Aber das ist lächerlich. Denn ich habe darüber nachgedacht. Er fühlte sich gewiß nicht einsam, obwohl er Frau und Sohn bei einem Auto-Unfall an einem einzigen Tage verloren hat. Doch das war vor fünf Jahren; aber er hat ja uns! Seit vielen Jahren ist er mit unsrer Familie verwachsen. Für uns war er der ›Onkel Gottfried‹, zu dem alle kamen, weil er immer Rat wußte. Er war auch in meine Geldangelegenheiten eingeweiht und beriet mich.«

»Er wohnte also schon lange in diesem Haus?«

»Lange? Schon als ich zur Welt kam, war er als junger Mann bei meinem Vater als Sekretär angestellt. Nach dessen Tod wurde er meines Mannes Berater und Bibliothekar ...«

»Haben Sie denn das der Polizei nicht berichtet? Sie haben doch sicher Ihre Zweifel an einem Selbstmord betont?«

»Natürlich, aber man zuckte nur die Achseln. Es war ja alles so ›eindeutig‹.«

»Was heißt eindeutig?« brummte nun Hempel.

»Einmal starb Onkel Gottfried im Archiv, zu dem kein Fremder Zutritt hat. Dann fanden sich weder im Archiv noch außerhalb des Hauses Spuren, die auf die Anwesenheit einer fremden Person schließen lassen. Und endlich ist der Zugang zum Archiv nur durch Onkel Gottfrieds Privatwohnung möglich, durch einen Korridor, der an jenem Abend abgesperrt war, und zu dem nur er und ich den Schlüssel haben. Das Archiv liegt zudem ziemlich abseits im alten Turm, da wir dort ja nur die Akten und Familienpapiere aufbewahren. Nicht das geringste fehlte. Und wer hätte denn schon einen Grund, den alten Mann umzubringen? Kluge war beliebt und hatte keine Feinde. Er stand auch niemand im Wege. So kam die Polizei eben zum Schluß, es könne nur Selbstmord vorliegen.«

Hempel zog etwas an dem linken Hosenbein, denn seine blanke Ferse, die über dem Rand des Schuhes glänzte, genierte ihn.

»Und trotzdem ist es ein Trugschluß!« fuhr Frau Gottschalk fort. »Ich weiß, daß Sie im Verlauf Ihrer Nachforschungen sich meiner Ansicht anschließen werden!«

»Dann haben Sie wohl jetzt schon Gründe dafür. Gründe, die Sie den Behörden nicht mitteilen wollten? Hegen Sie einen Verdacht, und ist es Ihnen unangenehm, diesen Verdacht zu äußern?«

»Nein, nein«, wehrte Frau Gottschalk ab. »Ich habe nichts zu verheimlichen!«

Hempel betrachtete die Frau.

»Aber dann begreife ich wirklich nicht ...«

Plötzlich schien sich Frau Gottschalk eines Besseren zu besinnen und erklärte etwas verlegen:

»Ich muß Ihnen noch etwas gestehen, was mich in Ihren Augen vielleicht lächerlich macht und bei Ihnen den Eindruck erwecken könnte, ich sei etwas überspannt.«

»O bitte ... wenn wir zu einem klaren Ergebnis kommen wollen, müssen Sie volles Vertrauen zu mir haben. Auch der kleinste Hinweis ist wichtig.«

»Ich glaube«, sagte sie hastig, »daß man drei Tage vor Gottfried Kluges Tod auch auf mich einen Mordversuch unternommen hat.«

»Über den Sie der Polizei nichts mitteilten?«

»Nein. Das Verhalten der Polizei war so selbstsicher, daß ich lieber schwieg, anstatt mich mit Behauptungen, die ich nicht beweisen konnte, lächerlich zu machen.«

»Wollen Sie mir bitte den Sachverhalt schildern?«

»Ich hatte das Gefühl, daß man auf mich geschossen hat, als ich in die Försterei gehen wollte. Die Förstersfrau ist seit einiger Zeit krank, und ich besuchte sie zwei- bis dreimal wöchentlich, meistens am frühen Nachmittag. An jenem Tage wurde ich durch überraschenden Besuch aufgehalten und verließ Tannroda erst etwa gegen fünf Uhr. So geriet ich auf dem Rückweg bereits in die Dämmerung, was mir aber nichts ausmachte, da ich den Weg auch in dunkler Nacht finden würde. Ich bin auch nicht ängstlich und weiß, daß wir hier vollkommen sicher sind.«

»Das kann man nie wissen!«

»O doch! Die Einheimischen kennen mich ja von klein auf. Ich schritt also ganz sorglos auf dem Waldweg dahin, näherte mich bereits dem Ende des Waldes und war gerade in einer kleinen Tannenschonung angelangt, als plötzlich unmittelbar hintereinander zwei Schüsse krachten.«

»Sind Sie denn sicher, daß die Schüsse Ihnen galten? Vielleicht handelte es sich um einen ungeschickten Jäger oder einen Wilddieb?«

»Ausgeschlossen. Erstens gehört der Wald zum Tannrodaer Jagdrevier, und wir geben keine Jagdkarten aus. Zweitens erkannte ich am Klang sofort, daß die Schüsse nicht aus einem Gewehr, sondern aus einer Pistole abgegeben worden waren.«

»Das können Sie unterscheiden?«

»Natürlich! Ich bin doch oft auf die Jagd gegangen. Es wäre überhaupt zum Jagen viel zu dunkel gewesen. Auch haben Fremde dort nichts zu suchen. Sie kommen auch nicht dorthin, denn dazu müßten sie ja erst am Herrenhaus vorüber und durch den Garten auf den Hof gehen! Die Schüsse können also nur mir gegolten haben. Man hat mir einfach aufgelauert!«

»Kann es ein rachsüchtiger Angestellter gewesen sein?«

»Nein, unsere Angestellten waren immer gern bei uns, und auch die Gutsarbeiter, die auf den nahegelegenen Dörfern wohnen, sind wie gute alte Bekannte, die sich regelmäßig wieder blicken lassen und von deren Familien mir berichtet wird.«

»Haben Sie keine Spur von dem Schützen gesehen?«

»Nein. Ich hörte weiter kein Geräusch.«

»Und was taten Sie?«

»Ich rannte sofort hinter einen Baum und schlich dann schnell von Baum zu Baum bis an den Ausgang des Waldes. Dort beginnt eine Hecke, die bis zum Park führt. Ich benutzte sie als Deckung, obwohl es inzwischen völlig finster geworden war und ich nichts mehr zu befürchten hatte. Ich war doch etwas erschrocken und ängstlich.«

»Haben Sie sofort das Dickicht mit Hunden durchsuchen lassen?«

»Nein ... Ich wollte nicht, daß meine Kinder etwas von der Sache erführen. Ronny und Vera hätten sich zu Tode geängstigt.«

»Ich fürchte, daß es ein Fehler war, diesen Vorfall gänzlich zu verschweigen!«

»Ich habe ihn ja gar nicht gänzlich verschwiegen. Ich ging zu Onkel Gottfried und erzählte es ihm. Er war bestürzt, denn er konnte sich die Sache ebensowenig erklären wie ich. Am nächsten Morgen gingen wir mit den Hunden in das Dickicht und durchsuchten es nach Spuren, konnten aber nichts entdecken. Wie hätte ich damals ahnen können, daß dies erst der Anfang war, der so bald darauf einen grauenhaften Abschluß finden sollte!«

Frau Gottschalk spielte nervös mit ihrem Ring.

»Sie glauben doch auch, daß zwischen den beiden Ereignissen ein Zusammenhang besteht?«

Hempel ließ die Hand auf die Sessellehne sinken. »Zusammenhang? Wie Sie meinen. Es hängt ja ohnehin alles mit allem zusammen. Es fragt sich nur wie. Ich habe bis jetzt keinen Grund, Schlüsse zu ziehen oder etwas anderes anzunehmen als die Polizei. – Aber vielleicht zeigen Sie mir einmal die Wohnung Ihres verstorbenen Bibliothekars und sein Arbeitszimmer.«

3

Die Wohnung des Bibliothekars bestand aus drei Räumen, die altvaterisch möbliert waren. Bronzen, Porzellan und Silber standen herum, die einen Dieb wohl hätten reizen können. Auch hatte im obersten Schubfach des Schreibtisches, wie Frau Gottschalk Hempel berichtete, eine größere Geldsumme gelegen, die nicht angetastet worden war. Alles deutete darauf, daß der Eindringling – falls er überhaupt hierher gelangt war – es nicht auf Wertsachen abgesehen hatte.

Die Fenster der drei Zimmer blickten seitlich in den großen Garten. Es war die Seite des Hauses, in der sich zwischen den beiden Ecktürmen neueren Datums der mittelalterliche Turm befand, der wie ein Burgfried wirkte. Er stieß unmittelbar an Kluges Wohnung und war über einen schmalen Korridor erreichbar, den Hempel jetzt mit Frau Gottschalk entlangschritt.

Der Raum, in dem das Archiv untergebracht war, hatte kleine Fenster. Der Detektiv öffnete eins und beugte sich hinaus. Er sah, daß der alte Turm mit Efeu überwuchert war, der sich in armdicken Ästen bis unters Dach hinaufzog. ›Eine Kleinigkeit, hier hinaufzuklimmen‹, dachte Hempel. Er sah sich, im Raum selbst um.

Die Decke wies prachtvoll erhaltene Fresken auf. Die Schränke waren in die Mauern eingelassen. Unter einem alten schmiedeeisernen Kronleuchter stand der Arbeitstisch.

»Hier starb er«, Frau Gottschalk deutete auf das Pult und den hochlehnigen Ledersessel.

»Wann fand man die Leiche?«

»Erst am nächsten Morgen. Onkel Gottfried hatte wie immer mit uns zu Abend gegessen. Wir hatten ein paar Nachbarn eingeladen, und er blieb noch etwa eine Stunde nach dem Essen bei uns. Um neun Uhr zog er sich wie gewöhnlich zurück. Als ihm Paul – das ist der weißhaarige Alte, den Sie gesehen haben – am nächsten Morgen das Frühstück bringen wollte, fand er sein Bett unberührt. Er rief mich, und zu zweit gingen wir ins Archiv hinüber. Hier fanden wir ihn. Er saß im Lehnstuhl. In der Hand hielt er den Revolver ...«

»Und niemand im ganzen Haus hat Schüsse gehört?«

»Die Mauern des alten Turmes sind dick! In diesem Stockwerk wohnte Kluge übrigens allein. Außer seiner Wohnung und dem Archiv liegen hier nur die Gastzimmer.«

»Und die Angestellten?«

»Die wohnen teils in den Mansarden, teils im Erdgeschoß. Wegen des Besuchs war natürlich etwas mehr Leben im Haus.«

»Hatten Sie viele Gäste?«

»Nur Herrn und Frau Landsberg mit ihren Kindern Erich und Lilly, dazu eine andere befreundete Familie aus Grainau und den Arzt und dessen Frau.«

»Sieht ihr Diener abends nicht noch einmal nach Herrn Kluge?«

»Nein. Onkel Gottfried war so rüstig und selbständig, daß er abends nichts mehr brauchte.«

»Und morgens?«

»Das einzige Zugeständnis, das er machte, bestand darin, daß Paul ihm das Frühstück ans Bett bringen durfte. Dieses Laster, wie er es scherzend nannte, hatte er sich nach seiner letzten Grippe angewöhnt.«

»Der Diener ist natürlich vollkommen zuverlässig?«

»Ich denke schon. Paul ist seit vierzig Jahren in unserer Familie.«

Während Hempel diese Fragen stellte, betrachtete er den großen Arbeitstisch.

»Hat der Diener irgend etwas auf diesem Tisch angerührt?«

»Nein!« erwiderte Frau Gottschalk sehr bestimmt. »Ich selbst sorgte dafür, daß niemand das Archiv betrat und nichts angerührt wurde, bis die Polizei kam; ich war ja überzeugt, daß es sich um einen Mord handeln mußte. Die Schlüssel hatte ich selbst in Verwahrung genommen.«

»Und die Polizei? Nahmen sie etwas in die Hand?«

»Oh, Doktor Kandier hielt sich nicht lange hier auf. Für ihn stand es von vornherein fest, daß kein Verbrechen vorlag. Wozu sollte er also die Sachen hier untersuchen? Er ist ein vielbeschäftigter Herr und immer in Eile. Als er mit Doktor Thomaier, dem Bezirksarzt, in diesem Raum erschien, erklärte er sofort: ›Selbstmord aus Lebensüberdruß, wahrscheinlich in plötzlicher Sinnesverwirrung begangen‹, und der Arzt gab ihm recht. Mein Einwand wurde nicht ernst genommen. Ich wollte auch nicht allzu hartnäckig darauf beharren, sondern erst einmal alles in Ruhe überdenken und mich dann an Sie um Rat wenden.«

*

Als sie ins untere Stockwerk zurückkehrten, scholl ihnen unvermittelt Lachen und ein Durcheinander von jungen Stimmen entgegen.

»Aber Kinder, wie könnt ihr nur so laut sein«, tadelte sie.

Die beiden jungen Mädchen erröteten, die jungen Männer grüßten verlegen. Frau Gottschalk stellte Hempel zuerst ihre eigenen Kinder, die blonde Vera und deren Bruder Ronny vor, dann machte sie ihn auch mit Lilli und Erich von Landsberg, den Freunden ihrer Kinder, bekannt.

»Mein Sohn Ronny scheint noch immer in Feststimmung zu sein«, erklärte sie entschuldigend, »da er erst vor zwei Wochen als frischgebackener Doktor der Rechte heimkehrte.«

»Ja, deshalb sind wir auch hier, Frau Gottschalk, um zu fragen, wann wir das Examen feiern dürfen. Wir hatten gedacht, bei uns wäre es passender«, fügte der junge Landsberg hinzu.

Frau Gottschalk seufzte unmerklich, dann nickte sie.

»Wenn es wirklich nur im kleinsten Kreise ist, will ich es zulassen ...«

Die jungen Leute verabschiedeten sich, und Vera und Ronny begleiteten sie bis vors Haus, wo Erichs kleiner Sportwagen bereit stand. Erich von Landsberg hatte Landwirtschaft studiert und war vor einem Jahre als Diplom-Landwirt auf das väterliche Gut zurückgekehrt. Sein Vater war leidend und deshalb froh, daß der Sohn ihm die Außenarbeit und die täglichen Inspektionsritte oder -fahrten abnehmen konnte.

Während Vera sich scherzend von Erich verabschiedete und die rotblonde Lilli über einem Abschiedswort Ronnys verlegen wurde, standen oben am Fenster des Arbeitszimmers Frau Gottschalk und Hempel und sahen auf die Abschiedsszene hinunter.

»Es ist ihnen nicht zu verdenken, daß sie das Fest zusammen feiern wollen«, sagt Frau Gottschalk. »Zwischen Ronny und Lilli bestand schon immer eine Zuneigung. Erich von Landsberg dagegen – ich weiß gar nicht mehr so recht, ob er zu meiner Vera paßt, obwohl seine Eltern eine solche Heirat sehr herbeiwünschen. Hoffentlich wird sich das alles zum Guten entwickeln!«

4

Hermann Hempel wohnte nun schon seit einer Woche in Tannroda, ohne einen einzigen Schritt in dieser verworrenen Sache vorwärtsgekommen zu sein. Und dabei lag ihm die Lösung des Falles ganz besonders am Herzen.

Frau Gottschalk erschien ihm jedoch immer merkwürdiger. Die Verschlossenheit, die so bald einem scheinbaren Vertrauen wich, war im Laufe der Tage in eine Bedrücktheit übergegangen, die dem Detektiv völlig unerklärlich war. Mitten im Gespräch brach sie oft unvermittelt ab.

Ihr Leben schien so durchsichtig und klar vor aller Augen dazuliegen, daß Hempel nirgends einen Grund für ihren Kummer entdecken konnte. Sie selbst sprach auch offen und unbefangen über ihre Ansichten, Pläne und Geldverhältnisse. Und doch fühlte er, daß sie etwas verbarg, daß es einen Punkt in ihrem Leben gab, über den sie mit niemand sprach.

Auf den kleinen Spaziergängen, die sie täglich mit ihm in der nächsten Nähe des Hauses unternahm, sprach sie auffallend oft von den ersten Jahren ihrer Ehe, die sie in Wien verlebt hatte. Es war erstaunlich, wie sehr sie immer wieder betonte, daß sie damals glücklich gewesen sei – gerade als ob dann ein Unglück ihr Leben zerstört habe. Denn es konnte ja unmöglich nur jener Überfall sein, der sie bedrückte. Dazu war sie eine viel zu mutige und kluge Frau. Auch den Tod ihres Mannes, den sie verlor, als die Kinder noch klein waren, hatte sie längst überwunden.

Er hatte das Gefühl, sie habe in Wien ein bestimmtes Erlebnis gehabt, das noch heute einen Schatten auf ihr Leben warf.

Dieses Gefühl hatte seit einem Gespräch immer deutlichere Gestalt angenommen, das sie vor zwei Tagen auf einem der Spaziergänge geführt hatten.