Das Sozialprofil des Bundesnachrichtendienstes - Christoph Rass - E-Book

Das Sozialprofil des Bundesnachrichtendienstes E-Book

Christoph Rass

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Beschreibung

Dieses Buch gibt Antwort auf die Frage, wie biografische Prägungen aus der Zeit des Dritten Reiches den BND von den Anfängen 1946 bis 1968 beeinflusst haben. Auf der Grundlage von 3650 Lebensläufen rekonstruiert es darüber hinaus die soziale Zusammensetzung des Geheimdienstes und deren Veränderungen mit größter Detailschärfe über zwei Jahrzehnte hinweg. Die Studie bietet keine »Agentengeschichten«, sondern eine strukturanalytische Untersuchung der personellen Zusammensetzung einer wichtigen Behörde der jungen Bundesrepublik
und gibt einen tiefen Einblick in das Nachwirken der NS-Zeit. Mit dieser empirisch gut abgesicherten Sozialprofilanalyse liegt eine bislang einzigartige Grundlage für ein differenziertes Verständnis des Innenlebens eines Geheimdienstes vor.
(Band 1 der Veröffentlichungen der Unabhängigen Historikerkommission zur Erforschung der Geschichte des Bundesnachrichtendienstes 1945-1968)

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Christoph Rass

Das Sozialprofil des Bundesnachrichtendienstes

Veröffentlichungen der Unabhängigen

Historikerkommission zur

Erforschung der Geschichte des

Bundesnachrichtendienstes

1945 – 1968

Herausgegeben von Jost Dülffer,

Klaus-Dietmar Henke, Wolfgang

Krieger und Rolf-Dieter Müller

BAND 1

Christoph Rass

Das Sozialprofil des Bundesnachrichtendienstes

Von den Anfängen bis 1968

Die Rechtschreibung in der Studie folgt den aktuellen Empfehlungen der Dudenredaktion. Bei direkten Zitaten aus den Quellen wurden offensichtliche Druckfehler stillschweigend korrigiert, andere Eigenheiten und Fehler aus den Originaldokumenten übernommen.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

1. Auflage als E-Book, Oktober 2016

entspricht der 1. Druckauflage vom Oktober 2016

© Christoph Links Verlag GmbH

Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0

www.christoph-links-verlag.de; [email protected]

Cover: Stephanie Raubach, Ch. Links Verlag

Lektorat: Margret Kowalke-Paz, Berlin

eISBN 978-3-86284-360-2

Inhalt

Vorbemerkung

Gehlens Geheimdienst im Profil. Eine Einleitung

I. Grundlegendes zur Sozialprofilanalyse

1. Beschreibung der Personalunterlagen und der Stichprobe

2. Überlieferungslücken

3. Operationalisierung einer Sozialprofilanalyse

4. Zusammenfassung

II. Das Sozialprofil von Organisation Gehlen bzw. Bundesnachrichtendienst (BND)

1. Die personelle Expansion des Auslandsnachrichtendienstes

2. Grundlegende Charakteristika der Stichprobe

3. Veränderungen im Sozialprofil

Altersstruktur und Generationenwechsel

Geschlechterverteilung

Soziale Schichtung

Regionale Herkunft

4. Zusammenfassung

III. Biografische Resonanzen des Dritten Reiches

1. Zur Positionierung späteren ND-Personals im Dritten Reich

2. Ehemalige Mitglieder der NSDAP

Quellen zur NSDAP-Mitgliedschaft von ND-Personal

Parteieintritt späteren ND-Personals und erste Profilanalyse

Sozialprofil aller ehemaligen NSDAP-Mitglieder im ND-Personal

Verschwiegene und offengelegte NSDAP-Mitgliedschaften

Karrieremerkmale von ehemaligen NSDAP-Mitgliedern im ND

Ehemalige Mitglieder von NS-Organisationen

Zusammenschau

3. Ehemalige Angehörige staatlicher Institutionen des Dritten Reiches

Polizei- und Sicherheitsapparat

Wehrmacht und Reichsarbeitsdienst

Waffen-SS

Sonstige staatliche Institutionen höherer Ebene

Zusammenschau

4. Zusammenfassung

IV. Querschnitte

1. Geheimdienst und Geschlecht

2. Familienangelegenheiten: Verwandtschaft und Personalgewinnung

3. Wege in den BND: Arbeit für die Alliierten und Dienst bei der Bundeswehr

4. Organisationseinheiten und NS-Vergangenheit

5. Die Anderen: ND-Personal der Geburtsjahrgänge ab 1929

Erkenntnisse

Anhang

Dank

Abbildungs- und Tabellenverzeichnis

Abkürzungen

Literaturverzeichnis

Über den Autor

Vorbemerkung

Die Geschichte des Bundesnachrichtendienstes 1945–1968

Die Unabhängige Historikerkommission zur Erforschung der Geschichte des Bundesnachrichtendienstes 1945–1968 (UHK) wurde im Frühjahr 2011 berufen und sechs Jahre mit insgesamt 2,2 Millionen Euro aus Bundesmitteln finanziert. Die Kommission sowie ihre zeitweilig zehn Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, denen zu allererst gedankt sei, hatten im Bundeskanzleramt und im Bundesnachrichtendienst freien Zugang zu allen derzeit noch klassifizierten und bisher bekannt gewordenen Akten des Untersuchungszeitraums. Nach vorbereitenden »Studien« (www.uhk-bnd.de) legt sie ihre Forschungsergebnisse nun in mehreren Monographien vor. Die UHK hatte sich verpflichtet, die Manuskripte durch eine Überprüfung seitens des BND auf heute noch relevante Sicherheitsbelange freigeben zu lassen. Dabei ist sie bei keiner historisch bedeutsamen Information einen unvertretbaren Kompromiss eingegangen.

Das Forschungsprojekt zur Geschichte des BND unterscheidet sich von ähnlichen Vorhaben insofern, als es sich nicht auf die Analyse der personellen Kontinuitäten und Diskontinuitäten zur NS-Zeit beschränkt, sondern eine breit gefächerte Geschichte des geheimen Nachrichtendienstes aus unterschiedlichen Perspektiven bietet. Eine Bedingung der Vereinbarung mit dem BND war es gewesen, dass die UHK den Rahmen und die Schwerpunkte ihrer Forschung selbst festlegt. Gleichwohl waren auf einigen Feldern Einschränkungen hinzunehmen, namentlich bei den Partnerbeziehungen und den Auslandsoperationen des Dienstes.

Die Zusammenarbeit mit dem Bundeskanzleramt, vertreten durch Herrn Ministerialdirigent Hans Vorbeck, war ausgezeichnet. Bei den BND-Präsidenten Ernst Uhrlau, der das Projekt durchsetzte, Gerhard Schindler, der es förderte, und Bruno Kahl, der die Erträge erntet, stieß die Arbeit der Kommission auf wachsendes Verständnis und Entgegenkommen. Der Kommission ist es eine besondere Genugtuung, dass sie den entscheidenden Anstoß dazu geben konnte, dass die Einsichtnahme in historisch wertvolle Unterlagen des deutschen Auslandsnachrichtendienstes für alle Interessierten inzwischen zu einer selbstverständlichen Gewohnheit geworden ist.

Jost Dülffer, Klaus-Dietmar Henke (Sprecher),

Wolfgang Krieger, Rolf-Dieter Müller

Gehlens Geheimdienst im Profil.Eine Einleitung

»Gehlens Geheimdienst«1 betitelte am 26. Juli 1963 Marion Gräfin Dönhoff in der Wochenzeitung Die Zeit einen Artikel, in dem sie auf dem Höhepunkt der Krise um den »Verratsfall Felfe«2 voll Anerkennung und Lob, ja nicht ohne Bewunderung über Reinhard Gehlen und den Bundesnachrichtendienst sprach, um dann die Frage zu stellen, was die Anwesenheit von SS-Leuten in seinen Reihen für den westdeutschen Auslandsnachrichtendienst bedeute. Die Antwort hatte ihr der Nachrichtendienst über das Bundeskanzleramt in den Mund legen lassen.3 »Bei den SS-Leuten des BND«, folgte die Journalistin ihren Informationen, habe es sich vor allem um ehemalige Polizisten gehandelt, die ihren SS-Dienstgrad infolge der Rangangleichung nur nominell getragen hätten. »Das eine Prozent«, also etwa 40 von 4000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, das in diese Kategorie gefallen sei, seien »Kriminalkommissare und Polizeibeamte mit SS-Rang« gewesen.

Ein Prozent, 40 Männer, Polizeibeamte, die pro forma einen Dienstgrad der SS oder des SD getragen hätten – eine zeittypische Strategie des Wegkonstruierens einer Hinterlassenschaft des Dritten Reiches: Als belastet galten in den 1960er-Jahren Personen, die zur SS gehört hatten. Ganze Institutionen und Tausende Täterinnen und Täter ließen sich so systematisch ausblenden. Die Zahl der aus den Reihen der SS übernommenen Bediensteten setzte man so niedrig wie möglich an. Wie lächerlich und unglaubwürdig hätte eine Zahl unter einem Prozent gewirkt? Die Exkulpation schließlich erfolgte über den Hinweis der nominellen Zugehörigkeit von Polizisten, die eigentlich stets – so die Implikation – nur ihre Polizeiarbeit getan hätten.

Im Jahr 2016 steht im Artikel »Bundesnachrichtendienst« der Online-Enzyklopädie Wikipedia nachzulesen, in den 1950er-Jahren habe der Anteil der vormaligen NSDAP-Mitglieder am Personal des Nachrichtendienstes zwischen »13 % und 28 %« gelegen, davon seien auch 5 bis 8 % Angehörige von »SS, SD oder SA« gewesen. Die Aussage stützt sich auf im Internet kursierende Dokumente, die eine entsprechende Untersuchung der Org. Gehlen (Organisation Gehlen) seitens der CIA dokumentieren.4 Das Fazit des Berichts: Im Geheimdienst gab es so viele alte Parteigenossen wie im zweiten Deutschen Bundestag.5 Es folgt im Lexikonbeitrag eine Aufzählung von Mitarbeitern des Nachrichtendienstes, die zur schlimmsten Kategorie von NS-Tätern zu rechnen sind: Alois Brunner,6 enger Mitarbeiter von Adolf Eichmann,7 Wilhelm Krichbaum,8 Chef der Geheimen Feldpolizei, Franz Rademacher,9 Leiter des Judenreferats im Auswärtigen Amt, Walter Rauff,10 Mitarbeiter des Reichssicherheitshauptamtes und »Erfinder« der Gaswagen, Konrad Fiebig,11 Offizier im Einsatzkommando 9 der Einsatzgruppe B, Franz Alfred Six,12 Kommandeur des Vorauskommandos Moskau der Einsatzgruppe B.13 Die Arbeit der Unabhängigen Historikerkommission (UHK) wird diese Liste, auf die die Forschung bereits Dutzende weitere Namen gesetzt hat, erneut beträchtlich verlängern und differenzieren.14

Die Frage, wie stark der westdeutsche Auslandsgeheimdienst in den ersten Jahren seines Bestehens – und noch weit hinein in die 1980er- und 1990er-Jahre – geprägt war von Personal, das während des Dritten Reiches für Institutionen des NS-Staates gearbeitet oder sich über NS-Organisationen mit der Ideologie des Nationalsozialismus identifiziert hatte, wie auch durch Personen, die ganz konkret an Kriegsverbrechen und Holocaust als Täter beteiligt waren, begleitet Org. Gehlen und Bundesnachrichtendienst durch die Geschichte. Sie war schon immer ebenso eine politische wie eine historische Frage. Und so lassen sich auch alle Antworten, die inzwischen gegeben wurden, nur in ihren jeweiligen Kontexten lesen.15 Zugleich sagt jede Antwort – auch die in dieser Studie vorgelegte – etwas aus über den Zustand der Gesellschaft, die sie hervorbringt. Denn jede Antwort konstruiert aus Vergangenheit Geschichte. Eine empirische Annäherung an die eigentlichen Verhältnisse, die Zahl, die Verteilung, die Eigenschaften von Personen mit biografischen Verbindungen in die NS-Zeit und die Qualität dieser Vergangenheiten trägt daher nicht allein zu einem Verständnis einer Organisation bei, die im Nachkriegsdeutschland entstand und doch so eng mit der Zeit vor 1945 verbunden blieb. Daten zu Zahl und Anteil, Verteilung und Verweildauer der Nazis, die BND (Bundesnachrichtendienst) und Org. Gehlen über die Zeit in ihren Reihen aufnahmen, sind auch ein zentraler Anhaltspunkt für die Auseinandersetzung mit der beunruhigenden Frage, was das für die Arbeit des Geheimdienstes der zweiten deutschen Republik bedeutete.16

Diese Studie setzt an, eine neue Antwort zu geben. Wie haben biografische Resonanzen des Dritten Reiches – von einer einfachen Mitgliedschaft in der Hitlerjugend bis zu langjähriger Tätigkeit im Herzen der NS-Bürokratie, dem Dienst in den Streitkräften des NS-Staates oder der Täterschaft im Kontext von Vernichtungskrieg und Völkermord – das Sozialprofil der Organisation Gehlen bzw. des Bundesnachrichtendienstes zwischen 1946 und 1968 geprägt?17 Die Grundlage dieser Arbeit bildet weder eine Außenperspektive noch eine Selbsteinschätzung, sondern eine Zufallsstichprobe aus den personenbezogenen Akten aller Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Nachrichtendienstes, die vor dem 31. Dezember 1968 eine hauptamtliche Tätigkeit bei der Org. Gehlen bzw. dem BND aufgenommen hatten. Auf der Grundlage von 3650 Lebensläufen rekonstruiert sie die soziale Zusammensetzung des Geheimdienstes und deren Veränderung in großer Detailschärfe und mit hoher Genauigkeit.18

Versuche, personelle Kontinuitäten in Institutionen, Berufsfeldern oder regionalen Kontexten nicht allein exemplarisch, sondern über quantifizierende Untersuchungen systematisch zu analysieren, haben sich seit dem Aufleben einer stärker kritischen und sozial- bzw. gesellschaftsgeschichtlich ausgerichteten Auseinandersetzung mit diesem Erbe des Dritten Reiches in den 1970er-Jahren zunehmend ausgeweitet und differenziert. Erkundungen über das Handeln bestimmter Kollektive zwischen 1933 und 1945, die sich nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges zunächst einer kritischen Befragung hatten entziehen können, führten bald zu der Frage, was aus den identifizierten Akteuren nach der »Stunde null« geworden sei. Die Erkenntnisse waren vielfach niederschmetternd, und die Aufarbeitung der aufschimmernden Kontinuitätslinien erwies sich als ein schwieriges und auf zahlreiche Widerstände treffendes Unterfangen, nicht selten auch als eine Generationenfrage.19 Neben einer akteursorientierten Institutionengeschichte20 und einzelbiografischen Studien21 hat sich vor allem der kollektivbiografisch orientierte Zugriff als Forschungsmodus etabliert.22 Flankierend konnte sich eine stärker an sozialhistorischen Positionen angelehnte quantifizierende Betrachtung von Lebensläufen sowie daraus aggregierten Sozialprofilen von Organisationen entwickeln.23

Als mit dem Auftrag an eine Historikerkommission zur Untersuchung der Geschichte des Auswärtigen Amtes im Dritten Reich eine neue Serie von Projekten begann, die sich der NS-Vergangenheit von Behörden und anderen Institutionen widmen und dabei nicht nur zurück auf die Zeit vor 1945 blicken, sondern auch institutionelle und personelle Kontinuitäten in die BRD oder die DDR verfolgen sollten, lag also ein ganzes Spektrum bereits erprobter Methoden bereit.24 Neben Untersuchungen zu Ministerien25 und obersten Bundesbehörden26 haben sich inzwischen auch zahlreiche andere Institutionen, etwa die Parlamente von Niedersachsen, Bremen oder Hessen, entschlossen, personelle Kontinuitätslinien über die Zäsur von 1945 hinweg auszuleuchten.27 Dabei kommt das gesamte gerade umrissene Spektrum von Methoden zur Anwendung. Entsprechend akzentuiert präsentieren sich die Ergebnisse, denn jeder Zugriff hat seine Stärken und Schwächen. Richtet sich der Blick auf das Kollektiv in seinen institutionellen Rahmungen, verschwimmen im Narrativ häufig konkret handelnde Personen. Einzel- und selbst kollektivbiografische Tiefenbohrungen können zwar gerade die Akteure scharf zeichnen und in ihren Beziehungsgeflechten verorten, müssen notwendigerweise aber exemplarisch bleiben. Quantifizierende Lebenslauf- und Sozialprofilanalysen strukturieren Institutionen und biografische Muster, verlieren aber den Zugriff auf Kausalität und Handeln. Die begrenzte Leistungsfähigkeit jeder Methode gilt es anzuerkennen und zu benennen. Es lässt sich auch versuchen, methodisch hybride Studien zu erstellen, die letztlich allerdings meist Kompromisse mit sich bringen. Befriedigende Lösungen erfordern einen sich ergänzenden Methodenmix, bei dem jeder Ansatz seine Stärken entfalten kann und sich die Ergebnisse ineinander verschränken. Diesen Weg ist die Unabhängige Historikerkommission zur Erforschung der Geschichte des Bundesnachrichtendienstes und seiner Vorgängerorganisationen gegangen. Ihr Forschungsprogramm verbindet den einzelbiografischen Zugriff28 mit kollektivbiografischen Ansätzen29 und ergänzt diese durch eine mit diesem Band vorliegende, empirisch breit angelegte Sozialprofilanalyse auf der Basis von Lebenslaufdaten. Der Preis für dieses aufgefächerte Forschungsprogramm ist ein scheinbarer Verlust: Die unterschiedlichen Perspektiven sind nicht in einem einzigen Buch von einer Hand ineinander gewoben. Tatsächlich aber ist der eigentliche Gewinn beträchtlich, denn jede der drei Perspektiven auf die Akteure in Org. Gehlen und Bundesnachrichtendienst kann so ihre Stärken ausspielen und über eine Zusammenschau zur Grundlage weiterführender, integrierender Betrachtungen werden.

Die quantifizierende Sozialprofilanalyse des BND beschreibt Strukturen des Personalbestandes und deren Veränderung über einen Betrachtungszeitraum von der Mitte der 1940er bis zum Ende der 1960er-Jahre durch die Auswertung eines bisher wohl einzigartigen biografischen Datensatzes empirisch abgesichert und differenziert. Das Sozialprofil, bestehend aus Tausenden nebeneinandergelegten Lebensläufen, wird dabei übersetzt in Zahlen und Diagramme. Deren Interpretation zeichnet ein bisher unbekanntes Bild einer Institution, die nahezu alle eben aufgerufenen Zusammenhänge bisher sorgsam verschleiert hat. Das Individuum löst sich im Sozialprofil auf in Variablen, Kategorien, Grafen und Prozentzahlen und tritt nur noch exemplarisch illustrierend aus dem Dickicht entpersonalisierter Befunde hervor. Es entsteht aber eine Landschaft, eine Topografie des Sozialen einer bisher kaum sozialwissenschaftlich bzw. sozialhistorisch erforschten Organisation. Aus der möglichen Verortung und der so erreichten Kontextualisierung qualitativer Befunde der Studien und Beiträge des Forschungsprogramms der UHK bezieht der strukturanalytische Zugriff seine Stärke.

Gleichwohl muss im Bewusstsein bleiben, dass der Rohstoff der Quantifizierung Biografien sind. Jede der 3650 personenbezogenen Akten, die in die Stichprobe eingeflossen sind, steht für einen Lebenslauf. Es geht jedoch nicht mehr darum, den Einzelnen entlang einer Biografie durch Erfahrungs- und Handlungskontexte zu begleiten. Es geht nicht darum, auf spektakuläre Fälle, Führungszirkel oder Eliten zu fokussieren. Es geht tatsächlich darum, ein Profil zu bilden, mit dem Erkenntnisse über Handeln und Erfahrung in Beziehung gesetzt, in das Einzelbiografien und kollektivbiografische Befunde eingeordnet werden können. Dennoch treffen wir auf konkrete Personen, etwa auf Ebrulf Zuber, der am 28. März 1920 in dem Dorf Petersburg (Petrohrad) in Böhmen, damals in der Tschechoslowakei gelegen, als Sohn eines Gutsverwalters zur Welt kommt. Er besucht dort die Volksschule und wechselt 1911 auf das deutsche Gymnasium in Karlsbad, das er 1939 abschließt; die Tschechoslowakei war zu diesem Zeitpunkt bereits Opfer deutscher Aggression geworden. Im Alter von knapp 20 Jahren schließt sich Zuber nach drei Monaten beim Reichsarbeitsdienst als Freiwilliger der Waffen-SS an und avanciert zum »Führeranwärter«. Nach Abschluss seiner Offiziersausbildung gelangt er 1942 als Referent ins SS-Hauptamt in Berlin, wo er zeitweise zum Amt VI, zeitweise zur Germanischen Leitstelle gehört. Ende 1944 wird er wieder an die Front versetzt und wird als Kompanieführer im Rang eines Obersturmführers bzw. im Stab des Panzergrenadierregiments 23 sowie schließlich beim Generalkommando des III. Germanischen Panzerkorps der Waffen-SS eingesetzt. Am 2. Mai 1945 nehmen ihn Soldaten der Roten Armee gefangen. Überraschend wird er aber schon im September 1946 entlassen und kann sich in die US-amerikanische Besatzungszone absetzen, wo er allerdings zunächst interniert wird. Noch im amerikanischen Gewahrsam wird 1947 die Org. Gehlen auf ihn aufmerksam und betreibt seine Anwerbung und seine Entlassung. So tritt Zuber im Juni 1947 der Vorläuferorganisation des BND bei. Eine spätere Entnazifizierung entfällt, so seine Personalakte, »da er bereits der Vorläuferorganisation des BND angehörte und zwischen dieser und amerikanischen Stellen eine Vereinbarung darüber bestand, daß förmliche Entnazifizierungsverfahren in der Regel nicht durchgeführt werden sollen«.30 Im Dienst beginnt ein stetiger Aufstieg vom Aufklärer zum Leiter einer Außenstelle, später zum Unterabteilungsleiter. In den 1960er-Jahren finden wir ihn als Oberregierungsrat und Gruppenleiter für operationelle Sicherheit. 1963 wird er von Hans-Henning Crome bei dessen interner Suche nach NS-Verbrechern im BND befragt, aber nicht als Problem-fall eingestuft. Er kann seine Karriere unbehelligt fortsetzen.31 Ende des Jahrzehnts leitet er parallel die Bereiche Dokumentation und Datenverarbeitung und wird 1970 zum Direktor, dann zum Ersten Direktor im BND, dem er bis zu seinem Ausscheiden in den Ruhestand im Jahr 1985 angehört. Eine Prämie für »40 Jahre Dienstzeit« erhält er allerdings bereits am 28. April 1980, denn die Zugehörigkeit zu Reichsarbeitsdienst und Waffen-SS wird dabei berücksichtigt. Vorsorglich hat der spätere Direktor in seiner Personalakte seinen militärischen Rang zwar stets in Wehrmachtterminologie angegeben, seine Dienststellen bei der Waffen-SS bzw. im SS-Hauptamt aber nie verschwiegen.

Josef Heinrich Reiser ist 20 Jahre älter als Zuber. Er wird 1899 in Ehingen an der Donau im heutigen Baden-Württemberg geboren und wandert kurz vor dem Ersten Weltkrieg mit seinen Eltern nach Italien aus, wo er bis zur Ausweisung der Familie im Jahr 1915 eine Höhere Handelsschule besucht. Seinen Schulabschluss erwirbt er jedoch erst 1920 in Stuttgart, nachdem er als 16-Jähriger im Krieg erst im Vaterländischen Hilfsdienst arbeitet und zwischen 1917 und 1920 als Soldat dient. In den 1920er-Jahren schlägt er sich als Kaufmann und Elektromonteur durch und verbringt dabei zwischen 1927 und 1931 einige Zeit als Angestellter einer englischen Firma in Brasilien. Im August 1933 gelingt es ihm, zurück in Stuttgart, eine Stelle bei der Gestapo zu ergattern – bereits 1932 war er Mitglied der NSDAP geworden. Nach einigen Jahren bei der Gestapo-Leitstelle Stuttgart wechselt Reiser bei Kriegsbeginn zur Stapostelle Karlsruhe und wird zunächst zum XIII. Armeekorps ins Protektorat Böhmen und Mähren, im Juli 1940 dann zum Chef der Sicherheitspolizei und des SD beim Militärbefehlshaber in Frankreich abgeordnet. Er leitet dort als SS-Hauptsturmführer das Referat Abwehr Kommunismus-Marxismus und übernimmt 1942/43 für kurze Zeit das Sonderkommando »Rote Kapelle«. Ende 1943 kehrt unser Mann nach Stuttgart zurück und verbringt kurz vor Kriegsende noch einige Monate in einer Volksgrenadierdivision. Mit ihr gerät er in französische Gefangenschaft und wird in ein Militärgefängnis nach Frankreich überstellt, wo offenbar Ermittlungen gegen ihn laufen. Im Jahr 1949 erfolgt jedoch die Entlassung ohne Schuldnachweis, und auch in Deutschland bleibt 1951 ein Entnazifizierungsverfahren folgenlos. Zu diesem Zeitpunkt gehört Reiser bereits seit knapp einem Jahr zur Org. Gehlen, für die er im April 1950 – im Alter von 51 Jahren – tätig wird. Im Nachrichtendienst ist er als Ermittler und Leiter von Ermittlergruppen in Süddeutschland tätig. Dienstorte sind wieder Karlsruhe und Stuttgart. Zeitweise wird er mit einer Operation gegen vermeintliche Überreste der »Roten Kapelle« betraut. Reiser gerät 1963/64 allerdings aufgrund seiner Vergangenheit bei der Gestapo und mutmaßlicher Beteiligung an NS-Gewaltverbrechen – so wie auch Ebrulf Zuber – ins Visier der Dienststelle 85, die empfiehlt, ihn aus dem Nachrichtendienst zu entfernen.32 Reiser hat ohnehin gerade das Rentenalter erreicht und wird nach kurzer Beurlaubung 1964 in den Ruhestand versetzt.

Reiser und Zuber durchleben das Dritte Reich und den Zweiten Weltkrieg in unterschiedlichen Generationen. Zuber, Angehöriger der deutschen Minderheit in der Tschechoslowakei, schließt sich als junger Mann von 20 Jahren einer vermeintlichen Eliteorganisation des NS-Staates an und macht rasch Karriere. Sein Weg führt ihn dicht ans Zentrum der Macht und des Rassenwahns, aber auch in den Mahlstrom des Krieges. Mit 27 Jahren ist er 1947 noch ein junger Mann, als er Mitarbeiter des Nachrichtendienstes wird. Nun macht er eine zweite steile Karriere bis fast an die Spitze des BND. Sein Ausscheiden Mitte der 1980er-Jahre unterstreicht, wie lange Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die im Dritten Reich wichtige Positionen im NS-Machtapparat innehatten, den westdeutschen Auslandsnachrichtendienst geprägt haben. Reiser dagegen gehört zur letzten Generation, die im deutschen Kaiserreich aufwächst und durch den Ersten Weltkrieg aus ihrem antizipierten Lebensverlauf gerissen wird. Entsprechend gebrochen und unstet wirkt seine Biografie in den 1920er-Jahren. Für ihn ist es mit 34 Jahren bereits ein spätes Ankommen, als er 1933 eine Stelle bei der Gestapo übernimmt. Reiser ist ein Quereinsteiger ohne jede polizeiliche Vorerfahrung, der seine Chance möglicherweise der Entscheidung für den Nationalsozialismus verdankt. Bei der Gestapo ist Reiser Teil eines Apparates, der zunächst die deutsche Gesellschaft, dann die vom Dritten Reich besetzten Territorien erbarmungslos durchherrscht.33 Sowohl in Deutschland als auch bei den Besatzungsbehörden wird er als Täter schuldig geworden sein. Das Ende des Zweiten Weltkrieges schneidet, wie drei Jahrzehnte zuvor die Niederlage des Kaiserreiches, in seinen Lebensweg. So muss dem schon über 50-Jährigen die Chance, für die Org. Gehlen zu arbeiten, so wie 1933 die Chance, bei der Gestapo anzufangen, wie eine Rettung vorgekommen sein. Seine Aufgaben und Einsatzorte beim Nachrichtendienst scheinen darauf hinzudeuten, dass man dort »Spezialisten« schätzte. Reiser leitete nicht allein Ermittlungsgruppen, er bewegte sich auch in den Regionen, für die er auch bereits bei der Gestapo zuständig gewesen war. Und er jagte alte Gegner – in den 1950er-Jahren freilich Chimären –, als er im Auftrag der Org. Gehlen aufs Neue der »Roten Kapelle« nachspürte.

Zwei Generationen, zwei Karrieren, zwei von Tausenden Angehörigen des westdeutschen Auslandsnachrichtendienstes nach 1945, deren politisches Bekenntnis zum Nationalsozialismus, deren bereitwillige Arbeit im Machtapparat des Dritten Reiches und deren offenbar problemloses Eintreten in den Geheimdienst nach 1945 die Fragen stellen lassen, wie solche Männer in Org. Gehlen bzw. BND Fuß fassen konnten und was ihre Präsenz für die Haltung und die Arbeit des Dienstes bedeutet hat. Beide werden durchleuchtet, als der Nachrichtendienst sich der Risiken bewusst wird, die für seine Arbeit von Personal mit einer problematischen Vergangenheit im Dritten Reich ausgehen. Der noch relativ junge Waffen-SS-Veteran Zuber bleibt unangefochten, der alte Gestapomann Reiser wird unauffällig in den Ruhestand versetzt.

Wofür stehen diese beiden Lebensläufe? Sind sie typisch, exemplarisch oder außergewöhnlich im Spektrum der Biografien und Karrieren des ND-Personals der ersten beiden Nachkriegsjahrzehnte? Sie lernen in dieser Studie zu Org. Gehlen und BND über 3650 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Nachrichtendienstes kennen. Männer und Frauen, die zumindest zeitweise hauptamtlich für den deutsche Auslandsnachrichtendienst gearbeitet, zwischen 1945/46 und 1968 ihren Dienst aufgenommen haben und teils bis in die frühen Jahre des 21. Jahrhunderts in der Behörde präsent waren – Geheimagenten im landläufigen Verständnis.34 Sie werden indes keine Geschichten über ihr Handeln im Dienst lesen, kein Narrativ über das Wirken von Nazis in einer bundesrepublikanischen Institution. Die Aufgabe dieser Studie ist die Ermittlung des Sozialprofils des westdeutschen Auslandsnachrichtendienstes und dessen Veränderung zwischen der Gründung der Org. Gehlen kurz nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Ende der Ära Gehlen im Bundesnachrichtendienst im Jahr 1968. Wir befassen uns dazu mit den Lebensläufen der Männer und Frauen, die zufällig ermittelt wurden und als Pars pro Toto für den Dienst stehen, und rekonstruieren über Analysen das Sozialprofil dieses Kollektivs.

Dieses Sozialprofil ist natürlich selbst eine Konstruktion: Es nutzt Personalakten, die Daten und Angaben über die Lebensläufe von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern dokumentieren. Diese wurden über einen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten zunächst durch die Organisation Gehlen, später durch den Bundesnachrichtendienst geführt und verzeichnen Informationen, die aus bestimmten Gründen zu bestimmten Zeitpunkten für den Nachrichtendienst wichtig waren, so wie diejenigen, über die diese Akten geführt wurden, diese preisgaben, um sich selbst in einer bestimmten Art und Weise zu präsentieren. Die auf diese Weise hergestellten Wirklichkeitskonstruktionen werden durch die systematische und reduktionistische Übertragung in ein relationales Datenbanksystem, durch die damit verbundenen Abstraktionen sowie schließlich die Codierung der Daten zur quantifizierenden bzw. strukturanalytischen Auswertung ein weiteres Mal transformiert.

Auf der einen Seite steht also eine durch Quellen und Erhebungsverfahren überaus aussagekräftige Stichprobe als Datenbasis, auf deren Grundlage sich ausgesprochen zuverlässige Aussagen über das Personal von Org. Gehlen und BND treffen lassen. Auf der anderen Seite bleibt das Wissen, dass es sich um ein Abbild der Sicht des Nachrichtendienstes auf sich selbst durch die von ihm hervorgebrachten personenbezogenen Akten handelt, rezipiert und bearbeitet aus der Perspektive eines empirisch arbeitenden Sozialhistorikers.

Diese Studie handelt drei thematische Komplexe ab:

(1) Das allgemeine Sozialprofil des westdeutschen Auslandsnachrichtendienstes zwischen 1946 und 1968 bestimmt über grundlegende Parameter wie Geschlecht, Alter, sozialer Status, Bildungsstand, Konfession und geografische Herkunft Merkmale des Personals. Dabei gilt es nicht zuletzt auch durch die Beobachtung der Fluktuationsmuster Veränderungen nachzuzeichnen. Dadurch lässt sich beispielsweise überhaupt erst ein Indikator für das Wachstum des Geheimdienstes selbst ermitteln, der systematische Anhaltspunkte für den Verlauf des personellen Aufbaus über die ersten beiden Jahrzehnte bietet.

(2) Fragen der formalen Belastung des Personals durch die Zugehörigkeit zu Institutionen des NS-Staates, wobei die Positionierung von Personen in der NS-Zeit ebenso interessant ist wie deren spätere Verteilung in der Org. Gehlen bzw. dem BND.35 Die Verlaufsanalyse leistet dabei einen wichtigen Beitrag zum Verständnis der komplexen Muster der Präsenz vormaliger NS-Funktionsträger im Nachrichtendienst.36

(3) Ausgewählte Strukturen innerhalb des Dienstes, etwa soziale Zusammensetzung und Karrieremuster des weiblichen Personals, Charakteristika unterschiedlicher Teilbereiche der Organisation, die Personalgewinnung aus der Bundeswehr oder verwandtschaftliche Binnenbeziehungen im Nachrichtendienst.

Was wissen wir bereits über diese Sachverhalte und Zusammenhänge? Org. Gehlen und Bundesnachrichtendienst haben wissenschaftliche und publizistische Aufmerksamkeit in vier teils überlappenden Wellen erfahren, sodass inzwischen eine breite Basis teils wissenschaftlicher, teils publizistischer Veröffentlichungen vorliegt. In den 1970er- und 1980er-Jahren bestimmten vor allem Beiträge aus dem Nachrichtendienst heraus, insbesondere von Reinhard Gehlen und ersten Aussteigern – zu denken wäre an Heinz Felfe – sowie anderen prominenten Akteuren den Diskurs.37 Unmittelbar anschließend entfaltete sich ein publizistisches Feld, in dem sich ehemalige BND-Angehörige und ab den 1990er-Jahren auch deren ehemalige Gegner aus dem Ministerium für Staatssicherheit der DDR zu Wort meldeten und eine oft skandalisierende Geheimdienst-Historiografie betrieben.38 Parallel etablierte sich allerdings auch eine international aufgestellte kritische Forschung zur Geschichte von geheimen Nachrichtendiensten, die zunehmend auch Org. Gehlen und BND in den Blick nahm und sich sowohl von Vereinnahmung als auch von vorschneller Sensationsgier emanzipieren konnte.39 Neben Arbeiten aus dem deutschsprachigen Raum sorgten vor allem seine Verbindungen zum US-amerikanischen Geheimdienst im Kontext des Kalten Krieges für wachsendes internationales Interesse am westdeutschen Auslandsnachrichtendienst.40 Biografische Studien schließlich haben, zunächst eher unkritisch, inzwischen aber im Sinne der Neuen Biografik immer wichtiger für die Auseinandersetzungen mit Kontinuitäten zwischen NS-Zeit und Nachkriegsdeutschland sowie mit den Zusammenhängen zwischen Individuen und Institutionen, vor allem in jüngerer Zeit zentral wichtige Beiträge zu einer kritischen Geheimdienstgeschichte geleistet.41 Mit der Beauftragung der Unabhängigen Historikerkommission ist die Forschung zu Org. Gehlen und BND in eine neue Phase eingetreten. Zum ersten Mal kann die Wissenschaft – uneingeschränkt – auf die Aktenüberlieferung des Nachrichtendienstes selbst zugreifen. Der laufende Prozess der Überführung von Aktenbeständen aus dem BND-Archiv in das Bundesarchiv sorgt gleichzeitig für wachsende Transparenz und einen sich ausweitenden Zugriff der Öffentlichkeit auf diese wichtigen Quellen.

Die von den Fragestellungen dieser Untersuchung adressierten Sachverhalte sind in diesem bereits gereiften, zunehmend differenzierten und sich dynamisch entwickelnden Forschungsfeld ständig präsent. Was also wissen wir, in knapper Skizze, über (1) die soziale Zusammensetzung, (2) den Grad der NS-Belastung sowie (3) Generationen- oder Geschlechterfragen in der Geschichte von Org. Gehlen und BND?

Bereits die Größe der Organisation und die Entwicklung ihres Personalbestandes müssen als ungeklärt gelten. In der Literatur liegen punktuelle Erkenntnisse vor, die von wenigen Dutzend Mitarbeitern um 1946/47, einigen hundert – oder auch Tausenden – Ende der 1940er-Jahre und einem in seinen Strukturen nicht weiter differenzierten Wachstumsprozess ausgehen, der in der Gegenwart zu etwa 6000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des BND führt. Unterscheidungen zwischen haupt- oder nebenamtlichem Personal, zwischen Mitarbeitern und V-Leuten oder Quellen werden dabei kaum getroffen. Letztlich handelt es sich weitgehend um die fortwährende Reproduktion der wenigen kursierenden und häufig kaum belegten Zahlen.42 Klar ist jedoch, dass der westdeutsche Auslandsnachrichtendienst in den ersten Jahrzehnten seiner Existenz ein extremes Größenwachstum erlebte und dass sich dabei eine über unterschiedliche Kategorien von Zugehörigkeit erstreckende Personalstruktur herausbildete. Beide Entwicklungen gilt es nachzuzeichnen und zu differenzieren.

Die NS-Belastung von Org. Gehlen und BND durch die Präsenz von Personen, die zwischen 1933 und 1945 im Dienst des Dritten Reiches gestanden hatten und zum Teil durch ihre Beteiligung an Repression, Gewaltherrschaft, Kriegsverbrechen und Völkermord schwerst belastet waren, gehört ebenfalls zu den in der Forschung unausgesetzt bearbeiteten Fragen. Im Untersuchungszeitraum selbst – und vielfach noch darüber hinaus – changierten die Antworten zwischen dem Wegkonstruieren entsprechender Verbindungen einerseits und nicht selten politisch motivierten Anschuldigungen andererseits. Die Aussagen bewegten sich entsprechend zwischen einem »so gut wie niemand«43 und einem »so gut wie jeder«44 – während die periodisch entlarvten NS-Täter in den Reihen des Geheimdienstes immer wieder zu Anfragen aus Politik und Öffentlichkeit führten.45 Auch finden sich immer wieder Versuche, NS-Belastung im Personal des Nachrichtendienstes auf scheinbar eindeutige Zahlen zu reduzieren, so wie im eingangs zitierten Beispiel oder in anderen Einschätzungen. Diese sprechen für Ende der 1940er-Jahre davon, dass »jeder Zehnte der rund 4000 Gehlen-Mitarbeiter durch seine Vergangenheit belastet« gewesen sei.46 Der gleiche Befund wird auch, gestützt auf Zeitzeugen, für das Jahr 1963 kolportiert, für das ebenfalls ein Anteil von 10 % »belasteten Personals« genannt wird.47 Welche Kriterien bei diesen Schätzungen galten, bleibt unklar. Auszugehen wäre am ehesten von einer Übernahme der Definitionen von NS-Belastung, die der Dienststelle 85 vorgegeben worden waren.48 Kontinuitäten und Verstrickungen betreffen aber etwa selbstverständlich auch vormalige Angehörige der Wehrmacht, die sich in geradezu prägender Anzahl und Positionierung nach 1945 im westdeutschen Auslandsnachrichtendienst versammelten. Ihre Bedeutung ist in der Literatur kaum zu übersehen und einschlägig belegt. Eine systematische Analyse ihrer Präsenz liegt indes noch nicht vor.49 Deutlich unterstreichen die vielen inzwischen bekannten Personen im ND-Personal mit einschlägiger NS-Vergangenheit einerseits, parallele Befunde zu anderen Institutionen auf beiden Seiten der Zäsur 1945 andererseits, dass eine massive Präsenz von Mitarbeitern – und übrigens auch Mitarbeiterinnen – zu erwarten ist, die sich mit dem Nationalsozialismus identifiziert oder ihm gedient und in seinem Sinne gehandelt haben. Einen Grad von Belastung jenseits intensiver Einzelfallbetrachtung und vagen Schätzungen zu messen und dabei nicht allein die exponierte Führungsebene des Nachrichtendienstes, sondern die gesamte Personalhierarchie in den Blick zu nehmen sowie ein differenziertes Modell unterschiedlicher Merkmale zur Positionierung von ND-Personal zwischen 1933 und 1945 zu entwickeln, zählt zu den Aufgaben dieser Untersuchung. Sie muss schließlich das Spannungsfeld vermessen zwischen der Anzahl von Personen mit biografischen Bezügen zur NS-Zeit im Nachrichtendienst und ihrem Anteil an dessen Personalbestand.

Ähnliches gilt für eine Vielzahl von weiteren Eigenschaften bzw. Profilmerkmalen des Personals von Org. Gehlen und BND im Betrachtungszeitraum. Welche Rolle spielten Mitarbeiterinnen im Nachrichtendienst – war weibliches Personal tatsächlich von marginaler Bedeutung? Gibt es Schwerpunkte und Veränderungen der regionalen und sozialen Herkunft – war der Nachrichtendienst in seiner Frühzeit tatsächlich von Eliten und von Personal von jenseits des Eisernen Vorhangs geprägt?50 Welche Bedeutung hatten Netzwerke und (›familiäre‹) Beziehungen für die Personalgewinnung – wurden Org. Gehlen und BND tatsächlich zu einem ›Familienunternehmen‹? In welchem Verhältnis standen unterschiedliche Generationen im ND-Personal – befehligte nach 1945 die NS-Führergeneration noch immer eine HJ-Generation, und wann begannen Nachgeborene das Profil zu bestimmen?51 Auch zu solchen Fragen bietet die Forschung bisher nur Einschätzungen, die sich zwischen der Reproduktion von Informationen, die teils aus dem Nachrichtendienst selbst stammen, Vermutungen begrenzter empirischer Reichweite und exemplarischen Aufzählungen bewegen.

Vieles wird gleichwohl offen bleiben, sei es, um in der Reichweite der gesammelten Daten zu bleiben, sei es, weil die organisatorische und zeitliche Rahmung des Projekts notwendige weiterführende Recherchen in Massendaten oder aufwändige Codierungen des Datensatzes nicht erlaubt hat. Die Möglichkeiten der quantifizierenden bzw. strukturanalytischen Auswertung der personenbezogenen Unterlagen des ND-Personals sind jedenfalls bei weitem noch nicht ausgeschöpft. Das Potential einer unmittelbaren Zusammenschau von Sachakten und Lebenslaufdaten bzw. Profilschnitten einerseits, von Sozialprofil und narrativen Quellen bzw. Egodokumenten andererseits weiter zu erschließen bleibt künftiger Forschung vorbehalten. Zu erwarten sind weiterführende Einblicke in den Zusammenhang zwischen dem Wer und dem Was ebenso wie in die historiografische bzw. publizistische Konstruktion von Org. Gehlen und BND oder in die Erfahrungsebene der Miterlebenden und Mitgestaltenden.

Diese erste strukturanalytische Studie über das Sozialprofil einer wichtigen Behörde der jungen Bundesrepublik und über das Nachwirken der NS-Zeit in der Nachkriegsgesellschaft bietet gleichwohl einen neuen Blick in das Innenleben eines Geheimdienstes. Der Text verzichtet in aller Regel auf die Nennung von Dienst- oder Klarnamen, diese sind für eine Profilanalyse nur wenig relevant. Für die Recherchen in Archiven außerhalb des Bundesnachrichtendienstes und die Bearbeitung der Akten sowie für das Ziehen der Stichprobe aus einer Namensliste des hauptamtlich tätigen Personals haben selbstverständlich alle Angaben wie Dienstname und -nummer bzw. Klarname zur Verfügung gestanden. Die illustrierend vorgetragenen biografischen Episoden und Lebensläufe bleiben bis auf einige Ausnahmen ebenfalls anonym. Im Datensatz selbst befinden sich natürlich die Akten zahlreicher prominenter und hochrangiger Angehöriger des Nachrichtendienstes. Dies ist bereits durch die Zufallsauswahl bedingt. Auch diese Fälle bleiben unmarkiert Teil der Stichprobe und werden nur entlang ihrer Variablen und Marker sichtbar. Dies ist dem Anspruch einer Profilanalyse geschuldet. Ein letzter einführender Hinweis gilt der Lesart der vorgelegten quantifizierenden Befunde. Zahlen suggerieren unbedingte Genauigkeit. Dieses Sozialprofil eines Nachrichtendienstes ruht einerseits auf einer Stichprobe von rund 30 % der personenbezogenen Akten einer gut dokumentierten und weitgehend vollständig überlieferten Grundgesamtheit. Der daraus resultierende Grad an Zuverlässigkeit ist hoch. Die in den Akten enthaltenen Informationen sind aber andererseits weder vollständig noch absolut präzise und häufig nicht überprüfbar. Im Zuge der Auswertung sind sie zudem durch Erfassung und Codierung mehrfach transformiert worden. Alle daraus resultierenden Befunde gilt es mit einer gewissen Toleranz zu lesen und zu interpretieren. Alle Aussagen beziehen sich zunächst auf die Stichprobe selbst. Ihre Qualität rechtfertigt es allerdings, das ermittelte Sozialprofil auf Org. Gehlen und Bundesnachrichtendienst insgesamt zu übertragen.

1Marion Gräfin Dönhoff: Gehlens Geheimdienst. Der Mann im Zwielicht und die Männer im Dunkeln, Die Zeit, 26. 7. 1963.

2Sabrina Nowack: Sicherheitsrisiko NS-Belastung. Personalüberprüfung im Bundesnachrichtendienst in den sechziger Jahren, Diss. Marburg 2016.

3BND-Archiv 1163, Bd. 2, Bl. 160 bzw. 162–172.

4Zur Begrifflichkeit siehe Bodo Hechelhammer: Nachrichtendienstliche Begriffsbestimmungen der »Organisation Gehlen« und des frühen Bundesnachrichtendienstes, Berlin 2012, zur Einschätzung durch die Forschung siehe David M. Mintert: »Seitdem in tiefer Schuld«. Der Ausnahmetäter Dr. Hans Schumacher; in: Die Gestapo nach 1945, hg. von Klaus-Michael Mallmann, Darmstadt 2009, S. 151–163. Hachtmeister leitet aus den CIA-Dokumenten ab, Anfang der 1950er-Jahre hätten 10 % des Personals der Org. Gehlen vor 1945 zu »RSHA oder Einsatzgruppen« gehört, Lutz Hachmeister: Weiße Flecken in der Geschichte des Bundesnachrichtendienstes, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13. 5. 2008, S. 50.

5https://de.wikipedia.org/wiki/Bundesnachrichtendienst [letzter Zugriff 28. 2. 2016].

6Donald M. McKale: Nazis After Hitler. How Perpetrators of the Holocaust cheated Justice and Truth, Lanham, MD 2012, S. 289.

7Bundesregierung: Stellungnahme der Bundesregierung zum Thema: Geheimhaltung von BND-Akten zur NS-Vergangenheit, Drucksache 17/4819 vom 9. 3. 2011.

8Robert Winter: Täter im Geheimen. Wilhelm Krichbaum zwischen NS-Feldpolizei und Organisation Gehlen, Leipzig 2010.

9Richard Breitman und Norman J. Goda: Hitler’s Shadow. Nazi War Criminals, U.S. Intelligence, and the Cold War, Washington D.C. 2010.

10 Bodo Hechelhammer: Kassationen von Personalakten im Bestand des BND-Archivs, Berlin 2011, S. 6, und vor allem Martin Cüppers: Walther Rauff – in deutschen Diensten. Vom Naziverbrecher zum BND-Spion, Darmstadt 2013.

11 Alex J. Kay: The Making of an SS Killer, Cambridge 2016.

12 Timothy Naftali: Reinhard Gehlen and the United States; in: U.S. intelligence and the Nazis, hg. von Richard Breitman, Cambridge 2005, S. 375–418; Andreas v. Bülow: Im Namen des Staates. CIA, BND und die kriminellen Machenschaften der Geheimdienste, München 1998, S. 384.

13 Die Liste erweitern etwa auch Klaus-Michael Mallmann und Andrej Angrick: Die Mörder sind unter uns. Gestapo-Bedienstete in den Nachfolgestellen des Dritten Reiches; in: Die Gestapo nach 1945, hg. von Klaus-Michael Mallmann, Darmstadt 2009, S. 7–54, oder Naftali, Reinhard Gehlen and the United, S. 375–418; Bülow, Im Namen des Staates, S. 390. Zahlreiche Fälle benennt beispielsweise auch Helmut Wagner: Schöne Grüße aus Pullach. Operationen des BND gegen die DDR, Berlin. 22001. Zu unterscheiden ist stets zwischen Personen, die zu den Quellen des Nachrichtendienstes gehört haben, und solchen, die unmittelbar zum ND-Personal zählten, siehe dazu etwa Peter Hammerschmidt: »Daß V-43 118 SS-Hauptsturmführer war, schließt nicht aus, ihn als Quelle zu verwenden.«: Der Bundesnachrichtendienst und sein Agent Klaus Barbie, Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 59 (2011) 4, S. 333–348; Peter Hammerschmidt: Deckname Adler. Klaus Barbie und die westlichen Geheimdienste, Frankfurt am Main 2014.

14 Siehe dazu etwa die Veröffentlichungsliste der UHK unter http://www.uhk-bnd.de/ [letzter Zugriff 2. 4. 2016].

15 Die Hauptakteure selbst beantworteten diese Frage selbstverständlich stets exkulpatorisch, siehe etwa James H. Critchfield: Partners at the creation. The men behind postwar Germany’s defence and intelligence establishments, Annapolis, MD 2003, S. 84; Reinhard Gehlen: Der Dienst. Erinnerungen 1942–1971, München 1973, S. 225. bzw. auch Waldemar Markwardt: Erlebter BND. Kritisches Plädoyer eines Insiders, Berlin 1996, S. 62.

16 Eine kurze Begriffsklärung mit Abriss über geheime Nachrichtendienste in Deutschland seit der Gründung des Deutschen Kaiserreiches gibt beispielsweise Niclas-Frederic Weisser: Die Entwicklung des Bundesnachrichtendienstes. Historische Einflüsse, Grundlagen und Grenzen seiner Kompetenzen, Göttingen 2014.

17 Diese Studie fasst Org. Gehlen und Bundesnachrichtendienst als eine Organisation auf und betrachtet die Gründung des BND 1956 als einen Übergang. Siehe dazu dezidiert Thomas Wolf: Die Anfänge des BND. Gehlens Organisation als Prozess, Legende, Hypothek, Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 64 (2016) 2, oder Wolfgang Krieger: Geschichte der Geheimdienste. Von den Pharaonen bis zur NSA, München 2014, S. 265.

18 Vor dem Hintergrund zahlreicher inzwischen gut dokumentierter Einzelfälle und des umfangreichen qualitativen Forschungsprogramms der Unabhängigen Historikerkommission muss eine sozialhistorische Strukturanalyse des Nachrichtendienstes als wichtige Ergänzung gelten, die es erlaubt, punktuelle Befunde im Profil von Org. Gehlen bzw. BND zu verorten. Wenig reflektiert mutet dagegen vorauseilende Kritik an einem diversifizierten Methodenspektrum an, siehe Matthias Ritzi und Erich Schmidt-Eenboom: Im Schatten des Dritten Reiches. Der BND und sein Agent Richard Christmann, Berlin 2011.

19 Dazu nur exemplarisch Ingo Müller: Furchtbare Juristen. Die unbewältigte Vergangenheit unserer Justiz, München 61989 oder Till Bastian: Furchtbare Ärzte. Medizinische Verbrechen im Dritten Reich, München 1995. Zur Bedeutung solch früher Aufarbeitung Michael Stolleis: Furchtbare Juristen; in: Deutsche Erinnerungsorte, hg. von Etienne François und Hagen Schulze, München 2001, S. 535–548.

20 Zu den Pionieren in diesem Arbeitsfeld zählt etwa Hans-Jürgen Döscher, siehe Hans-Jürgen Döscher: Das Auswärtige Amt im Dritten Reich. Diplomatie im Schatten der »Endlösung«, Berlin 1987.

21 Ulrich Herbert: Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft, Bonn 1996.

22 Michael Wildt: Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes, Hamburg 22002.

23 Mathilde Jamin: Zwischen den Klassen. Zur Sozialstruktur der SA-Führerschaft, Wuppertal 1984; Jens Banach: Heydrichs Elite. Das Führerkorps der Sicherheitspolizei und des SD 1936–1945, Paderborn 1998; Jens Gieseke: Die hauptamtlichen Mitarbeiter der Staatssicherheit. Personalstruktur und Lebenswelt 1950–1989/90, Berlin 2000; Helmut Müller-Enbergs: Die inoffiziellen Mitarbeiter, Berlin 2008; Christoph Rass: »Menschenmaterial«. Deutsche Soldaten an der Ostfront. Innenansichten einer Infanteriedivision, 1939–1945, Paderborn 2003.

24 Eckart Conze et al.: Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik, München 22010.

25 Frank Bösch und Andreas Wirsching: Die Nachkriegsgeschichte des Bundesministeriums des Innern (BMI) und des Ministeriums des Innern der DDR (MdI) hinsichtlich möglicher personeller und sachlicher Kontinuitäten zur Zeit des Nationalsozialismus. Abschlussbericht der Vorstudie, München 2015.

26 Imanuel Baumann et al.: Schatten der Vergangenheit. Das BKA und seine Gründergeneration in der frühen Bundesrepublik, Köln 2011; Constantin Goschler und Michael Wala: »Keine neue Gestapo«. Das Bundesamt für Verfassungsschutz und die NS-Vergangenheit, Reinbek 2015.

27 Albrecht Kirschner (Hg.): Abschlussbericht der Arbeitsgruppe zur Vorstudie »NS-Vergangenheit ehemaliger hessischer Landtagsabgeordneter« der Kommission des Hessischen Landtags für das Forschungsvorhaben »Politische und parlamentarische Geschichte des Landes Hessen«, Wiesbaden 2013; Stephan A. Glienke (Hg.): Die NS-Vergangenheit späterer niedersächsischer Landtagsabgeordneter. Abschlussbericht zu einem Projekt der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen im Auftrag des Niedersächsischen Landtages, Hannover 2012; Karl-Ludwig Sommer und Christian Weber (Hg.): Die NS-Vergangenheit früherer Mitglieder der Bremischen Bürgerschaft. Projektstudie und wissenschaftliches Colloquium, Bremen 2014.

28 Rolf Dieter Müller verfasst eine Biografie über Reinhard Gehlen.

29 Etwa Sabrina Nowacks Studie über den »besonderen Personenkreis« oder Gerhard Sälters Arbeiten über ehemalige Gestapobeamte im Nachrichtendienst.

30 Reinhard Gehlens Aussage, ihm sei fälschlich unterstellt worden, der Nachrichtendienst entziehe vormalige Angehörige von NS-Organisationen systematisch der Strafverfolgung, erscheint durch solche Vermerke in Personalakten widerlegt, siehe etwa Gehlen, Der Dienst, S. 186–187.

31 Siehe dazu Nowack, Sicherheitsrisiko NS-Belastung.

32 Ebd., S. 320.

33 Rüdiger Hachtmann: Elastisch, dynamisch und von katastrophaler Effizienz. Zur Struktur der Neuen Staatlichkeit des Nationalsozialismus; in: Der prekäre Staat. Herrschen und Verwalten im Nationalsozialismus, hg. von Sven Reichardt und Wolfgang Seibel, Frankfurt am Main 2011, S. 29–74.

34 Zur Datierung Jens Wegener: Die Organisation Gehlen und die USA. Deutsch-amerikanische Geheimdienstbeziehungen, 1945–1949, Berlin 2008, S. 57.

35 Die Frage der »formalen Belastung« diskutieren ausführlich Bösch, Wirsching, Die Nachkriegsgeschichte des Bundesministeriums, S. 5.

36 Insbesondere dieser Aspekt wird immer wieder als Forschungsdesiderat hervorgehoben, vgl. Hammerschmidt, »Daß V-43 118 SS-Hauptsturmführer war«, S. 333–348.

37 Heinz Felfe: Im Dienst des Gegners. Autobiographie, Berlin. 1988; Gehlen, Der Dienst; Reinhard Gehlen: Verschlußsache, Mainz 1980; Critchfield, Partners at the creation.

38 Exemplarisch Wagner, Schöne Grüße aus Pullach; Klaus Eichner und Gotthold Schramm: Angriff und Abwehr. Die deutschen Geheimdienste nach 1945, Berlin 2007; Norbert Juretzko und Wilhelm Dietl: Bedingt dienstbereit. Im Herzen des BND. Die Abrechnung eines Aussteigers, Berlin 32011; Ritzi/Schmidt-Eenboom, Im Schatten des Dritten Reiches.

39 Einen frühen Überblick gibt Wolfgang Krieger: German Intelligence History. A field in search of scholars; in: Understanding Intelligence in the Twenty-First Century, hg. von Len V. Scott und Peter Jackson, London 2004, S. 42–53; kurz herausgegriffen seien Wegener, Die Organisation Gehlen; Stefanie Waske: Mehr Liaison als Kontrolle. Die Kontrolle des BND durch Parlament und Regierung 1955–1978, Wiesbaden 2009.

40 Mary E. Reese: General Reinhard Gehlen. The CIA connection, Fairfax VA. 1990; Christopher Simpson: Blowback. America’s recruitment of Nazis and its effects on the Cold War, New York, NY 1988.

41 Hammerschmidt, Deckname Adler; Winter, Täter im Geheimen; Cüppers, Walther Rauff oder auch Klaus-Michael Mallmann (Hg.): Karrieren der Gewalt. Nationalsozialistische Täterbiographien, Darmstadt 2014; Klaus-Michael Mallmann (Hg.): Die Gestapo nach 1945. Karrieren, Konflikte, Konstruktionen, Darmstadt 2009 sowie nun auch Helmut Müller-Enbergs und Armin Wagner (Hg.): Spione und Nachrichtenhändler. Geheimdienst-Karrieren in Deutschland 1939–1989, Berlin 2016.

42 Eichner/Schramm, Angriff und Abwehr, S. 74; Friedrich-Wilhelm Schlomann: Was wußte der Westen? Die Spionage der nordamerikanischen CIA, des britischen SIS, des französischen DGSE und des westdeutschen BND gegen den Sowjetblock von 1945–1990, Aachen 2009, S. 92; Mintert, Seitdem in tiefer Schuld, S. 151–163; Krieger, Geschichte der Geheimdienste, S. 271; Bodo Hechelhammer: Die NS-Siedlung wird Geheimdienstzentrale; in: Geheimobjekt Pullach, hg. von Bodo Hechelhammer und Susanne Meinl, Berlin 2014, S. 139–241; Wolfgang Krieger: The German Bundesnachrichtendienst (BND). Evolution and Current Policy Issues; in: The Oxford Handbook of national security intelligence, hg. von Loch K. Johnson, Oxford 2010, S. 790–805; Krieger, Geschichte der Geheimdienste, S. 269–273; Hechelhammer, Die NS-Siedlung wird Geheimdienstzentrale, S. 139–241.

43 Critchfield, Partners at the creation, S. 82–87; Gehlen, Der Dienst, S. 225.

44 Klaus Eichner und Andreas Dobbert: Headquarters Germany. Die USA-Geheimdienste in Deutschland, Berlin 22001, S. 54; Markwardt, Erlebter BND, S. 61; Naftali, Reinhard Gehlen and the United, S. 375–418.

45 Krieger, The German Bundesnachrichtendienst BND, S. 790–805; Krieger, Geschichte der Geheimdienste, S. 270; Waske, Mehr Liaison als Kontrolle, S. 91.

46 Mintert, Seitdem in tiefer Schuld, S. 151–163.

47 Waske, Mehr Liaison als Kontrolle, S. 86.

48 Nowack, Sicherheitsrisiko NS-Belastung.

49 John J. Carter: American intelligence’s employment of former Nazis during the early Cold War. A revisionist history, Lewiston, N.Y. 2009, S. 65; Hermann Zolling und Heinz Höhne: Pullach intern. General Gehlen und die Geschichte des Bundesnachrichtendienstes, Hamburg 1971, S. 168; Eichner/Dobbert, Headquarters Germany, S. 51; Krieger, The German Bundesnachrichtendienst BND, S. 790–805.

50 Krieger, The German Bundesnachrichtendienst BND, S. 790–805.

51 Waske, Mehr Liaison als Kontrolle, S. 53, 124–125; Dieter Krüger: Reinhard Gehlen (1902–1979). Der BND-Chef als Schattenmann der Ära Adenauer; in: Konspiration als Beruf, hg. von Dieter Krüger und Armin Wagner, Berlin 2003, S. 207–236, sowie zeitgenössisch Gehlen, Der Dienst, S. 255.

I. Grundlegendes zur Sozialprofilanalyse

1. Beschreibung der Personalunterlagen und der Stichprobe

Diese Untersuchung des Sozialprofils basiert auf der Auswertung von personenbezogenen Akten bzw. Unterlagen, die sich auf eine Stichprobe von Personen beziehen, die im Betrachtungszeitraum zum deutschen Auslandsnachrichtendienst gehört haben. Aus den Karteien von dessen Personalverwaltung konnte eine Grundgesamtheit von 11 567 Personen ermittelt werden, die zwischen 1946 und 1968 zum hauptamtlichen ND-Personal zählten.1 Um ein zuverlässiges Bild der sozialen Zusammensetzung des Dienstes und deren Veränderungen im Betrachtungszeitraum ermitteln zu können, war es das Ziel, eine Quasizufallsstichprobe von rund 30 % der Akten der Grundgesamtheit zu bilden und in einer relationalen Datenbank zu erfassen. Diese Stichprobe wurde konkret durch Selektion jedes dritten Namens der die Grundgesamtheit repräsentierenden Personalliste bestimmt. Im Anschluss wurde im BND-Archiv geprüft, ob eine mit dem Eintrag in der Namensliste korrespondierende Personalakte vorhanden ist. Fehlte diese, wurde nach einer Sicherheitsakte gesucht. Sicherheitsakten überschneiden sich hinsichtlich der grundlegenden personenbezogenen Parameter weitgehend mit den Personalakten. Auf diese Weise konnte der beim BND vorhandene Bestand an personenbezogen Akten zum hauptamtlichen Personal im Untersuchungszeitraum ausgeschöpft werden. Ausschlaggebend war dabei, dass eine Person im Verlauf ihrer Tätigkeit für den Nachrichtendienst zumindest zeitweise zu diesem hauptamtlichen Personal gehörte. Grundsätzlich kannten BND und Org. Gehlen im Betrachtungsraum sogenanntes Y-Personal, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in pauschaler Entlohnung, X-Personal, eigentliche hauptamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, sowie Z-Personal, das seine Arbeit nebenamtlich ausübte.2 Übergänge zwischen diesen Statusgruppen waren häufig, sind in den personenbezogenen Akten jedoch nicht immer bzw. nicht eindeutig dokumentiert. In der Beobachtung der Zugehörigkeit werden Zeitintervalle in unterschiedlichen Statusgruppen daher stets zusammengefasst.3 Zugleich wies der westdeutsche Auslandsnachrichtendienst aufgrund seiner eigentümlichen Geschichte im Betrachtungszeitraum eine komplexe Schichtung unterschiedlicher Dienstverhältnisse auf. Vor seiner Umwandlung in eine Bundesbehörde herrschten tariflich und arbeitsrechtlich unbestimmte Anstellungs-, Dienst- oder Honorarverträge vor. Ab Mitte der 1950er-Jahre entstanden eine Gruppe verbeamteten Personals und eine Schicht von Angestellten nach Bundesrecht, die sich nicht über Hierarchieebenen oder Aufgabenbereiche systematisieren lassen. Daneben existierten noch immer Zeit- und Honorarverträge, Werkverträge und andere Beschäftigungsverhältnisse, die ebenso Studenten in den Semesterferien wie pensionierte Generäle der Bundeswehr betreffen konnten. Auch diese unterschiedlichen Statusgruppen lassen sich in den Daten der Stichprobe nicht ausnahmslos fein und zuverlässig voneinander scheiden, sodass sie zwar differenziert werden, wenn es etwa um bestimmte Dienstränge und ihre Funktionen geht, ansonsten aber nicht in Erscheinung treten. Die Studie erfasst ein Kollektiv, das im engeren Sinne das Personal des Nachrichtendienstes repräsentiert und dabei alle Arten der Zugehörigkeit durch Dienst- oder Arbeitsverhältnis bzw. sonstige vertragliche Bindungen berücksichtigt. Das Abbild von Org. Gehlen und Bundesnachrichtendienst, das dabei entsteht, umfasst mehr als die eigentlich zu einem bestimmten Zeitpunkt »hauptamtlich« eingebundenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Es ist ein Versuch, die konzentrischen Kreise aus nebenberuflich tätigen Personen, Honorarkräften sowie hauptamtlichen Beamtinnen und Beamten sowie Angestellten, zwischen denen die eigentlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Verlauf ihrer Zugehörigkeit mehrfach wechseln konnten, empirisch fundiert abzubilden. Erfasst werden im Sozialprofil die amorphe Gestalt des Nachrichtendienstes und deren Veränderung. Die Binnendifferenzierung der Zugehörigkeitsklassen aber geht vor dem Hintergrund vielfach fehlender Nachvollziehbarkeit der Statuswechsel zwischen dem Zugang zum Nachrichtendienst und dem Ende der Zugehörigkeit zunächst verloren.

Aus der Personalliste derjenigen, die im Betrachtungszeitraum zeitweise als hauptamtliches Personal geführt wurden, konnten in einem Quasizufallsverfahren 3865 Namen für die Stichprobe markiert werden. Dabei wurde bewusst auf die Grundgesamtheit des hauptamtlichen Personals zugegriffen, um die gesamte Hierarchie des Dienstes und beide Geschlechter zu berücksichtigen und gleichzeitig alle Generationen abzudecken.4 Kriterium für die Bildung der Grundgesamtheit war also, dass die Zugehörigkeit einer Person, die hauptamtlich für Org. Gehlen oder Bundesnachrichtendienst arbeitete, vor dem 31. Dezember 1968 begann.5 Die ersten in der Stichprobe über Personalunterlagen nachgewiesenen Zugehörigkeitsintervalle setzen daher im Juni bzw. Juli 1945 ein,6 die letzten noch in der Stichprobe erfassten Zugehörigkeitsintervalle im Dezember 1968. Entsprechend haben die letzten in der Stichprobe berücksichtigten Mitarbeiterinnen bzw. Mitarbeiter den Dienst zwischen 2008 und 2010 verlassen. Aus Gründen des Datenschutzes und der Sicherheit werden in dieser Auswertung Informationen aus Personalakten, die sich auf den Zeitraum nach dem 31. Dezember 1968 beziehen, daher nur ausnahmsweise herangezogen.7 Sie bilden jedoch eine wichtige Grundlage für die Präsenz von Residuen des Dritten Reiches im Nachrichtendienst über den eigentlichen Betrachtungszeitraum hinaus.

Die Überprüfung der Aktenlage für die 3865 ermittelten Individuen ergab, dass die Personalakten zu 53 Personen aus der Stichprobe mit dem Hinweis »kassiert« vernichtet worden waren.8 In 30 dieser Fälle konnte das Fehlen der Personalakte durch die Auswertung einer Sicherheitsakte kompensiert werden. In 1142 Fällen war ohne weiteren Hinweis keine Personalakte zu ermitteln.9 In 948 dieser Fälle konnte anstelle der fehlenden Personalakte eine Sicherheitsakte ausgewertet werden. In einem Fall handelte es sich um die Sicherheitsakte des ebenfalls beim BND beschäftigten Ehemanns, die ausreichend Informationen über die eigentliche Zielperson aufwies. In 2670 Fällen schließlich ließ sich zu dem gezogenen Namen eine reguläre Personalakte im BND-Archiv nachweisen.

Tabelle 1: Aktenlage

Aktenlage

Anzahl

Anteil

Personalakte kassiert

 23

  0,60

Personalakte kassiert, Sicherheitsakte vorhanden

    30

  0,78

Personalakte fehlt

  191

  4,94

Personalakte fehlt, Sicherheitsakte vorhanden

  951

  24,61

Personalakte vorhanden

2669

  69,07

n

3864

100,00

Zusammengefasst liegen für eine Stichprobe von 3864 hauptamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern 2669 (69,07 %) Personalakten und 951 (25,39 %) Sicherheitsakten vor, sodass insgesamt für 94,46 % der Fälle eine personenbezogene Akte ausgewertet werden konnte. Für 214 (5,54 %) Fälle konnte indes keine Akte nachgewiesen werden. Für die Mehrzahl der Auswertungen wurden diese nichtdokumentierten Fälle gestrichen.10 Es verbleiben 3650 Fälle, die aufgrund einer auswertbaren Akte in den Datensatz eingegangen sind. Die Stichprobe bildet die Grundgesamtheit mit einem Anteil von 31,5 % ab. Es kann von sehr zuverlässigen Aussagen aus den erhobenen Daten über das Sozialprofil des Nachrichtendienstes insgesamt ausgegangen werden.

Die ermittelten Akten wurden sukzessive im BND-Archiv in Pullach ausgehoben und durch eine Arbeitsgruppe digitalisiert, die aus sicherheitsüberprüften Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern bzw. reaktiviertem ehemaligem Personal des BND bestand. Die Angehörigen dieser Arbeitsgruppe wurden entsprechend eingewiesen, die Qualität der Dateneingabe fortlaufend beobachtet und geprüft. Mit Hilfe dieses Teams wurden ausgewählte Informationen aus den Personalunterlagen in einer relationalen Datenbank zusammengeführt. Diese Datenbank bildet bestimmte Teile der Personalakten quellennah ab, indem die verfügbaren Informationen so wie in der Akte vermerkt in die entsprechenden Felder der Datenbank übertragen wurden. Auf dieser Grundlage erfolgte später die Codierung und Auswertung der Daten.

Vorgesehen für die Erfassung waren folgende Variablen:11

Grunddaten zur Person: Geburtsdatum, Geburtsort, Geschlecht und Konfession sowie ggf. Sterbedatum; Wohnort und Beruf der Eltern; Familienstand sowie ggf. Anzahl, Geschlecht und Geburtsdatum der Kinder.

Bildungsweg und beruflicher Werdegang: Schulbesuch, Ausbildung bzw. Studium; berufliche Tätigkeiten in der Privatwirtschaft, Tätigkeiten im Staatsdienst, beides ggf. mit Informationen über Dienststellen- und Abteilungszugehörigkeiten sowie berufliche Position bzw. Dienststellung; ggf. Information über berufliche Tätigkeit für alliierte Dienststellen.

Politische Orientierung: Zugehörigkeit zu politischen Organisationen sowie Vereinen usw. und ggf. Informationen über hauptamtliche Tätigkeit, Ämter und Dienststellungen in diesen Organisationen; ggf. Informationen über durchlaufene Entnazifizierungsverfahren sowie staatsanwaltliche Ermittlungen im Zusammenhang mit NS-Gewaltverbrechen.

Kriegsgefangenschaft bzw. Internierung: Dauer der Internierung bzw. Kriegsgefangenschaft, Haftorte sowie ggf. Informationen über Haftgründe.

Tätigkeit für die Organisation Gehlen oder den Bundesnachrichtendienst: Datum und Umstände des Eintritts sowie des Austritts; Aufgaben und Dienstgrade im Nachrichtendienst mit Datum der Beförderung sowie Informationen über Dienstorte, Lehrgänge jeweils mit Angaben über Beginn und Ende von Stationierung bzw. Lehrgang; familiäre Beziehungen zu anderen Angehörigen des Nachrichtendienstes sowie Zugehörigkeit zu Organisationseinheiten im Nachrichtendienst mit Angabe über Beginn und Ende der Präsenz; Unterstellungsverhältnisse (Vorgesetzte).

Ein typischer Datensatz umfasst Daten zu allen bzw. zu einem Teil dieser Variablen und könnte somit folgenden Lebenslauf wiedergeben: Ein späterer Mitarbeiter des Bundesnachrichtendienstes kommt am 19. Juni 1903 als Sohn eines Oberlehrers in einer evangelischen Familie in Potsdam zur Welt, besucht zwischen 1911 und 1916 das Realgymnasium, das er mit dem Abitur abschließt. Seine Personalakte gibt an, dass der spätere Mitarbeiter des BND zwischen 1913 und 1922 bei der preußischen Armee bzw. bei der Reichswehr gedient hat. Nach seiner Entlassung absolviert er zwischen 1922 und 1924 eine Lehre bei der Darmstädter & Nationalbank in Berlin, bevor er ein Studium der Rechtswissenschaften beginnt. Dieses führt ihn zwischen 1924 und 1926 an die Universitäten Berlin, Greifswald und Leipzig. Im Alter von 24 Jahren schließt der spätere Mitarbeiter sein Studium mit einem Doktor-Examen ab. Kurz zuvor hat er geheiratet, aus der Ehe gehen zwei Söhne hervor. Nach dem Universitätsabschluss arbeitet er von 1926 bis 1929 als Kreditreferent bei der Deutschen Pächterkreditbank in Berlin, wechselt dann zur Hermes Kreditversicherungsbank AG in Berlin, wo er zwischen 1929 und 1931 als Referent tätig ist, bevor er sich 1931 als Kreditprüfer selbständig macht. Während seine Berufsbiografie hier zunächst eine Lücke aufweist, ist für 1931 der Beitritt zur SS vermerkt, in der er zuletzt den Rang eines Obersturmbannführers innehat, zum gleichen Zeitpunkt erfolgt der Beitritt zur NSDAP. Für den 25. Januar 1933 ist der Akte die Einstellung bei einer Polizeibehörde als Anwärter zu entnehmen sowie für den 1. November 1933 ein Wechsel zum Reichssicherheitshauptamt. Da diese Institution erst 1939 entstand, handelt es sich hier offenbar um eine retrospektive Verwechselung, die wahrscheinlich für den Dienstbeginn bei der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) steht. Im weiteren Verlauf schließt ein sich von August 1939 – der Mobilmachung der Wehrmacht – bis in den November 1942 erstreckendes Dienstzeitintervall bei einer Einheit der Geheimen Feldpolizei an, bevor erneut eine Versetzung zum Reichssicherheitshauptamt aktenkundig wird, die den späteren Mitarbeiter des westdeutschen Auslandsnachrichtendienstes, so der Eintrag in der Akte, zwischen Anfang 1943 und dem Kriegsende nach Spanien und Portugal führt. In Gefangenschaft gerät der spätere BND-Mann in Tirol, wobei er wegen seiner Zugehörigkeit zur Gestapo unter den »automatic arrest«12 fällt. Dort verbleibt er offenbar für längere Zeit. Im Juni 1949 ergeht in seinem Entnazifizierungsverfahren der erste Spruchkammerbescheid, der ihn als Mitläufer (Kategorie IV) einstuft.13 Allerdings erfolgt ein zweites Verfahren im Juli 1950 in Hannover, bei dem er, nach eigenen Angaben, der Kategorie V (entlastet) zugeordnet, zugleich aber zu einem Jahr Gefängnis verurteilt wird, auf das man jedoch die Internierungszeit anrechnet. Nach seiner Haftentlassung ist der spätere Mitarbeiter von 1951 bis 1955 als juristischer Sachbearbeiter bei der Firma Diedrich Kieselhorst tätig und wird 1954 Mitglied der Anthroposophischen Gesellschaft. Beim Bundesnachrichtendienst bewirbt er sich »auf Anraten des Legationsrates Paschke« aus Bonn im Mai 1957. Er wird nach einer dreimonatigen Probezeit auf Honorarbasis eingestellt und arbeitet zunächst als Ermittler. Dann führt er von 1957 bis 1959 eine Außenstelle und fungiert als »Anbahner« und »Ausbilder«. Zwischen Januar und März 1959 durchläuft er einen Nachwuchslehrgang und wird im Februar 1964 als Angestellter ins Planpersonal des Dienstes überführt, verstirbt aber im darauffolgenden Monat.14 An dieser Stelle endet die Personalakte.

Das Ziel einer Erfassung dieser Lebenslaufdaten ist zunächst ein möglichst umfassendes Abbild der in den Personalunterlagen aufgezeichneten Biografie mit prinzipiell offenen Verwendungsmöglichkeiten. Aus der quantifizierenden Analyse der rund 3800 digitalisierten bzw. 3650 verwertbaren Biografien ergibt sich das Sozialprofil des Bundesnachrichtendienstes, das die anhand der verfügbaren Parameter differenzierte Veränderung der personellen Zusammensetzung misst.