Schwesterliebe - Annie Hruschka - E-Book

Schwesterliebe E-Book

Annie Hruschka

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Beschreibung

Ihr Herz klopfte laut. Etwas wie Gespensterfurcht schnürte ihr die Kehle zusammen, während sie sich im Dunkeln der Mauer entlang tastete. Und doch wagte sie kein Licht zu machen, obwohl sie Streichhölzer in der Tasche trug und ein Lichtstümpchen. Mara konnte durch den Sturm erwacht sein und ihre heimliche Rückkehr bemerken ... Yolanthe erbebte bei der bloßen Vorstellung. Sie waren Zwillingsschwestern, und wenn sie auch Mara genau so beherrschte wie alle andern im Hause, und wenn Mara sie auch liebte und ihr blind vertraute – so gab es doch Momente, wo die stolze, verhätschelte Yolanthe sich vor der sonst bescheiden zurücktretenden Schwester fürchtete. Das war, wenn Maras klare hellgraue Augen sich, wie manchmal in der letzten Zeit, vorwurfsvoll oder fragend auf Yolanthes Antlitz richteten ...

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Annie Hruschka

Schwesterliebe

Kriminalroman

idb

ISBN 9783961505579

I.

Yolanthe von Rittler zog leise das kleine Seitenpförtchen, durch das sie aus dem Park ins Schloß getreten war, hinter sich zu und drehte tief aufatmend den Schlüssel um. Selbst die Sicherheitskette legte sie noch vor, so unheimlich und ängstlich war ihr plötzlich zumute.

War das aber eine Nacht geworden nach dem schönen Abend vorhin!

Vor zehn Minuten noch rührte sich kein Blatt und der Vollmond wob seine gleißenden Zauber über dem Park. Betäubend schier, wie in Sommernächten, dufteten die letzten Rosen in der schwülen, reglosen Luft.

Dann ein fauchender Windstoß wie der heiße Atem eines Raubtieres. In den Baumkronen raschelte es, Aeste knarrten, dürres Laub tanzte in der Luft.

Mond und Sterne aber waren verschlungen von pechschwarzen Wolken, die tiefe Finsternis über die Erde breiteten. Kaum daß Yolanthe mit Hilfe der leuchtenden Blitze den Rückweg ins Schloß fand.

Nun stand sie erschauernd im Korridor, wo es unheimlich still war, während draußen der Sturm sich zum Orkan steigerte und die verrostete Wetterfahne auf dem Dach ächzend knarrte, daß es wie Wehklagen und Hilferuf klang.

Bebend schlich Yolanthe die Haupttreppe hinauf nach dem breiten hufeisenförmigen Korridor des ersten Stockwerkes, in dessen rechtem Seitenflügel ihre und Schwester Maras Zimmer lagen.

Ihr Herz klopfte laut. Etwas wie Gespensterfurcht schnürte ihr die Kehle zusammen, während sie sich im Dunkeln der Mauer entlang tastete.

Und doch wagte sie kein Licht zu machen, obwohl sie Streichhölzer in der Tasche trug und ein Lichtstümpchen.

Mara konnte durch den Sturm erwacht sein und ihre heimliche Rückkehr bemerken ...

Yolanthe erbebte bei der bloßen Vorstellung. Sie waren Zwillingsschwestern, und wenn sie auch Mara genau so beherrschte wie alle andern im Hause, und wenn Mara sie auch liebte und ihr blind vertraute – so gab es doch Momente, wo die stolze, verhätschelte Yolanthe sich vor der sonst bescheiden zurücktretenden Schwester fürchtete.

Das war, wenn Maras klare hellgraue Augen sich, wie manchmal in der letzten Zeit, vorwurfsvoll oder fragend auf Yolanthes Antlitz richteten.

Man konnte nicht lügen unter diesem reinen, durchdringenden Blick Maras. Nicht einmal Ausreden fielen Yolanthe ein, so klug sie sonst war.

Und jetzt – wenn Mara ihre Abwesenheit bemerkt hätte – welchen Vorwand könnte Yolanthe angeben? Es mußte fast auf Mitternacht gehen ...

Immer hastiger wurde Yolanthes Schritt. Mit katzenartiger Geschmeidigkeit, den Kopf angstvoll lauschend vorgestreckt, eilte sie lautlos vorwärts und hatte die Tür ihres Gemaches fast erreicht, als diese plötzlich von innen geöffnet wurde, und Mara, ein Licht in der Hand, im Rahmen derselben erschien.

Wie erstarrt blieb Yolanthe stehen. Die Hand, welche den seidenen Staubmantel über dem hellen Gewand zusammenhielt, zitterte.

Auch Mara sah verstört aus. So standen sie einen Augenblick regungslos, einander stumm ansehend. Zwei wunderschöne Frauenbilder.

Beide hatten dasselbe reiche, glänzende kastanienbraune Haar, mit kupferrotem Reflex, dieselben tadellosen Gestalten, dasselbe fein geschnittene sanft gerundete Oval des Gesichtes.

Nur der Ausdruck war verschieden und die Augen. Von Yolanthes dunklen samtartigen Augen verbreitete sich ein geheimnisvoll verschleierter, träumerischer Reiz über das ganze Antlitz, das, weich und von berückender Färbung, an die lockende Schönheit einer Märchenprinzessin mahnte.

In Maras Antlitz war nichts Geheimnisvolles. Rein und edel war die klare Schrift dieser Mädchenzüge jedermann offenbar, und das Licht, das aus ihren grauen, tiefliegenden Augen strahlte, war wie das Licht eines hellen wolkenlosen Frühlingstages.

Jetzt aber wurde es streng und voll durchdringender Schärfe.

»Wo warst du?« fragte sie Yolanthe verstört. »Es ist fast Mitternacht und du gabst gleich nach Tisch vor, zu Bett gehen zu wollen!«

Yolanthe hatte sich gefaßt.

»Ich konnte nicht schlafen,« antwortete sie trotzig, »und der Mond schien so herrlich ... ich war noch im Park.«

Unruhe malte sich in Maras Zügen.

»Im Park? Du ... die du sonst nicht um die Welt am Abend allein vor die Haustüre gehen würdest ...?« Und zögernd, fast ängstlich setzte sie hinzu: »Yolanthe, warst du allein bis jetzt im Park?«

»Natürlich. Mit wem sollte ich denn gewesen sein? Papa wollte noch arbeiten, Onkel Malchus behauptete, die Wochenrechnungen durchsehen zu müssen, und Mama sowohl wie du, ihr wolltet doch auch schlafen gehen! Ich wußte nicht, daß du –«

»Ich war schon zu Bett,« fiel Mara ein, »aber auch ich konnte nicht schlafen. Es ist so unheimlich heute ... Der Sturm draußen ...«

Sie verstummte, und beide Schwestern fuhren erschrocken zusammen. Mitten in das sich steigernde Toben des Sturmes draußen, das Kreischen der Wetterfahne und den rollenden Donner war ein seltsam kurzer scharfer Laut gefallen.

Die Mädchen sahen einander angstvoll an. Was war das gewesen? Und jetzt – klang es nicht wie ein durch die Entfernung gedämpfter Schrei, dem Klirren folgte?

»Es ist, als wäre es im Hause selbst ...« murmelte Mara mit blassen Lippen. Beide horchten mit angehaltenem Atem.

Der Sturm hatte plötzlich nachgelassen. Und in die augenblickliche Stille klang nun kurz und scharf zum zweitenmal jener unheimliche Laut.

Diesmal konnten sie sich nicht täuschen: es war ein Schuß!

Wie gejagt flog Mara den Korridor entlang um die Ecke und gegen die Haupttreppe zu, an welche anschließend ihres Vaters Zimmer lagen, denn von dorther schien das Geräusch des Schusses gekommen zu sein.

Am ganzen Leibe zitternd folgte Yolanthe. Noch aber hatte sie die von Mara aufgerissene Türe von ihres Vaters Arbeitszimmer nicht erreicht, als ein markerschütternder Schrei das Haus durchgellte.

Mara stieß ihn aus, nachdem sie nur einen Blick in das Gemach geworfen und im hellen Schein des Gaslüsters ihres Vaters Gestalt lang ausgestreckt und regungslos am Boden liegend erblickt hatte.

Ratlos flüsternd stand die durch Maras Schrei aus dem Schlaf aufgeschreckte Dienerschaft am Eingang des Gemaches.

Paul, des Schloßherrn Kammerdiener, dessen Zimmer im Erdgeschoß lag, und der eben aufgestanden war, um sein offenstehendes Fenster des Sturmes wegen zu schließen, hatte den Schrei zuerst gehört und die andern alarmiert.

Hinaufgekommen fanden sie die beiden Schwestern fassungslos am Boden kauernd neben dem Körper ihres Brotherrn.

Schweigend half Paul, über dessen gefurchtes Greisenantlitz große Tränen liefen, dem Kutscher, Herrn von Rittlers Körper auf ein Ruhebett legen.

Jetzt, wo das helle Licht der Gasflammen auf das bleiche im Todesschreck wie versteinerte Antlitz fiel, konnte kein Zweifel mehr darüber herrschen: Joachim von Rittler, der Besitzer von Kreuzstein, war tot. Zwei Wunden an der linken Schläfe ließen die Todesursache nur zu deutlich erkennen.

Leise weinend sanken die beiden Töchter neben dem Leichnam in die Knie. Sie hatten mit ihm ihren besten Freund, ihre letzte natürliche Stütze verloren, denn Frau Isabel von Rittler war die zweite Gemahlin ihres Gatten, während die Töchter aus erster Ehe stammten.

Paul warf stumm zurücktretend einen forschenden Blick auf das Gemach.

Alles schien in tadelloser Ordnung. Nur der Stuhl am Schreibtisch war nach rückwärts umgefallen, als wäre er infolge jähen Aufspringens allzu heftig zurückgeschleudert worden.

Und das Fenster war zertrümmert. Es befand sich links vom Schreibtisch und von links waren auch die Schüsse gekommen.

»Man hat ihn von außen, durchs Fenster erschossen,« flüsterte die Beschließerin, Frau Baumer, scheu, »ach Gott, ach Gott, wer kann denn nur ...«

»Am Ende hat er's selbst getan?« murmelte der Kutscher, auf einen Revolver weisend, der unweit von der Stelle auf dem Teppich lag, wo man Herrn von Rittlers Leiche gefunden hatte, »ganz richtig war's ja nicht mehr im letzten Jahr zwischen ihm und der gnädigen Frau, und wer weiß ...«

»Schämen Sie sich, Johann,« sagte Frau Baumer entrüstet, »so was auch nur zu denken! Zwölf Jahre ist die Gnädige nun hier, und weiß Gott, abgöttischer kann kein Mann seine Frau lieben, als unser armer Herr die seinige lieb hatte. Und schön und lieb genug ist sie ja auch. Ein schlechter Kerl übrigens, der ihr das Geringste nachsagen möchte!«

»Na, ich meinte ja nur so ... weil der Revolver dort liegt ...«

»Der lag stets in einem Fach seines Schreibtisches,« mischte sich Paul ein, »und ich wette, der gnädige Herr hat nur zur Verteidigung darnach gegriffen. Meinen Kopf setze ich ein, daß er nie daran dachte – aber sollte man nicht die Gnädige holen? Sie wird kaum etwas gehört haben, da ihre Zimmer nach dem Weiher gehen und Sephines Kabinett sie vom Korridor trennt.«

»Holen wir lieber den Herrn Major, damit doch jemand da ist, der uns sagt, was zu geschehen hat. Die jungen Damen wissen ja vor Kummer und Herzleid nicht aus noch ein.«

»Jawohl, Johann, holen Sie den Herrn Major,« entschied Frau Baumer. »Die Gnädige müßte doch erst vorbereitet werden und dann wird sie höchstens auch den Kopf verlieren. Aber der Major weiß immer das Richtige, der ist energisch –«

»Und steckt seine Nase leider Gottes seit Jahren ohnehin in jeden Winkel auf Kreuzstein,« ergänzte der alte Paul ärgerlich, »und weiß Gott, es wundert mich nur ...«

Die Beschließerin warf dem Alten einen verweisenden Blick zu.

»Sie können eben den Herrn Major nicht leiden, wie Ihre Kollegen, weil er streng ist und nicht viel Federlesens macht. Aber was wahr ist, bleibt wahr: seit er auf Kreuzstein die Oberaufsicht führt, sieht's hier ganz anders aus als zuvor. Der gnädige Herr wußte wohl, was er tat, als er ihm hier ein Heim anbot und freie Hand in der Wirtschaft ließ, sicherlich tat er's nicht bloß darum, weil Major Botstiber der Vormund unserer Gnädigen war und unseres jungen Herrn Leo Taufpate ...«

»Wir brauchen jetzt nicht darüber zu streiten, Frau Baumer, meine ich. Schließlich muß uns auch recht sein, was unsere Herrschaft, bei der wir beide grau geworden sind, für gut findet zu tun. Gehen Sie also nur, Johann, und nehmen Sie sich Anton mit, falls Sie sich fürchten – blaß genug sehen Sie ja aus, daß man's glauben könnte.«

Ohne zu antworten, entfernte sich der Kutscher, von einem Diener begleitet.

II.

Die Wohnung Major Botstibers lag im zweiten Stockwerk, gerade über derjenigen des Hausherrn. Alles war dunkel und still ringsum, und Johann mußte eine gute Weile klopfen, ehe jemand verschlafen antwortete.

»Zum Kuckuck – brennt's etwa, daß man mich mitten in der Nacht aufstöbert?«

»Nein. Aber ein Unglück ist geschehen, Herr Major, und die Leute wissen sich keinen Rat. Sie möchten schnell hinunterkommen.«

»So? Ein Unglück? Na, wird wohl nicht so arg sein ...«

Man hörte Stiefel kollern, ein Zündholz anstreichen, ärgerliches Gebrumm und endlich Tritte sich der Tür nähern. Diese wurde aufgerissen und des Majors breitschulterige Gestalt erschien, in einen Schlafrock gehüllt.

Kein Mensch hätte ihm den Sechziger angesehen, so stramm war seine Haltung, so tiefschwarz Haar und Schnurrbart, so lebhaft, fast jugendlich der Blick seiner dunklen Augen. Jeder Zug seines bräunlichen Gesichtes sprach von Energie und männlicher Entschlossenheit, verbunden mit militärischer Strenge. So schnauzte er denn auch jetzt die beiden Diener nicht sehr freundlich an: »Also was ist denn los? Heraus mit der Sprache! Hat eines der Pferde Kolik oder was ist sonst geschehen?«

»Der gnädige Herr ist tot. Man hat ihn erschossen!« antwortete der Kutscher knapp und ernst.

Mit einem Satz fuhr der Major zurück. Sein eben noch gleichgültiges Gesicht nahm den Ausdruck tiefsten Schreckens an und entfärbte sich.

»Tot? Joachim von Rittler – tot? Oh Gott!« er packte den Kutscher an der Schulter und rüttelte ihn ungeduldig. »Wer hat es getan ... so rede er doch! Erschossen sagt ihr? Wie konnte das geschehen?«

»Wir wissen es nicht. Das Fenster neben dem Schreibtisch ist zertrümmert und der gnädige Herr lag schon tot am Boden, als die jungen Damen das Zimmer betraten.«

»Die jungen Damen?«

»Ja, sie waren noch auf und haben vermutlich den Schuß gehört. Jetzt weiß niemand, was eigentlich geschehen soll, darum ...«

»Jawohl. Natürlich! Ich komme schon ...« Der Major, immer noch leichenblaß und ganz verstört, machte hastig ein paar Schritte vorwärts, blieb aber plötzlich noch einmal stehen.

»Die gnädige Frau – wie trägt sie das Furchtbare?« fragte er hastig.

»Sie weiß noch nichts. Bis jetzt hatte niemand den Mut, sie zu wecken und es ihr zu sagen.«

Der Major atmete erleichtert auf.

»Ah, das ist gut! Sie schläft ... man muß sie vorsichtig und nur allmählich vorbereiten, sonst ertrüge sie diesen furchtbaren Schlag kaum ...«

Dann ging er mit festen Schritten hinab nach dem Sterbezimmer. Noch ehe er dasselbe betrat, hatte der Kutscher den Befehl, einzuspannen und in die Stadt zu fahren, um die Behörde von dem Vorgefallenen zu verständigen.

Der Diener wurde um den Bezirksarzt, der nur eine Viertelstunde von Schloß Kreuzstein wohnte, gesandt, ein anderer beauftragt, alles Nötige für das Begräbnis einzuleiten.

Zuletzt verbot der Major mit strenger Miene, daß irgend jemand sich im Park zu schaffen mache, damit alle etwaigen Spuren des Mörders unversehrt erhalten blieben.

Es war ein Glück, daß das Gewitter inzwischen vorübergezogen war, ohne sich zu entladen, sonst wäre diese Vorsicht wohl umsonst gewesen.

Erst nachdem all diese Befehle erteilt waren, betrat Major Botstiber leise das Zimmer, in dem der Tote lag.

Yolanthe warf sich laut weinend an seine Brust.

»Onkel Malchus ... oh Onkel Malchus, man hat Papa getötet!!«

Der Major streichelte beruhigend das vom Weinen entstellte Gesichtchen und murmelte leise Trostworte, während er zugleich einen scheuen Blick mit Mara wechselte.

»Wollen Sie es nicht übernehmen, Ihre Mutter auf das Schreckliche vorzubereiten? Sie wissen, sie ist nicht an Leiden gewöhnt, und ich fürchte ...«

»Nein – sie ist nicht an Leiden gewöhnt,« wiederholte Mara mechanisch, »aber ich will, wenn Sie es wünschen, versuchen ...«

Yolanthe stieß plötzlich einen Schreckensruf aus und eilte mit ausgebreiteten Armen gegen die Tür, in deren Rahmen zwischen den scheu zurückweichenden Leuten eine Dame stand, die halb ängstlich, halb neugierig hereinspähte.

Mara atmete tief auf und warf dem Major einen Blick zu.

»Zu spät – da ist Mama bereits!«

Frau Isabel von Rittler, eine auffallend schöne, gut erhaltene Erscheinung mit großen blauen Kinderaugen und tizianblondem Haar sah indessen erstaunt von einem zum andern.

»Was habt ihr denn alle, daß ihr so todernste Gesichter macht? Und was macht ihr hier in Papas Zimmer? Ich fürchte mich so sehr! Alles im Schloß ist auf den Beinen und niemand will mir sagen warum ... sie laufen beinahe vor mir davon, just als sei ich ein Gespenst!«

Sie wollte lachen, aber das Lächeln erstarb auf ihren Lippen, als der Major statt aller Antwort ihren Arm in den seinen zog und sie fortführen wollte.

»Kommen Sie, Isabel. Achim ist nicht ganz wohl. Ich werde Ihnen dies später alles erklären ... hier ist kein Ort für Sie.«

»Achim? Was ist mit ihm?« Frau von Rittlers Blick irrte durchs Zimmer und erblickte plötzlich das Ruhebett in der Ecke mit dem leblosen Körper darauf.

Im selben Augenblick sagte Maras tiefe klare Stimme neben ihr: »Du hast ein Recht auf Wahrheit, Mama, und kein Ort auf Erden wäre in dieser Stunde geeigneter für dich als dieser, der alles umschließt, was uns von Papa geblieben ist.«

Sie schlang den Arm um ihrer Stiefmutter Schulter und murmelte: »Laß uns beide zusammen weinen um den besten aller Menschen, liebe Mama, den ruchlose Mörderhände uns für immer entrissen haben!«

Einen Augenblick starrte Frau von Rittler fassungslos in das bleiche Gesicht des jungen Mädchens, dann schrie sie laut aus und schlug beide Hände vors Gesicht. Sie wäre zu Boden gefallen, wenn der Major sie nicht rasch gestützt hätte.

Dabei warf er Mara einen vorwurfsvollen Blick zu und stieß rauh heraus: »Wie konnten Sie nur so unvorbereitet ...«

»Sie ist doch meines Vaters Frau!« erwiderte Mara heftig. »Und mußten nicht auch wir das Schreckliche unvorbereitet tragen? Komm, liebe Mama,« fuhr sie sanfter fort, »nimm Abschied von ihm, ehe Fremde dieses Gemach betreten. In dieser Stunde wenigstens gehört er noch uns allein!«

Aber Frau von Rittler wandte sich schaudernd ab, indem sie des Majors Arm umklammerte.

»Fort,« kreischte sie, »führen Sie mich fort ... mir graut vor Leichen! Oh Gott, nie wieder werde ich nachts ein Auge schließen können ... wie gräßlich all dies ist! Yolanthe, bleibe bei mir, ich bitte dich, sonst werde ich noch wahnsinnig!«

Und mit einer Hast, die fast etwas Lächerliches an sich hatte, zog sie Botstiber und Yolanthe mit sich auf den Korridor hinaus, von wo ihre vor Erregung kreischende Stimme noch eine Weile hörbar war.

Mara stand allein.

Ein unsäglich bitterer Zug grub sich um ihren Mund ein. Dann trat sie still zu dem Toten, sah lange in sein bleiches, verzerrtes Gesicht und breitete endlich ein Tuch über ihn aus.

»Armer Papa,« murmelte sie, »wohl dir, daß Tote nicht mehr sehen noch hören können! Du hast sie so sehr geliebt, und sie ist nur ein Kind, das den Anblick deiner Leiche fürchtet ...«

*

Wer konnte Herrn von Rittlers Mörder sein? Darüber zerbrach sich jeder einzelne im Haus den Kopf und mehr noch darüber, aus welchen Ursachen man dem allseits beliebten, gütigen Mann nach dem Leben getrachtet haben konnte.

Frau Isabel hatte sich, von Yolanthe begleitet, in ihr Boudoir begeben. Sephine, die alle Augenblicke in der Küche erschien, um heißen Tee, kalte Limonade, Baldriantropfen, Kognak oder sonst ein Stärkungsmittel für ihre Herrin zu holen, erzählte, beide Damen hätten sämtliche Lichter anzünden lassen, säßen eng aneinander geschmiegt und führen beim leisesten Laut zu Tode erschrocken zusammen.

»Ich bin fest überzeugt, die Gnädige fürchtet, der arme Herr könnte ihr als Gespenst erscheinen,« schloß Sephine ihren Bericht,

»Jesus, Maria,« schrie die Hausmagd Trine auf, »rede doch keiner von Gespenstern in diesem Haus ... als wenn's nicht schon an einem Opfer genug wäre! Die Gnädige hat ganz recht –«

»Sei sie still, Sie alberne Person,« herrschte Frau Baumer das spindeldürre grauhaarige, wie Espenlaub zitternde Figürchen an, »Geister spazieren doch ihr Lebtag nicht mit Pistolen herum! Die Gnädige fürchtet sich auch sicher nicht vor Gespenstern, sondern ...«

»Doch, doch,« unterbrach sie Sephine, »sie jammert ja alle zwei Minuten: ›Wenn er mir nur nicht nachts erscheint! Er hat mich so schrecklich lieb gehabt ... wer weiß denn, ob es den Geistern Verstorbener nicht möglich ist, wiederzukommen? Ich hatte mal eine Freundin, die war Spiritistin und sagte mir ... ach Gott; Yolanthe, und überhaupt: stell' dir nur vor, daß wir in einem Haus mit einer Leiche sind! Das ist gräßlich‹ ... Na, überhaupt, ich sag's euch, die Gnädige ist ganz außer Rand und Band. Wie wahnsinnig erscheint sie mir vor Angst und Aufregung!«

»Sie müssen bedenken, Sephine,« sagte Frau Baumer würdevoll, »daß es keine Kleinigkeit ist, einen kerngesunden Mann in den besten Jahren jäh durch Mörderhand zu verlieren!«

»Gewiß nicht! Aber fast komisch kommt's mir doch vor, daß die Gnädige vor lauter Graulen gar nicht dazu kommt, an den Verlust zu denken, den sie erlitten hat! Mir scheint, der gute, arme Mann hätte doch verdient, daß sie auch um ihn ein paar Tränen weint und nicht nur um sich selber. Freilich – so recht tief ist ihr wohl nie 'was gehangen außer die Sorge um die Erhaltung der Schönheit!«

Sephine nahm den inzwischen von der Köchin aufgegossenen Tee und verschwand.

Oben im Sterbezimmer weilte der Major mit dem Bezirksarzt. Letzterer hatte, da sein Gutachten der Behörde vorgelegt werden mußte, eine ziemlich sorgfältige Untersuchung der Wunden vorgenommen und blickte sich nun forschend in dem Gemach um.

»Der erste Schuß war nicht lebensgefährlich, aber der zweite mußte den Tod sofort herbeiführen,« sagte er, »beide scheinen aus einer Browningpistole abgegeben worden zu sein, wofür die eine Kugel, die deutlich sichtbar ist, spricht. Haben Sie irgend eine Vermutung, wer die Tat begangen haben könnte. Herr Major?«

Major Botstiber antwortete nicht gleich. Erst nach einer Weile sagte er zögernd: »Nein. Wenigstens möchte ich um keinen Preis der Welt einen Verdacht aussprechen, solange er sich auf nichts anderes stützt, als auf vage Möglichkeiten.«

»Hm – da die Töchter die Schüsse hörten und gleich hieher eilten, hätten sie den Mörder, wenn er im Zimmer gewesen wäre, beinahe noch auf der Tat ertappen müssen? Aber Sie nehmen wohl mich an, daß die Schüsse von außen durch das Fenster kamen?«

»Wahrscheinlich. Wenigstens könnte ich mir sonst nicht erklären, wie er entkommen wäre. Ich ließ sofort alle drei Ausgänge des Schlosses durch den alten Paul untersuchen, der feststellte, das; sie von innen verschlossen und durch die Sperrketten gesichert waren.«

Er warf einen langen, traurigen Blick auf den Toten und wandte sich dann seufzend zum Gehen.

»Armer, armer Freund, wer hätte geahnt, daß wir uns so wiedersehen mußten, nachdem wir zwei Stunden zuvor uns im besten Wohlsein eine gute Nacht wünschten!«

III.

Die Sonne stand noch nicht am Himmel, als zwei Wagen in raschem Trab den Park passierten und vor dem Schloßportal hielten.

»Die Kommission ist da!« schrie der Stalljunge aufgeregt in eines der Zimmer zu ebener Erde, wo sich die Dienerschaft versammelt hatte und laut diskutierend die Ereignisse der Nacht besprach.

»Endlich! Und daß du mir nun ganz genau alles sagst, was du gesehen haben willst,« sagte der alte Gärtner Martin zu seinem Gehilfen, einem siebenzehnjährigen Burschen, der blaß und verstört zusammenfuhr, als sein Meister ihn anredete. »Wie viele sind ihrer denn?« wandte der Alte sich an den knapp vor dem Fenster stehenden Stalljungen.

»Sechs Herren. Einer davon ist der Bezirksarzt Dr. Straub, der schon vor zwei Stunden hier war. Neben den Kutschern sitzen noch zwei Polizeileute. Aha, jetzt winken sie dem langen, klapperdürren Herrn, der uns vorhin alle ausfragte ...«

»Hab mir's gleich gedacht, daß der 'n Detektiv ist, den sie sozusagen auf Vorposten rekognoszieren geschickt haben! Na schön, Peter, du kannst jetzt hereinkommen. Es macht sich besser, wenn wir alle beisammen sind.«

Draußen sagte Untersuchungsrichter Wasmut zum Staatsanwalt und zum Polizeikommissär: »Nun wollen wir erst einmal hören, was Haller zu berichten hat. Sie kennen doch Haller, Herr Staatsanwalt?«

»Natürlich! Sehr geschickter Detektiv. War eine gute Idee, ihn sogleich herauszuschicken. Es ist immer gut, wenn man vor dem Einzelverhör einen Ueberblick gewinnt über die internen Verhältnisse des Hauses. Holla, Herr Hempel – wohin denn! Sie werden uns doch nicht ausreißen?«

Der Angesprochene, ein blonder Mensch von unbestimmbarem Alter mit ziemlich nichtssagenden Gesichtszügen, blieb lächelnd stehen.

»Herr Staatsanwalt entschuldigen, ich bin ja nicht als Amtsperson hier und möchte ein bißchen spazieren gehen.«

»Aber ich dachte, der Fall interessiere Sie? Sie wollten ja partout mit!«

»Gewiß. Eben deshalb. Ich finde den Park hier wundervoll. Sie gestatten gewiß, daß ich mir die Szenerie ein wenig ansehe?«

»Wenn Ihnen das interessanter scheint als Hallers Bericht und die Vernehmung nachher ...«

»Oh, das kann ich später ja alles im Protokoll nachlesen!«

Der Untersuchungsrichter lachte.

»Ganz Silas Hempel! So ist er immer: er muß das Gras selber wachsen hören! Was die andern davon erzählen, interessiert ihn nicht. Na, lassen wir ihn!«

Hempel verbeugte sich lächelnd und verschwand hinter einer Baumgruppe, gefolgt von den halb spöttischen, halb ärgerlichen Blicken der andern Herren.

»Ein komischer Kauz!« brummte der Staatsanwalt. »Man könnte ihn manchmal wirklich für verrückt halten!«

Polizeikommissär Stümper lächelte fein.

»Aber meist ist Methode in seinem Wahnsinn, meine Herren, und ich wollte, ich hätte Hempels hellen Kopf! Schade, daß er sich durchaus nicht entschließen will, bei uns einzutreten, sondern am liebsten für sich arbeitet ...«

»Und zwar nicht aus Eigennutz, sondern aus einfacher Liebhaberei,« ergänzte Dr. Wasmut, »dies ist auch der Grund, weshalb ich ihm seine Bitte mitzukommen nicht abschlagen konnte. Idealisten sind in unserer Zeit fast etwas Rührendes! Aber nun an die Arbeit!«

Er wandte sich an den bescheiden wartenden Detektiv Haller.

»Nun, Haller – kurz und bündig: was haben Sie inzwischen hier herausgebracht?«

»Daß Herr von Rittler durch zwei Schüsse, wahrscheinlich von außen, getötet wurde, während er arbeitend an seinem Schreibtisch saß. Zu seiner Linken befindet sich ein Fenster, das in den Park geht. Die eine Scheibe ist total zertrümmert. Der erste Schuß war offenbar nicht tödlich, denn das Opfer sprang auf, um zu flüchten, wobei es den Revolver mitnahm, der nach Aussage des Kammerdieners stets geladen in seinem Schreibtisch lag. Eine Blutspur bezeichnet deutlich den Weg, den Herr von Rittler genommen. Ungefähr in der Mitte des Zimmers scheint ihn der zweite Schuß und zwar in die Schläfe getroffen zu haben. Dieser war sofort tödlich. Der Verwundete machte noch ein paar Schritte und stürzte dann vornüber in einen Winkel, wo ihn wenige Minuten später seine beiden Töchter bereits als Leiche fanden.«

»War sein eigener Revolver abgeschossen?«

»Nein. Er lag noch in allen Läufen geladen neben der Leiche.«

»Wo befindet sich das Zimmer, in dem die Tat geschah? Zu ebener Erde?«

»Nein, im ersten Stockwerk.«

»Aber wie konnte dann der Mörder durchs Fenster schießen?«

»Dafür gibt es zwei Möglichkeiten: Ein Rosenspalier ziemlich fester Konstruktion, das sich an der Schloßmauer bis an die Fenster des ersten Stockwerkes zieht. Dann eine Hainbuchengruppe, die genau dem fraglichen Fenster gegenübersteht und von jedem Kind mit Leichtigkeit erklettert werden kann. Man übersieht von ihr aus das Arbeitszimmer in seiner ganzen Ausdehnung.«

»Dann müssen sich ja Fußspuren unten vorfinden!«

»Leider nicht. Ich habe alles mit großer Genauigkeit abgesucht, aber nirgends auch nur die kleinste Spur gefunden. Der Kies konnte ja wohl kaum deutliche Spuren ergeben, aber dicht vor dem Rosenspalier und rings um die Hainbuchen befindet sich lockere schwarze Gartenerde, die jeden leisesten Eindruck bewahren müßte.«

»Vielleicht hat es nachts hier geregnet? Es hat gegen Mitternacht ja auch bei uns in der Stadt gedonnert und geblitzt!«

»Nein, es fiel kein Tropfen. Ein heftiger Sturm, der plötzlich ausbrach, trieb das Gewitter wahrscheinlich weiter, ehe es sich entladen konnte.«

»Wie steht es um die Familienverhältnisse des Ermordeten? Wer wohnt im Schloß?«

»Die beiden erwachsenen Töchter aus erster Ehe, die zweite Frau, eine geborne von Eckmann, Offizierswaise, und ihr ehemaliger Vormund, Major Botstiber, der, zugleich ein Freund des Verstorbenen und Taufpate von dessen einzigem Sohn aus zweiter Ehe, hier seine Pension verzehrt.«

»Wo und was ist der Sohn?«

»Ein elfjähriger Knabe, der sich zu Wiener-Neustadt in der Militär-Akademie befindet.«

»Was ist der Major für ein Mensch?«

»Tadelloser Kavalier, der, im übrigen gutmütig, etwas pedantisch und sehr glücklich darüber scheint, auf Kreuzstein nicht nur seine Heimat, sondern auch einen Wirkungskreis gefunden zu haben.«

»Wieso? Bekleidet er eine bestimmte Stellung im Hause?«

»Nein, aber da er Freude zur Landwirtschaft hat, nahm er dem Verstorbenen, der sich lieber mit Wissenschaft beschäftigte, einen großen Teil Arbeit ab. Er führt alle Rechnungen, beaufsichtigt die Leute, liest Frau von Rittler täglich zwei Stunden vor, musiziert mit den jungen Damen, die ihn ›Onkel‹ nennen, und begleitet sie nach der Stadt, wenn sie Einkäufe besorgen. So hat er seine Zeit nützlich angewandt und ist allen fast unentbehrlich geworden. Die weibliche Dienerschaft schwört auf ihn, die männliche ist ihm nicht sehr grün, weil er gelegentlich ein recht strenger Herr sein soll. Jedenfalls aber ist er derjenige, der überall am besten Bescheid weiß und die genaueste Auskunft geben kann.«

Eine kleine Pause trat ein.

»Hm,« meinte dann der Staatsanwalt, »dies klingt ja ganz harmlos, aber man muß doch alle Eventualitäten erwägen ... wer weiß, ob die Gefälligkeiten dieses Herrn nicht einen ganz andern Hintergrund haben? Er könnte z. B, in die Frau des Hauses verliebt sein und sich einen verhaßten Nebenbuhler ...«

Haller lächelte.

»Genau dasselbe sagte ich mir auch, Herr Staatsanwalt, und forschte deshalb die Dienerschaft gerade über diesen Punkt sehr eingehend aus. Ich beobachtete auch den Major und erwog alle Möglichkeiten – aber gerade dadurch kam ich zu der Ueberzeugung, daß Major Botstiber in bezug auf den Mord völlig außer Betracht kommt. Erstens ist Frau von Rittlers Ruf tadellos und der Major ein alter, etwas pedantischer Herr, dem jede Fuhre Dünger in der Wirtschaft mehr am Herzen liegt, als alle Frauen der Welt, darüber ist alles im Hause einig. Zweitens schuf ihm das Vertrauen und die Freundschaft des Toten eine ebenso angenehme als selbständige Stellung im Hause, die durch dessen Ableben nicht verbessert, wohl aber verschlechtert werden konnte. Zum Beispiel, wenn es Frau von Rittler einfallen sollte, wieder zu heiraten –. Endlich besteht für Botstiber die physische Unmöglichkeit der Täterschaft.«

»Wieso?«

»Einfach weil er unter keinen Umständen Zeit gehabt hätte, ungesehen in seine Wohnung – diese liegt im zweiten Stockwerk – zurückzukehren. Zwischen dem zweiten Schuß und dem Eintritt der jungen Damen in das Sterbezimmer verstrichen höchstens 2-3 Minuten. Wäre der Täter im Zimmer gewesen, hätten die beiden Damen mit ihm zusammentreffen oder wenigstens noch seine sich entfernenden Schritte hören müssen, denn die Haupttreppe lag auf ihrem Weg. Eben deshalb bleibt keine andere Annahme übrig, als daß die Schüsse von außen durchs Fenster abgegeben wurden, obwohl mir diesbezüglich noch manches unklar ist. War der Mörder aber außerhalb des Hauses, wie hätte z. B. der Major in sein Zimmer gelangen können? Das Haustor war von innen geschlossen, über die Treppe eilte die durch den Schrei der Tochter alarmierte Dienerschaft! Ganz abgesehen davon, daß durch zwei einwandfreie Zeugen festgestellt wurde, wie der Major erst geweckt werden und sich ankleiden mußte, als man ihn holte. Somit besteht die physische Unmöglichkeit, daß er das Verbrechen beging.«

»Sie haben recht,« nickte der Staatsanwalt, »er kann es nicht gewesen sein. Wie steht es nun um die Ehe des Toten? War sie glücklich?«

»Hm – darüber scheinen die Ansichten in der Dienerschaft geteilt. Fest steht nur, daß der Ermordete seine Frau abgöttisch liebte. Sie aber scheint eine passive Natur zu sein, dabei etwas launenhaft und jedenfalls von Grund aus verwöhnt. Was sie will, geschah stets unbedingt. Nur in bezug auf ihre Bewegungsfreiheit scheint ihres Gatten Eifersucht sie beschränkt zu haben, weshalb es öfter Verstimmungen und kleine Szenen gab.«

»Wie steht es mit dem Nachlaß?«

»Frau von Rittler ist Universalerbin, d. h. sie hat den vollen Nutzgenuß, so lange sie lebt. Später fällt alles ihrem Sohne Leo zu. Die Töchter erster Ehe haben jede ihr eigenes Vermögen, das am Tage der zweiten Heirat ihres Vaters für sie deponiert wurde. Die Zinsen werden zugeschlagen, so lange sie im Elternhause leben, und das Kapital darf ihnen erst mit vollendetem 24. Lebensjahr ausgefolgt werden, und zwar nur dann, wenn sie vorher keine Heirat gegen den Willen ihres Vaters schlossen – andernfalls fällt das Geld an ihren Bruder Leo. Alle diese Bestimmungen erfuhr ich von einem Schreiber des Notars Dr. Funke, der das Testament in Händen hat, mit dem ich zufällig auf der Herfahrt das Coupé teilte.«

»Ist jemand unter der Dienerschaft, auf den ein Verdacht fallen könnte, die Tat begangen zu haben?«

»Kaum, so weit ich urteilen kann. Die Leute sind alle lange im Dienst auf Kreuzstein und offenbar sehr zufrieden. Sie liebten ihren Herrn und betrauern ihn anscheinend aufrichtig.«

»Aber irgend jemand muß die Tat doch begangen haben! Wenn Habsucht und Liebe wegfallen, bliebe als Motiv nur noch ein persönlicher Racheakt!?«

»Vielleicht lassen sich wirklich in dieser Richtung Spuren finden durch ein Dokument, welches ich in der Rocktasche des Toten fand,« erwiderte Detektiv Haller, plötzlich sehr ernst werdend, indem er einen Brief entfaltete und dem Untersuchungsrichter übergab.

Halblaut las Dr. Wasmut den Inhalt vor.

Geehrter Herr von Rittler!

Im Besitze Ihres ebenso rücksichtslosen wie tief verletzenden Schreibens, worin Sie meine Werbung um die Hand Ihrer Tochter als »empörende Frechheit« bezeichnen, habe ich nur zu erwidern, daß es nicht das Geringste an meinen Entschlüssen ändert. Es wird sich ja zeigen, wer in dieser Angelegenheit mehr Ausdauer und Energie besitzt. Jedenfalls sehe ich nur darum von einer gerichtlichen Austragung der Sache ab, weil Sie Yolanthes Vater sind, behalte mir aber eine persönliche Abrechnung – früher oder später – umso bestimmter vor. Denn Sie haben kein Recht, die Ehre eines Mannes anzugreifen, der kein anderes Verbrechen beging als das – Ihr Kind zu lieben. Möge der Versuch, in das Lebensglück zweier Menschen so hart einzugreifen, Sie niemals reuen.

Dr. Ernst Sturm.

Einen Augenblick lang herrschte Schweigen. Die Herren sahen einander betroffen an. Dann sagte Dr. Wasmut, den Brief einsteckend: »Dies ist jedenfalls ein sehr merkwürdiges Dokument! Immerhin wollen wir uns hüten, voreilig Schlüsse daraus zu ziehen, ehe wir wissen, wer dieser Dr. Sturm ist und wo er die Nacht vom 20. zum 21. verbracht hat.«

»Ganz meine Ansicht,« nickte der Polizeikommissär, »und da wir nun einen Ueberblick über die Verhältnisse hier haben, bin ich dafür, mit der Aufnahme des Tatbestandes zu beginnen.«

»Einen Augenblick noch,« sagte Detektiv Haller, »ich habe mich unauffällig bereits nach Dr. Sturm erkundigt. Er war ein Jahr lang Erzieher des kleinen Leo und verließ Kreuzstein im vorigen Herbst, als der Knabe in die Militär-Akademie kam. Gleich nachher errang er den Doktortitel an der technischen Hochschule, gewann den ersten Preis bei einer Schulbaukonkurrenz und trat vor zwei Monaten als Ingenieur in den Staatsdienst. Seine Eltern sind tot, er lebt mit einem alten Fräulein Rehbein, seiner Tante, zusammen und soll keinerlei Beziehungen mehr mit Kreuzstein unterhalten haben ... so behauptet wenigstens die Dienerschaft.«

IV.

Es war wie Haller sagte: niemand von der Dienerschaft wußte etwas über Beziehungen des einstigen Erziehers zu einer der jungen Damen.

»Entweder handelt es sich hier um ein Liebesverhältnis, das sehr geschickt vor aller Welt verborgen wurde,« sagte Dr. Wasmut leise zum Staatsanwalt, »oder dieser Dr. Sturm ist ein Frechling, der einfach ohne Wissen der jungen Dame um sie anhielt, was dann freilich eine derbe Abweisung nur zu erklärlich machte!«

»Darüber wird uns wohl jemand von der Familie – am besten die junge Dame selbst, Auskunft geben können.«

Wasmut fuhr fort, eine Person nach der andern zu befragen, aber sein Gesicht wurde dabei immer ärgerlicher, denn das Ergebnis war gleich Null.