Das Spiel - Philipp Lahm - E-Book

Das Spiel E-Book

Philipp Lahm

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Beschreibung

Tore, Titel, tolle Spiele – Geschäft, Rassismus, Depression. Beide Ebenen gehören zur Welt des modernen Fußballs. Mit seiner sportlichen Intensität begeistert er die Fans rund um den Globus, doch wer Fußball auf höchstem Niveau spielen will, von dem verlangt er äußersten Einsatz und Disziplin. Wer diesen Weg wählt, wird sich den Herausforderungen in Leistungszentren und den harten Realitäten des Profidaseins stellen müssen. Philipp Lahm gehörte zu den Besten dieses Sports und hat wie kaum ein Zweiter dessen Sonnen- und Nachtseiten kennengelernt. Nun legt er klar und umfassend, spannend und kompetent seine Sicht auf Das Spiel dar.
Mit Philipp Lahm stellt ein ebenso überragender wie integrer Sportler seine Sichtweise auf Das Spiel vor. Er bietet eine auf reicher eigener Erfahrung beruhende Gesamtdarstellung der zentralen Themen des Fußballs. Athletik, Ballbeherrschung, Ernährung, Spielintelligenz, Schiedsrichterentscheidungen und viele weitere Aspekte bringt er zur Sprache; aber der Weltmeister und Champions-League- Sieger beginnt sein Buch mit der Nachwuchsarbeit, die ihm ganz besonders wichtig ist. So fragt er, wann und wie man Kinder an diesen Sport heranführen sollte, worauf es in Leistungszentren und im Beraterkreis ankommt, welche Persönlichkeitsmerkmale für einen jungen Sportler unverzichtbar sind, wenn er wahre Exzellenz anstrebt, und wie sich schließlich der Übergang zum Profidasein vollzieht. Doch wie sehen dann die Realitäten des Profitums aus, und was erwartet einen Spieler, wenn Verletzung und Auswechselbank seinen Alltag bestimmen? Besonders wichtig für jeden Athleten ist die Trainingsarbeit. Wodurch aber zeichnen sich erfolgreiche Trainer wie etwa Pep Guardiola oder Jürgen Klopp aus, und welche Spielideen wirkten in den letzten Jahrzehnten prägend? Wie verlaufen Machtkämpfe? Ein Höhepunkt auf dem Werdegang einiger Sportler ist schließlich die Berufung in die Nationalmannschaft, der ebenfalls ein Kapitel gewidmet ist; aber auf den Endpunkt der Karriere sollte sich jeder Aktive professionell vorbereiten.

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Philipp Lahm

DAS SPIEL

Die Welt des Fußballs

C.H.Beck

Zum Buch

Mit Philipp Lahm stellt ein ebenso überragender wie integrer Sportler seine Sichtweise auf DAS SPIEL vor. Er bietet eine auf reicher eigener Erfahrung beruhende Gesamtdarstellung der zentralen Themen des Fußballs. Athletik, Ballbeherrschung, Ernährung, Spielintelligenz, Schiedsrichterentscheidungen und viele weitere Aspekte bringt er zur Sprache; aber der Weltmeister und Champions-League-Sieger beginnt sein Buch mit der Nachwuchsarbeit, die ihm besonders wichtig ist. So fragt er, wann und wie man Kinder an diesen Sport heranführen sollte, worauf es in Leistungszentren und im Beraterkreis ankommt, welche Persönlichkeitsmerkmale für einen jungen Sportler unverzichtbar sind, wenn er wahre Exzellenz anstrebt, und wie sich schließlich der Übergang zum Profidasein vollzieht. Doch wie sehen dann die Realitäten des Profitums aus, und was erwartet einen Spieler, wenn Verletzung und Auswechselbank seinen Alltag bestimmen? Besonders wichtig für jeden Athleten ist die Trainingsarbeit. Wodurch aber zeichnen sich erfolgreiche Trainer wie etwa Pep Guardiola oder Jürgen Klopp aus, und welche Spielideen wirkten in den letzten Jahrzehnten prägend? Wie verlaufen Machtkämpfe? Ein Höhepunkt auf dem Werdegang einiger Sportler ist schließlich die Berufung in die Nationalmannschaft, der ebenfalls ein Kapitel gewidmet ist; aber auf den Endpunkt der Karriere sollte sich jeder Aktive professionell vorbereiten.

Natürlich spart Philipp Lahm auch kontroverse Themen nicht aus: soziale Verantwortung, Spielergehälter, ehrenamtliches Engagement, die Topmarken im digital vermarkteten Weltfußball und ihre Interessen in Entwicklungsländern. Und auch die dunkelsten Seiten des Sports wie Depression, Homophobie, Korruption, Rassismus und Gewalt im Stadion bringt er ungeschönt zur Sprache.

Über den Autor

Philipp Lahm ist DFB-Ehrenspielführer, Kapitän der Weltmeister-Mannschaft 2014 und mit dem FC Bayern München Triple-Sieger 2013. Er hat die Philipp Lahm-Stiftung für Sport und Bildung gegründet, mit der er Kindern und Jugendlichen in Deutschland und Südafrika hilft, ihren Weg ins Leben zu finden. Gegenwärtig bereitet er als Geschäftsführer der EURO-GmbH die Europameisterschaft 2024 in Deutschland vor.

Inhalt

1. Aufwärmen

2. Ein Blick auf meine Eintrittskarte

3. Auflaufen zur ersten Halbzeit

Die Anfänge

Ein Sieg für die Mannschaft und eine Niederlage für den Spieler

Was man lehren kann

Miteinander

Ordnung, Sicherheit und Selbstvertrauen

Mädchen und Jungen

4. Gedenkminute

Die Tragödie des Einzelnen und die Realitäten des Profisports

Homosexualität

5. Anstoß

Fußball als ein möglicher Sport für Kinder

Die Auswahl des richtigen Vereins

Was heißt Training und Fußballspielen mit Kindern?

Eltern und Training

6. Spielaufbau – erste Phase

Übertritt in ein Leistungszentrum

Ausbildungsbedingungen

Juniorteam 1995 bis 2002  – meine Erfahrungen in der Ausbildung

Was ist notwendig, um in diesem Sport zu bestehen?

7. Erster Einwurf

Talente und Scouts

8. Coachingzone 1

Jugendtrainer

Trainerstab

Training

Beweglichkeit und Kraft

Nachwuchsarbeit und Spielidee

Ernährung

9. Eckball

Leistung und Leistungsmessung

10. Spielaufbau – zweite Phase

Erfolgsaussicht bei fünf Prozent

Der Profivertrag

11. Konter

Fußballspieler und die Welt des schönen Scheins

12. Schiedsrichterball

Respekt

Von der Fehlbarkeit und ihren Folgen

Die technische Verbesserung von Schiedsrichterentscheidungen

13. Stadionzeitung als Halbzeitlektüre

Europas Stellung im Fußball – Geschichte und Geschäft

Auslandsaktivitäten europäischer Spitzenvereine

Europas Fußball – eine Vormacht auf Abruf?

14. Platz nehmen zur zweiten Halbzeit

Heute und früher

15. Anpfiff zur zweiten Halbzeit

Das Fußballspiel – als hohe Kunst der Improvisation betrachtet

16. Spielaufbau – dritte Phase

Spieler und Spielintelligenz

Die Rolle des Einzelnen in einer gut organisierten Mannschaft

Individualisten und überwölbende Spielidee

17. Zweiter Einwurf

Spielidee in Vollendung und sichere Struktur bei begrenzten Möglichkeiten

Der italienische und der spanische Stil

Die gegenwärtige Situation des Fußballs in Deutschland

Das Triple des FC Bayern München 2020

18. Coachingzone 2

Trainer, Spieler und eigene Vermittlungsfähigkeit

Big Data im Fußball – oder die Grenzen des Nutzens von technischem Fortschritt in unserem Sport

Cheftrainer, Trainerstab und Trainingsintensität

Klopp, Löw, Rehhagel, Guardiola und die Beherrschung des Fußballs als komplexes System

Kommunikationsprobleme zwischen Mannschaft und Trainer

Trainerwechsel – Hoffnung, Macht und Möglichkeiten

19. Foul und Verletzung

Foul

Arbeitsbelastung, Verletzung und Bewältigung

20. Spielaufbau – vierte Phase

Führungsspieler

Mannschaftskapitän

21. Auswechslung

Ersatzspieler

Bindung und Professionalität

22. Rote Karte

Rassismus und Gewalt im Fußball

Widersprechen – aber richtig

23. Publikumsgespräche

In der Fankurve

Auf den Tribünenplätzen

24. Nachspielzeit

Berufung in die Nationalmannschaft

Das Fest erleben – Topclubs und Nationalmannschaften auf internationalem Parkett

25. Abpfiff

Aufhören – aber richtig

Wann und wie bereitet man sich auf den Ausstieg vor?

Der Ausstieg

Was tun?

Soziales Engagement

Das Abschiedsspiel

26. Nachschuss: Reden wir noch einmal über Werte

Danksagung

Anmerkungen

Auflaufen zur ersten Halbzeit

Gedenkminute

Anstoß

Spielaufbau – erste Phase

Eckball

Spielaufbau – zweite Phase

Konter

Schiedsrichterball

Stadionzeitung als Halbzeitlektüre

Coachingzone 2

Foul und Verletzung

Rote Karte

Publikumsgespräche

Nachspielzeit

Abpfiff

Nachschuss: Reden wir noch einmal über Werte

Personenregister

Geographisches Register

Vereinsregister

Bildnachweis

1. Aufwärmen

Wie alt mag er sein? Sechs, sieben Jahre vielleicht. Er steht in einer Einfahrt, ein paar Meter vor einer Garage. Wahrscheinlich hat er selbst mit Kreide ungelenk ein Fußballtor daraufgemalt und einen blauen Kreis auf die Auffahrt. Vor ihm liegt ein Ball. Niemand kann so konzentriert sein wie ein Kind beim Spielen. Die Welt um ihn herum existiert nicht mehr – er ist ganz und gar fokussiert auf das, was er gleich tun wird. Doch mit einem Mal fällt die Spannung von ihm ab. Irgendetwas stimmt nicht. Er geht ein paar Schritte zu dem Ball, der ein Stück nach vorn gerollt ist, und legt ihn genau auf den Punkt. Und während er zurückgeht, um Anlauf zu nehmen, murmelt er: «Sonst gilt es nicht.»

Fokussierung, Regeln, Fairness – der Knirps hat mehr vom Fußball verstanden als viele Erwachsene. Er ist professioneller als so mancher, der aus diesem Sport seinen Beruf gemacht hat. Wenn er in gute Hände kommt, kann er mit so einer Einstellung ein Großer werden. Er hätte es verdient – und der Fußball auch. Es ist ein unvergleichlicher Sport. Ein Spiel, das überall gespielt werden kann, wo es ein paar Meter ebener Erde gibt und irgendetwas, das man halbwegs als Ball verwenden kann.

Gerade die Einfachheit seiner Prinzipien ist ein Grund für die Sympathien, die er weltweit genießt. Jedes Kind versteht sie, jeder kann mitspielen, jeder kann darüber reden – und genau das machen die Menschen rund um den Globus, Tag für Tag. Jeder kann sich an «große» Spiele erinnern. Wobei in jeder Stadt und in jedem Land ein «großes Spiel» ein anderes gewesen sein mag – und doch sind einige Spiele Bestandteile der kollektiven Erinnerung geworden. So wissen die Griechen noch heute, wie Charisteas in der unglaublichen Nacht von Lissabon mit seinem Kopfballtor die Europameisterschaft 2004 entschieden hat. Ebenso haben hierzulande die Fußballbegeisterten das Endspieltor von Mario Götze im Maracanã-Stadion vor Augen: ein Tor als technisches Kunstwerk, das einen Platz im Deutschen Historischen Museum verdient hätte und 2014 den Sieg im WM-Finale gegen Argentinien bedeutete. Und schließlich ist ein Ausdruck wie das «Wembley-Tor» geradezu als feststehender Begriff in unsere Sprache eingegangen, der auch von jenen verwendet wird, die 1966, als es «erzielt» wurde, noch gar nicht geboren waren, sondern erst später die Aufzeichnung des Endspiels gegen England gesehen haben.

Abb. 1: Bei der Weltmeisterschaft in Brasilien (2014) schießt Mario Götze in der 113. Minute im Endspiel im Maracanã-Stadion in Rio de Janeiro das spielentscheidende 1:0 gegen Argentinien.

Neunzig Minuten Begeisterung beherrschen Menschen aus allen gesellschaftlichen Schichten, wenn 22 Männer oder Frauen einem Ball hinterherjagen und versuchen, ihn im gegnerischen Tor unterzubringen. Dieses Spiel stellt hohe Anforderungen an Körper und Geist, wenn man es in Vollendung beherrschen will. Die Natur hat für die Füße des Menschen die Bewältigung vieler wichtiger Aufgaben vorgesehen – doch damit Fußball zu spielen, gehörte sicher nicht zu ihrem Plan. Die Motorik des Fußballspielers muss fein differenziert entwickelt werden, um den Ball mit den Füßen so vollkommen zu beherrschen, wie es dieser Sport heute verlangt. Diese Optimierung erfordert – wenn man das Spiel auf eine Weise spielen will, wie es die Besten der Besten können – ein Höchstmaß an Disziplin, Ausdauer und Fähigkeit zur Selbstkritik. Doch weil es ein Mannschaftssport ist, verlangt es darüber hinaus die Ausbildung sozialer Tugenden, ohne die Teamfähigkeit nicht erreicht werden kann. Wer nicht beständig daran arbeitet, sich selbst dahingehend zu verbessern, dass er auch den Mitspieler besser macht, wird das Wesen des Fußballs nie voll erfassen und damit auch selbst nie die eigenen Möglichkeiten in Vollendung ausschöpfen können.

Doch sind solche Bemühungen eine dem Ernst des menschlichen Lebens angemessene Beschäftigung? Wird nicht letztlich einem netten Zeitvertreib – eben der schönsten Nebensache der Welt – viel zu viel Bedeutung zugeschrieben? Hat nicht der ganze Rummel, der um diesen Sport gemacht wird, Ausmaße erreicht, die verstören, so dass der Fußball selbst aus nachvollziehbaren Gründen in ein schlechtes Licht geraten ist? Lohnt es sich, darüber ein Buch zu schreiben, und lohnt es sich, ein solches Buch zu lesen? Ja – doch nur, wenn man nie die Grundlagen dieses Sports aus den Augen verliert, in dessen Zentrum stets der Mensch stehen muss. Wer von diesem Standpunkt aus den Wettkampf bejaht – das Prinzip eines fairen, regelbasierten sportlichen Kräftemessens, für das man bereit ist, seine Fähigkeiten kontinuierlich zu verbessern –, wird erfahren und am eigenen Leib erleben, dass dieser Sport der ganzheitlichen Entwicklung des Einzelnen zugutekommt. Der Weg dorthin ist das Ziel. Es geht am Ende nicht um den größtmöglichen sportlichen Erfolg, den doch nur eine Handvoll Menschen auf diesem Planeten erreichen können. Es geht vielmehr um die Ausbildung von Fähigkeiten, die allen Jugendlichen nützen – auf dem Platz und neben dem Platz, im Sport wie im Alltag, wenn man seiner Arbeit nachgeht. Wer auf dieser Grundlage seinen Eifer darauf richtet, die eigenen fußballerischen Talente zu entwickeln, mag vielleicht tatsächlich Fußballprofi werden und eine Karriere begründen. Doch auch wer dieses Ziel gar nicht anstrebt oder es verfehlt, wird durch die intensive Auseinandersetzung mit dem Fußball seine Persönlichkeit entwickeln und sein Leben lang daraus Nutzen ziehen können – im Umgang mit seinen Mitmenschen und mit sich selbst.

2. Ein Blick auf meine Eintrittskarte

Als ich vor zehn Jahren als Profifußballer mitten im Berufsleben stand, bestand mein Alltag aus höchster Trainingsintensität, völliger Fokussierung auf das nächste Spiel und konsequenter Disziplin in allen Belangen, die auf meine Leistungsfähigkeit Einfluss haben konnten. Das war und ist das Berufsbild eines hoch bezahlten Spitzensportlers  – und insofern völlig in Ordnung. Trotzdem habe ich damals die Notwendigkeit empfunden, für mich selbst meine Position beim FC Bayern München und in der Nationalmannschaft zu beschreiben. Ich wollte sie mir weder von anderen zuschreiben noch für mich definieren lassen. Das Ergebnis dieser Auseinandersetzung war das Buch Der feine Unterschied. Wie man heute Spitzenfußballer wird. Dass ich für diesen Schritt zum Teil scharf kritisiert wurde, war keine Überraschung für mich, aber es war auch nicht weiter von Bedeutung – wichtig war allein, dass ich auf diese Weise Herr meiner eigenen Geschichte wurde und bei der Arbeit an dem Buch Klarheit und Orientierung für meine Zukunft gewonnen habe.

So wenig wie mein Umfeld wusste ich damals, wie mein Weg weiter verlaufen würde und dass noch herbe Enttäuschungen – wie das verlorene «Finale dahoam» 2012 – und große Erfolge wie das Triple 2013 und der WM-Erfolg 2014 vor mir liegen sollten. Dankbar für viele Erfahrungen und eine gute Karriere als Fußballer, vor allem aber im sicheren Bewusstsein, dass die Zeit für Veränderung gekommen war, habe ich dann 2017 meine Laufbahn als aktiver Spieler beendet, die Arbeit für die Philipp Lahm-Stiftung für Sport und Bildung intensiviert und mich beruflich neu orientiert.

Heute gehe ich eine neue Aufgabe an und werde versuchen, als einer der Geschäftsführer der DFBEuro GmbH die Europameisterschaft 2024 so gut zu organisieren, wie es mir nur möglich sein wird. Damit stehe ich an einem Wendepunkt meiner Laufbahn – und wieder empfinde ich die Notwendigkeit, mir Klarheit zu verschaffen. Die Verantwortung, der ich mich gegenübersehe, verlangt aber von mir, dass ich diesmal die Frage, was Fußball für mich bedeutet, grundsätzlicher angehe und versuche, DAS SPIEL in möglichst vielen Facetten zu erfassen.

Was ich in diesem Buch entwickeln werde, ist meine Sicht auf den Fußball, und ich erhebe nicht den Anspruch, dass meine Perspektive die einzig richtige sei. Das Ergebnis ist vielmehr eine Darstellung, die sich aus vielen ganz persönlichen Erlebnissen, Eindrücken und Erfahrungen speist. Doch auch wenn ich gelegentlich auf eigene biographische Situationen eingehe, um ein Thema zu veranschaulichen – beispielsweise wie es sich anfühlt, verletzt zu sein, oder wie man einen Trainer erlebt oder einen anderen Spieler wahrnimmt –, geht es mir immer um DAS SPIEL an sich.

Der Weg, den das Buch inhaltlich nehmen wird, orientiert sich an den Lebensphasen, in denen man Fußball spielt – vom Kind über Jugendliche in Leistungszentren bis hin zum Profidasein und schließlich bis zum Ende der Karriere als Aktiver. Das ist der Zeitraum, über den ich sachkundig schreiben kann, weil ich ihn intensiv erlebt habe und er mir klar vor Augen steht. Dazu gehören selbstverständlich alle Themen, die in den jeweiligen Abschnitten von Bedeutung sind: Weshalb sind Sport und Bewegung wichtig für Kinder und Jugendliche? Was heißt es, in ein Leistungszentrum zu wechseln, und welche Bedeutung haben Scouts, Schiedsrichter, Trainer und Spielsysteme, aber auch Verträge? Worüber reden wir eigentlich, wenn wir von Trainierbarkeit sprechen, worum geht es bei Ernährung und Leistungsmessung? Wie geht ein Fußballer damit um, wenn er zum Auswechselspieler wird, was ist ein Führungsspieler, und was bedeutet es, Nationalspieler zu sein?

Aber es werden auch solche Probleme aufgegriffen, denen man heute nicht aus dem Weg gehen kann, wenn man über DAS SPIEL spricht, wie beispielsweise der Umgang mit Homosexualität, Depressionen, Rassismus und Diskriminierung im Fußball. Mitunter ist es hilfreich, auch die Geschichte dieses Sports in den Blick zu nehmen und ebenso die Bedeutung der großen Clubs – nicht zuletzt im Hinblick auf die tiefgreifenden Veränderungen, die mit der Digitalisierung und der wachsenden wirtschaftlichen Bedeutung des Fußballs in der Welt einhergehen. So gelangt man schließlich zu der Frage, welche Stellung der Fußball in unserer Gesellschaft einnimmt und welche Rolle ihm künftig zukommen könnte.

Was mich antreibt, dieses Buch zu schreiben, ist das Gefühl der Verantwortung, die ich umso stärker empfinde, als ich diesem Sport so viel in meinem Leben verdanke. Seit ich im Alter von sechs Jahren 1989 beim FT Gern begonnen habe, Fußball zu spielen, hat er mir Orientierung geboten. Es ist nicht übertrieben, wenn ich sage, dass er für mich zu einer Lebensschule geworden ist und ich, wenn nicht durch, so doch mit Fußball sozialisiert wurde. Das Glück, in einer Familie aufzuwachsen, in der jene Werte in die Erziehung eingeflossen sind, für die auch der Fußball für mich steht, ist kaum zu beschreiben: Gemeinsamkeit, Freundschaft, Respekt, Engagement, Ausgleich, Regeln, Sicherheit. Auf diesem Feld fühlte ich mich wohl, lange bevor ich erkannte, dass der Sport tatsächlich mein Leben prägen würde.

Prägen – das schreibt sich so leicht. Aber es bedeutete für mich ganz konkret, starke Erfahrungen machen zu dürfen, wenn ich in jungen Jahren ganz selbstverständlich mit anderen zusammen sein und mit ihnen leidenschaftlich an einem gemeinsamen Ziel arbeiten konnte. Darunter waren auch Menschen, die aus ganz anderen Verhältnissen stammten, ganz andere Lebensläufe hatten als ich und aus ganz anderen Kulturkreisen kamen. Diese Erfahrungen bedeuteten eine Bereicherung meines Lebens. Das galt auch später und in ganz besonderer Weise für die Erfahrungen im Vorfeld der WM in Südafrika, als ich eine Welt kennengelernt habe, die in mir den Entschluss hat reifen lassen, dass ich etwas von dem, woran ich teilhaben darf, zurückgeben sollte – in Deutschland wie in Afrika.

Diese Entscheidung umzusetzen, gehörte für mich stets zu der Verantwortung dazu, die ich in sportlicher Hinsicht im Laufe der Jahre immer häufiger und immer wirkungsvoller habe übernehmen dürfen: als Vereinsspieler, als Leistungsträger, schließlich als Kapitän beim FCB und dann auch in der Nationalmannschaft. Der Beruf des Fußballers, in den ich hineingewachsen bin, ist für mich zur Berufung geworden. DAS SPIEL vorbildlich zu beherrschen, es aber nicht nur auf dem Platz vorbildlich zu spielen, ist mein Anspruch – und es ist ein Anspruch, mit dem sich meiner Meinung nach alle, die große Privilegien durch den Sport erworben haben, auseinandersetzen sollten.

Das bedeutet für mich aber auch, dass ich im Folgenden die Schattenseiten ebenso in den Blick nehmen werde wie die Chancen, die der Fußball einem Menschen eröffnet. Ich sehe darin einen Teil meiner Aufgabe, bei jenen, die vielleicht von einem ähnlichen Weg träumen, wie ich ihn genommen habe, ein Bewusstsein für die Entwicklungsmöglichkeiten wie für die Gefahren meines Sports zu wecken – und damit meine ich nicht nur das körperliche Verletzungsrisiko.

Der Fußball, als schöne Kunst betrachtet, bedeutet mehr als Talent und perfekte Ballbeherrschung. Zwar werden diese Momente und die damit verbundenen Anforderungen auf den folgenden Seiten nicht zu kurz kommen. Aber wer sich ganz auf den Fußball einlässt, den vermag er eben in noch in viel tieferer Weise zu prägen – auch für die Welt jenseits des Spielfelds. Daher wende ich mich mit diesem Buch nicht nur an aktive Sportler, sondern auch an Eltern, Trainer, Lehrer und all die anderen, die Verantwortung tragen für Kinder, Jugendliche und Heranwachsende, aus denen die kommenden Fußballergenerationen hervorgehen werden.

Gerade weil ich als Profi ein halbes Leben lang tief in diese Welt eingetaucht bin, darin dankbar Erfolge feiern durfte, aber auch schmerzliche Niederlagen einstecken musste, vor allem aber, weil ich selbst Verantwortung übernommen habe, hoffe ich, mir eine gewisse Glaubwürdigkeit für das erarbeitet zu haben, was ich als meine Erfahrung über DAS SPIEL weitergeben möchte. Dass ich heute etwas «meine Erfahrung» nennen kann, ist mir deswegen möglich, weil ich die Fähigkeit zur Reflexion, zum Nachdenken über meine Rolle im Fußball, in einem Verein, in einer Mannschaft entwickelt und mir damit die Kraft zur Selbstbestimmung bewahrt habe – dazu gehört ganz besonders die innere Unabhängigkeit, in bestimmten Situationen nicht mitzumachen, wenn ich von etwas nicht überzeugt bin. Wovon ich überzeugt bin, ist, dass Fußball für einen Jugendlichen von großem Nutzen sein kann, wenn er dadurch lernt, Achtung vor Mitspielern, Gegnern, Schiedsrichtern, den Fans und vor sich selbst zu erwerben und das Regelwerk, das ihm Grenzen setzt, als grundlegend für sein ganzes Leben zu begreifen. Er wäre dann weiter als so mancher Profi, der heute bei einem Topclub unter Vertrag steht. Wer DAS SPIEL so erfasst, dem kann der Fußball Leitplanken nicht nur für seine sportliche, sondern für seine gesamte Persönlichkeitsentwicklung bieten – was besonders hilfreich ist, wenn Heranwachsenden andere Leitplanken im Leben fehlen oder zu kurz geraten sind. Wer jedoch die Auseinandersetzung mit dem Fußball und seiner eigenen Rolle in diesem Spiel nicht ernsthaft betreibt, für den birgt womöglich selbst eine erfolgreiche sportliche Karriere Gefahren für die Zukunft.

Für mich ist das oberste Ziel des Sports, die Fähigkeit zu erlangen, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Daran messe ich jene, die Verantwortung für den Nachwuchs im Fußball tragen – als Eltern und Berater, als Funktionäre, Trainer und Ausbilder in den Leistungszentren (auch in den nicht sportbezogenen Zusammenhängen) und in jeder anderen Rolle. Der Weg eines Athleten im Fußball, der in allen Aspekten in diesem Buch zur Sprache kommen soll, zielt nicht darauf, ein Supersportler zu werden, der allein nach den Notwendigkeiten eines präzisen Passspiels und eines perfekten taktischen Verhaltens in Angriff und Verteidigung funktioniert. Kein Fußballer würde je die Bedeutung dieser Fähigkeiten bestreiten oder sie vernachlässigen. Doch wer all das gelernt, aber versäumt hat, das «soziale Stellungsspiel» einzuüben – wie begegne ich meinen Mitmenschen fair und respektvoll, also nach den Regeln, die erst ein würdiges Zusammenleben ermöglichen –, den erwartet eine harte Zeit, spätestens wenn die aktive Laufbahn vorüber ist. Und das wird die längste Zeit seines Lebens sein.

3. Auflaufen zur ersten Halbzeit

Die Anfänge

Erinnern Sie sich noch? Ferien – ein paar Kinder aus der Nachbarschaft, Pullover und Anoraks, mit denen die Tore markiert wurden, ein Ball, und los ging’s. Es gab immer einen, der besser war als alle anderen und den man gern in der eigenen Mannschaft hatte; dafür bekamen die anderen einen Mann mehr. Es gab auch immer einen, der ein bisschen dick war und nicht besonders schnell – der ging dann ins Tor. Dann sind wir gerannt, haben uns den ganzen Nachmittag bewegt und sind erst nach Hause gegangen, wenn man uns gerufen hat.

Wir haben an diesen Tagen viel gelernt: Alle durften mitspielen; ein Foul war ein Foul, und wenn der Ball im Aus war, war er im Aus; und irgendwann haben wir sogar begriffen, dass es günstiger war, den Ball abzuspielen, wenn der Mitspieler besser stand, als selbst vergeblich aufs gegnerische Tor zu schießen. Niemandem wäre es eingefallen, sich hängen zu lassen und der anderen Mannschaft den Sieg zu schenken – derjenige hätte ganz schön was zu hören bekommen von den Freunden. So haben wir gelernt, was Regeln sind und dass sie für alle gelten. Wir haben versucht, die Tricks von den Besseren abzugucken und unser eigenes Spiel dadurch besser zu machen, um uns beim nächsten Mal durchzusetzen. Wir haben erlebt, wie sich eine natürliche, auf Talent und Einsatz beruhende Hierarchie herausgebildet hat, und verstanden, wie man sich in einer Gruppe verhält. Darum geht es, wenn Kinder Fußball spielen, und darum geht es, wenn man erwachsen wird. Doch natürlich kam es uns nicht darauf an, was wir nebenbei gelernt haben; entscheidend war für uns, mit den Freunden zusammen zu sein und Spaß beim Spielen zu haben.

Ein Sieg für die Mannschaft und eine Niederlage für den Spieler

Der Spaß an der Sache! Das war und bleibt für Kinder das Entscheidende – und das wird heute allzu oft übersehen. Wenn man dem Nachwuchs garantiert die Freude am Fußballspielen nehmen will, dann muss man kleine Kinder in Vereine schicken, in denen schon in den frühesten Jugendklassen der Sieg über den Gegner in den Vordergrund gerückt wird. Es ist fatal, wenn schon in den Wettbewerben der F- und E-Jugend bevorzugt die Größeren eines Jahrgangs aufs Feld geschickt werden, um dank dieser Zufälle der körperlichen Entwicklung ein Spiel zu gewinnen. Auf diese Weise kann ein Kind, das am Spielfeldrand bleiben muss, weder sein Selbstwertgefühl stärken noch Selbstvertrauen gewinnen und folglich auch nicht seine Persönlichkeit entwickeln. Aber es ist auch ein Betrug an den «Stärkeren» in dieser Altersklasse, denn sie treffen in der nächsten garantiert auf Gegner, denen sie in der Auseinandersetzung unterliegen werden, weil diese dann körperlich weiter sind. So wird das Eigentliche versäumt: das Miteinander in einer Mannschaft zu fördern und zu versuchen, die Fähigkeiten und Talente eines jeden Kindes zu erspüren, zu stärken und mit denen der anderen in Beziehung zu setzen. Der Einzelne und seine Entwicklung müssen daher im Zentrum stehen und das Maß der Dinge sein, wenn es um die spielerisch-sportliche Ausbildung von Kindern geht.

Die Aufgabe eines Vereins ist folglich im Hinblick auf die jüngsten Junioren in allererster Linie, ihnen zu helfen, sich sozial zu entwickeln – dieser Aspekt darf aber auch später in der Arbeit mit Jugendmannschaften nie vernachlässigt werden. Wer Kindern in einem Verein vermittelt, dass alle willkommen sind und Wertschätzung erfahren – gleichgültig welche Voraussetzungen sie mitbringen und welchem Kulturkreis sie entstammen –, leistet einen unschätzbaren Beitrag zur Persönlichkeitsentwicklung und fördert womöglich nebenbei ein Talent zutage, das unter anderen Bedingungen gar nicht zum Vorschein gekommen wäre. Gerade wer die sportliche Verantwortung für Kinder im Grundschulalter trägt, trägt also in ganz besonderer Weise auch Verantwortung für das Wohl der Kinder in sozialer Hinsicht. Wer stattdessen bereits in dieser Altersgruppe das Ergebnis eines Fußballspiels in den Vordergrund rückt, hat die Frage, weshalb er als Jugendtrainer arbeiten möchte, falsch gestellt. Auf solche Stimmungen sollten Eltern achten, wenn sie ihre Kinder – Jungen und Mädchen – in einen Fußballverein schicken. Sie können daraus erschließen, welche Einstellung zum Leben allgemein und zum Sport im Besonderen ihren Nachwuchs dort erwartet. Ein ordentlicher Dorfverein in der Nachbarschaft kann unter diesen Gesichtspunkten für Kinder, die mit ihren Freunden Fußball spielen wollen, die bessere sportliche Heimat sein als der Club in der nächsten Stadt.

Kinder haben ein natürliches Interesse an Wettkampfsituationen – beim Mensch ärgere dich nicht ebenso wie auf dem Fußballfeld. Sie bekommen über alle Medien mit, wie wichtig Tore und Erfolg, Sieg und Niederlage im Fußballleistungssport sind. Diese Beobachtungen aus der Erwachsenenwelt übertragen sie in ihre Kinderwelt. So gibt es überhaupt keinen Grund, diese Haltung der Jüngsten auch noch im Verein zu befeuern. Ganz unglücklich ist es, wenn die Eltern selbst solch einen künstlichen Leistungsdruck entfalten. Wie unrealistisch und fehlgeleitet überambitionierte Bemühungen sind, ein Kind zu sportlichen Erfolgen zu treiben, erschließt sich sogleich, wenn man sich bewusst macht, dass in den Vereinen des DFB über sieben Millionen Menschen Mitglieder sind.[1] Mit anderen Worten: Es ist nur ein winziger Prozentbruchteil aller Aktiven, der später einmal halbwegs erfolgreich eine Fußballerkarriere einschlagen kann. Es wird im Fußball immer rigoroser selektiert, je weiter ein Talent in den Jugendklassen vorrückt. Während in dieser Hinsicht für ein Kind also nur eine verschwindend kleine Aussicht besteht, wenn es auf solch ein Ziel hin getrimmt wird, kann es körperlich und in seiner Persönlichkeitsentwicklung großen Nutzen daraus ziehen, wenn es stattdessen in seiner Einzigartigkeit wahrgenommen und gemäß seinen Anlagen im Elternhaus und in einem Verein sportlich angemessen gefördert wird.

Zwar lässt sich nicht leugnen, dass immer noch Männer die klassischen Vorbilder für den fußballerischen Nachwuchs sind, und selbstverständlich gibt es in zahllosen Vereinen genügend Trainer, die mit Einfühlungsvermögen ihrer Verantwortung für das Wohl der ihnen anvertrauten Kinder gerecht werden. Aber es wäre interessant zu sehen, wie sich Kinder und Jugendliche entwickeln, wenn mehr Frauen in Vereinen als Trainerinnen eingesetzt würden. Erste Ansätze zeigen sich in dieser Hinsicht inzwischen erfreulicherweise sogar schon bei den Erwachsenen: So trainiert Imke Wübbenhorst, die mit der U19 Europameisterin wurde, heute die Männer des Regionalligisten (West) Sportfreunde Lotte, und in Frankreichs Zweitligaclub Clermont Foot liegt die sportliche Verantwortung bei Corinne Diacre und damit ebenfalls bei einer Frau.[2]

Die Erfahrung von Sieg und Niederlage gehört zum Alltag eines jeden Menschen – ebenso wie die damit verbundenen Ängste; sie müssen in das Leben eingebaut werden. Aber die entscheidende Frage auf dem Fußballplatz wie im Alltag bleibt für den Einzelnen, ob und wie er mit Erfolg und Misserfolg umzugehen lernt. Was nun die Jugendarbeit betrifft, so könnten Frauen dies mit Sicherheit nicht weniger gut als Männer im Training der Juniorenklassen vermitteln.

Was man lehren kann

Miteinander

Eine bessere Einbindung in eine Gemeinschaft, als sie in einem Fußballverein geleistet werden kann, ist kaum vorstellbar: Kleine, Große, Dicke, Schlanke, Hell- und Dunkelhäutige, Christen, Muslime, Juden, Deutsche, Ausländer – völlig egal! Alle Kinder, die in einer Mannschaft spielen, wollen sich bewegen und verfolgen miteinander ein Ziel, so simpel es sich auch darstellt: Das Runde soll in das Eckige. Wenn sie spielerisch lernen, dass alle willkommen sind, die bereit sind, Regeln zu befolgen, die jeder begreifen kann, und den anderen zu achten, der mit ihnen dieses Spiel spielt, hat der Fußball schon viel bei ihnen bewirkt. Die Gemeinsamkeit im Spiel schafft Lernmomente, die gleichermaßen Körper und Geist zugutekommen – die in jedem Kind Fähigkeiten im Hinblick auf Bewegung, Sprache und das Miteinander mit anderen entwickeln helfen, und zwar unabhängig davon, aus welchen gesellschaftlichen Schichten und aus welchen Ländern sie stammen.

Fußball – als dem letzten echten Volkssport, den auszuüben praktisch jederzeit und überall möglich ist – kommt daher eine besondere Bedeutung zu. Wer mit Altersgenossen aus anderen Gesellschaftskreisen und fremden Kulturen gemeinsam Sport betreibt, der wird zwar nicht automatisch immun gegen Neid, Geringschätzung und Rassismus, aber er erwirbt ein besseres inneres Rüstzeug, um schäbigen Versuchungen zu widerstehen. Wenn ein Trainer seine jungen Spieler und ihre Entwicklung im Blick hat, wenn er darauf achtet, wie sie miteinander umgehen, miteinander sprechen, ob sie andere ausgrenzen, lächerlich machen, herabwürdigen, dann bietet sich ihm auch die Möglichkeit, ein derartiges Fehlverhalten sofort zu thematisieren und zu unterbinden. Diese Korrekturen durch eine Respektsperson, wie sie ein Trainer für eine Jugendmannschaft darstellt, bilden ein wirkungsvolles Gegenmittel, so dass sich menschenverachtende Haltungen gar nicht erst entwickeln oder verfestigen.

Natürlich ist Fußball kein Allheilmittel in der sozialen Entwicklung von Kindern und Jugendlichen; das wurde nicht erst bei den besorgniserregenden Vorfällen beim TSV Burgdorf offenbar. Doch umso mehr gilt die Hochachtung all jenen, die sich dafür einsetzen, in der täglichen Vereins- und Trainingsarbeit Fehlverhalten in einer Gruppe junger Spieler abzubauen.[3]

Ordnung, Sicherheit und Selbstvertrauen

Gelegentlich trifft man Kinder und Jugendliche, die ein besonderes Talent an den Tag legen, entscheidende Spielsituationen zu erfassen und dafür mannschaftsdienliche Lösungen zu finden. Wenn sie beispielsweise im Spiel den Ball führen und angegriffen werden, spielen sie ihn nicht einfach zum nächstbesten Mitspieler, der vielleicht noch schlechter steht als sie selbst – schieben also nicht bloß «den schwarzen Peter» weiter. Sie verhalten sich nicht egoistisch, sondern übernehmen Verantwortung und versuchen, mit einer Aktion Erfolg zu haben, die der ganzen Mannschaft nützt. Solche Spieler zeigen Sonderbegabungen, die man auch als «Spielverständnis» oder als eine eigene Form von «Spielintelligenz» bezeichnen kann. Sie durchschauen wie auf einem Schachbrett die Stellung auf dem Platz, können Risiken einschätzen und verhalten sich dementsprechend im Spiel mit und ohne Ball.

Diese Fähigkeiten können mit Prägungen zusammenhängen, die bereits bis zu einem Alter von acht Jahren abgeschlossen sind und in ein besonderes Selbstbewusstsein münden, das in schwierigen Situationen auf dem Fußballplatz zutage tritt. Solche Spieler treffen mannschaftsdienliche Entscheidungen und werden aus sich selbst heraus zu Führungsspielern, wenn sie in ihrem Selbstvertrauen und in ihrer besonderen Fähigkeit von ihrem Umfeld erkannt, gefördert und gestärkt werden.

Dennoch wäre es ein völliges Missverständnis zu glauben, dass diese Talente auch ohne Anleitung ihren Weg finden würden. Sie sind Spieler, die ebenso wie ihre Mitspieler üben und lernen müssen. Sie unterscheiden sich zunächst einmal von anderen dadurch, dass es ihnen leichter fällt zu begreifen, was von ihnen verlangt wird, und das Gelernte im Spiel umzusetzen. Ein erfolgversprechendes Training besteht jedoch für alle Spieler stets darin, dass sie wieder und wieder mit Situationen konfrontiert werden, in denen Lösungen gesucht werden müssen – für einen Verteidiger beispielsweise: den Raum für einen Angreifer zuzumachen oder die bestmögliche Position für ein Zuspiel zu finden. Diese Trainingssituationen werden nicht nur immer und immer wieder wiederholt, sondern im Laufe der Zeit auch immer komplexer gestaltet, und sie müssen immer schneller ausgeführt werden, bis sie «in Fleisch und Blut übergehen». Das ist die Alltagspraxis; sie bedeutet Arbeit und verlangt Disziplin. Sie fließt zunehmend auch in das Training der Kinder und Jugendlichen ein, bis sie selbstverständlich wird. Irgendwann beginnt dann der Nachwuchs, «mit dem Fuß zu denken», und entwickelt jene Bewegungsintelligenz, die vor dem Hintergrund der mit den Jahren wachsenden Anforderungen im sportlichen Wettkampf unverzichtbar ist.

Die Wiederholung ist die Mutter allen Lernens – mag diese Erkenntnis auch noch so alt sein, sie ist doch alles andere als verstaubt. Der Fußballlehrer Dettmar Cramer hat diese Erkenntnis auf den Sport umgemünzt: Ordnung gibt Übersicht, Übersicht gibt Sicherheit, Sicherheit gibt Selbstvertrauen und Erfolg. Keines der Elemente, die er in diesem Satz verknüpft hat, ist denkbar ohne beständig wiederholtes Üben, Üben, Üben. So gilt auch hier: Über Nacht wird nur berühmt, wer tagsüber viel arbeitet. Ein Talent, das sich selbst überlassen bleibt und keine adäquate Anleitung erfährt, blüht nicht auf, sondern verwildert.

Abb. 2: Dettmar Cramer (1925–2015) trainierte von 1975 bis 1977 den FC Bayern München, mit dem er 1975 und 1976 den Europapokal der Landesmeister gewann und 1976 sogar Weltpokalsieger wurde – hier im Bild mit Franz Beckenbauer, Gerd Müller und Georg Schwarzenbeck.

Doch wer diesen Grundsatz des konsequenten Übens ernst nimmt, wird bald eine interessante Beobachtung machen: Im Verhältnis zur wachsenden Spielintelligenz und Bewegungsintelligenz des sich entwickelnden Spielers verlieren seine körperlichen Voraussetzungen – Größe und Gewicht – über die Jahre hinweg zunehmend an Bedeutung. Es liegt zwar nahe, dass ein kleiner Spieler schwerlich ein erfolgreicher Torwart wird; aber als Feldspieler kann man bald durchaus erstklassig sein, auch wenn man kein Hüne ist – wie ich aus eigener Erfahrung weiß. Daran zeigt sich noch einmal, wie wenig zweckdienlich es ist, in den unteren Jugendklassen vor allem auf jene Spieler zu setzen, die körperlich stärker sind als ihre Altersgenossen. Ein Trainer, der so handelt, macht es sich um eines kurzfristigen Erfolgs willen leicht, anstatt auf eine ordentliche Ausbildung der ihm anvertrauten Kinder Wert zu legen. Wir werden noch auf dieses Thema zurückkommen. Solch eine Arbeit erfordert zwar mehr Zeit und Aufwand, ist aber am Ende auf jeden Fall erfolgversprechender und mit Sicherheit für alle Beteiligten befriedigender.

Gerade im Hinblick auf die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern und Jugendlichen kommt Eltern wie Trainern eine herausragend wichtige Bedeutung zu, wenn es darum geht, ein angemessenes Verhalten im Umgang mit Misserfolgen oder auch mit Schiedsrichterentscheidungen zu vermitteln. Da ist das Vorbild zu Hause wie an der Seitenlinie des Spielfelds gefordert. Ein Kind und ein Jugendlicher, deren Selbstbewusstsein intakt ist und in der Ausbildung gestärkt wird, werden mit solchen Situationen besser zurechtkommen, als wenn das nicht der Fall ist. Dabei zeigt sich schon früh, wer das Zeug zum Führungsspieler hat und unaufgeregt seine Meinung sagen und die Meinungen anderer anhören kann. Die Fähigkeiten, ruhig die eigenen Interessen zu vertreten und Entscheidungen anderer zu akzeptieren, stehen in einem Wechselverhältnis zueinander.

Mädchen und Jungen