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London 1553. Mitten in der Nacht, im Irrenhaus von Newgate, in dem Geisteskranke als skurrile Attraktionen gefangen gehalten werden. Unter ihnen der Seher Enoch, der das Tarot der Engel beherrscht und die Zukunft Britanniens kennt. Er weissagt, dass Edward VI. bald sterben und eine Frau den Thron einnehmen wird. Zur gleichen Zeit verführt ein Graf die geheimnisvolle Cass, um sie über den Gesundheitszustand des Königs und die Pläne seines größten Konkurrenten auszuhorchen. Tage später wird die junge Frau bewusstlos am Ufer der Themse angeschwemmt. Was macht sie für den Hof so gefährlich?
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Seitenzahl: 429
Veröffentlichungsjahr: 2013
Marisa Brand
Das Tarot der Engel
Roman
Edel:eBooks
Copyright dieser Ausgabe © 2013 by Edel:eBooks, einem Verlag der Edel Germany GmbH, Hamburg.
Copyright © 2009 by Marisa Brand
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München.
Covergestaltung: Agentur bürosüd°, München
Konvertierung: Datagrafix
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ISBN: 978-3-95530-166-8
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I. Teil
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
II. Teil
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
III. Teil
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
IV. Teil
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Nachwort
Für den, den es angeht, in Liebe und Dankbarkeit:
Nichts auf der Welt existiert
getrennt von anderen.
Von Tod zu Tod schreitet derjenige,
der die Dinge getrennt sieht.
Upanishaden
ERZENGEL RAGUEL
(GOTTES FREUND)
ICH BIN DER FÜRST JENER ENGEL, DIE DICH PRÜFEN UND DIE FESTSTELLEN, OB DU BEREIT BIST, DEN WEG DER WANDLUNG UND LÄUTERUNG ZU GEHEN. ICH BIN DER WÄCHTER ÜBER DIE GERECHTIGKEIT,DER HÜTER ALLER SCHWACHEN UND DER RICHTER ÜBER LEBEN UND TOD. GOTT HAT MICH ERMÄCHTIGT,DIR DURCH EINEN KUSS DAS LEBEN AUSZUHAUCHEN,WENN DEINE ZEIT GEKOMMEN IST. MEINE LEGIONEN BEWOHNEN DIE NATUR,DIE DICH UMGIBT, DIE STERNE UND DIE WÜSTEN DES MONDES, DIE PLANETEN UND DAS UNIVERSUM. SIE WERDEN DIR TROST SPENDEN IN ZEITEN DER PRÜFUNG. SIE BEGLEITEN DICH AUF DEM WEG DURCH DIE FINSTERNIS UND DURCH DAS REICH DER TOTEN. ERKENNE MICH IN DER GESTALT DES BAUMES, IM FLÜSTERN EINES BACHES,IM GESANG DER VÖGEL. FARBE: BLASSBLAU EDELSTEIN: AQUAMARIN TIERE: TAUBE, HASE TAROTKARTE: DIE MÄSSIGKEIT
Raguels Botschaft: Sei wie das Samenkorn. Gedeihe und vergehe. Atme die Liebe Gottes ein und wieder aus, hinaus in die Welt, dann wirst du ewig sein.
TAROT DER ENGEL NACH ENOCH OF NEWGATE, GENANNT DER PROPHET
Leben hieß Geräusch erzeugen. Zumal in einer Vollmondnacht. Schrilles Schreien. Trunkenes Grölen. Gelächter. Es hallte und lärmte ohne Unterlass in den Gassen beim Stadt- und Gefängnistor Newgate. Wer schwieg, war tot. Genauso tot wie die vom Smithfield, einer sumpfigen Ebene, nur durch einen kurzen Spaziergang und Londons Westmauern vom Kerkerviertel Newgate getrennt, wo man Treibvieh und Hochverräter ausweidete. Die Ochsen, nachdem sie geschlachtet waren, Glaubenssünder und Staatsfeinde, bevor man sie vierteilte, auf Stangen spießte und ihr zuckendes Gedärm verbrannte. Am Horizont ragten die Galgenbäume von Tyburn auf. Grund genug in Newgate, das Leben zu feiern, solange man es hatte.
Auch in dieser Nacht quoll Zechlärm aus Winkeltavernen und Hurenschenken. Beim Gefängnis verwob sich Bänkelgesang mit dem Kreischen der Tollhäusler, die hinter einem Käfiggitter im Torbogen ausgestellt waren. Bis zur Kreuzung von Amen Corner, Ave Maria Lane und Pater Noster Row bei St. Pauls wehte das Stimmenkonzert von Newgate. Musik der Hölle, gefügt aus roher Lust und Schmerz.
»Hier gehts lang«, sagte eine fröhliche Knabenstimme im Schatten der Kathedrale. Der Knirps wies mit schmutzigem Finger in die Warwick Lane. »He, wo seid Ihr hin?«
Seine Augen suchten im Dunkeln nach einem Burschen in Pagentracht und Umhang. »Was ist? Wollt Ihr nun nach Newgate oder nicht?«
Der Page löste sich zaudernd aus einem Seitenportal.
»Können wir keinen Leuchtmann mieten?«, fragte er mürrisch.
»Wozu? Der Mond ist rund, und bei Nacht verirrt sich keiner von denen her«, sagte sein dürrer Führer. Dann grinste er. »Bei Tag natürlich erst recht nicht. Wer braucht da einen Fackelträger? Keine Bange, ich kenn mich aus. Ich bin in Newgate geboren.« Der Stolz in seiner Stimme war unverkennbar.
Was für ein Tölpel, dachte der Page. Dieser Nat oder Pat oder wie auch immer dieser Hungerdarm hieß, war bei Gott kein Beweis für die Gewitztheit der Londoner. Mehr als einen halben Pence würde er dem Bürschchen, das sich ihm auf einer Ufertreppe bei der London Bridge als Führer aufgedrängt hatte, nicht zahlen.
»Nun macht schon«, drängelte der Junge. »Ich pass auf, dass Euch keiner den Hosenboden oder die Nase aufschlitzt.«
»Mit deinem großen Maul? Wie alt bist du, Pat?«
»Nat«, korrigierte der Junge und zuckte die Achseln. »Es heißt, ich wurde zwei Jahre vor König Heinrichs Tod geboren. Und wie heißt du?«
»Das geht dich nichts an, und duze mich gefälligst nicht!« Der hochaufgeschossene Jüngling straffte die Schultern.
Nat war also acht. Acht? Arsch und Gesangbuch! Er ließ sich von einem Kind führen. In dieser Stadt, einem Meer von neunzigtausend Menschen, galt es als Wunder, wenn man das dreißigste Lebensjahr erreichte. Der naseweise Nat würde sicher nicht mal das zehnte schaffen. Nur gut, dass vom Land täglich neue Jugend, frisches, unverdorbenes Blut nachströmte. Jeder fünfte Engländer, so hieß es, lebte inzwischen in London, und die besten bei Hof. Der Gedanke erfüllte den Pagen mit Befriedigung. Er selber war sechzehn und – allen Hänseleien zum Trotz, weil er aus dem Norden kam und niederem Schafzüchteradel entstammte – in den königlichen Palästen von Greenwich, Westminster und Whitehall mächtigen Männern aufgefallen, die ihm geheime Botengänge zutrauten. So auch heute Nacht. Es war eine Sprosse auf der Leiter nach oben.
Nat zerrte an seinem Umhang. Sofort nestelte der Page nach seinem Seitendolch. Er hatte damit so manches Lamm seines Vaters abgekehlt.
»Wenn Ihr so langsam zieht, dann lasst ihn lieber stecken«, bemerkte Nat unbeeindruckt. Er fuhr sich mit der Handkante quer über die Gurgel. »Ihr würdets nicht überleben, wenn einer dieses Brotmesser zu Gesicht bekam.« Mit Kennermiene musterte er die Schneide. »War das teuer? Wenn ja, hat man Euch übers Ohr gehauen. Für einen halben Shilling und eine Kanne Bier klau ich Euch im Hafen ein besseres. Mit Sarazenerschliff. Oder eine rheinische Klinge, die Kölner liefern neben saurem Wein die beste Ware. Die vom Handelshaus van Berck sind unvergleichlich.«
Der Page imitierte das Schnäuzen, das man in den Korridoren von Whitehall und Greenwich Palace für ihn übrig hatte, und spuckte trocken aus. Seine Kehle war zu eng, um anständig Rotz zu erzeugen. Er behalf sich mit einer verächtlichen Miene. »Schwatz nicht, geh weiter!«
Der Junge hüpfte auf bloßen Füßen vor ihm her. Munter, als ginge es zur Maikirmes und nicht in das schwarze Herz von London. Newgate bei Nacht war Englands Antwort auf die Hölle. Mochten die Reformatoren noch so eifrig behaupten, es gäbe weder Fegefeuer noch unablässige Qualen im Purgatorium: Hier waren sie zu Hause.
Mit gesenktem Haupt folgte der Page ihm in eine Gasse. Feuchte Kühle und Fäulnisgase schlugen ihm entgegen. Vom Schlachthaus an der Stinking Lane wehten Gerüche von Verwesung herüber. Der vorzeitige Frühling des Narrenmonats April schien einen Bogen um die Tavernenmeile zu machen. Ihn fror zwischen alterskrummen Fachwerkhäusern und Kellerlöcher, in denen Pfennigshuren, Abtrittfeger und Ratten Quartier nahmen.
Seine Hand glitt unter den Umhang. Er befühlte die Geldkatze am Gürtel, die ein hochnäsiger Lakai ihm anvertraut hatte. Diesmal würde er mehr als den üblichen Botenlohn für sich abzweigen. Sein Auftraggeber war immerhin der mächtigste Mann des Landes.
»He, gehts nicht schneller?«, rügte sein Führer und sprang hasenflink über eine Kellerluke.
Liebend gern, doch mehr als ein mühevolles Waten schien unmöglich zu sein. Zäher Morast, der aus dem Inhalt von Nachtgeschirren und tierischen Ausscheidungen bestand, saugte an seinen Sohlen. Bedauernd dachte der Page an die mühselige Putzerei, an das Terpentin und den Urin einer königlichen Stute, den er den Stallburschen abkaufte, um dem Leder Glanz zu verleihen. Die Abflussrinne in der Mitte des Sträßchens war hoffnungslos verstopft. Selbst Londons nimmersatte Ratten, Milane und Bettler wurden der Abfälle nicht Herr.
Sein kleiner Führer hingegen kam besser damit zurecht. Ein Klappladen flog auf, warf einen Herzschlag lang Licht und Wirtshausgezänk in die Gasse. Der Rest einer Pastete wirbelte durch die Luft – anscheinend der Anlass für einen Streit. Nat klaubte den Brocken aus dem Dreck, wischte darüber und steckte ihn flugs in den Mund.
»Hm, Taubenpudding zum Nachtmahl«, grunzte er schmatzend. »Der Wirt vom Gerösteten Hund hantiert gern mit Marktabfall. Aber wenigstens spart er nicht am Majoran.«
Gestärkt hüpfte Nat voran durch die Finsternis. Der Page stakste halb blind und mit rebellierendem Magen hinter ihm her. Kurz bevor sie auf den Geflügelmarkt einbogen, drehte Nat sich zu ihm um. Verschwörerisch senkte er die Stimme.
»Newgate versorgt neben Londons Bauch auch Londons Lenden mit Hühnchenfleisch. Nehmt Euch Zeit, die Huren zu prüfen. Bessie ist eine saftige Henne, prall und weich wie Gänsedaunen. Die lässt sich in mancher Weise besteigen, und Anne von der Cock Lane kennt Tricks mit ihrem Schnabel ...«
Empört sog der Page die Luft ein. »Willst du kobern? Ich verschwende mich nicht an Gossenschwalben, damit du einen Kupplerpfennig verdienst! Du weißt, wohin ich will.«
»Wollt Ihr, dass jedermann es weiß?«
»Was soll das heißen?«
»Ganz einfach. Ihr seid gewiss nicht der einzige Spitzel aus dem Greenwich Palast in diesem Viertel. Hier herrscht seit Tagen reger Schnüfflerverkehr. Und Eure Tarnung ist dürftig für einen Dudley-Mann ... Oder gehörst du zu Englands letzten Katholiken?
Aus Nats Mund klang das Wort wie Trottel. Unbekümmert fuhr der Knabe fort. »Es heißt, im Norden haben sie noch immer ihre Nester und beten darum, dass Dudley zur Hölle fährt, unser König stirbt und Heinrichs katholische Tochter Maria an seiner Stelle auf den Thron steigt.«
Der Page schnappte wie ein Karpfen nach Luft. »Woher weißt du, dass ich aus dem Nor-?« Er brach ab. Um Würde bemüht, rückte er seinen Umhang zurecht. »Das geht dich nichts an. Was weißt du schon von Politik und Staatskunst!« Eilig schob er hinterher: »Und was die Religion angeht, glaube ich nur, was seine Majestät glaubt.« Zurzeit war das der fünfzehnjährige Edward der Sechste, einziger Sohn des verstorbenen Tudor-Gottes Heinrichs des Achten und fanatischer Protestant. Der Page hielt es wie die meisten braven Engländer, die im Herzen katholisch geblieben waren: Entscheidend war nicht, zu welcher Kirche Gott hielt, sondern der König.
Einige sturschädelige Verwandte des Pagen hatten sich während seiner Kindheit gegen Heinrichs Auflösung von Klöstern erhoben. Sie waren ein warnendes Beispiel für katholische Bekenntniswut geworden. Auf Schafhürden hatte man sie zu den Richtplätzen geschleift und kopfüber neben einigen Mönchen aufgehängt. Wie Schinken im Rauchfang. Das Fleisch war ihnen schwarz vom Leib gefault, während Weihrauchfässer von ihren Hälsen baumelten. Er würde seinen Glauben für sich behalten oder vergessen, so wie die Menschen aus dem Norden ihre Zauberei mit Alraun und Galgenstricken vergessen hatten – nach außen zumindest.
Nat pulte Pastetenreste aus seinen Zähnen. »Religion interessiert mich nicht. Ich glaub nur, was ich weiß, und mach meinen Job: Euch unbeschadet zum Gefängnis bringen – aber nicht hinein.«
Er lachte über seinen Witz und bog auf den Marktplatz ein. Mondlicht tauchte ihn in unbestimmtes Grau. Die Blicke des Pagen huschten nervös hin und her. Landsknechte unterschiedlichster Nationen strichen auf der Suche nach Raufhändeln, gepanschtem Ale und einem flinken Paarungsspiel zwischen vergatterten Marktbuden entlang. Schleppdegen kratzten scharf übers Pflaster. Diese streunenden Mietsoldaten waren die Pest. Der Kronrat und das Parlament holten sie für die ständigen Grenzschlachten mit den Schotten oder als Reserve für Scharmützel mit Frankreich auf die Insel. Verfeindete Adelssippen mieteten sie, um Handstreiche anzuzetteln, wenn ihnen die Zeit für einen Machtwechsel reif schien. Denn in Wahrheit regierte natürlich nicht der Knabenkönig Edward die Insel, sondern sein jeweiliger Vormund.
Erst ein Jahr war es her, dass Lord Dudley, der derzeitige Herrscher im Kronrat, seinen Vorgänger Seymour mit einer Landsknechtarmee aus dem Zentrum der Macht gefegt hatte. Standen aber weder Staatsstreiche noch Revolten oder Kriege an, versetzten die Mietsöldner Londons Bürger in Angst und Schrecken.
Beim Schandpfahl in der Platzmitte entdeckte der Page die Huren. Gebannt starrte er auf die blitzenden Brüste und das schwellende Fleisch, das die Frauen zur Schau stellten. Der Page tappte, wie an einem unsichtbaren Faden gezogen, auf den Pranger zu. Die Huren verfielen in gurrende Lockrufe, als wollten sie das Schlachtgeflügel imitieren, das sie tagsüber für Pfenniglöhne rupften. Nat ging grüßend vorbei. Der Page straffe seinen schlaksigen Körper und wollte vorbeistolzieren.
Ein Weib mit geschminkten Wangen vertrat ihm den Weg. Sie riss seinen Umhang auf, griff ebenso kundig wie beherzt nach der Schamkapsel, die als gebogenes Horn aus dem Schritt seiner Pluderhose vorsprang, und drückte fest zu. Der Page klappte zusammen wie ein Schnappmesser und stieß ein Winseln aus, das an Schmerz und körperliche Liebe zugleich denken ließ.
»Schwestern, eine Jungfrau! Kein Flaum auf den Wangen und zu viel Rosshaar im Hosenbeutel!« Sie drückte sanfter zu. »Lass mich dein Hähnchen aus dem Nest holen.«
Der Page erstarrte, die Hure lachte wissend. Gesunde Zähne zählten nicht zu ihren Reizen. Der Jüngling sprang fluchend zur Seite und versank in einer gärenden Masse. Die Masse furzte, blutige Federn wirbelten auf, eine aufgestörte Ratte quiekte und biss nach ihm.
Die Weiber johlten, während der Page abwechselnd errötete und erbleichte. Seine Scham schmerzte umso heftiger, weil er in seiner Hose eine Reaktion auf die Handgriffe der Dirne registrierte. Ein Trüppchen Landsknechte feuerte die Dirnen an. Hilflos tastete der Page nach seinem Lämmerdolch.
»Den will ich nicht sehen«, grölte die Hure. »Zeig mir lieber, wie du unter deinen Beinkleidern bewaffnet bist.«
Ihre Stimme nahm einen geschäftlichen Ton an. »Für fünf Pence lass ich dein Krummhorn stramm stehen, für einen halben Shilling deine Hose musizieren.« Die Landsknechte applaudierten. Wieder streckte sie die Hand nach dem Jüngling aus. »Ich wette, an unserem fromm gewordenen Hof öffnet keine Dame ihr Schatzkästlein für einen Frischling wie dich.«
Der junge Mann schlug ihre Hand weg.
»Fünf Pence sind Wucher, Bessie. Einen halben Shilling hast du im Leben noch nicht in der Hand gehabt.« Wie aus dem Nichts war Nat zwischen den Landsknechten aufgetaucht. »Zwei Pence! Und dafür nimmst du ihn mit in die Kammer!«
»Aber beschütt ihn ordentlich mit Wein, sonst taugt er nichts«, grölte ein Söldner.
»Verflucht. Ich will keine Hure«, zischte der Page in Nats Ohr. »Schon gar nicht die!«
»Tut wenigstens so«, zischte der Junge zurück.
An Bessie gewandt, sagte er laut: »Überleg es dir. Wir schauen uns derweil das Galgenfutter im Irrenstall an.«
»Bei Nacht?«, fragte Bessie erstaunt, doch sie war schon abgelenkt von den tastenden Händen eines Soldaten, dem zwei Pence locker saßen.
»Die Narren sind durchgehend verrückt, und heut scheint die Säuferlaterne.« Nat wies zum Mond. »Frau Luna macht sie munter.« Weshalb die Irren im bildreichen Slang von Newgate Lunas Brüder oder nur Lunatics hießen. Poetische Gemüter sprachen von Gottes Gauklerschar.
Nat packte den Pagen am Arm und zog ihn aus dem Pulk zur Stirnseite des Platzes. In Hufeisenform erstreckten sich drei Gefängnistrakte vor ihnen. An den Seitenflügeln vorbei erreichten sie den Schatten des wuchtigen Torhauses. Das Mondlicht malte die Umrisse der Dachzinnen als stumpfe Klauen aufs Pflaster. Der Torgang vor ihnen glich einem klaffenden Maul, dem ein Strom aus halb tierischem Gewinsel und halb menschlichem Gebell entquoll.
»Mistfotze, MISTFOTZE, bekenne!«
»Bei den sieben Bußpsalmen, mir sitzt des Teufels Horn in der Hinterwohnung.«
»Bereue, bereue, Saukerl.«
»Seht den Esel des Herrn.«
»Und da drin soll ein Prophet hausen?«, stammelte der Page.
»Der beste von allen«, bestätigte Nat. »Der halbe Hof schleicht nachts her.«
»Du küsst deine Mutter nimmermehr«, krächzte es über ihren Köpfen. »Nimmermehr. Nimmermehr.«
Entsetzt zog der Page den Kopf ein. »Und wer oder was ist das?«
»Der Papagei des Pförtners. Hat ihm ein Gentleman verehrt, bevor er aufs Schafott musste. Der Vogel taugt mehr als die alten Stundengebete und Gedenkmessen. Den Gentleman vergisst keiner, solang sein Papagei im Gesims sitzt. Eine rabenschwarze Seele. Der hält gesalzene Grabreden für die armen Sünder, die ihren Gang zum Galgenberg antreten. Sogar lateinisch. Habt Ihr einen Silberling?«
»Mehr als einen halben Pence bekommst du für deine Dienste nicht!«
»Der Pförtner verlangt ein Handgeld, wenn er das Fallgitter hochziehen soll. Kostenlosen Käse gibt es nur in Mausefallen.«
Unwillig zog der Page eine Münze aus seiner Geldkatze. Nat rannte zu einer Turmpforte und pochte. Die Pforte tat sich auf, es folgten wispernde Verhandlungen. Nat kehrte mit einer Binsenfackel zum Pagen zurück. Seufzend und rasselnd öffnete sich das Fallgitter zum Torgewölbe. Pfiffe und Jubelschreie schollen ihnen entgegen.
In einem Anflug von Neid bemerkte der Page, wie unbekümmert Nat den Torweg betrat.
»Hierher!«, rief der Junge über den Lärm hinweg und wandte sich einem Käfiggitter zu, das über zwei Stockwerke reichte. Dahinter war auf zwei Ebenen jegliches Elend in menschlicher Gestalt gefangen. Ein Durcheinander aus stinkenden Leibern, die meisten gefesselt, an die Mauern geschmiedet oder an den Füßen zu Paaren verkettet. Man hielt die Irren gern wie Zwillinge, das verdoppelte das Vergnügen. Gelegentlich wurden sie zur Richtbühne auf den Marktplatz geführt. Bei Dudelsackgepfeife und Trommelgedröhn sprangen sie über die Plattform, gerieten in Ekstase und ergötzten die Menge mit Schreien und Tänzen.
Ein besonderer Spaß war es, wenn sie miteinander in Streit gerieten, Fratzen schnitten, Schaum vor dem Mund hatten oder sich entkleideten. So ähnlich musste es in Sodom und Gomorrha zugegangen sein, wobei Sodom in Newgate überwog. Die Nähe von Wahnsinn und Lust sollte den Zuschauern eine Warnung sein, doch das Vergnügen wog schwerer als die Moral. Zudem war eine Ähnlichkeit mit dem gewöhnlichen Treiben in Londons City nicht zu übersehen.
Der Page näherte sich mit tastenden Schritten dem Narrenkäfig. Der Gestank des durchnässten und beschmutzten Strohs, auf dem die Tollhäusler lagerten, ekelte und faszinierte ihn zugleich. Genau wie die krallenartigen Hände, die durch das Gitter stießen, das Greinen und die Grimassen des Wahnsinns. An Geruch und Anblick solchen Elends gewöhnte er sich recht mühelos, stellte er stolz fest. Ha, er war dabei, ein Mann zu werden! Dennoch wollte er so rasch als möglich weg von diesem Ort.
»Also, wo ist dieser Enoch?«
Nat wies stumm auf eine Gestalt, die wie in Anbetung vor der hinteren Wand des tief in die Mauer ragenden Verschlages kniete. Ein Hungerskelett in einem Gewand, das den Pagen an ein Mönchshabit erinnerte.
»Ruf ihn her«, verlangte der Page forsch.
Nat schüttelte den Kopf. »Der Meister kommt, wenn es an der Zeit ist.«
Sein Begleiter runzelte verärgert die Stirn, er wollte doch keine Audienz.
»He da!«, schrie er – wollte er schreien, seiner Kehle entrang sich aber nur ein hohes Krächzen. Auf seine brüchige Mannesstimme war noch kein Verlass.
Immerhin, die Gestalt erhob sich. Während sie sich umdrehte, erstarb der Lärm auf beiden Ebenen des Käfigs. Das Gewühl der Leiber ordnete sich. Lumpengestalten krochen auseinander, teilten sich wie einst das Rote Meer für Moses. Unter den Irren schien Meister Enoch der König zu sein.
Er richtete sich zu erstaunlicher Größe auf. Ein Zittern ging durch seinen mageren Leib. Er setzte den rechten Fuß vor, zog den linken nach. Sank wieder auf den rechten, hob sich auf dem linken nach oben, tat wieder einen Schritt, hinkte mit dem linken Bein nach. Seine Arme schlenkerten unkontrolliert nach allen Seiten. Er glich einer grotesken Gliederpuppe, die von einem fernen Fluch gelenkt wurde. Hatte man ihm auf der Streckbank alle Sehnen durchtrennt und die Gelenke zerschlagen?
Nat hielt die Binsenfackel in den Käfig, um dem Mann den Weg auszuleuchten. Von überall funkelten wilde Blicke. Enoch setzte seinen Gang unbeirrt fort. Anscheinend war er blind.
»Was ist mit seinem Leib?«, flüsterte der Page erstaunt.
»Hat zu lange die kleine Erleichterung genossen, bevor er nach Newgate verlegt wurde.«
Das Gesicht des Pagen wurde zum Fragezeichen.
»Na, little ease im Tower! Ein Kellerloch drei Stock unter dem Weißen Turm. Kein Licht, kaum Luft. Man kann drin nicht liegen, nicht sitzen und schon gar nicht stehen. Der Gebrauch seiner Beine und Arme ist Master Enoch in der Hockgrube entfallen. Dafür hat er da drin die Sprache der Engel entdeckt. Der Prophet ist ein Mann der Wunder. Er ...«
Nat brach ab, als das Gesicht des Sehers im Lichtkegel seiner Fackel auftauchte. Der Alte hielt die Augen geschlossen. Der Page erkannte zuerst nichts als Schmutz und Filz. Grauweiße Korkenzieherlocken überwucherten ein Gewirr aus ledrigen Furchen. Das Antlitz einer Mumie. Er schien seinem Alter um mehr als hundert Jahre vorausgeeilt zu sein. War diese Kreatur schon tot?
Vergebens suchte man nach einer Nase, die dem Gesicht Struktur verliehen hätte. Geblieben war nur die Andeutung eines fleischlosen Hügels. Der Mann musste jahrelang eine eiserne Schandmaske getragen haben. Sein Mund war von einem Bart überwuchert, der sich vor seiner Brust mit dem Filzhaar verwob.
Und dieses Wesen sollte der Künder letzter Weisheiten sein? Die Augen des Pagen glitten zurück zum Gesicht des Mannes, der nun unsinnige Gebete flüsterte. Oder Zauberformeln?
»Ol sonf vorsag, goho iad balt, lonsh calz vonpho.«
Unvermittelt hob der Mann im Käfig die Lider. Wie eine Schlange. »Seid mir gegrüßt, Kinder Gottes.«
Der Page schnappte nach Luft. Diese Augen! Das linke war nicht mehr als eine milchig weiße Kugel, die blind in einem See aus Tränen schwamm. Das rechte hingegen strahlte wie geputztes Silber. Die Pupille darin war leicht versetzt und erinnerte an einen Teich von makellosem Schwarz und unermesslicher Tiefe. Etwas bewegte sich darin, ein weiteres Augenpaar?
Himmel, es war sein eigenes! Und dahinter noch eins, und noch eins, eine unendliche Reihe von Augen, die bis zum Beginn der Zeit zurückzublicken schienen. Die ungezählten Blicke fingen ihn ein. Der Page fühlte sich nackt und seiner geheimsten Gedanken entkleidet. Er spürte den Boden unter seinen Füßen nicht mehr, fiel Halt suchend auf die Knie und neigte den Kopf.
»Du bist also gekommen, um eine Weissagung zu kaufen.« Eine Feststellung. Keine Frage. Die Stimme des Greises war mild wie Mandelmilch.
Der Page nickte vage und suchte in seinem Kopf nach der Frage, die sein Auftraggeber ihm durch einen Lakai vermittelt hatte.
Enoch ließ ihn nicht zu Wort kommen. »Warte.« Wie ein Taschenspieler zog er ein abgegriffenes Kartenspiel aus den Tiefen seiner Kutte hervor. »Zieh!«
Zögernd nahm der Page eine Karte. Sie zeigte einen jungen Helden auf einem heidnischen Streitwagen, der von zwei Hunden gezogen wurde, der eine schwarz, der andere weiß, mit Menschenhaupt und weiblichem Kopfputz.
Enoch betrachtete die Karte und lächelte. »Der Wagen! Wie interessant. Nun, es geht also um das Mädchen mit den zwei Köpfen, das diesen Januar im Dorf zu Greenwich geboren und begraben wurde. Ich nehme an, man hat dieses Wechselbalg rasch getötet?«
Der Page betrachtete die Karte, dann wieder den Propheten. Wie konnte der Mann das wissen? Er hatte seine Fragen nicht einmal diesem Nat verraten. Hatte die Karte Zauberkraft oder konnte der Alte in seinen Gedanken lesen?
Rasch begann der Page den Rest seiner Informationen herunterzuhaspeln. »Die Missgeburt kam am sechsten Todestag von König Heinrich zur Welt. Die Palast-Astrologen halten das für ein Omen. Sie fürchten, dass König Edwards Bastardschwestern sein Leben bedrohen.« Er warf sich in Pose. »Einige behaupten, man müsse Maria und Elisabeth Tudor töten wie das Wechselbalg, sonst werde die helle Themse bald vor Blut und Kadavern überfließen, unser herrlicher Palast zur Natterngrube werden und ...«
»Psst«, zischte Nat. »Das reicht. Verwirr ihn nicht mit dummem Geschwätz.«
»Dieser Mann ist irre, nicht ich«, zischte der Page erbost.
»Und du hast den Verstand einer Erbse. Jedes Kind weiß, dass der Tudor-Palast nur Mörder und Höllengezücht hervorbringt.«
»Das ist Majestätsbeleidigung und Blasphemie!«
»Nein, das is die Wahrheit, und jetzt sei still und hör zu.«
Greenwichs Schlossgärten und die nahe Themse schwammen silbern im Mondlicht. Vom Meer kommend, strich eine salzige Brise über den Fluss, durchflüsterte die Apfelbäume und pflückte erste Blüten. Eine Nacht, wie gemacht für die Liebe.
Und die Lust, dachte Marquis de Selve. Selbst auf die Betschwester, die er in dieser Nacht erwartete. Eine spröde Jungfer Rührmichnichtan des neuen Glaubens.
Er wandte sich vom Bogenfenster ab und nahm von einem Mohrensklaven, um den ihn der halbe Hof beneidete, einen Becher entgegen. Er trank einen Schluck, verzog das makellose Gesicht und spie aus.
»Sacre du nom! Dieser Wein ist eine Beleidigung für den Gaumen. Die Engländer verstehen nichts von Genuss. Ist der erträgliche Burgunder aus dem Keller des Königs schon verbraucht?«
Sein Diener hob bedauernd die Schultern. »Seine Majestät hat seit Tagen keinen neuen geschickt. Und Lord Dudley ...«
»Würde mir höchstens eine Kanne vergiftetes Ale aus der Spülküche zukommen lassen. Ihn beunruhigt, wie sehr König Edward mir zugeneigt ist.«
»Es heißt, er liegt krank zu Bett.«
De Selve hob spöttisch die linke Braue. »Wer? Der Donnerkeil der Reformation, der Wahrer des Reichssiegels, Englands erster Minister, Seine Gnaden der Herzog von Northumberland. Und Graf von Warwick? Kurz: unser geschätzter Speichellecker Lord Dudley?«
Der Mohr schüttelte verwirrt den Kopf. »Nein, der junge König natürlich.«
Natürlich. Das war nichts Neues, aber woher rührte die Krankheit? Und wie schwach war der fünfzehnjährige Thronerbe wirklich? Der Hof und halb Europa schwirrte vor Gerüchten. Die Ordnung der halben Welt – vielleicht der ganzen – hing vom dünnen Lebensfaden dieses Knaben ab. Zwei Halbschwestern standen bereit, um sein Erbe anzutreten. Die erzkatholische Halbspanierin Maria Tudor, Tochter von Heinrichs erster Frau Katharina von Aragon, und die undurchschaubare Protestantenfreundin Elisabeth, Tochter der zweiten Königin Anne Boleyn. Beide waren keine Freundinnen Frankreichs, und beide waren Frauen.
Nach der Geburt seines Sohnes Edward hatte Heinrich der Achte beide Töchter, die verschieden waren wie Tag und Nacht, zu Bastarden erklärt. Auf dem Sterbebett hatte er sie und ihre möglichen Nachkommen jedoch wieder in die Thronfolge eingesetzt. Er hatte jedoch nicht mit dem frühen Ableben Edwards gerechnet. Was, wenn dieser Fall nun einträte? Welche der beiden Töchter würde der Kronrat und allen voran Lord Dudley favorisieren? Wichtiger noch: Galt es nun, Maria oder Elisabeth zu umwerben und rechtzeitig für einen französischen Gatten zu gewinnen?
Er würde es herausfinden. Er musste es herausfinden. Von dieser Betschwester. Von Dudleys neuem Liebling Cass. Ein Lächeln umspielte de Selves vollendet schönen Mund, während er Patchoulikraut und Benzoeharz über einer Räucherpfanne zerrieb. Knisternd kräuselten sich die Blätter, zischend begann Harz zu vertropfen. Er würde einen Rosenkranz der Lust mit der Schwester beten!
»Bring noch etwas Styrax«, wies er seinen Leibdiener an und deutete zu einem kostbar gearbeiteten Kasten. »Und versetze den verfluchten Wein mit Honig und einer Messerspitze Schlafmohn.« Was den Heiden in der Schlacht über alle Schmerzen hinweghalf, würde die eiserne Jungfrau in einen Himmel entführen. Zweifellos würde sie ihn nach dieser Nacht als ihren neuen Gott in Erinnerung behalten. Oder als den Teufel.
Im Krieg wie in der Liebe war alles erlaubt, erst recht wenn beides untrennbar miteinander verbunden war. Nachdem sie ihren Leib hingegeben hatte, berauscht vom Duft der Begierde und vom Opium, würde die kleine Engländerin ihre letzten Geheimnisse preisgeben. Vielleicht gar aus Liebe? Das gefährlichste Rauschmittel für Weiber. De Selves Lächeln verwandelte sich in Verächtlichkeit.
Lieber hätte er diese Schlacht der Erzfeinde auf dem Feld als im Bett ausgetragen, aber ein Ritter Frankreichs hatte zu kämpfen, wo man ihn hinstellte.
Seit einem Jahr tat er das als Englands vornehmste Geisel. Man hatte ihn als Unterpfand eines fragilen französisch-englischen Bündnisses gegen den spanischen Weltherrscher, Kaiser Karl V, aus Paris hergeschickt. Der Fünfundzwanzigjährige hatte den Tudor-Hof im Sturm genommen. Alles in allem ein vergnüglicher Handstreich. Und so simpel im Palast eines unmündigen Königs, der sein jugendliches Feuer an Frömmelei verschwendete und seinen Hofstaat zu Tristesse und Gebet verdammte.
Der Marquis wusste, dass junge Höflinge ihn um seine Abenteuer als Komtur des Ritterordens des Heiligen Grabes zu Jerusalem beneideten. Die Damen waren berauscht von seiner Galanterie, in der ein Nachhall vom Gesang der Troubadoure mitschwang. Sein größter Coup war die Eroberung des fünfzehnjährigen Edward gewesen. Der Katholik und Ordensritter de Selve hatte den Jüngling von Bibel, Gebetbuch und Lord Dudley weggelockt, hin zu Falkenjagd, Bogenkämpfen, Wildschweinhatz, Fechtübungen und Wettritten. Fad und bleich wie Molke war der Tudor-Sprössling gewesen. Nie zuvor hatte er gewagt, es mit dem Vorbild seines Vaters aufzunehmen. Nur in evangelischer Strenge hatte er Heinrich Konkurrenz gemacht.
Lächerlich!
Er, der Marquis de Selve, stand für Frankreichs Triumph über reformatorische Frömmigkeit und Zucht. Bis Lord Dudley eine neue Schachfigur ins Spiel gebracht hatte. Cass, die der junge Edward ein Vorbild an weiblicher Tugend nannte und die er inzwischen zu privaten Audienzen lud. De Selves Lächeln erstarb. Es war harte Arbeit gewesen, dieses lästige junge Ding herzulocken. Höchste Zeit, dass sich seine Arbeit wieder mit Vergnügen verband.
In milder Erregung strich er sich über den Mund. Wie viel Zeit hatte er auf fabelhafte lettres d’amour verschwendet! Vorübergehend hatte er sogar befürchtet, er müsse von Heirat schwätzen, damit sie zu einer nächtlichen Begegnung bereit wäre. Eine gefährliche Angelegenheit – in England galten selbst formlose Ehegelöbnisse als bindend. Nun, die Gefahr war gebannt, das Ziel endlich in Sicht. Der Rest des Weges war einfach. Für die Betschwester führte er immer nur bergab.
Erfrischt durchschritt de Selve sein Schlafgemach, begutachtete die Vorbereitungen. Der Wein war gemischt, die Laken des Bettes waren glatt gezogen, die Decken und Kissen mit Ambra besprengt, dem weiblichsten aller Düfte.
Ein leises Klopfen. Er bedeutete dem Diener, sich durch die anschließende Empfangskammer zu entfernen, und öffnete die Tür zum Korridor.
Da stand diese Cass vor ihm. Mit gerecktem Kinn und geradem Rücken. Erstaunlich! Mädchenhafte Scheu schien ihr fremd. Nur das Zittern des Wachslichtes in ihrer Hand verriet Unsicherheit. Oder Begierde? Seltsames Ding. Sie war bei Gott kein kokettes Geschöpf, das um die Macht seiner Reize wusste oder sie einzusetzen verstand. Sie trug ihre gräßliche Giebelhaube mit einem Gleichmut, der an Erhabenheit grenzte. Oder an Arroganz?
Sans importance! Es würde ein erlesenes Vergnügen sein, ihr zugleich mit der Haube und dem zinngrauen Kleid die Maske überlegener Tugend abzustreifen, die den jungen König so faszinierte. Was für eine Lust, diese Cass seufzen zu lassen! Ob sie stöhnen würde oder schreien? Der Marquis fühlte, wie er ihr entgegenwuchs.
»Entre, ma petite.«
Feierlich griff er nach der linken Hand der jungen Frau und zog sie über die Schwelle. Mit einem genau bemessenen Hauch von Ergriffenheit ließ er seine Blicke an ihr hinabgleiten. Himmel, war dieses Gewand scheußlich! Die Eichentür fiel mit schrillem Quietschen zu, der Riegel schnappte ins Schloss. Er hätte beides ölen lassen sollen. Cass schien den bedauerlichen Misston nicht zu bemerken.
»Endlich bist du gekommen, meine Taube aus dem Felsennest«, raunte er mit Balsamstimme.
»Das ist Sünde!«
»Comment?« Er hatte doch noch nicht einmal angefangen.
»Missbrauche das Hohe Lied nicht als Lobgesang auf tierhafte Lust.«
Die Aufgabe, die vor ihm lag, schien weniger amüsant zu sein als gedacht.
Der Marquis bemühte sich um Empörung. »Tierhafte Lust? Wie kannst du an so etwas denken?«
»Weil ich aus diesem Grund hier bin oder nicht?«
Das Staunen in ihrer Stimme schien echt. Dieses Mädchen war eine unfassbare Mischung aus Sanftmut, Rebellion – Cass trat an ihn heran, legte ihre Hände um sein Gesicht, sein Blick traf ihre tauben-, nein rauchgrauen Augen – und Verlangen.
Herr im Himmel, er hatte es mit einer Gegnerin zu tun, die ihm gefährlich werden konnte. Sie verbarg mehr als ein paar Staatsgeheimnisse, genauso wie er. Und sie reizte ihn tatsächlich. Er streifte ihre Haube ab, ihr Haar glitt in weichen Wellen über seine Hände. Cass zog sanft seinen Kopf zu sich herab, küsste ihn schmelzend, teilte seine Seidenlippen mit der Zunge. Nicht drängend, sondern kostend. Abrupt unterbrach sie das lockende Spiel.
»Das ist schön«, stellte sie im Ton der Unschuld fest. Flüsternd fuhr sie fort. »Es vergeht keine Nacht, in der ich mich nicht nach dir verzehre.« Dann entriss sie ihm die Haube, schlang ihr Haar zu einem Knoten und setzte sie wieder auf.
Nom de Dieu! Entweder sie war das abgefeimteste Weibstück, das ihm je begegnet war, oder sie war eine ganz und gar neue Erfahrung.
De Selve packte Cass bei den Schultern und drängte sie zu seinem Bett. Geschmeidig wie eine Katze entwand sie sich seinem Griff und winkelte blitzschnell den Ellbogen an. »So nicht, Monsieur!« Der Stoß traf den Marquis genau unter dem Rippenbogen. De Selve krümmte sich jaulend.
»Verzeih«, stieß Cass erschrocken hervor. Schweigen und das Keuchen des Marquis füllten die Stille.
»Das wollte ich nicht. Aber die Wonnen der Lust kann ein Mann wie du von allen Frauen haben. Du solltest wissen, was zu tun ist, bevor ich mich dir hingeben kann«, sagte die Betschwester. Fast feierlich fuhr sie fort: »Mit dem Verblassen der Begierde verblasst gemeinhin auch die Liebe. Versteh mich recht, ich bin nicht ohne Leidenschaft, aber ich wünsche mir Dauer. Alles andere hat keinen Wert.«
Der Marquis verstand durchaus und schwieg, zumal er nach Luft schnappte.
»Ich erwarte deine Antwort wie immer in der Kapelle beim Themsekai.« Sie drehte sich um und öffnete die Tür, verharrte zögernd auf der Schwelle, sagte mit dem Rücken zu ihm: »Ich möchte dich wirklich lieben, Antoine de Selve, und ich weiß, dass ich es kann. Nichts anderes erwarte ich von dir.«
Die Tür fiel wieder ins Schloss. Diesmal mit höhnischem Kreischen, wie dem Marquis schien.
Noch immer rang er nach Atem. Diese Cass, dieses halbe Kind, war alles andere als lammfromme Demut. Sie war eine Herausforderung. Pas du tout! Er würde sie annehmen und siegen. Was sonst.
Der Prophet hatte die Lider geschlossen. Tiefe Stille senkte sich über den Käfig. Die Schultern des Weisen fielen herab, er glitt ins Stroh und kippte zur Seite, wie eine Marionette, deren Fäden plötzlich durchtrennt werden. Flammen schössen aus Nats Binsenfackel empor, leckten an den Käfigstäben. Ihr Knistern schwoll in den Ohren des Pagen zu einem Fauchen und Tosen.
»Was soll das? Was ist mit ihm?«, rief der Page gegen den Lärm in seinem Kopf an und sprang auf die Füße.
Der Junge legte den Zeigefinger an die Lippen. Aus seiner Fackel regneten bunte Funken. Ein Alchemistenstreich? Einer der Narren streckte die Zunge heraus und versuchte, die Funken zu fangen. Ein zweiter stimmte Psalmengesänge an, die anderen fielen ein.
»Für Gottesschimpf und Blendwerk zahl ich kein Geld!«, schrie der Page.
Die Gesänge verstummten. Nicht wegen seines Geschreis, sondern weil Enoch eine Hand hob. Er setzte sich in einer vollendet fließenden Bewegung auf, als zöge er sich am eigenen Schopf in die Höhe. Noch im selben Augenblick stand er kerzengerade da, ein Vorbild an vollkommener Körperbeherrschung nach Art der biblischen Wüstenväter, die Jahrzehnte, stehend auf Steinen, verharren konnten. Betend, schlafend, wachend.
Das musste ein Trick sein! Dieser Malefizbub spielte zu Anfang den Krüppel, um hernach mit dieser Wiederauferstehung zu verblüffen. Der Schaf markt in York war voller von Betrügern, die ähnliches Gaukelwerk vorführten. Hielt dieser geriebene Galgenstrick ihn für einen Bauerntölpel?
Master Enoch schlug die Augen auf. Der Page prallte vom Gitter zurück. Der Blick des Propheten traf ihn wie ein Blitzstrahl von solcher Kraft, dass er wieder auf die Knie fiel. Zu seinem Entsetzen musterten ihn diesmal zwei Pupillen. Zwei! Das linke Auge des Sehers war nicht mehr blind, sondern klar und silbern wie das rechte.
Enochs Lippen hoben sich zu einem verzückten Lächeln.
»Die Engel haben zu mir gesprochen. Höre meinen Rat. Geh, mein Sohn. Gehe in Frieden.«
»Wie?«
»Genieße dein Leben als Lämmerhirt. Dafür bist du geschaffen. Der Herr hat dich nicht umsonst auf deinen Platz gestellt. Kleiner Nat, mit dir habe ich zu reden!«
Der junge Page schüttelte empört den Kopf. Er kramte nach Worten und nach dem Beutel unter seinem Umhang. »Mit mir hast du zu reden! Ich bezahle schließlich dafür!«, stieß er hervor und riss hastig die Geldkatze vom Gürtel. »Sag mir, was du gesehen hast! Lord Dudley braucht Tatsachen.«
Er warf den Beutel durch die Gitterstäbe. Er musste die Ware haben, sein weiterer Werdegang hing ab von einer Weissagung dieses Enoch. Egal wie sie ausfiel, egal worum es sich handelte oder ob sie sich einem Budenzauber verdankte. Er musste etwas abliefern. Er wollte kein Schafhirte bleiben.
Der Prophet beachtete den Beutel nicht.
»Bist du dir sicher, dass du die richtige Wahl triffst?«, fragte er ruhig.
»Wahl? Was für eine Wahl? Ich denke, Ihr sagt das Schicksal voraus.«
»Schicksal ist das, was wir aus unserer Bestimmung machen, junger Freund. Wie beim Kartenspiel kann man mit einem schlechten Blatt gut spielen oder ein vortreffliches überreizen. Du bist der Sohn tüchtiger Schafzüchter, das Land deiner Väter kann dich nähren. Wirf nicht leichtfertig weg, was dir zugeteilt wurde. Was ich eben sah, bedeutet große Gefahr! Kehre heim, dann sehe ich dich an der Seite einer drallen Frau inmitten einer Schar rotbackiger Kinder.«
Nein!, schrie es in dem Pagen. »Es ... Es geht doch nicht um mich, es geht um ...« Er suchte nach einem zwingenden Argument, nach etwas Erhabenerem als dem strengen Geruch, der dem Wort Lämmerhirt anhing. »Es geht um England!« Genau.
Der Prophet seufzte. »Das sagen alle.«
»Wer ist alle?«, zischte der Page in Nats Richtung.
»Ich hab dir doch gesagt, du bist nicht der Einzige, der aus dem Palast schleicht«, raunte der Junge.
Der Mann im Käfig hob den Geldbeutel auf und reichte ihn zurück durchs Gitter. »Behalte das. Es ist das Vielfache deines üblichen Botenlohns. Nat kann dir einen Stall zeigen, wo du ein tüchtiges Reitpferd mieten kannst. Das Tor wird in wenigen Stunden geöffnet. Niemand wird Geschrei um dein Verschwinden machen. Die Lücken bei Hof schließen sich lautlos. Ich weiß, wovon ich spreche.«
Der Unterton von Mitleid verärgerte den Pagen, darin war er schon ganz Mann. »Du sollst das Mädchen mit den beiden Köpfen erklären! Nicht mein Leben verpfuschen.«
Nat betrachtete die Geldbörse, die immer noch vor der Nase des Pagen baumelte. Er sah den eigenen Lohn schwinden und spuckte aus. »Du Sackesel würdest dein Glück nicht mal erkennen, wenn’s dich in den Hintern tritt! Nimm die Penunzen.«
Der Page versetzte ihm eine Kopfnuss. »Halt dich raus.«
Master Enoch ließ die Börse sinken. »Nun denn, ich habe dich gewarnt. Das Mädchen mit den zwei Köpfen bedeutet, dass Englands König ein toter Mann ist.«
Der Page taumelte nach hinten. »Wie?«
»Edward der Sechste stirbt. Wahrscheinlich noch in diesem Sommer. Und nach ihm muss eine Frau regieren. Allein und aus eigener Kraft. Nur so geht es voran, wie die Karte des Streitwagens gezeigt hat.«
»Eine Frau allein? Das ist lächerlich. Und überhaupt! Diese Prophezeiung ist Hochverrat. Niemand darf den Tod eines englischen Monarchen vorhersagen!«
Enoch nickte knapp. »Darum habe ich dir geraten, bei deinen Lämmern zu bleiben, statt Lord Dudley zu dienen.«
Der Page erbleichte. »Was hat das alles mit mir zu tun? Ich bin nur ein Bote. Dich wird man ...«
»Hängen? Dem Tod habe ich schon öfter ins Auge geschaut, mein Sohn. Eine jedes Mal erstaunliche Erfahrung, egal von welcher Warte aus. Höre genau zu: Lord Dudley muss eine Wahl treffen. Eins der Gesichter des zweiköpfigen Mädchens blickte nach Westen, das andere nach Osten, so wie die Zugtiere auf der Karte, die ich gezogen habe. Der Wagen ist England. Wenn er ihn richtig lenken will, sollte er klug wählen.«
Wieder fingerte der Prophet mit seinem Kartenspiel herum, zog ohne hinzusehen eine hervor, betrachtete sie und nickte. »Möchtest du die Karte sehen? Es ist ein Trumpf! Sie zeigt den Erzengel Michael, den mächtigsten Schutzengel, den Gegner Satans und Vollstrecker Gottes.«
»Ein Engel?«, fragte der Page abwehrend. Waren die nicht inzwischen verboten? In den meisten Kirchen hatten Bilderstürmer ihnen die Köpfe abgeschlagen. Man kannte sich einfach nicht mehr aus mit der Religion. So viel aber wusste er: Dudley achtete im Dienste seiner Majestät streng darauf, dass die Reformen eingehalten wurden, und er wollte ganz sicher nicht mit Götzendienst in Verbindung gebracht werden. Gleichwohl hatte man ihn hergeschickt. »Ich schreib mir lieber auf, was Ihr sagt.«
Der Prophet zuckte die Achseln. »Dann notiere: Aurea mediocritas!«
»He? Wie schreibt man diesen Auerochsen?« Der Page tastete nach Wachstäfelchen und Griffel, die er im Futter seines Wamses trug.
»Schreib einfach, Dudley soll den goldenen Mittelweg suchen. Oder die Mäßigkeit, wie die Karte heißt.«
Der Page verzog den Mund. »Sagt Ihr das allen, die zu Euch kommen?«
»Ungefragt und kostenlos! Das rechte Maß zu halten garantiert ein langes, friedvolles Leben.«
»Eine solche Binsenweisheit ist keinen Penny wert, sondern eine Tracht Prügel.« Maß halten! Damit konnte er einem Mann wie Dudley nicht kommen.
»Diese Binsenweisheit könnte vielen Menschen den Kopf retten«, antwortete der Prophet ungerührt. »Aber ich sehe schon, du möchtest ein Rätsel. Es ist wirklich leichter, von wolkiger Wahrsagerei als von der Wahrheit zu leben. Nun, wie wäre es damit: Adora quod incendisti. Incende quod adorasti. Verehre, was du verbrannt hast, und verbrenne, was du verehrt hast.«
»Verbrennen? Das klingt nach Ketzerei!«
»Es stammt aus dem Mund des heiligen Remigius, eines Bischofs von Tours.«
»Ein Heiliger?« Auch das noch! »Dann ist es Ketzerei. In England gibt es keine Heiligen mehr.«
»Zurzeit sind sie ein wenig aus der Mode. Wie wahr. Nun, betrachte es als Aufforderung, sich zur rechten Zeit auf die richtige Seite zu schlagen und sich mit dem zu verbünden, was sich nicht besiegen lässt. Damit ist Lord Dudley bislang gut vorangekommen, glaubst du nicht auch?«
»Ich kann mir dieses Kauderwelsch unmöglich merken.« Und erst recht nicht aufschreiben. Latein brauchte es nicht, um Schafslisten zu führen.
»Mögliche Verfolger könnten den Satz wohl kaum enträtseln, du Erbshirn! Darum geht es doch«, stöhnte Nat. Er entriss ihm Täfelchen und Griffel und reichte beides in den Käfig.
Master Enoch ritzte flink die lateinische Botschaft ins Wachs. Also ist er ein ehemaliger Mönch und kein Prophet, dachte der Page grimmig. Wie so viele seiner Landsleute wusste er nicht, wer recht hatte im Streit um Bibel oder Messbuch oder darüber, ob Wein und Brot beim Abendmahl zum Leib Christi wurden, aber belesene und schreibende Mönche, die waren jedem vernünftigen Engländer ein Gräuel. Mit so einem – diesem deutschen Lothar oder wie der hieß, dessen Name nun ganz Europa buchstabierte – hatte das Gezänk um die Religion ja überhaupt erst begonnen.
Früher, als der Glaube noch in den Stein der Kirchen gemeißelt war und nicht in dürre Buchstaben gepresst, war alles einfacher gewesen. Man hatte eine hübsche gemalte oder geschnitzte Figur gesehen und sich bekreuzigt. Aber nun disputierte die halbe Welt. Am Ende käme es noch so weit, dass die ganze Welt Bücher lesen müsste, um irgendwas zu glauben. Reine Zeitverschwendung.
Nat reichte ihm die Wachstafel. »Wenn einer das klauen will, kratz den Satz am besten weg! Friss das Ding zur Not. Kapiert?«
Hastig steckte der Page die Tafel in sein Wams, murmelte ein Danke und lief in den Torbogen. Ein Krächzen über seinem Kopf ließ ihn zusammenfahren: »Kehr um oder küss den Henker, Leckarsch! Leckarsch.«
Verflixter Papagei! Im Narrenkäfig johlte es. Der Page gab Fersengeld.
Nat verharrte unschlüssig beim Gitter. Hatte der Prophet nicht auch noch mit ihm sprechen wollen? Begierig linste er nach dem Geldbeutel auf dem Käfigboden. Hoffentlich ging es um einen weiteren Kunden. Der Page hatte nichts eingebracht. Nat räusperte sich. »Richtig beeindruckend, Eure Vorhersagen, Master Enoch. Könnten eine Menge Leute interessieren. Wartet beim Hafen noch wer?«
»Nat, sei kein Schmeichler, du beleidigst deinen eigenen Verstand.«
Erwischt. Nat senkte den Blick.
Enoch seufzte. »Mit dir kann ich ehrlich sein. Dass Edward wieder krank ist, weiß ich von den spanischen Spitzeln, die du vergangene Woche gebracht hast. Sie sprachen recht hoffnungsfroh über seinen blutigen Husten, schließlich wollen sie Maria auf dem Thron sehen. Die Franzosen haben gestern behauptet, sie hätten von einer Schlange geträumt – spekulieren also über einen Giftanschlag auf den König durch die Spanier oder planen ihn selbst. Sie fürchten um ihr Bündnis mit England. Und dank des Pagen wissen wir nun, dass Lord Dudley sich längst Gedanken über die Zeit nach Edward macht. Was liegt näher, als den baldigen Tod des Königs vorherzusagen? Ich bin Beichtstuhl und Börse für den Klatsch des Hofes. Um zu wissen, was die Zukunft bringt, reime ich die Fragen zu Antworten zusammen. Dazu muss man nur das Alphabet menschlicher Gier beherrschen. Das habe ich in meinem vergangenen Leben ausführlich studiert.«
»Versteh schon, aber ... Das mit Eurem linken Auge ist wirklich toll. Könnt Ihr das noch mal machen?«
Der Prophet ließ den Augapfel nach hinten gleiten. Seine Pupille verschwand.
»Verdammt, das nenn ich mal einen Trick! Wo habt ihr den gelernt?«
»Im little ease hat man viel Zeit, um sich über die Grenzen seines Leibes und die Gesetze der Zeit zu erheben. Und das, lieber Nat, ist mehr als ein Trick. Wer den Blick von der Welt löst und ihn wahrhaftig auf den Urgrund der Seele lenkt, wird den Engeln begegnen.«
Oder dem Teufel, dachte Nat.
Enoch lächelte. »Auch Satan war ein Engel, Nat.«
Donnerschlag! Verblüfft sperrte der Junge den Mund auf. Mühsam kramte er nach Worten. »Das ist mir zu hoch.«
»Eines Tages wirst du es verstehen. Wie wir Menschen kennt Luzifer den Verlust von Unschuld und Glückseligkeit. Man kann von ihm lernen, wenn man Schmerz nicht scheut. Er ist ein unerbittlicher, aber sehr genauer Lehrer. Ohne ihn gäbe es keine Heilung, und meist ist das, wovon wir uns heilen wollen, genau das, was uns heilt.«
Nat runzelte misstrauisch die Stirn.
Enochs Lächeln vertiefte sich. »Du hältst mich noch immer für einen Scharlatan? Nun, dann lauf diesem Tölpel von Pagen hinterher. Er überschätzt seine Talente im selben Maße, wie du meine unterschätzt.«
Nat zuckte die Achseln. »Was hab ich mit diesem Lackei von Pagen zu schaffen?«
»Du tätest ein gutes Werk! Und du bist ein anständiger Kerl.«
»Gute Werke? Ich steh im Dienst von Painbody, dem König der Themsekais, der hält nichts von so was.«
Enochs Gesicht war mit einem Mal ganz Aufmerksamkeit. »Joshua Painbody ist dein Herr? Sieh an, sieh an! Mein kleiner Freund, darum haben die Engel mir vorhin eine Unterhaltung mit dir empfohlen.«
Merkwürdige Engel. Was lag ihnen an einem ehemaligen Folterknecht und Herrn der Diebe? »Ihr kennt Painbody?«
»Aus einem früheren Leben, gewiss.«
»Ihr meint vom Tower her?«
Der Prophet schloss die Augen und nickte bedächtig, sein Mund entspannte sich in einem seligen Lächeln. Nat schüttelte den Kopf. Eigenartig. Der König vom Themsekai löste solche Empfindungen nur selten aus. Schon gar nicht in ihm. »Painbody hat mir mein Bettelpatent besorgt. Er sieht’s nicht gern, wenn ich zu oft eigenen Geschäften nachgehe. Vor allem wenn sie, wie heute Nacht, keinen Penny einbringen! Wenn er schlecht gelaunt ist, gerbt er mich dafür mit der Hundegerte.«
Der Alte reichte die Lederbörse zum zweiten Mal durchs Gitter. »Nimm und kauf dich eine Weile aus Painbodys Herrschaft frei. Grüß ihn von mir und sag ihm, du wirst ihm bald mehr und weit Wertvolleres bringen.«
Nat haschte nach dem Beutel und wühlte nach einer Münze. Er fand die größte und biss hinein. Das Metall gab unter seinen Zähnen nach.
»Christus! Das ist durch und durch Silber!«, stieß er verblüfft hervor. »Darf ich die behalten?«
»Du kannst den ganzen Beutel haben.«
Nats Augen rundeten sich in ungläubigem Staunen.
Enoch lächelte und öffnete seine Handfläche. »Ich habe mich schon bedient. Man zahlt mich hiermit.«
Nat senkte seine Fackel und entdeckte einen flachen Stein, kaum größer als ein Penny.
»Mit bunten Kieseln?« Der Mann war doch irre!
»Sieh genau hin.«
Ohne Begeisterung betrachtete der Junge den rötlichen Stein. Weiße Adern durchzogen ihn wie Sehnen das Fleisch.
»Naja, ganz hübsch – für einen Stein«, meinte Nat ohne große Überzeugung.
»Mein Sohn, dies ist ein biblischer Sarder, ein Grundstein des neuen Jerusalem. An anderer Stelle freilich wird er Zierde von Satans Brustpanzer genannt. Wie auch immer, ich brauche ihn für das, was vor mir liegt. Es heißt, der Sarder verleiht seinem Besitzer Kraft und einen unbestechlichen Verstand.«
Den hast du echt nötig. Nat steckte die Börse rasch in sein Hemd. »Jerusalem? Ganz schön weit weg.«
»Oh nein, mein Jerusalem ist nah. Sehr nah: Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde, denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen, und das Meer ist nicht mehr.«
»Klingt nach Weltuntergang.«
»Die Stunde der Propheten! Mein großer Auftritt.«
«Wenn Ihr meint«, sagte Nat ungeduldig. »Ich geh dann mal.«
Meister Enoch hielt ihn zurück. »Du kennst deinen Auftrag noch nicht.«
»Ich soll diese Bohnenstange von Pagen beschützen, oder? Mach ich. Obwohl es um den echt nicht schade ist.«
»Das tust du freiwillig. Ich habe doch gesagt, du bist ein anständiger Kerl.«
»Ich?«
»Selbstverständlich. Gott und seine Engel haben dich zu meinem Helfer erwählt.«
»Aha.« Misstrauisch verzog Nat den Mund. Geschäfte mit Irren waren lohnend, aber anstrengend. »Was muss ich also dafür tun?«
»Einen Stein finden.«
Noch einen? Jessas! Der Mann sollte seinen Stein haben. Einen bunten Flusskiesel zu besorgen war keine Zauberkunst.
»Keinen Kiesel!«
Der Junge zuckte zusammen.
»Einen Opal.«
»Nie gehört.«
»Du erkennst ihn, wenn du ihn siehst. Er vereint den Himmel, die Erde, das Feuer und das Wasser. Er spiegelt Gottes Schöpferkraft und Liebe. Die Engel haben mir offenbart, es sei der Stein, den ich brauche, um Freiheit von aller Qual zu erlangen und Erlösung.«
»Mag sein«, schimpfte Nat, »aber ich klau keine Juwelen, Ist zu heikel, und Josh wird sie nicht los.«
»Was denkst du von den Heerscharen des Herrn? Du sollst den Stein nicht stehlen, du wirst ihn finden.«
Nat zögerte kurz, seine Finger schlossen sich um die Silbermünze. »Und wo?«
Wieder hantierte der Prophet mit seinem Kartenspiel, fächerte es auf und steckte es durch die Stäbe. »Zieh!«
Nat zog achselzuckend und drehte eine Karte um, während eine weitere zu Boden trudelte. Nat betrachtete die Karte in seiner Hand. »Jessas, der Gottseibeiuns! Und zwei Nackte.«
»Ich habe dir schon mal gesagt, auch Satan ist ein Engel! Schon die Römer nannten ihn den Lichtbringer: Luzifer. Wir sind also auf der richtigen Spur.«
»Mit dem Gehörnten will ich nichts zu schaffen haben, Master Enoch. Mir langt Painbody.« Er warf die Karte in den Käfig zurück.
»Du musst nicht zum Teufel gehen, kleiner Nat. Heb die andere Karte auf!«
Nat bückte sich. »Hm, gefällt mir ’n bisschen besser.« Er beleuchtete mit seiner Fackel das Bild eines Liebespaares vor einer Flusslandschaft, darüber, in einem goldenen Himmel schwebte ein richtiger Engel. Golden und weiß mit Federschwingen statt mit versengten Drachenflügeln wie der Satan.
Enoch lachte. »Habe ich es mir doch gedacht«, sagte er. »Sieh genau hin, was verbindet beide Karten?«
Nat runzelte die Stirn. »Liederlicher Schweinkram?«
»Das nackte Paar. Es steht für die Liebe, mein Sohn. Sie kann Paradies und Hölle sein, göttliche Bestimmung oder teuflische Versuchung. Suche nach einem gesegneten Liebespaar, aber hüte dich vor Verwechslungen! Verfehlte Liebe entfesselt Hass und tödliche Zerstörung.«
»Ich kenn keine Liebespaare, außer Bess und ihre Freier.« Er linste nach der Teufelskarte, auf dem die Nackten an Satans Thron gefesselt dastanden. Mit gelangweilter Miene und leerem Blick.
Enoch nickte anerkennend. »Aha, du beginnst zu begreifen. Bei einer Hure und ihrem Buhlen wirst du nicht finden, was ich suche.«
»Wo dann?«
»Gott wird dir den Weg weisen ... Lass uns zu seinen Engeln beten. Ol sonf vorsag, goho iad balt ...«
Nat verdreht die Augen.
Enochs Lider flatterten und senkten sich. »Ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott aus dem Himmel herabgekommen, bereitet wie eine geschmückte Braut für ihren Mann.«
»Heißt das, ich muss so was wie ’ne heilige Braut suchen?«
»Ja.«
»Ausgerechnet in London? Ich mein ...«
Ein quiekender Schrei gellte vom Marktplatz herüber. Schläge klatschten.
»Ah, die Engel haben sich wieder einmal offenbart«, bemerkte der Prophet zufrieden.
»Ich denk eher, das war der Page. Er muss Bess wieder in die Finger geraten sein«, warf Nat ein. »Und das ohne einen Penny in der Tasche! Volltrottel.«
»Gott spricht auf Erden besonders gern durch Narren.«
Daran hatte Nat keinen Zweifel mehr.
»Hab ich's nicht geahnt«, bemerkte der Prophet heiter. »Er soll dein Führer sein!«
»Derf« Nat fühlte sich in seiner Berufsehre gekränkt, aber die Silbermünze in seiner Hand fühlte sich verdammt tröstlich an.
