Das Geheimnis der Tarotspielerin - Marisa Brand - E-Book

Das Geheimnis der Tarotspielerin E-Book

Marisa Brand

0,0
2,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.

Mehr erfahren.
Beschreibung

Köln, 1535. Sidonia, Kaufmannstochter und Frau des Arztes Gabriel, ist verzweifelt: Nach einer Fehlgeburt wird sie nicht wieder schwanger. Die Hoffnung, seiner Frau helfen zu können, wenn er nur mehr über den weiblichen Körper wüsste, treibt Gabriel dazu, heimlich tote Huren und Bettlerinnen zu obduzieren. Doch als eine Frau tot und grauenhaft zugerichtet aufgefunden wird, gerät Gabriel plötzlich unter Verdacht, und Sidonias geheimnisvolle jüngere Freundin Lunetta scheint mehr zu wissen, als sie preisgibt. Denn sie hat das zweite Gesicht ...

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 427

Veröffentlichungsjahr: 2013

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Marisa Brand

Das Geheimnis der Tarotspielerin

Roman

Edel:eBooks

Copyright dieser Ausgabe © 2013 by Edel:eBooks, einem Verlag der Edel Germany GmbH, Hamburg.

Copyright © 2009 by Marisa Brand

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München.

Covergestaltung: Agentur bürosüd°, München

Konvertierung: Datagrafix

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.

ISBN: 978-3-95530-165-1

edel.comfacebook.com/edel.ebooks

INHALT

Erster Teil

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Zweiter Teil

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Dritter Teil

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Vierter Teil

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Fünfter Teil

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Sechster Teil

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Siebter Teil

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Achter Teil

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Anhang

ERSTER TEIL

DER GESPRENGTE TURM

DIE VERKAUFTE SEELE WILL SICH BEFREIEN.

DIE MASKEN FALLEN.

TOD ALLER ILLUSIONEN.

Mariflores Zimenes, »Die Geheimnisse des Tarots«

1.

KÖLN, AM 8. JANUAR 1536

Der Frost wich Wind und nieselndem Regen. Die Räder des Reisewagens gruben sich durch zähen, kalten Schlamm. Letzte Eisstücke spritzten auf.

»Rápido! Macht voran!« Mit Rufen und Pfiffen trieb Goswin die Zugpferde an. Seit Stunden kam sein Fuhrwerk nur unwesentlich schneller voran als die Wanderkrämer, Bettler und Pilger, die der Wind wie welke Blätter auf Köln zutrieb.

Die Kaltblüter stemmten sich ins Geschirr, aufgeschreckt von Goswins Pfiffen und den scharfen Böen. Sie waren Vorboten eines gewaltigen Sturms, doch der Kutscher war zuversichtlich, es noch vor Toresschluss in die Domstadt zu schaffen. Hier auf der Aachener Straße, wenige Meilen vor Kölns Mauerring, hoffte er auf Reste des römischen Steinwegs, der die beiden Reichsstädte seit über tausend Jahren verband.

Goswin freute sich auf die Kamine im prachtvollen Hause van Berck. Bei einer Kurierstation hinter Sindorf hatte er einen Boten gefunden und auf einem Reitpferd vorausgeschickt, um dem Hausherrn ihr Kommen anzukündigen. Claas van Berck, Kölns reichster Waffenhändler, würde sich nicht lumpen lassen und prasselnde Feuer für den Gast entzünden, den Goswin ihm ins Haus brachte. Und da er selbst einen Brustpanzer mit dem Wappen des Grafen von Löwenstein trug, in dessen Diensten er stand, sollte auch für ihn ein warmes Plätzchen abfallen. Während ihm Sprühregen ins Gesicht nadelte, träumte er von heißem Burgunder, gewürzt mit Zimt und Paradieskörnern. Bestimmt gäbe es keinen sauren Hund aus kölnischen Weingärten, den man mit Färberkraut gerötet und giftigem Bleizucker gesüßt hatte, sodass einem der Schädel sauste wie ein Glockenstuhl oder der Zecher für immer die Engel singen hörte.

Hatte er alles schon erlebt. In seiner Zeit als Kölner Stadtsoldat. Die Krone aller deutschen Städte und das Jerusalem des Nordens beherbergte neben unzähligen Heiligenreliquien, fetten Prälaten und Kaufherren jede Menge Leutebetrüger und Lumpenpack.

Der stämmige Mann erhob sich vom Sitzbrett. In der Ferne sah er die trutzige Hahnentorburg und den Turm von St. Aposteln. Ein Lächeln vertiefte die Falten seines wettergegerbten Gesichts. Acht Jahre hatte Goswin seine Vaterstadt nicht gesehen.

»Bon dia, Colonia«, murmelte er und grinste. So vertraut ihm die spanische Zunge in den letzten Jahren geworden war, so sehr sehnte er sich nach dem singenden Dialekt seiner Heimat. Er schob ein vergnügtes »Loss jon« in Richtung der Pferdehintern nach.

Selbst die Umfriedung des Leprosenhospitals Melaten, wie die Maladen in rheinischer Mundart hießen, begrüßte er heiter. Eine hohe Mauer trennte das Gehöft der Aussätzigen von der Welt der Gesunden. Hier lebten die von der Gliederfäulnis Gezeichneten. Aus der Gemeinde ausgesegnet, als seien sie bereits verstorben. Gegen Zahlung einer Pfründe und verpflichtet zum nimmermüden Gebet: fünf Ave Maria und fünf Vaterunser für jede Mahlzeit, egal wie mager sie ausfiel. Sie hielten regelmäßige Andachten und strenges Zölibat, während der Aussatz ihre Körper zerfraß.

Melaten war ein Ort des qualvollen Sterbens. Auf die eine oder andere Weise. Schräg gegenüber vom Spital lag der Richtplatz Rabenstein. Goswin schnalzte ungeduldig mit der Zunge. Nichts wie weg! Doch der Wagen kam mit dumpfem Knirschen zum Stehen, mit schmatzendem Geräusch steckten die Vorderräder im Morast fest, das Fuhrwerk sank ab.

»Vermaledeiter Mist!«

Hinter Goswin wurde die Wagenplane zurückgeschlagen. Sein hübscher Fahrgast, ein biegsames Mädchen von achtzehn Jahren, raffte den kostbaren Pelzmantel und kletterte auf das Sitzbrett. Der Wind fuhr stürmisch unter ihre Damaströcke und wirbelte ihr schwarzes Haar in die Lüfte, sodass es ihr schmales Gesicht wie ein Krähenschwarm umflatterte.

Hexenkind, durchfuhr es Goswin. Jesus Maria, wie kam er darauf? Musste an Melaten liegen. Er bekreuzigte sich verstohlen: »Besser, Ihr bleibt drin. Wind und Regen nehmen zu, und das nicht zu knapp.« Er deutete mit einer Kopfbewegung auf die zinngraue Wolkenwand, die sich hinter ihnen auftürmte.

»Warum hast du dann angehalten?«

»Die Vorderräder stecken fest.«

Goswin übergab Lunetta die Zügel, sprang vom Kutschbock und kämpfte sich gegen den Wind zum Heck des Reisewagens. Er holte tief Luft und stemmte sich mit dem Rücken gegen die durchnässte Holzblende. Einmal, zweimal. Schweißperlen mischten sich auf seinem Gesicht mit Regentropfen. Die Pferde tänzelten auf schweren Hufen, spürten den Schub und zogen an. Goswin kletterte zurück auf den Kutschbock. Ein Schnalzen, und der Wagen fuhr an. Ein gutes Gefährt, sogar gefedert. Für seine einzige Tochter scheute der Graf von Löwenstein keine Kosten.

»Was ist das?«, wollte Lunetta wissen und zeigte auf den Melatenhof. Eine scharfe Böe riss ihr die Worte aus dem Mund.

»Das Haus der lebenden Toten samt Gottesacker und Kapelle«, brummte Goswin knapp.

»Lebende Tote?« Lunettas Gesicht nahm einen kindlichen Ausdruck an, war ganz Aufmerksamkeit.

»So nennt man die Aussätzigen. Gehören nicht mehr zu dieser Welt.«

»Halt an!«

Verblüfft zügelte Goswin die Pferde. »Was ist?«

»Ich möchte in die Kapelle!«

»Niemand möchte dorthin!«

»Eben sah ich eine Schar Bettler und Wanderkrämer in den Friedhof einbiegen.«

»Die suchen Schutz vor dem Wetter, sonst würden sie Melaten meiden wie die Pest. Siehst du die Galgenbäume dort drüben? Käme der Wind von Süden, könntest du sie sogar riechen, irgendwelche armen Teufel hängen immer im Gebälk.« Er spuckte angewidert aus. »Ein verfluchter Ort. Die Seelen der Sünder gehen hier überall um.«

Lunettas nussfarbene Augen weiteten sich, ein Zittern ging durch ihren schmalen Körper. »An einem Ort wie diesem starb meine Mutter.«

Goswin biss sich auf die Lippen. Bei Gott, er hatte ihr keine Angst machen und sie noch weniger an die Mutter erinnern wollen. Doch als Lunetta sich ihm wieder zuwandte, waren ihre Augen nicht dunkel vor Furcht, sondern leuchteten. Mild und honigfarben wie Bernstein.

»Ich will, dass du sofort wendest und zu der Kapelle fährst.«

»Der Sturm wird uns einholen.«

»Ein Grund mehr, für eine sichere Reise zu beten.«

»Die in einer halben Stunde zu Ende sein kann!« Goswin sah, wie der Regen in Streifen über das Mädchengesicht lief.

»Nun mach schon, wende.«

Die Pferde scheuten. Der Wind rüttelte zur Bestätigung von Goswins Wettervorhersage an der Wagenplane, löste ein Befestigungsseil und ließ es wie eine Peitsche durch die Luft knallen.

»Beim Blute Gottes, Lunetta! Uns ist ein gewaltiger Sturm auf den Fersen! In Köln erwarten uns ein gastliches Haus, Eure Verwandten und Freunde.«

Eine Zornesfalte teilte die glatte Stirn. »Ich habe es nicht eilig, nach Köln zurückzukehren. Als ich das letzte Mal ankam, wollte man mich auf den Turm sperren, ich wurde verfolgt und beinahe getötet.«

»Was Eure Freunde verhinderten! Sie suchten und fanden Euren Vater, den Grafen von Löwenstein. Diesmal kommt Ihr als seine Tochter in die Stadt!«

»Nur als die seine? Ich bin zur Hälfte ein spanisches Gauklerkind, Goswin. Vergiss das nicht. Das letzte Mal führte ich einen Bären mit. Du selbst wolltest mich verhaften.«

Goswins Miene verfinsterte sich. Oh ja, der Bär. Er hatte sich die Hosen nass gemacht beim Anblick des dürren Kindes mit der fürchterlichen Bestie im Rücken. Natürlich hatte er sie bei der ersten Begegnung für ein Kind der Straße gehalten.

»Das ist acht Jahre her«, rief er schroff in den brausenden Wind. »Seither bin ich Euer Beschützer.«

»Und ich bin und bleibe die Tochter der Tarotspielerin Mariflores Zimenes.«

»Nicht in diesen Kleidern.«

Lunetta lachte bitter und sah mit einem Male sehr viel älter aus als ihre achtzehn Jahre. »Kleider! Ist das alles, was mich von der Welt der Vaganten und Bettler trennt?«

»Ihr vergesst Euren Titel und Euer Vermögen.«

»Es sind Titel und Vermögen meines Vaters, dem es gefallt, mich fortzuschicken, um ohne mich auf Reisen zu gehen. Was, wenn er nicht wiederkehrt?«

»Er reist als Diplomat im Auftrag des Kaisers nach London. Niemand wird es wagen, ihm etwas anzutun.«

»Und warum hat er mich nicht mitgenommen, wie sonst auch?«

Goswin zuckte die Achseln. »Es ist eine geheime Mission.«

Ein gefährliches Funkeln stahl sich in Lunettas schwarze Augen. »Vielleicht sollte ich das Tarot danach befragen?«

Goswin erbleichte. »Das ist Blendwerk des Teufels.«

»Es ist das Vermächtnis meiner Mutter!«

»Euer Vater hat es verboten. Er will Euch beschützen.«

»Wovor? Als er das letzte Mal allein auf Reisen ging, war ich ein Kind. Er ließ Mariflores und mich in Spanien zurück. Alle Welt glaubte, er sei in der Neuen Welt verschollen. Sein Bruder Aleander verfolgte uns mithilfe der spanischen Inquisition, um uns zu vernichten. Wir waren ihm schutzlos ausgeliefert.«

»Ihr seid es nicht mehr. Aleander hat alle Macht verloren«, unterbrach Goswin sie schroff. Mariflores Zimenes war ein Thema, das man mied.

»Meiner Mutter kam niemand zu Hilfe. Sie trug keinen Titel und die falschen Kleider. Würdest du für mich dein Leben wagen, wenn ich keinen Titel und andere Kleider trüge?«

Goswin fuhr entsetzt zu ihr herum. »Eure Feinde sind die meinen. Ich würde alles für Euch tun.«

»Dann fahr zur Kapelle.« Lunetta kletterte flink vom Sitzbrett in den Wagen.

Verdammtes, verflixtes… Luder! Ihn so listig auszumanövrieren! Das Kind war wie ausgewechselt, seit sie Spanien vor vier Monaten verlassen hatten. Wo war das sanftmütige Mädchen hin, das sich lächelnd über die Laute beugte, bei Hofbesuchen zu den anmutigsten Tänzerinnen zählte und mit kindlicher Neugier alles las, was es in die Hände bekam? Die Freude des Vaters, sein Licht, seine Zuversicht.

Lunetta hatte sich in Antwerpen kalt und knapp vom Grafen verabschiedet, als dieser die Galeone via England bestieg. Sie hatte ihre eigene Abreise aus der Scheldestadt hinausgezögert und die Fahrt aus jedem nur erdenklichen Grund unterbrochen. Befürchtete sie wirklich, dass man sie in Köln ohne den Schutz des Grafen noch einmal für das zerzauste, heimatlose Geschöpf halten würde, das sie einmal gewesen war? Ein, ein … Hexenkind, flüsterte eine Stimme in ihm. Verfluchter Melatenhof! Und adiós dem heißen Burgunder.

Seufzend wendete Goswin den Wagen und lenkte ihn durch das Friedhofstor. Die schweren Hufe der Pferde ließen den Beinbrecher erzittern, ein Holzrost, der streunende Hunde von frisch verscharrten Leichen fernhalten sollte.

Das Fuhrwerk passierte ein offenes Grab, aus dem Erde hochflog und nass gegen die Seitenwände des Wagens klatschte. Irgendeiner armen Seele wurde die letzte Ruhestätte bereitet. Am Rand der Grube erkannte der Kutscher einen regennassen Schädel und die Überreste eines Skeletts, das dem neuen Toten weichen und ins Beinhaus umziehen musste.

Goswins Miene verfinsterte sich wie der Himmel zunehmend. Er lenkte das Fuhrwerk auf einen Eibenhain zu, der die Friedhofskapelle umsäumte. Der anschwellende Wind ließ die Totenbäume tanzen. Ihre immergrünen Zweige kratzten an den Scheiben des Gotteshauses, als begehrten sie Einlass.

2.

Wie aus dem Nichts tauchte ein gebücktes Männlein in kurzem weißem Umhang und Kniebundhosen neben den Pferden auf und griff in die Zügel. Aus dem Nichts? Nein, aus dem offenen Grab. Schmutzstreifen auf seinem Umhang verrieten, dass er der Totengräber sein musste.

»Soll ich die Gäule festhalten? Wäre nicht gut, wenn sie an den Eiben knabbern. Tödlich, das Zeug.«

Goswin betrachtete ihn ärgerlich. Es war der Schellenknecht von Melaten. Man erkannte ihn am Glöckchen, einem Schultersack und der Büchse, die er flugs gegen den Spaten getauscht haben musste. So ausgerüstet, zog er täglich klingelnd und bimmelnd durch Köln, um Brot und Almosen für die Aussätzigen zu sammeln. Aufdringlichkeit war sein größtes Talent und sein Lohn die Hälfte aller Gaben.

Mit listigen Äuglein taxierte der Knecht das Wappen auf Goswins Brustharnisch und rechnete sich die Spende aus, die man den Insassen eines so vornehmen Gefährts abknöpfen konnte. Goswin schnaubte. Schlimmer als manch ein Habenichts waren die Bettelvögte, Almosenverwalter und Schellenbüttel, die an der Armut ihren Gewinn hatten. Das Aufleuchten im Gesicht des Männleins, als Lunetta aus dem Wagen stieg, vertiefte das Misstrauen des Kutschers.

»Gott zum Gruß«, flötete der Schellenknecht und wischte sich Erde und Regen aus dem Gesicht. »Wir erwarteten unseren Pfarrer aus Köln, der einer armen Seele das letzte Geleit geben soll. Noch ist ein Arzt bei dem bedauernswerten Mann, aber …« Er setzte eine Leichenbittermiene auf und schüttelte mit gut einstudiertem Bedauern den Kopf. Als er ihn hob, zeigte er ein ebenso wohl einstudiertes Lächeln. »Nun ja, eine schöne Fremde wie Ihr seid in einer solchen Stunde der Prüfung sehr willkommen.«

Er leckte sich die Lippen, während er Lunettas Gesicht studierte. Der Goldton der Haut und das Rabenhaar verrieten eine südländische Herkunft. Wie passte das zu einem deutschen Adelswappen? Schlecht. Es sei denn, die blutjunge Schöne hatte ein verwerfliches Geheimnis.

Etwa, dass sie die fremdländische Dirne des Grafen war. In Köln kannte er so manches Kurtisanenhaus für Fernhändler, deren Bewohnerinnen die raffiniertesten Laster anboten. Ihre Bußfertigkeit und ihren Wunsch nach Verschwiegenheit bewiesen diese Dienerinnen der Venus durch hohe Spenden. Der Schellenknecht öffnete mit anzüglichem Lächeln seinen Schultersack. »Eine milde Gabe für die Seele des Dahinscheidenden? Für einen Albus verspreche ich fünf Stundengebete, drei Seelenmessen kosten…«

»Der Mann ist noch nicht tot. Ein Arzt ist bei ihm«, wies Goswin ihn ab.

»Ärzte! Das macht die Sache gemeinhin nur schlimmer, oder glaubt Ihr, ich höbe sonst bei diesem Wetter eine Grube aus?«

Goswin schob den Knecht beiseite und öffnete für Lunetta die Kapellentür.

»Gottloses Pack«, zischte der Schellenknecht. »Ich meine, Gott sei mit Euch«, korrigierte er sich, als Goswin die Hand an sein Kurzschwert legte. Schnaubend betrat Lunettas Beschützer das düstere Gotteshaus.

Das Mädchen kniete bereits in einer Bank vor dem Altar. Auf dem Messtuch standen Kelch und Patene für die heiligen Handlungen des Pfarrers bereit. So neugierig wie misstrauisch beäugten Lunettas Banknachbarn die dunkelhaarige Schönheit. Sie musste ihnen exotischer als indischer Pfeffer erscheinen.

Es waren frierende Bettler und brotlose Krämer. Ihre klammen Lumpen verströmten den sauren Geruch von Armut und Angst. Ein einzelner Siecher saß, verhüllt in einen bodenlangen Reiseumhang, mit Handschuhen und tief herabgezogener Kapuze, in der hintersten Bank. Selbst den Ärmsten der Armen hatten die Aussätzigen auszuweichen.

Die Kapellentür klappte, und ein weiterer Besucher drängte an Goswin vorbei ins Gotteshaus. Es war ein Wanderhandwerker mit Krempenhut und einem Felleisen über der Schulter. Er blinzelte, um sich an das Dämmerlicht zu gewöhnen, dann musterte er Goswin, entdeckte das Wappen der Löwensteins auf seinem Brustharnisch, und seine Mundwinkel hoben sich zu einem verblüfften Lächeln.

Welch ein glücklicher Zufall! Nein, verbesserte sich der Schmied, das konnte kein Zufall sein, das war göttliche Fügung! Seine Augen saugten sich an dem Wappenemblem fest.

Goswin stieß einen knurrenden Laut aus. Der Handwerker wandte flugs den Blick ab, sah sich unter gesenkten Lidern suchend um und schlich katzengleich nach vorn. Direkt neben Lunetta ließ er sich in die Bank gleiten.

Er hatte sie gefunden. Ausgerechnet sie! Der Herr war groß und seine Wege unergründlich. Was würde Master Elias dazu sagen, der ihn doch ausgeschickt hatte, einen ganz anderen zu finden? Der ihm leider zwischen London und Antwerpen entschlüpft war. Wie vom Erdboden verschluckt.

Dieses Mädchen war seine Gelegenheit, Master Elias dennoch zu beweisen, dass er von Gott erwählt war, den Widersachern des Herrn und seines neuen Propheten die Stirn zu bieten. Ein Krieger des Lichts, der es verdient hatte, in die Sphäre der kommenden Engel aufzusteigen so wie Elias, der Künder der kommenden Welt.

Lunetta fing seinen halb lauernden, halb verzückten Blick auf, während er dicht an sie heranrutschte. Kleine, knotige Verwachsungen verunzierten seinen Hals. Der Wandergeselle musterte sie so eindringlich, als suche er nach vertrauten Zügen. Unsinn, schalt sich das Mädchen. Wahrscheinlich entkleidete er sie in Gedanken oder beraubte sie ihres Schmucks oder beides. Goswin näherte sich der Bank und räusperte sich warnend. Lunetta legte einen Zeigefinger an die Lippen und bedeutete ihm zu schweigen.

Die Blicke des Banknachbarn störten sie nicht. Im Gegenteil, zum ersten Mal seit ihrem Aufbruch aus Spanien fühlte sie eine bittere Befriedigung. Bis in ihr elftes Lebensjahr war sie selbst eine Ausgestoßene gewesen, vertraut mit dem Staub der Straße, mit Not, Verfolgung, Gier und Furcht. Todesfurcht, die sie niemandem, nicht einmal dem Vater in den letzten Jahren hatte zeigen dürfen.

Jeder nahm an, sie habe sie wie die Erinnerungen an die Mutter mit den Bettlerlumpen abgestreift und freudig gegen ein Leben in Seide eingetauscht. Alles an ihr hatte seither Dankbarkeit zu sein. Ihr Lachen, ihre Liebe, ihr Leben.

Für so unbeschwert hatte der Vater sie gehalten, dass er sie in Antwerpen ein zweites Mal in ihrem jungen Leben verlassen hatte, um ohne sie zu reisen. Ahnte er wirklich nicht, was das für sie bedeutete?

Lunetta hob den Blick zum Gekreuzigten.

Herr, ich bin reich, und ich weiß, ich gehe zu Freunden, doch ich fürchte mich. Warum spüre ich die Kälte des Todes in mir, seit mein Vater mich verließ?Droht ihm Gefahr? Werde ich die Freunde verändert finden? Gebeugt von Schmerz?

Draußen rauschte der Regen und prasselte auf das Bleidach der Kapelle, als wolle er Löcher hineinschlagen. Gottes Sohn schien im eigenen Leid versunken. Lunetta biss sich auf die Lippen. Christus blieb stumm. So lange schon.

Herr, erbarme dich! Was bedeuten meine schrecklichen Ahnungen? Sprich zu mir, wie damals, als ich ein Kind war! Gib mir meine Gabe zurück.

Bedrohlich ächzten und knarrten die Eiben, ein splitterndes Geräusch verriet, dass der Sturm ihre Äste zerschlug. Die Bettler sanken auf die Knie. Lunetta löste ihre gefalteten Hände und ließ die Rechte in die Tasche ihres Pelzmantels gleiten. Zögernd betastete sie ein in Seide geschlagenes Kartenspiel und schloss die Augen.

Herr, vergib mir, flüsterte sie tonlos, während sie das Tuch aufnestelte, aber ich brauche eine Antwort.

Dann wählte sie mit zitternden Fingern eine Karte, deren scharfer Rand aus dem Stapel hervorragte. Vielleicht würde diese Karte sie wieder in Verbindung setzen mit … mit… Ja, mit was?

Gottes Stimme?

Mit dem Tod, warnte die Stimme ihres Vaters.

Er glaubte, das Spiel sei längst vernichtet. Die verbotenen Karten hatten ihre Mutter das Leben gekostet, sie dem Inquisitor Aleander gleichsam in die Hände gespielt, sodass er sie im Namen des Heiligen Offiziums als Ketzerin überführen konnte. Ihr Vater verabscheute das Tarot. Selten wurde die Mutter zwischen ihnen erwähnt, nie ihre Kunst.

Lunettas Blick sank zu dem ewigen Licht herab, das zu Füßen des Kreuzes flackerte. Lange versunkene Bilder lodernder Flammen, die am gelben Ketzergewand ihrer Mutter Mariflores fraßen, drängten in ihr hoch. Der Duft der Opferkerzen mischte sich mit dem Gestank schmelzenden Körperfetts, dem stechenden Horngeruch brennenden Haars. Sie sah den zum Schrei geöffneten Mund, in den dunkler Rauch eindrang, und vermeinte die sengende Hitze auf ihrer Haut zu spüren. Selbst die Karte brannte in ihrer Hand.

Nein, sie würde nie vergessen. Schaudernd und mit angehaltenem Atem zog Lunetta die Karte aus der Tasche, wagte einen Blick und erstarrte.

Heiß schoss ein Gefühl in ihr hoch, das die Furcht über Jahre verdeckt hatte. Ein Gefühl, welches das Kartenbild präziser spiegelte als jedes Gebet. Sie bemerkte, dass ihr Banknachbar in ihren Schoß schielte und heftig die Luft einzog. Sie drehte die Karte rasch um und reckte das Kinn entschlossen zum Kreuz.

Warum Demut zeigen vor einem Stück Holz? Wie Hoffnung schöpfen aus dem Anblick einer geschnitzten Puppe? Man konnte all dies leicht zu Asche verbrennen, so wie man ihre Mutter in seinem Namen verbrannt hatte. Warum musste stets etwas brennen für diesen Gott des Schmerzes? Warum nannte man ausgerechnet diesen Gemarterten einen Gott der Liebe? Lunetta erschrak, als in ihr wie von selbst Worte Gestalt annahmen, die Sünde waren.

Du nahmst mir die Mutter, als ich ein Kind war. Du lässt zu, dass mein Vater mich ein zweites Mal verlässt. Ich will nicht glauben an einen Gott, der Herzen wie meine schafft, nur um sie zu zerreißen. Herr, ich entsage dir!

Der Handwerker war dicht an sie herangerutscht, fauliger Atem streifte ihre Wange. Lunetta erschrak. Hatte sie die letzten Worte laut ausgesprochen?

»Wir müssen weiter. Es dämmert bereits«, raunte Goswin von oben herab.

Lunetta wandte ihm langsam das Gesicht zu. »Ich will nicht nach Köln. Sieh her.« Sie zog mit beinahe triumphierendem Lächeln die Karte hervor, die sie gezogen hatte.

Goswin keuchte und prallte zurück. »Die Karten! Was, zum Teufel…«, erwiderte er so heftig, dass die Kapelle vom Klang seiner Stimme widerhallte. Weiter kam er nicht.

Mit einem Knall zerbarst das Fenster über dem Gekreuzigten. Glas rieselte auf den Heiland herab, bunte Splitter schossen durch den Kirchenraum, schnitten sich in die Gesichter der Betenden. Ein schwarzer Ast bohrte sich ins Innere des Gotteshauses. Wie ein Henkersbeil sauste ein vom Sturm gefällter Baumriese durch das Kirchendach. Seine Nadelkrone riss den Allmächtigen vom Kreuz, sodass er auf den Altar niedersauste und Goswin unter sich begrub.

Lunetta schrie auf; der schwere Pelz glitt von den Schultern, als sie aus der Kirchenbank sprang.

Die vernichtende Sturmböe schluckte ihren Schrei. Sie fuhr mit Wucht durch das kleine Gotteshaus, wirbelte Messgerät und Kerzenhalter durch die Luft, hob Bänke in die Höhe, läutete die Glocken im Turm, drückte heulend die Kapellentüren auf und ließ sie wie zerschlagene Taubenflügel in den Angeln flattern.

Und verebbte.

Tiefe Stille senkte sich ins Kirchenschiff. Lunetta bemerkte es nicht, sie kniete bei Goswin. Quer über seiner Brust lag ein mächtiger Ast der Eibe. Der Harnisch, Goswins ganzer Stolz, war tief eingedrückt, das stolze Wappen der Löwensteins zerschlagen. Die Augen des Soldaten waren geschlossen, sein stilles Gesicht blutüberströmt und von Splittern zerschnitten.

»Goswin«, flüsterte Lunetta, »nicht du!«

»Wusste ich doch, dass ich die Grube nicht umsonst ausgehoben hab«, mischte sich die Stimme des Schellenknechts in Lunettas Klagen. »Für einen rheinischen Goldgulden bestatten wir auch Reisende. Für zwei sogar bei den Pilgern im Portikus. Egal, woher sie kommen und wohin sie gehen. Gehen wollten. Was immer man von Melaten sagt, es ist geweihte Erde! Gute katholische Erde, und im Leprosenhaus halten wir auch die Totenwache. Gegen einen Aufschlag.«

Lunetta schluchzte auf, fasste Goswins Schulter, rüttelte ihn sanft, doch er rührte sich nicht. Sie weinte, schrie: »Herr, ist das deine Antwort an mich?«

»Schweig«, unterbrach eine kalte Stimme sie. »Schweig, du Zauberin, du Teufelsbuhlin.«

Es war die Stimme des Handwerksburschen, der sie eben noch so lüstern betrachtet hatte. Er hielt einen flammenden Kienspan in der einen Hand und mit der anderen eine Karte hoch, damit alle sie sehen konnten. Lunettas Karte. Entsetzt wichen die Bettler, die Wanderkrämer und selbst der vorwitzige Schellenknecht zurück.

Im flackernden Licht sahen sie einen Turm vor nachtschwarzem Himmel, in den ein Blitz einschlug. Feuer drang aus der berstenden Dachkrone, Menschen stürzten sich in die Tiefe und den sicheren Tod.

»Seht genau hin! Damit hat sie den Sturm auf Gottes Haus herabgezogen. Direkt vor dem Altar!« Schreie wurden laut. Vereinzelt flohen Menschen aus der Kirche, andere starrten gebannt auf die Karte, wandten sich mit fragenden Blicken an den Ankläger, warteten auf mehr.

Er enttäuschte sie nicht. »Ich weiß, wer sie ist! Der Herr hat mich gesandt, um sie zu richten.«

Die Augen des Burschen glühten wie Kohlen. Rot leuchtende Flecken bildeten sich auf seinen unrasierten Wangen, ließen die Knoten an seinem Hals aufblühen. »Der Herr ist ein hoher Turm, heißt es im Buch Samuel. Sie wollte ihn zerstören. Es sind stets die Reichen dieser Welt, die das Niedrigste tun. Sie unterdrücken das Licht Gottes. Ihr Wohlleben ist Satans Lohn, nicht Gottes Auszeichnung. Schaut sie euch an. Sie ist unversehrt in ihrem goldenen Kleid der Schande. Seht ihr lockendes Fleisch, das Luzifer geweiht ist und darum keinen Schmerz kennt!«

Seine Hand schoss vor, sein Zeigefinger deutete auf den Spitzenausschnitt von Lunettas höfischem Gewand, das den sanft schwellenden Ansatz ihres Busens enthüllte.

Lunetta erbleichte und erinnerte sich an seine Blicke vorhin in der Kirchenbank. Das waren nicht die Augen eines Lüstlings, sondern die eines Fanatikers. Mühelos setzte er die Umstehenden in Brand, verschmolz sie zu einem gärenden, schwelenden Haufen. Die Bettler bildeten einen Ring um sie.

Lunetta roch den scharfen Schweiß ihrer Angst, ihre Todesfurcht. Oh, sie kannte diese Furcht genau und hatte eben selbst erfahren, in welch vernichtenden Zorn diese Furcht umschlagen konnte. Sie verschränkte ihre Hände und bedeckte ihre nackte Haut.

Ein wissendes, fast zärtliches Lächeln stahl sich in das Gesicht des Wanderhandwerkers. Wie wohl es tat, die Wahrheiten des Master Elias zu verkünden, diese Macht zu fühlen, diese reine göttliche Macht, mit dem der Prophet ihn vertraut gemacht hatte.

»Seht ihr?«, fuhr er kraftvoll fort. »Diese goldene Hure Babylons weiß um ihre Schuld. Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in den Himmel kommt, sagt die Bibel. Lasst uns das Wort des Herrn mit Leben füllen. Lasst uns die Welt erlösen und Täter des Wortes sein! Ein Glaube, wenn er nicht Werke hat, ist tot in sich selber, so steht es bei Jakobus, dem Gerechten, geschrieben.«

»Woher kennst du die Heilige Schrift?«, wollte der Schellenknecht wissen. Der Schmied hörte ihn nicht.

»Ich sage: Schlagt sie tot! Schlagt sie tot. Ich bin der Hammer des Herrn. Schlagt sie tot.« Mit verzücktem Gesicht zog der Prediger einen Schmiedehammer aus seinem Felleisen.

»Ich dulde hier keine Zaunprediger und religiösen Schwarmgeister! Köln ist eine katholische Stadt. Nur unsere geweihten Priester kennen die Bibel«, mischte sich zaghaft der Schellenknecht ein.

»Gott ist allmächtig«, schrie der Schmied, »und Gott ist zornig! Gott will die Welt erlöst sehen von allem Dunkel, das sich in ein trügerisches Gewand von Licht hüllt. Sie ist eine Tochter der Finsternis, und ich bin ein Engel des Herrn.«

»Schlag sie tot«, übertönten ihn die Bettler, trunken vor Begeisterung darüber, ihren Selbsthass auf die zauberische Fremde zu lenken.

»Aber doch nicht in meiner Kirche«, protestierte der Schellenknecht schwach, »draußen bei meiner Grube vielleicht, auf dem Friedhof…«

Niemand hörte seinen Vorschlag. Schon griffen die ersten nach herumliegendem Messgerät, umklammerten Kandelaber. Teils, um sie als Schlagwerkzeuge zu verwenden, teils, um sie als Kriegsbeute einzustecken. Der Schmied packte sich Lunettas Pelz, warf ihn sich um die Schultern und tanzte wie im Fieber zu einer wilden Melodie, die er allein vernahm.

Lunetta kniete neben Goswin. Der Handwerksbursche holte aus. Das Mädchen schloss die Augen und senkte den Kopf. Was war ihr Zorn gegen den des Herrn! Sie selbst hatte ihn heraufbeschworen. Ein sausendes Geräusch zerteilte die Luft. Lunetta öffnete den Mund zum Schrei.

3.

»Macht schneller! Vor einer Stunde ist der Bote gekommen. Unser Gast wird bald hier sein. Habt ihr die Gänse und die Pasteten im Ofen? Steht der Wein bereit? Spart nicht am Zimt, hört ihr? Ich will ein gutes Quäntlein Zimt im Wein. Und Orangen. Sie soll Orangen haben, wie in ihrer Heimat.«

Claas van Berck stand mit wild gesträubtem Haar in der weiten Diele seines Kaufmannshauses und scheuchte das Gesinde umher. Jeder griff sich etwas, hier einen Besen, dort eine Sturzbütte, nur um beschäftigt zu scheinen, dabei war längst alles geputzt und poliert. Einzig Tringin, die erste Hausmagd und Köchin, stand aufreizend gelassen da.

»Müsstest du nicht in der Küche sein, bei den Gänsen?«, erkundigte sich der Waffenhändler mit strengem Blick.

»Die Gänse sind tot und kommen im Ofen ohne mich zurecht«, erwiderte Tringin und verschränkte die Arme vor ihrem fülligen Busen. Hinter ihrem Rücken wurde Kichern laut.

Claas van Berck wirbelte – für sein Alter und seine Leibesfülle erstaunlich schnell – herum. Eine junge Frau mit rotem Haar kam die Treppe vom ersten Stock herabgesprungen.

»Sidonia! Hatte ich dich nicht gebeten, Lunettas Schlafgemach zu überprüfen? Ist das beste Leinen aufgezogen? Sind Bienenwachskerzen aufgesteckt? Hast du Rosenwasser versprengt? Ist die kleine Madonna aufgestellt? Diese schwarze Muttergottes auf der Mondsichel? Mein Reliquienhändler behauptet, dass man die in Spanien verehrt. Weiß der Teu…, ich meine, weiß der Himmel, warum!«

Seine Tochter schüttelte lachend den Kopf. »Vater! Es ist alles seit Stunden bereit. Lunetta ist kein so anspruchsvoller Gast, wie du denkst. Erinnere dich! Als ich sie das erste Mal herbrachte, kam sie als Gauklerkind, dem du nicht einmal ein Bad gegönnt hättest.«

»Sie liebt das Baden? Verflixt! Schnell, schnell, Tringin, setz die großen Kessel auf! Mach elf Schaff Wasser heiß!« Aufregung ließ Claas van Berck nach Luft schnappen. Pfeifend fuhr der Atem in seine Lungen, rasselnder Husten schüttelte ihn. Sofort war seine Tochter bei ihm.

»Vater, du musst dich ausruhen. Es ist genug getan.«

»Genug genügt nicht. Sie ist eine von Löwenstein! Von Löwenstein!«

Kurz verschattete Ärger Sidonias helles Gesicht, ihre grünen Katzenaugen blitzten. Den Namen von Löwenstein hatte ihr Vater schon immer angebetet wie eine seiner albernen Reliquien, den Tropfen von der Muttermilch Mariens oder den Strohhalm aus der Krippe Christi, die er in seiner Hauskapelle verwahrte. Energisch schob sie ihn durch die Tür zum Hauptkontor.

»Lass uns hier drinnen warten, dort können wir den Hof und die Toreinfahrt überblicken.«

Ein Feuer beheizte den behaglichen Raum mit der geschnitzten Balkendecke. Der Geruch von Papier, Tinte und Bleigewichten mischte sich mit dem Duft von Tannenzapfen, die auf dem Kaminrost Harz ausschwitzten. Sidonia drückte den Vater in einen Lehnstuhl, griff nach einer Zinnkanne und schenkte ihm von dem süßen Malvasier ein, den er so liebte.

»Trink, das beruhigt deine Nerven.«

»Hat Tringin am Morgen den Fingerknochen des heiligen Bavo in den Wein getaucht? Der Priester von Sankt Kolumba hat ihn mir gegen eine kleine Stiftung verehrt. Er sagt, Sankt Bavo heile jeden Husten.«

Sidonia verdrehte die Augen. »Ja, Vater.«

»Danke, mein Kätzchen.«

Seufzend ließ Sidonia ihrem Vater den alten Kosenamen durchgehen. Wann würde er endlich die erwachsene Frau von siebenundzwanzig Jahren in ihr sehen statt einer unmündigen Tochter?

Der Vater griff nach dem ziselierten Becher und musterte ihn abfällig. »Zu plump, mit Blei versetzt! Daraus trinken meine Schreiber. Für Lunetta werden wir die neuen bunten Gläser aus Venedig aufstellen. Glas schmeichelt dem Geschmack des Weines weit mehr, und außerdem ist es Mode in Europas Adelshäusern. Für unser Fastnachtsfest habe ich Masken nach italienischem Vorbild herstellen lassen und hauchzarte Parfümkugeln. In Italien bewirft der vornehme Kavalier an Karneval damit seine Angebetete. Nicht mit Eiern wie in Köln! Fürchterliche Bauernsitte, soll die Fruchtbarkeit anregen. Pah. Heidenunsinn.«

Sidonia verdrehte abermals die Augen und strich sich eine rote Strähne aus der Stirn. Noch immer hatte sie sich nicht daran gewöhnt, ihre Haare so fest zu flechten, dass sie unter der sittsamen Haube der Ehefrau versteckt blieben.

»Lunetta ist kein Püppchen, Vater. Sie wird froh sein, dem höfischen Affentheater für eine Weile zu entkommen. Gewiss würde sie lieber übers Seil als eine weitere steife Pavane tanzen. Sie ist ein lebhaftes Kind.«

»Was weißt du schon von Adelssitten und Hofleben.« Abfällig verzog ihr Vater den Mund.

»Genug. Es ist ein Maskenspiel für Schmeichler, Speichellecker und Intriganten.«

Claas van Berck nahm einen Schluck Wein und schnaubte. »Sagt das dein Mann? Wo steckt er überhaupt? Gabriel sollte hier sein, um Lunetta zu begrüßen. Weiß er nicht, was sich bei einem solch hohen Gast gehört?«

Sidonia lachte schallend auf. »Eine Verbeugung?«

»Wäre durchaus angemessen. Ob ich es wagen darf, die Hand des edlen Kindes zu küssen?«

»Vater, Lunetta ist Gabriels Nichte. Wir lieben sie wie eine Tochter und haben sie über fünf Jahre nicht gesehen.«

»Und warum ist der sehnsüchtige Onkel dann nicht hier?«

Sidonia streckte die Hände nach dem wärmenden Feuer aus. »Er wurde zu einem Patienten gerufen.«

Claas van Bercks Augen verengten sich zu Schlitzen. »Wohin?«

Sidonia zuckte die Achseln. »Das weiß ich nicht!«

Mein argloses Kätzchen, dachte van Berck. Laut sagte er: »Hoffentlich zu einem Kranken, der ihn entlohnt. Schlimm genug, dass er als Knochenbrecher tätig ist, aber dass er sich immer wieder zum niedrigsten Lumpenpack hinziehen lässt…« Ein trockener Husten unterbrach ihn.

»Er kann es sich leisten, den Armen zu helfen. Er verdient genug an seiner vornehmen Kundschaft, von der die Hälfte an eingebildeten Krankheiten leidet. Anders als du! Du solltest etwas gegen diesen Husten tun. Gabriel kennt Arzneien, die sehr wirksam sind.«

»Sankt Bavo wird es schon richten. Ich bin nicht wirklich krank! Und mit einem Arzt, der neuerdings sogar in Hurenhäusern ein und aus geht, will ich nichts zu schaffen haben!« Aus den Augenwinkeln beobachtete er Sidonias Reaktion. Sie fröstelte, beugte sich zum Kamin hinab, griff nach einem Haken und vergaß das Feuer zu schüren.

»Hurenhäuser? Woher weißt du das?«, fragte sie endlich widerwillig.

»Wusstest du es nicht?« Claas van Berck schürzte die Lippen und bewegte die roten Backen, als wolle er dem Aroma des Malvasiers nachschmecken. Gabriels Arzneien, pah! Nichts war belebender als ein Wortgefecht mit seiner Tochter. Wenn sie nur wüsste, wie sehr ihm das in den Jahren ihrer Trennung gefehlt hatte. Dieser Gabriel Zimenes sollte sich vorsehen. Ein Claas van Berck würde nicht zulassen, dass man seinem Kätzchen wehtat.

Sidonia beobachtete ihn mit vorgeblicher Kälte. Wie konnte ein solch hintertriebenes Schlitzohr nur so gutmütig aussehen? Und du so gelassen, mahnte sie sich selbst.

»Man trägt mir gelegentlich Informationen zu«, bequemte sich ihr Vater zu einer Antwort.

Mit Sidonias Fassung war es vorbei. Empört stemmte sie die Hände in die Hüften. »Du spionierst hinter meinem Mann her wie hinter deinen Geschäftskonkurrenten?«

»Ich muss auch auf den Ruf meines Handelshauses achten. Und wenn ich schon mit einem Schwiegersohn leben muss, der ein Spanier von zweifelhafter Herkunft ist…«

»Was soll das heißen?«

Van Berck lehnte sich tiefer in seinen Stuhl. »Steht der Name Zimenes etwa nicht auf der Todesliste der Inquisition? Immerhin seid ihr deshalb aus Spanien zurückgekommen.«

»Die Vorwürfe sind nichtig! Du weißt am besten, wie rasch man heutzutage unter Verdacht gerät. Dein eigener Sohn galt einmal als Lutheraner, wurde peinlich verhört und saß im Gereonsloch.«

Ihr Vater schnellte vor. »Genau darum habe ich ein Auge auf Gabriel Zimenes! Gerade jetzt. Erst im Sommer sind in Münster diese Wiedertäufer und ihr sogenanntes Gottesreich vernichtet worden, überall lauern Sektierer. Lambert hat seine Jugendsünden bereut. Er führt ein gottgefälliges Leben und macht unserem Rüstungshandel in London alle Ehre. Aber deinen Mann sieht man seltener in der Kirche als an gottlosen Orten.«

Sidonia sog scharf die Luft ein. »Er rettet Menschenleben!«

»In Hurenhäusern?«

Sie schluckte tapfer. »Wo immer er gebraucht wird! Das ist sicher ebenso gottgefällig wie der Verkauf von Bombarden, Luntenrohren und Schwertern!«

Ihr Vater stellte den Becher ab und faltete die Hände über dem Bauch. »Nun, ich hoffe, dein Gatte verlernt bei seiner Arbeit nicht das Beten.«

»Du vergisst etwas, Vater. Gabriel ist der leibliche Onkel einer von Löwenstein! Das sollte dich trösten.«

Claas van Berck blitzte seine Tochter so feurig an wie sie ihn. Es war unübersehbar, dass beide nicht nur Bluts-, sondern Seelenverwandte waren. »Er ist und bleibt ein Zimenes. Nur ein Onkel mütterlicherseits. Und von Lunettas Mutter kann man kaum Gutes sagen!«

»Außer dass sie Lunetta vonLöwenstein das Leben schenkte!«

»Nun ja, dazu sind Frauen da.« So wie es die seine gewesen war – Gott habe sie selig, Amen.

Sidonia trat erregt zu einem der Bleiglasfenster, rüttelte an der Verriegelung und stieß einen der Fensterflügel auf. Kalte Luft strömte in den Raum.

»Was soll das?«, fragte ihr Vater. Mit vorwurfsvollem Hüsteln zog er seine Samtschaube enger um den ausladenden Bauch.

»Ich möchte, dass der infernalische Gestank von Eitelkeit und Hoffart diesen Raum verlässt. Von Westen zieht ein Sturm auf. Vielleicht wird der deinen Hochmut und die Titelsucht dämpfen!«

Claas van Berck richtete sich ärgerlich im Lehnstuhl auf. »Hoffart? Was heißt hier Hoffart? Und was Titelsucht! Ich müsste keinen solchen Aufwand für die Tochter einer Tarotspielerin treiben, wenn du nur klüger geheiratet hättest. All dieser Luxus könnte dir gelten. Allein daran zu denken, dass du einmal mit dem Grafen von Löwenstein verlobt warst! Hättest du ihn geheiratet, müsstest du seinen Bastard nicht wie eine Tochter lieben. Du könntest einen wahren von Löwenstein zur Welt bringen!«

Sidonia fuhr herum. Ihr Gesicht war bleich vor Zorn. »Lunetta ist kein Bastard, und meine Verlobung mit dem Grafen war nichts als ein Stück Papier. Du hattest sie von seinem Vater gekauft, als wir Kinder waren! Aber sein Sohn zog die Tarotspielerin Mariflores mir vor! Er kannte weniger Adelsstolz als du!«

»Hätte er dich vor dieser spanischen Hexe kennengelernt, hätte er anders gehandelt.«

»Nie und nimmer. Mariflores war die Liebe seines Lebens, Vater! Und das war mein Glück. Hätte er das Verlobungsversprechen zweier alter Männer eingelöst, dann hätte ich nie Gabriel gefunden. Den einzigen Mann, der mich glücklich macht.«

Lauernd beugte sich Claas van Berck in seinem Lehnstuhl nach vorn, das Leder knarrte spröde.

»Tut er das?«

Sidonia rang nach Luft, hielt ihr Gesicht in den kalten Wind. Wie weit ging die Neugier des Vaters? Seine Spitzel konnten unmöglich bis in ihr Schlafzimmer dringen. Oder ihr Herz belauschen.

»Macht er dich glücklich?«, fragte Claas van Berck leise und – ja – mit einem deutlichen Anflug von Zärtlichkeit. Seine Tochter hielt betroffen den Atem an. »Ihr habt noch immer kein Kind.«

Sidonias Kehle wurde eng. Man brauchte keine Spione, um das zu wissen. Sie schloss kurz die Augen. Dann drehte sie sich zu ihm um.

»Ich bin sicher, dass wir ein Kind haben werden. Eines Tages, wenn Gott will…« Sie brach mit zitternder Stimme ab.

Claas van Berck nippte ein wenig verlegen an seinem Wein. »Ja, so Gott will«, murmelte er. Und falls Gabriel seine Lust und Manneskraft nicht längst in die Betten von Huren trug. Sidonia mochte gewitzt sein, aber Gefühle hatten sie schon immer blind gemacht für das Naheliegende. Was für eine Verschwendung! Für das kurze Feuer der Liebe hatte sie den Grafen Löwenstein verschmäht, der nach dem Tode von Lunettas Mutter doch wieder frei gewesen war… und wahrscheinlich dankbar genug, um Sidonia zu heiraten, die ebenso viel zur Rettung Lunettas beigetragen hatte wie dieser verflixte Gabriel Zimenes.

Nachdenklich betrachtete Claas seine Tochter, die still in den Hof starrte. Zögernd setzte Regen ein. Er kam mit dem Wind aus dem Westen. So wie Lunetta und …

Ein behagliches Lächeln schlich sich in van Bercks Gesicht. Oh, noch war nicht alles für ihn und sein Haus verloren. Er würde eines Tages einen Erben haben und den Titel von Löwenstein in das Handelswappen seines Rüstungsgeschäfts aufnehmen. Van Berck und von Löwenstein, das war ein Name, der die Jahrhunderte überdauern würde. Das hatte einen Klang wie bester Waffenstahl.

Und es gab einen Weg, sich diesen Namen zu sichern – trotz der unklugen Ehe seiner Tochter. Man musste nur eins und eins zusammenbringen, um daraus zwei zu machen. Mit der Liebe rechnen. Rechnen, jawohl, rechnen. Die Liebe war kein Geheimnis, das sich logischen Regeln entzog. Es gab eine Mathematik der Gefühle. Man musste nur zueinander fügen, was zusammengehörte, so wie der Adel es schon immer gehalten hatte.

»Ich wollte dich noch um etwas bitten«, riss Sidonia den Vater aus seinen Träumen.

»Jederzeit, mein Kätzchen. Du darfst mich um alles bitten. Mir lag dein Glück schon immer am Herzen.«

Misstrauisch zog Sidonia die fein geschwungenen Brauen zusammen. Was ging im Kopf des Vaters vor, das ihn plötzlich so milde stimmte? Sein Herz wurde seit jeher von Berechnung regiert. Irgendeine Kosten-Nutzen-Aufstellung schien es auch jetzt zu erwärmen.

»Ich möchte Lunetta mit den Grundlagen des Fernhandels vertraut machen. Sie ist ein wissbegieriges Kind. Es würde sie beschäftigen und ihr Heimweh lindern. Sie lernt mit Begeisterung und beherrscht dank ihrer Hofreisen mit dem Grafen viele Sprachen. Auch die englische Zunge! Das könnte bei unserem Rüstungshandel mit London nützlich sein.«

Claas van Berck verschluckte sich am Wein und hustete wieder. Sidonia glitt zu seinem Sessel hinüber und klopfte ihm kräftig auf den Rücken in Erwartung seines Wutanfalls.

Der Vater hatte es stets verabscheut, dass sie Rechenbrett, Münzwaage und Kontobücher dem Lautenspiel und dem Stickrahmen vorgezogen hatte. Nur zu gern hätte er an ihrem Beispiel vorgeführt, dass er sich adligen Müßiggang leisten konnte. Dabei war es in Köln üblich, dass Frauen die Geschäfte der Väter oder Ehemänner mitführten, dass sie zu Messen reisten, ganze Weinernten aufkauften oder in der Frauenzunft der Seidweberinnen Geschäfte betrieben. An den Woll- und Eisenwaagen gab es in Köln Zolleinnehmerinnen, von den Fischweibern, Pfandleiherinnen und Krämerinnen ganz zu schweigen.

Zu ihrer Verwunderung erholte sich der Vater nicht nur rasch von dem Hustenanfall, sondern sah sie mit einem Mal strahlend an.

»Eine Kaufmannslehre für die kleine Gräfin? Sidonia, das ist eine brillante Idee. Das gemeinsame Studieren von Büchern, das traute Beisammensein bis spät in den Abend, die Besuche bei Lieferanten. Oh ja, das ist brillant! Das …« Er hielt abrupt inne wie eine sich putzende Katze, die von einem huschenden Schatten abgelenkt wird. »Nur, was wird ihr Vater dazu sagen?«

Sidonia machte eine beschwichtigende Handbewegung. »Ich habe ihn schon vor Monaten in einem Brief um seine Zustimmung gebeten. Er hat zugesagt und sogar ein fürstliches Lehrgeld angeboten. Ihm ist alles recht, was Lunetta glücklich macht und ihr über den Schmerz der Trennung hinweghilft.«

Claas van Berck jubelte innerlich. Das kam einer Zustimmung zu seinen geheimsten Plänen gleich! »Ah, bah. Lehrgeld! Wer braucht das, und wer will von Geld reden, wo unsere Familien seit Jahren so innig verbunden sind? Lunettas Glück soll unser erstes Ziel sein.«

Sidonia starrte ihn verdutzt und mit wachsendem Misstrauen an. Ihr Vater lehnte Geld ab?

Van Berck fuhr unbeirrt fort. »Wir werden es Lunetta gleich morgen vorschlagen. Nur heute Abend lass uns feiern. Wo bleibt das Mädchen nur? Ich hätte gedacht, dieser Goswin sei ein findiger Mann. Ein Söldner kann sich vom Tod, aber doch nicht von ein bisschen Wind aufhalten lassen!«

4.

Nicht Lunetta schrie auf, sondern der Prediger. Das Mädchen öffnete zögernd die Augen. Vor ihr lag der Schmiedegeselle. Seine blutverschmierte Hand umklammerte einen Hammerstiel, er keuchte und bewegte ungläubig die Lippen.

»Vorzügliche Waffe, guter Hieb«, murmelte der Schellenknecht voll Anerkennung, »wenn auch nicht tödlich.« Seine Bewunderung galt eindeutig nicht dem gefällten Gesellen.

Lunettas Blick glitt über den hingestreckten Körper des Wanderhandwerkers und entdeckte die Beine eines anderen Mannes, der über dem Schmied stand. Sie steckten in glänzenden Reitstiefeln. Langsam tasteten sich ihre Augen nach oben, erkannten den dunklen Umhang des Aussätzigen, der vorhin in der hintersten Bank gesessen hatte. Unter der herabgezogenen Kapuze trug er ein feingeschmiedetes Halbvisier, das nichts außer seinem Mund enthüllte. Es war ein abweisender Mund. Wieder holte der Verhüllte aus. Mit präzisem Schwung fuhr sein Degen auf den Ast nieder, der Goswin gefällt hatte, zerteilte ihn und gab den Körper des Kutschers frei.

Goswin stöhnte auf, sein Brustkorb hob und senkte sich unter gierigen Atemzügen. Lunetta kroch zu ihm hin.

»Er lebt … Er lebt!«

Sie schaute hoch, suchte das Gesicht des Degenträgers. Es blieb unter Visier und Kapuze verborgen. »Ihr seid ein Engel!«

Der Mann schüttelte sacht den Kopf: »So wenig wie Ihr eine Zauberin seid. Der Sturm hat den morschen Baum gefällt, aber es scheint härtere Schläge zu brauchen, um einen so gut gepanzerten Söldner zu töten.«

»Sie hat den Sturm auf uns herabgezogen«, zischte der Schmiedegeselle, während er sich rückwärts kriechend wie ein Reptil auf die Kapellentür zubewegte.

Der Degenträger wirbelte zu ihm herum. »Schluss mit dem Aberglauben! Auch wenn es dir nicht passt: Gotteshäuser sind Menschenwerk und der Macht des Wetters ausgesetzt. Und warum sollte eine mächtige Hexe den Nacken vor dem Hammer eines Gossenschwätzers beugen, wenn sie die Macht hätte, geweihte Kirchen zu vernichten? Wie eine Schmeißfliege, die du bist, könnte sie dich dann zerdrücken.«

Der Schmied erhob sich, schüttelte schwach seine blutende Faust: »Sie muss sterben! Es ist Gottes Wille. Ich bin vom Höchsten ausgesandt durch einen Erleuchteten, durch den Propheten des neuen Lichts…«

»Hast du noch immer nicht genug?«, schrie sein Widersacher. Der Schmied wetzte davon.

»Und ihr?« Drohend hob der Kuttenträger die Waffe, bereit, weitere Hiebe auszuteilen. Die Geste genügte, um das kleine Kirchenschiff zu leeren.

Elegant las der Verhüllte Lunettas Mantel vom Boden auf, den er dem fliehenden Pelzdieb vom Rücken gezogen hatte. Er befühlte ihn kurz und warf ihn dem Mädchen zu. »Ihr seid ein wenig nackt für dieses geweihte Haus.«

Errötend hüllte Lunetta sich in den Pelz. Irrte sie sich, oder schwang lächelnder Spott in der Stimme ihres Retters mit? Seine Stimme klang nicht mehr amüsiert, als er sich wieder an sie wandte.

»Ich hörte, dass ein Arzt gerade Visite im Leprosenhaus hält. Ihr solltet ihn holen, damit er nach Eurem Begleiter schaut.«

»Wer seid Ihr?«, brachte Lunetta mühsam hervor.

Sie sah, dass sein Mund, ein jugendlicher Mund, zum Strich wurde. »Niemand, den Ihr kennen solltet.«

»Gehört Ihr zum Leprosenhaus?«

»Nein. Ich bin nur ein Reisender, der sich unter Abschaum und Ausgestoßenen wohl fühlt. So wie Ihr. Lebt wohl.«

»Ihr könnt uns doch unmöglich hier alleine lassen! Bitte geht und holt den Arzt.«

»Ich sagte, ich bin kein Engel, meine Schöne. Ich schicke Euch den Schellenknecht zurück. Er wird vergessen, was geschah, und ist zu jeder Dienstleistung bereit, solange sie gut bezahlt wird. Habt Ihr Geld, oder wollt Ihr mit Euren Kleidern nur den Anschein erwecken?«

Lunetta richtete sich auf. »Seid Ihr ein Aussätziger, oder wollt Ihr mit der Kutte nur den Anschein erwecken?«

Der Mann schwieg, doch sein Mund kräuselte sich sacht. Wieder rätselte Lunetta, ob sein Mienenspiel Spott oder Abscheu verriet.

Sie reckte das Kinn. »Ich habe gewiss mehr Geld als Ihr.«

»Wie beneidenswert, aber Ihr solltet nicht zu sehr damit prahlen.« Die Stimme des Verhüllten klang eindeutig abfällig. Mit seinem Degen spießte er die Spielkarte auf, die zwischen ihnen lag, und betrachtete das Bild des gesprengten Turms.

»Verdient Ihr Euer Vermögen mit diesem Mummenschanz, kleine Gauklerin? Die Dummheit der Menschen ist wahrhaftig grenzenlos. Dennoch würde ich Euch raten, nicht mit dem Feuer ihres Zorns zu spielen. Man verbrennt sich leicht daran.«

Lunetta erbleichte und entriss ihm die Karte. Was wusste dieser Mann von tödlichen Feuern! »Das Tarot ist kein Spiel! Wer seid Ihr, dass Ihr es wagt, mir Vorträge über Mummenschanz zu halten?«

»Es geht Euch nichts an.«

Ihr Retter zog den Umhang beiseite und ließ den Degen in eine kostbar verzierte Scheide gleiten. Unter dem Mantel trug er enge Beinlinge und kurze, geschlitzte Hosen. Sein Körper war schlank und wohl trainiert. Mit elastischen Schritten ging er auf den Ausgang zu. Immer noch schwangen die Kapellentüren mit müdem Geräusch in ihren Angeln.

Als der Degenträger sie durchquerte, ließ ein jäher Windstoß die Scharniere knirschen und riss ihm die Kapuze vom Kopf. Das kahle Licht der Dämmerung genügte, um flammrote Locken auflodern zu lassen, die unter dem Helm mit dem Halbvisier hervorquollen.

Lunetta hielt den Atem an. Der Fremde drehte sich langsam zu ihr um.

»War diese Böe eine Kostprobe deiner Kunst?«

Lunetta kniff die Augen zusammen. Was sie von seinem Gesicht unter dem Visier zu erkennen vermochte, schien makellos, sein Kinn glatt, die Nase gerade und wohlgeformt. Seine Augen waren von heller, fast silberner Farbe. Eisaugen, die zu seinem abweisenden Mund passten. Nein, dort stand kein Engel. Ihr Retter sah aus wie ein jugendlicher Gott des Zorns.

Mars, durchfuhr es Lunetta, jener heidnische Kriegsgott, der die Tarotkarte des gesprengten Turms astrologisch beherrschte. Oh nein, das Tarot war kein Spiel!

»Ihr seid kein Aussätziger. Warum tragt Ihr die Leprosentracht?«, entfuhr es ihr.

»Wusstet Ihr, dass die lebenden Toten im fortgeschrittenen Stadium des Zerfalls das Gefühl von Schmerz verlieren? Sie werden gleichsam unverwundbar. Tamquam mortuus – einem Toten gleich. Eine Gnade, wie ich finde!«

»Wie könnt Ihr Spott mit einer Krankheit treiben?«

»Es hat in dieser Welt Vorteile, für einen Unberührbaren gehalten zu werden. Vor allem, wenn es gilt, Verfolger abzuschütteln, die sich für Gottes Gesandte halten, kleine Gauklerin.«

»Ich bin keine Gauklerin, und den Schmied sah ich heute zum ersten Mal. Er hat mich nicht verfolgt.«

»Ich sprach nicht von Euch, sondern von mir, meine Schöne.«

Damit drehte sich der Rothaarige um und verschwand.

Hinter Lunetta stöhnte Goswin auf. Erschrocken wandte sie sich ihrem Kutscher zu. Wie hatte sie ihn nur wegen dieses Halunken vergessen können?

»Goswin, kannst du mich hören?«

Der Soldat öffnete mit flatternden Lidern die Augen. Sie sah, dass er sprechen wollte, und hielt ihr Gesicht ganz nah an das seine.

»Die Karten«, brachte er mühsam hervor. »Vernichtet die Karten, bevor der Schellenknecht zurückkommt! Vergrabt sie, verbrennt sie. Schafft sie aus der Kirche. Niemand darf sie je wieder sehen!«

»Ich lasse dich nicht allein.«

Goswin richtete sich etwas auf. »Tut, was ich sage«, keuchte er. »Die Karten könnten für uns beide das Ende sein.«

Lunetta tastete nach ihrer Manteltasche, fand das Seidentuch, zog es hervor und erschrak.

»Sie sind weg! Bis auf den Turm sind alle weg.« Sie tastete nach der anderen Tasche. »Und das Reisegeld ist ebenfalls verschwunden.« Ihr Gesicht wurde hart. Der Mann mit den Eisaugen hatte ihren Mantel aufgelesen! Waren diebische Taschenspielertricks sein ganzes Geheimnis?

Goswin stöhnte und schloss die Augen. »Dann gnade uns Gott!«

Lunetta raffte die Röcke. Ohne länger zu zögern, rannte sie aus der Kapelle und in das verlöschende Licht des Tages. Noch immer strich Wind über das Gräberfeld. Sein wütendes Fauchen war einem klagenden Ton gewichen.

Gehetzt schaute Lunetta sich um. Im vagen Licht der Dämmerung glaubte sie die Umrisse des Leprosengehöfts und das Blinken einer Laterne zu erkennen. Das musste der Schellenknecht sein. Sie rannte los, glitt aus im saugenden Schlamm, fing sich und stolperte vorwärts durch die Gräberreihen. Sie wich windschiefen Kreuzen aus, sah vom Sturm gestürzte Steine und aufgeworfene Grabhügel, sprang über Wurzeln, die der Regen freigelegt hatte. Oder waren es Knochen? Sie schauderte und hielt im letzten Moment vor einer offenen Grube inne. Das Grab des Schellenknechts.

Sie schluckte. Magisch zog das gähnende Loch sie an. Ein Impuls zwang sie, einen Blick zu wagen. Sie schreckte zurück. Das Grab war nicht leer.

Lunetta taumelte rückwärts. Sie schloss die Augen. Vergeblich. Das Bild des Toten hatte sich in sie eingegraben. Der blutleere Mund, der glatt durchtrennte Hals, weit geöffnete, gleißend helle Augen, die ihr jähe Todesangst eingejagt hatten. Ein Gefühl, als solle sie in die Grube hinabgezogen werden.

Waren es die Augen des Degenträgers?

Noch einmal wagte sie einen Blick in die Grube. Der Leichnam war nackt und schön, aber nicht so jung, wie es der Degenträger war. Sie suchte das Gesicht des Toten und schrie auf. Dem Leichnam fehlte der Kopf. Wie gelähmt sah sie, dass der Tote sich aufrichtete, um sich aus dem Grab zu erheben, sich aufhockte und löwengleich zum Sprung ansetzte. Wieder schrie sie auf.

»Lunetta!« Hart umklammerte eine Hand ihren rechten Arm und riss sie vom Rand des Grabes zurück. »Kind! Wir haben dich in Köln erwartet! Was tust du ausgerechnet hier und zu dieser Stunde?«

Lunetta drehte sich um. Das Licht einer Laterne blendete sie. Doch dann erkannte sie den Mann, der vor ihr stand. Wärme und Erleichterung stiegen in ihr hoch, während sie ihm wortlos in die Arme sank. Mit ihm hatte sie an diesem Ort zuletzt gerechnet! Das also war der Arzt der Leprosen. Aber natürlich! Er war genau der Mann, der sich allen Stürmen zum Trotz zu den Elendsten begeben würde, um zu helfen. Warum hatte sie gefürchtet, ihn verändert zu finden, von Schmerz gebeugt oder ohne Liebe? Wie blind hatten Zorn und Furcht sie gemacht?

»Ich … ich habe einen Toten gesehen«, flüsterte sie statt einer Begrüßung und drückte ihr Gesicht in seinen schwarzen Tuchumhang. Dunkelheit umfing sie wie ein samtener Handschuh. Heimat war kein Ort, sondern Menschen, die man liebte. So wie Gabriel Zimenes, der Bruder ihrer Mutter.