Die Tarotspielerin - Marisa Brand - E-Book
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Die Tarotspielerin E-Book

Marisa Brand

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Beschreibung

Köln, 1527. Für die schöne Kaufmannstochter Sidonia van Berck scheint sich ein Traum zu erfüllen: Sie soll den Ritter Adrian von Löwenstein heiraten. Doch alles kommt anders, als der durchtriebene Bruder Adrians Sidonia eine Falle stellt. Statt eines herrschaftlichen Lebens erwartet die junge, eigensinnige Frau nun ein erbitterter Kampf ums Überleben, der sie auf den Spuren der Jakobspilger bis nach Spanien führt. Ihren Weg begleiten der geheimnisvolle Lautenspieler Gabriel und das stumme Mädchen Lunetta, das schon bald in den Tarotkarten sieht, welch große Gefahr auf sie alle wartet ...

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Seitenzahl: 558

Veröffentlichungsjahr: 2013

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Marisa Brand

Die Tarotspielerin

Roman

Edel:eBooks

Copyright dieser Ausgabe © 2013 by Edel:eBooks, einem Verlag der Edel Germany GmbH, Hamburg.

Copyright © 2007 by Marisa Brand

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München.

Covergestaltung: Agentur bürosüd°, München

Konvertierung: Datagrafix

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.

ISBN: 978-3-95530-164-4

edel.comfacebook.com/edel.ebooks

Inhalt

Cover

Titelseite

Impressum

Erster Teil

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Zweiter Teil

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Dritter Teil

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Vierter Teil

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Fünfter Teil

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Anhang

Zum Tarot

Erster Teil

Köln anno domini 1527, vor Pfingsten

Keiner ist dem Glauben ferner

und der Versuchung näherñ

als jener, der sich für sehr fromm hält.

Erasmus von Rotterdam

1

Glutrot beendete eine heiße Junisonne ihren Tageslauf. Triumphierend überglänzte ihr verlöschendes Licht die Bleidächer der Kathedralen, Kirchen und Klöster, von denen es in Köln mehr gab, als das Jahr Tage hat. Selbst die Gassen der Gerber und Kadaversammler hatte sie getrocknet und den Gestank von Fäulnis mit dem Duft von Rosen gemischt. Golden verweilten letzte Strahlen auf der Westfassade des Doms, während die Rheinfront der Reichsstadt bereits im Dunkeln lag. Ein knochenweißer Mond kündigte über dem Hafen die Nacht an.

Angeekelt raffte Sidonia van Berck ihren Rock, übersprang ein Häufchen Fischabfälle und wollte durch eine Mauerpforte in das Gewimmel am Hafen eintauchen. Am Ende des Durchgangs verstellte ihr ein Torwächter den Weg.

»Heda, Dirne, umsonst kommst du mir um diese Stunde nicht auf den Kai! Lass ein paar Münzen springen, dann kannst du dir einen Freier suchen, den sein Hosenteufel juckt.«

»Ich bin keine Hure. Was fällt dir ein, so mit mir zu reden!« Sidonia van Berck trat nach dem Handwerksburschen. Pah, in den Waffenschmieden ihres Vaters würde man diesen übel riechenden Gerbergesellen mit der Feuerzange verprügeln. Sie war eine reiche Bürgerstochter und keine Pfennigshure! Danach sah sie auch in ihrer Verkleidung als Magd sicher nicht aus.

»Was auch immer du bist«, blaffte der Wächter, »wenn du in der Dämmerung am Hafen rumstrolchen willst, gib mir drei Fettmännchen. Der Nachtdienst macht durstig.«

Johlend bekundete eine zerlumpte Vettel, die neben der Pforte auf einem Fässchen hockte, ihre Zustimmung. »Für drei Fettmännchen trinkste dich bei mir bis zur Seligkeit, guter Mann. Ich hab Bilsenkraut und ‘ne Prise Tollkirsche in mein Bier gemischt. Nun zahl schon, du Dirne, wirst das Geld mit deinen Lustäpfelchen rasch wieder eintreiben.«

Sidonia stemmte die Arme in die Hüften. Drei Kupfermünzen waren ein lächerlicher Betrag für sie, aber hier ging es um ihre Ehre. Besser gesagt um die Ehre einer Magd. Aber nun, selbst im Kostüm einer Magd fand Sidonia sich mehr wert als drei Fettmännchen, die kleinste Kölner Münzeinheit. Bah, was für Gelichter hier herumlungerte, um Geschäfte zu treiben!

Der Rat hatte in der Woche vor dem fünftägigen Pfingstfest die Torschlusszeiten am Hafen verlängert. Spät eintreffende Fernhändler, Pilger, Gaukler und Krämer sollten Gelegenheit haben, in der Stadt Quartier zu suchen. In Dreierreihen lagen Plattbodenschiffe, Lastkähne, Niederländer- und Oberländersegler bis in die Strömung des Flusses, bewimpelt mit Fahnen aus Ländern vom fernen Baltikum bis zum stolzen Flandern. So sicher wie der Nordpol eine Kompassnadel zogen die Schiffe die Winkelhuren genauso an wie vornehm geschminkte Liebesdamen, Bettler, Ruderknechte und heimliche Geldwechsler. Gelichter, mit dem Sidonia nichts gemein hatte. Wütend funkelte sie den Gerber an.

»Lass mich durch. Ich bin ein anständiges Mädchen, du Lausewanz.«

»Was willst du dann hier, Weib?« Mit scharfer Stimme unterbrach ein Kölner Stadtsoldat das Gezänk.

Sidonia wirbelte herum und erschrak beim Anblick seiner Rüstung und der Hellebarde, die den Werkstätten ihres Vaters entstammte. Verflixt! Sie hatte doch eine Mauerpforte beim Lasthafen gewählt, um keinem der geharnischten Wächter zu begegnen, die die großen Torburgen bewachten. Warum war dieser Kerl nicht am Haupthafen hinter dem Dom auf Posten? Dort legten im Dämmerlicht Kauffahrtschiffe der Fernhändler und Koefs aus den Niederlanden an, beladen mit kostbarer Fracht für die Pfingstmärkte.

Egal, nun war Vorsicht geboten. Sidonia zauberte einen flehenden Blick in ihre gelbgrünen Augen und zog das Kopftuch tiefer, unter dem sie ihren mit Perlen durchflochtenen rotblonden Haarkranz verbarg.

»Guter Mann, dieser Kerl will mir den Zutritt zum Kai verwehren. Außerdem verlangt er Geld mit der Behauptung, ich sei eine, eine ...«, sie holte empört Luft, »Dirne!« Betont weinerlich setzte sie hinzu: »Darf er das? Ich bin nur eine Magd und kenne mich mit den Gesetzen nicht aus, und ...« Sidonia entrang ihrer Kehle ein Schluchzen, das ihr Zeit gab, sich eine Geschichte auszudenken, die einen Stadtsoldaten überzeugen könnte. Sie presste Tränen hervor und belauerte unter dem Vorhang ihrer Wimpern die Wirkung ihres Auftritts.

Die war zufriedenstellend, wenn auch nicht verwunderlich. Sidonia van Berck hatte das helle Mädchengesicht einer vornehmen Tochter, die sich nur selten in die Gassen begab. Ihre Haut war weder von Auszehrung noch von einer anderen üblichen Armenkrankheit gezeichnet, sondern rein und klar. Sie war es gewohnt, dass ihre Katzenaugen jeden Betrachter fesselten, genau wie ihr blühender Leib. Nur ihre etwas zu vollen Lippen, die ganz für die Lust und fürs Lachen geschaffen schienen, störten den Geschmack vornehmer Verehrer.

Zu diesen Zimperlingen gehörte der Soldat Goswin nicht. Ihm gefiel, was er im Feuerschein der Pechpfanne erblickte. Außerdem verachtete er Hilfswächter wie den Gerbergesellen, die mit nichts als einem Spieß bewaffnet große Krieger mimten.

»Hast du dieses Mädchen beleidigt?«, herrschte er den Handwerksburschen an. Bettler scharten sich um das Trio.

»Eine Hure beleidigen? Wie soll denn das gehen? Und von wegen Magd! Was sollte eine Jungfer am Abend hier im schlimmsten Teil des Hafens zu suchen haben?«, verteidigte sich der Spießträger.

Ein Milchgesicht, entschied Goswin bei sich und brachte den Jüngling mit Blicken zum Schweigen. Dann wandte er sich mit der Würde, die ihm sein Amt verlieh, der verfolgten Unschuld zu und genoss die Spannung der Umstehenden.

»Nun, wer bist du?«

Sidonia hielt den Blick gesenkt und kaute auf ihrer Unterlippe herum. Tja, wer war sie? Unmöglich konnte sie zugeben, dass sie die Tochter des Kaufmanns Claas van Berck aus der Minoritenstraße war. Dabei würde der Name diese beiden Toren in den Kot der Gasse zwingen, wo sie hingehörten. Der Name van Berck war in Köln zwar alles andere als beliebt – aber gefürchtet.

Der Name ... Endlich kannte sie die Lösung. Sie unterdrückte ein Lächeln: »Ich bin eine Magd aus dem Haus des Claas van Berck und soll einen Gast meines Herrn abholen.«

Van Berck! Der Spießbürger zog sich wie geprügelt in den Schatten seiner Pforte zurück. Als Angehöriger der unwichtigen Ledergerberzunft wollte er sich in keinem Fall mit einem Mitglied der Kaufmannsgaffel Windeck anlegen. Nicht einmal mit einer Magd aus dessen Haus. Van Berck hatte schon ganz andere ins Unglück gerissen.

Goswin nahm die eiserne Helmkappe vom Kopf und kratzte sich am Schädel. Gemurmel erhob sich. Der Soldat rückte den Bund seiner geschlitzten Pluderhose zurecht. Er war entschlossen, dem Hilfswächter und dem Publikum seinen Schneid und Scharfsinn zu beweisen. »Warum schickt van Berck keinen Knecht oder bezahlten Leuchtmann für diese Aufgabe? Er hat doch Gesinde und Geld genug für solche Dienste.«

Sidonia biss sich auf die Lippen. Die Frage war gut. »Nun ...«, hob sie an, als von dem Lastkahn in ihrem Rücken ein grauenerregendes Brüllen ertönte. Für einen Moment erstarben alle Stimmen und Geräusche. Gaffer und Wächter wandten sich um.

Sidonia drängelte sich zum Kai vor und duckte sich hinter leeren Heringsfässern. Jetzt musste sie nur auf eine Gelegenheit warten, um im Gedränge in die Dunkelheit abzutauchen. Vielleicht würde es ihr ja doch noch gelingen, zum Hauptkai und zu dem Schiff zu gelangen, auf dem der spanische Reliquienhändler des Vaters eingetroffen war. Ihre Abenteuerlust besiegte den Schrecken, den der Stadtsoldat ihr eingejagt hatte.

Pah, einer Sidonia van Berck stellte sich niemand in den Weg! Und erst recht nicht der künftigen Braut Adrians von Löwenstein! Gott gebe, dass Vaters Reliquienhändler eine Nachricht von dem fernen Ritter aus Spanien brachte. Sie kannte ihren Bräutigam zwar nicht, aber es waren genügend Geschichten im Umlauf, um sich das Bild eines Helden auszumalen. Eines Helden, der sie in ein Leben voller Abenteuer und Reisen entführen würde. Reisen!

Ein weiteres Brüllen riss sie aus ihren Gedanken. Im Licht flackernder Schiffsfackeln erkannte Sidonia den Ursprung des Lärms. Links von ihr, auf dem Deck des Lastkahns, fletschte ein Bär die Zähne. Hinter ihm schwang ein Tierbändiger die Peitsche. Gaukler! Entzückt beobachtete Sidonia den Tumult, den die Spielleute verursachten.

Der Soldat Goswin verfluchte seinen Ausflug zum Nordkai. Mit einem Bären wollte er es nicht aufnehmen.

2

Entzückt reagierte hingegen auch ein Dominikanermönch auf den Aufruhr am Nordkai. Der Tumult lenkte alle Aufmerksamkeit von der niederländischen Koef im Domhafen ab, auf der er einen Jakobspilger entdeckt hatte. Angewidert musterte er das schmächtige Männlein von unten.

Gleich fünf Muscheln prangten am Hut dieses Berufspilgers und Reliquienhändlers. Die Jakobsmuscheln waren Beweis und Werbung für seine Wallfahrten zum spanischen Grab des Apostels. Reiche Kölner Sünder mieteten ihn als Stellvertreter, wenn sie keine Zeit oder Lust auf die monatelange Bußreise hatten. So wie der Kaufmann Claas van Berck. Pilgern gegen Bezahlung war ein einträgliches Geschäft.

Der dünne Mann umklammerte einen Holzstab und rückte den Ledersack zurecht, dessen Gewicht seine Schultern herabdrückte. Sein Fuchsgesicht schillerte bleich. Man sah ihm an, dass er das schaukelnde Schiff zu verlassen wünschte. Doch das Entladen der Fracht ging vor.

In den hölzernen Antriebsrädern der Lastkräne schwitzten die Antreter beim Schein von Pechfackeln. Fuhrknechte rollten Schubkarren mit Süßweinfässchen die Planke herab. Lastträger schulterten Tuchballen aus Flandern und Gewürzsäcke aus dem Orient, die über Antwerpen ihren Weg nach Köln und auf die Pfingstmärkte fanden.

Der hochgewachsene Dominikaner sog die Wohlgerüche ein, die seine Nase über den brackigen Gestank des Flusses und die Ausdünstungen der Arbeiter hinwegtrösteten. Er schlug seine weiße Kapuze zurück und enthüllte das scharfgeschnittene Gesicht eines Adligen. Der Olivton seiner Haut stand in anziehendem Kontrast zu den quecksilberhellen Augen und der blonden Tonsur. Sein Äußeres verriet, dass sich in seinen Adern südländisches und deutsches Blut mischten. Mit einem leichten Hinken betrat der Mönch die Planke.

Die Lastträger wagten nicht, ihm den Weg an Bord zu verwehren. Einige Niederländer schlugen das Kreuz. Schließlich galt ihr Land als Hort heimlicher Lutherfreunde und Wiedertäufer. Jeder niederländische Bürger stand unter Generalverdacht bei den domini canes, den Hunden des Herrn, wie die Dominikaner als Vertreter der Heiligen Inquisition im Volk hießen.

Als der Mönch an Deck trat, durchfuhr den Pilger ein Zittern. Dann entschied er sich für die Flucht nach vorn. »Sei gegrüßt, Bruder in Christo, von einem Pilger in der Nachfolge Jesu, nostre segnor«, schnarrte er mit dem Akzent seiner nordspanischen Heimat.

Der Dominikaner lächelte sanft, doch seine silbrigen Augen waren kalt wie Eis. »Buenos dias, Senor Riba«, erwiderte er schneidend.

»Woher weißt du meinen Namen?«, flüsterte der Pilger und bemerkte zu spät, dass er sich mit dieser Frage dem Ketzerjäger ausgeliefert hatte.

»Man weiß so einiges über dich und deine Geschäfte«, erwiderte der Mönch in hartem Kastilisch. »Mein Name ist Aleander, und ich reise im Auftrag der Heiligen Inquisition von Santiago de Compostela, deren Hauptankläger ich bin.«

Die Gesichtsfarbe des Pilgers nahm einen grünlichen Ton an; er sah sich nach einer Fluchtmöglichkeit um. Es gab keine. Gottergeben ließ er sich von dem Dominikaner an die flusswärtige Seite des Decks führen. Hier waren sie allein. Stumm betend hoffte der Pilger, dass er sich freikaufen konnte. Es sollte sein letztes Gebet sein.

Der Rhein schluckte ihn lautlos. Das Blut seiner durchschnittenen Kehle mischte sich mit dem schwarzen Wasser. Das Sterbegebet, das der Inquisitor der Leiche nachschickte, wäre dem Pilger kein Trost gewesen.

Sein Geld fand ebenso den Weg in die Taschen des Kuttenträgers wie einige Briefe an Claas van Berck und eine Spielkarte, die seinem Mörder ein Grinsen entlockte. Sie zeigte einen heidnischen Streitwagen, auf dem ein mit Halbmonden beflügelter Heros in die Welt aufbrach. Gezogen – welch ekler Frevel – von einer weißen und einer schwarzen Sphinx, die wohl Engel der Rache und des Friedens imitieren sollten. Aleander wusste, von wem diese verbotene Karte stammte. Er drehte sie in seinen Fingern und fand auf der Rückseite die ungelenke Signatur eines Kindes, die seine Vermutung bestätigte: Lunetta.

Mit dieser Plage würde er sich noch befassen müssen. Vor einem Karten legenden Kind hatte er ebenso wenig Angst wie vor einem Rächer auf einem Streitwagen. Wer glaubte schon an heidnische Prophezeiungen? Er ließ die Karte in seiner Kutte verschwinden.

Die polierten Schweinezähne und vergoldeten Lammknochen, die dem Pilger in Köln ein hübsches Sümmchen als Reliquien von Märtyrern eingebracht hätten, warf der Dominikaner in den Fluss. Mit solchem Mummenschanz gab er sich nicht ab, ihm winkte ein größeres Vermögen. Das Vermögen des Kaufmanns Claas van Berck. Ein Vermögen, dessen Erwerb mit einem einzigartigen Vergnügen verbunden sein würde: der Verführung der Tochter Sidonia, die so anziehend wie töricht war.

Aleander hatte das Mädchen wochenlang beobachtet und kannte ihr hitziges Temperament, das alle van Bercks kennzeichnete. Die Zeit war reif, die Schlinge, die er um ihren Hals und den ihrer Familie gelegt hatte, zuzuziehen. Mit teuflischer Freude ließ er den blutigen Dolch auf das Schiffsdeck fallen. Der Dolch trug das Wappen des Waffenhändlers van Berck.

Mondlicht glänzte auf der Klinge und gab dem Mönch eine noch herrlichere Idee ein. Er zog die Spielkarte wieder aus der Kutte hervor, spießte sie auf den Dolch und rammte beides in die Decksbohlen. Was für ein hübscher Fall von Ketzerei sich daraus konstruieren ließ! Fürwahr, der Herr war sein Hirte, weidete ihn auf grünen Auen und hatte ihn mit einem überlegenen Verstand gesegnet.

3

Die Gaukler verließen den Lastkahn und formierten sich zu einem Zug, der sich Richtung Norden wandte. Sicher wollte das bunte Völkchen in der Spielmannsgasse oder in der Schmierstraße bei den Knochen- und Fettsiedern Quartier suchen. Ein kleines dunkelhaariges Mädchen, dünn und biegsam wie eine Weidenrute, half einem Greis über die Planke. Der Bär, den sein Bändiger zum Bug des Kahns gezerrt hatte, sträubte sich. Sidonia hätte leicht aus ihrem Versteck entwischen können, aber das Tier fesselte ihr Interesse.

Endlich trieb der Bärenführer, ein Hüne in Lederweste, die Bestie mit singenden Peitschenschwüngen zur Planke. Als der Bär sich weigerte, sie hinabzutappen, prügelte sein Herr auf ihn ein. Die Gaffer auf dem Kai feuerten ihn an, begeistert über die kostenlose Vorstellung. Der Bär fletschte seine Reißzähne und richtete sich auf.

Die Zuschauer wichen zurück. Der Kerl im Lederwams riss eine Fackel von der Reling, um sie der Bestie auf den Pelz zu brennen. Das Mädchen, das eben den Greis geführt hatte, lief zum Kahn zurück und erklomm die Planke. Mit angehaltenem Atem sah Sidonia, wie das Kind den Bären besänftigte, sich mit mageren Beinen auf seinen Rücken schwang und ihn zum Kai hinabritt.

Das Mädchen blieb unberührt von den Beschimpfungen des Tierbändigers, der dem Kind unter dem Gelächter der Gaffer nachsetzte. Sidonia lachte nicht. Als das elfenhafte Mädchen an ihrem Versteck vorbeiritt, sah sie in Augen, die schwarz waren vor Traurigkeit. Dieses Kind musste in seinem jungen Leben weit Grausameres gesehen haben als die brutale Behandlung eines Tieres.

»¡Párate!¡Párate! Lunetta, bleib stehen!«, schrie der Bärenführer in einem Kauderwelsch aus deutschen und spanischen Brocken. Er hatte den Bären und seine Reiterin eingeholt und schwang erneut die Peitsche. Mit bösem Zischen sauste die Lederschnur am Kopf des Kindes vorbei und verfehlte ihn nur um Haaresbreite. Ohne nachzudenken, sprang Sidonia aus ihrem Versteck.

»Lass das Kind in Ruhe, Lump!«, schrie sie. Der Bär beschleunigte sein Tapsen und suchte mit dem Mädchen auf dem Rücken Anschluss an die Gauklerschar. Der Bärenzähmer fuhr herum, in der einen Hand eine Fackel, in der anderen die Peitsche. »¡Lárgate, puta!«

Sidonia stemmte die Arme in die Hüften. Sie verstand den Mann sehr genau. Ihre künftige Schwiegermutter, Rosalia de Fraga, die iberische Mutter ihres Bräutigams, die im Haus ihres Vaters zu Gast war, erteilte ihr seit einigen Monaten Spanischunterricht. Jetzt kamen ihr die Stunden bei der schwarzen Witwe zugute. Beherzt reckte Sidonia das Kinn. »¡Estúpido! Verschwinde du Dummkopf, Hurensohn, oder ich hetze Kölns Soldaten auf dich.«

Der Grobian trat so dicht an sie heran, dass sie seine Ausdünstungen aus Schweiß und Zwiebeln roch. In gebrochenem Deutsch fuhr er sie an: »Halte dich da raus, dumme Gans, oder ich, Pancheo, brenn dir mein Fackel ins Gesicht.« Drohend brachte er sein pockenvernarbtes Gesicht nah an das ihre und blies ihr die Flamme ins Gesicht. Sidonia riss einen Dolch aus ihrem Mieder, den sie bei Ausflügen wie diesem stets bei sich trug. Sie richtete ihn gegen den Tierbändiger, als eine Hellebarde zwischen ihr und dem Riesen niedersauste wie eine Schranke. Der Soldat Goswin hatte nach Abzug des Bären seinen Mannesmut zurückgewonnen.

»Was soll das Gezänk? Im Namen des ehrsamen Rates der Stadt Köln und des Gewaltrichters: Ihr seid beide verhaftet.« Wütend wandte er sich Sidonia zu. »Und du sagst, du bist eine Magd? Her mit dem Messer, sofort!«

Sidonia wich mit gezücktem Dolch nach hinten aus und kam der Mauerkante des Kais gefährlich nahe. Goswins Arm schnellte vor, um sie zu packen, als heißer Atem seinen Nacken streifte und ein Knurren ihn erstarren ließ.

Hinter dem Soldaten richtet sich der Bär auf und stieß sein Brüllen aus. Geführt wurde er von Lunetta, dem Mädchen mit den traurigen Augen. Sidonia zwinkerte ihr dankbar zu, dann drehte sie sich um und sprang in den Rhein. Auch der Bärenführer Pancheo gab Fersengeld.

Zurück blieb unter dem Gelächter der Gaffer nur der Stadtsoldat Goswin, der es erst lange nach Abzug des Bären und der Gaukler wagte, sich umzudrehen und seine nassen Hosen dem Publikum zu zeigen.

4

Die Glocken von Sankt Kolumba läuteten zur ersten Andacht, als man im Haus des Rüstungshändlers Claas van Berck mit den Vorbereitungen für eine Pfingstfeier begann. Prunkvoll wie keine andere sollte sie sein. Ganz Köln und seine vornehmsten Bürger sollten sehen, zu was es ein ehemaliger Waffenschmiedgeselle aus den burgundischen Niederlanden bringen konnte.

Fehlte nur noch eine Nachricht von seinem Reliquienhändler über die Heimkehr Adrians von Löwenstein. Dann könnte der Kaufmann morgen Abend sogar die Verlobung seiner Tochter Sidonia mit dem Ritter verkünden. Im Hof seines Stadtpalastes entluden Fleischer ihre blutigen Karren. Vier halbe Ochsen, Dutzende Kapaune, Wachteln und Junggänse, zwölf Lämmer, ein lebender Pfau und ungezählte Eier waren bestellt. Dazu gesalzener und grüner Fisch, Neunaugen, Aale, Brassen. Konfektkörbe mit gezuckertem Ingwer, kandierten Früchten, süßer Latwerge, Gewürzsträuße und ein spanisches Safransäckchen im Wert eines Reitpferdes fanden ihren Weg in den Küchentrakt.

Unbeeindruckt vom Geschrei der Fuhrleute und den Übungsschüssen der Pfingstschützen, die vom Neumarkt herüberhallten, kontrollierte ein Faktor die Lieferungen. Er beanstandete grobes Mehl, hakte die Ankunft von Likörwein ab und machte eine verdrießliche Miene.

Sein Dienstherr hingegen rieb sich, hinter den Fenstern seines Privatkontors im ersten Stock, die Hände. »Prächtig, prächtig«, raunte Claas van Berck zu sich selbst. »Was für ein Teufelskerl du bist, kleiner Lumpenclaas.« So hatte ihn sein erster Kölner Meister genannt. Ein Vierteljahrhundert war das her und bedauerlich, dass Meister »Hochmut« Volkhardt nicht mehr unter den Lebenden weilte, um mit Lumpenclaas das Pfingstmahl einzunehmen. Bei funkelndem Burgunder hätte Claas van Berck seinem toten Meister erzählt, wie er bei dessen Witwe und in der Rüstungswerkstatt sein Nachfolger geworden war.

Den größten Waffenhandel der Reichsstadt hatte Lumpenclaas aufgebaut. Fünfzig Lehnsgüter, sechzehn Eigengüter und acht Stadthäuser nannte er nun sein Eigen. Wenn sich seine Familie erst mit den von Löwensteins verbunden hatte, war seine Wahl zum Ratsherrn, vielleicht sogar zum Bürgermeister, nur eine Frage der Zeit.

Zwischen den Fuhrleuten im Hof tauchte seine Tochter auf. Sidonias rotblondes Haar floss ihr bis auf die Hüften. Sie klapperte auf Pantoffeln umher und griff in einen Konfektkorb. Seine neunzehnjährige Tochter trug weder Kappe noch Haarnetz, dafür einen Morgenmantel. In stummem Tadel schüttelte Claas seinen Kopf, den ein Kranz ebenfalls rötlicher Haare zierte. Sidonia trieb sich zu gern beim Gesinde herum. Es war schwer, eine temperamentvolle Tochter ohne die feste Hand einer Mutter aufzuziehen. Nur gut, dass Sidonia nun unter Aufsicht ihrer künftigen Schwiegermutter Doña Rosalia stand, einer Frau von spanischer Strenge. Ja und bald, hoffentlich sehr bald, würde seine Tochter von Ritter Adrian gebändigt werden.

Prächtig, Prächtig! Seine Tochter würde eine Gräfin werden, Teil einer uralten Ahnentafel, und er ein gesuchter Gast und Geschäftspartner bei Kölns ersten Familien. Niemand würde ihn dann noch verspotten oder seine Geschäftsmethoden rügen. Sosehr man den verarmten Ritteradel insgeheim verachtete, so gern schmückte man sich mit dessen Titeln und Wappen.

Was bedeuteten dagegen schon die Schuldscheine, die er dem verstorbenen Maximilian von Löwenstein hatte erlassen müssen, die vielen Waffen und Rüstungen, die er dessen Sohn Adrian über Jahre für unsinnige militärische Unternehmungen hatte zukommen lassen. Ritterfehden, pah, die Zeit der gepanzerten Helden war vorbei. Längst hatten bezahlte Söldner die Aufgaben der Kriegsführung übernommen. Van Berck war sich sicher, dass seine neuen Radschlossgewehre die Zweikampfschwerter der Ritter künftig ganz ersetzen würden.

Sicher, er war ein finanzielles Risiko eingegangen, um die Heirat zu ermöglichen. Doch der Grafenname würde ihm am Ende ein neues Vermögen in die Kassen schwemmen und ihn unangreifbar machen.

Ach, wenn er nur halb so stolz auf seinen fünfzehnjährigen Sohn Lambert sein könnte wie auf Sidonia. Sich vorzustellen, was seine Tochter als Mann und an Lamberts Stelle in dieser Welt vollbringen könnte! Sinnlos, darüber zu grübeln, sie war ein Weibsbild, wenn auch – dem Herrn sei Dank – eines mit beachtlichen Reizen. Ja, er musste dankbar sein und sich damit abfinden, dass ein Mädchen seine Talente geerbt hatte und nicht Lambert. Der war und blieb ein Taugenichts, trieb im Talar des Rechtsstudenten nur Unfug und spielte den Rebellen. Lamberts Schwächen waren der verstorbenen Mutter anzulasten, die den Knaben verzärtelt hatte. Die Liebe der Weiber – ob zu Kindern oder Männern – brachte nichts als Unglück über die Welt! Möge Gott seine Tochter vor solch alberner Leidenschaft bewahren. Sidonia wich eben einem Fuhrknecht aus, der sie bei den Haaren zupfte.

Der Kaufmann riss am Griff des Bleiglasfensters und wollte Sidonia zur Ordnung rufen, aber die verschwand im Treppenturm. Claas van Berck glättete seine pelzverbrämte Schaube und lockerte die Schnüre der Pluderhose. Der Hosenbund zwängte seinen Bauch ein, und die mit Rosshaar gepolsterte Schamkugel drückte.

»Vater!«

Van Berck drehte sich zur Tür. Unwillkürlich vertiefte sich sein Lächeln.

»Mein Kätzchen, wie hübsch du bist. Wenn auch zu liederlich gekleidet.«

»Nenn mich nicht Kätzchen!« Sidonia blitzte ihn aus ihren grünen Augen an.

»Soll ich dich lieber als Gräfin von Löwenstein anreden? Ich habe dir Mundtücher mit dem Wappen besticken lassen! Man sagt, sie seien an Adelshöfen der neueste Schrei und man putze sich statt mit dem Ärmel damit sogar die Nase. Und sicher ist mit den niederländischen Schiffen gestern das rote Gewand eingetroffen, das ich in Gent für dich schneidern ließ. Der Brokat kommt aus der Weberei, die für die Schwester des Kaisers arbeitet.«

Sidonia verdrehte die Augen. »Vater! Das Verlobungskleid ist da, aber die Nachrichten vom Ritter lassen auf sich warten.« Ihr war es nach ihrem gestrigen Bad im Rhein nicht gelungen, zu den Koefs und dem Reliquienhändler vorzudringen.

Class van Berck strich sich über den Backenbart. »Sicher trägt mein Pilger sich erst beim Ratsschreiber ein, wie jeder fremde Besucher.«

»Kein Mensch kann unter fast 40 000 Kölnern einen ungemeldeten Fremdling aufspüren. Der Kerl sollte wissen, wie gespannt wir auf Nachricht warten. Bislang gibt es doch nichts als den Ehevertrag zwischen dir und Adrians Vater. Und der ist tot.«

Ärgerlich stieß Sidonia die Kugeln eines Rechenbretts an. Klackernd rasten sie von einer Seite zur anderen. »Hoffentlich weiß sein Sohn überhaupt von seinem Glück. Seit Jahren ist Adrian in Spanien, und die letzte Nachricht über ihn bekamen wir vor neun Monaten – aus der Neuen Welt. Weiß der Kuckuck, wo die ist!«

»Ich habe eine von diesen neuen Weltkugeln aus Nürnberg bestellt, darauf kann ich es dir zeigen.«

Der Kaufmann eilte zu einem Schrank, auf dessen Schreibklappe eine lederbespannte Kugel thronte. Sich vorzustellen, dass die Erde rund war, fiel immer noch schwer, doch die Geografen schienen davon überzeugt, seit ein gewisser Kolumbus vor drei Jahrzehnten einen Weg nach dem Westen Indiens entdeckt hatte. Und hatten nicht die Kaiser bei ihrer Krönung schon immer einen runden Reichsapfel als Zeichen ihrer erdumspannenden Macht empfangen?

Sidonia ließ sich in einen Scherenstuhl fallen und streifte die Samtpantoffeln von ihren Füßen.

»Was interessiert mich die Neue Welt, wenn ich nicht einmal die alte sehen darf? Lieber würde ich mit dir einmal auf Handelsreise gehen, so wie Kölns Kaufmannsgattinen es tun, statt nur herumzusitzen. Das Weib vom Weinhändler Stoltenburg hat mir von ihrer Fahrt nach London vorgeschwärmt. Sie sind nur hinter Kleve von Wegelagerern belästigt worden.«

Claas van Berck ließ die Weltkugel kreiseln. »London ist nicht viel anders als Köln, glaube mir. Nur noch voller von Spitzbuben.«

»Aber Antwerpen! Wenigstens unser Kontor in der Scheidestadt könntest du mir zeigen. Hartmut Pirckmann sagt, es sei eine Stadt der Wunder. Alle Straßen seien gepflastert, die Steingiebel der Häuser durchbrochen wie Spitze, die Glockenspiele in den Giebeln mit Gold überzogen ...«

Van Bercks Miene verfinsterte sich. »Pirckmann ist ein Schwätzer. Das bringt das Handwerk der Buchdrucker mit sich. Du wirst von dem Ritter in die vornehme Welt eingeführt. Seine Stammburg an der Mosel steht seit siebenhundert Jahren und ...«

Sidonia unterbrach ihn trotzig: »Und soll ein feuchtes Gemäuer sein mit einem einzigen Kamin. Das sagt sogar Doña Rosalia. Sie hasst die Burg.«

»Mein Kind, du wirst an Höfen verkehren. Die Löwensteins haben Verbindungen in ganz Europa. Adrians Vater stand noch im Dienst Philipp des Schönen, des Kaiservaters. Er hat das ganze Abendland bereist, und sein Sohn Adrian ist ebenso umtriebig.«

Sidonia griff nach den Bleigewichten einer Münzwaage, die neben ihr auf einem Tisch stand, und ließ sie durch ihre Finger gleiten. Ein Lächeln belebte ihre Züge. Sie liebte Wortgefechte mit dem Vater. »Umtriebig und verschwendungssüchtig ist der Ritter. Dein Geld scheint ihm willkommen, aber die minderwertige Braut holt er nicht ab.« Klirrend warf sie die Bleigewichte in eine Waagschale.

»Nur Geduld, mein Kind. Der Ritter muss dich heiraten, der Vertrag ist bindend. Nur Geduld«, entgegnete Claas van Berck erregt.

Ha, als ob ihr Vater ein Meister dieser Tugend wäre! »Mir wäre ein Drucker wie Pirckmann, der mich auf die Messen von Leipzig und Frankfurt mitnimmt, lieber.«

Claas van Berck zuckte zusammen. Er fürchtete und hasste die Lebensgier seiner Tochter, vielleicht weil sie ihm selber nicht fremd war, auch wenn sie sich bei ihm auf das Geld, bei Sidonia hingegen auf Abenteuer zu richten schien. Einer Frau stand sie so schlecht zu Gesicht wie der Umgang mit Büchern.

Scharf entgegnete er: »Ein Drucker als Gatte! Ich bin mein Leben lang ohne Bücher ausgekommen. Das Geschmier von diesem Kerl Luther und seine Verbreitung haben genug Unheil gestiftet. Mir ist mein friedliches Geschäft lieber.«

Sidonia hob die Brauen und sagte spöttisch: »Die Herstellung und den Handel mit Hakenbüchsen, Pulver und Kanonen nennst du ein friedliches Geschäft?«

Van Berck stellte sich breitbeinig vor sie hin: »Waffen dienen dem Erhalt der göttlichen Ordnung, während der Druck von Büchern und Flugschriften vor zwei Jahren sogar aus den Bauern Rebellen machte.« Und seinen fünfzehnjährigen Sohn Lambert mit dummen Gedanken fütterte, fügte er im Stillen hinzu.

Sidonia liebte es, in Streitgesprächen mit dem Vater ihren Verstand zu zeigen, was andernorts verpönt war: »Der Buchdruck bringt viel Geld! Pirckmann hat sich gerade eine Meute Jagdhunde und Falken angeschafft.«

Van Berck wandte sich ab. »Er äfft höfische Lebensart nach und bleibt doch ein Schmierfinger.«

»Während uns die vornehme Lebensart in die Wiege gelegt wurde, nicht wahr?«

Van Berck überhörte den Einwand zähneknirschend. »Ich dachte, du seist stolz darauf, einen Ritter zu heiraten. Hast du mir nicht vor drei Jahren schon von Burgen und stolzen Kämpfern vorgeschwärmt?«

Ihr Vater hatte Recht, doch Sidonia unterlag in einem Streit genauso ungern wie er. »Damals war ich fünfzehn.«

»Alt genug, um zu heiraten, wenn ich es bestimmt hätte. Viele deiner Freundinnen sind längst Mütter, führen ein Haus und haben so viel Arbeit, dass sie gar nicht ans Reisen denken können.«

Sidonia straffte die Schultern. »Eine Arbeit wäre mir auch recht. Warum lässt du mich nicht deine Bücher führen oder Verträge schreiben? Ich habe im Kloster genug gelernt. Ich spreche Latein, ein wenig Englisch und nun sogar Spanisch.«

»Aber von weiblicher Bescheidenheit hast du keine Ahnung. Die Mutter Oberin war erleichtert, als sie dich loswurde.«

Und du, als du mich an einen Adligen verkaufen konntest, dachte Sidonia mit einem Anflug von Bitterkeit. Der Liebe ihres Vaters haftete der Geruch von Berechnung und Geltungssucht an. Wie sehnte sie sich nach einem Leben, das frei war von Krämergedanken. Und nach einer Liebe, wie sie in alten Minneliedern besungen wurde.

Wäre mir vergönnt, dass ich die Rosen

Einmal noch mit meiner Liebsten bräche,

finge ich sie in den schwerelosen

Netzen weltvergessner Zwiegespräche.

Käm ihr roter Mund zu meinem Munde

Nur für eine Stunde,

wie ich mich auf ewig seligspräche.

Verträumt schaute Sidonia auf und erschrak über den lauernden Blick ihres Vaters. Ihm durfte sie ihre lyrische Seite, die ihr oft selbst unheimlich war, nicht zeigen. Angriffslustig reckte sie das Kinn. »Willst du mich ebenso schnell loswerden wie die Nonnen? Keine Sorge, es gibt genug Bewerber um meine Hand. Seit es heißt, die Tochter von Lumpenclaas könne den Löwenstein bekommen, bin ich eine begehrte Ware.«

Van Berck machte eine unwirsche Handbewegung. »Keiner dieser Bewerber ist so bedeutend wie dein Ritter, mein Kätzchen.«

Sidonia wickelte eine Strähne ihres Haares um den Zeigefinger. Ihr Vater hatte wieder Recht. Sie war begierig auf diese Ehe, um vor den Kölner Bürgergänschen zu glänzen, die über sie und den Lumpenclaas die Nase rümpften. Umso mehr ärgerte sie das Zaudern ihres Bräutigams. »Vielleicht wäre es besser, mich in einen Mann aus Fleisch und Blut zu verlieben statt in einen abwesenden Ritter. Er macht uns noch zum Spottgespräch bei Kölns Patriziern.«

Van Berck drehte sich entsetzt um. Es hing viel von Sidonias Heirat mit von Löwenstein ab, ein Vermögen hatte er darein investiert. »Die Liebe ist eine verzichtbare Beigabe auf dem Weg zum ehelichen Glück. Gute Zähne und eine gefüllte Geldtruhe sind weit wichtiger. Ich weiß, wovon ich spreche. Deine Mutter war um fünf zehn Jahre älter als ich und hatte neben ihren Reizen bereits ihr ganzes Gebiss verloren. Unserem Glück stand ihr Mangel an Anziehungskraft nicht im Weg.«

»Ich hoffe doch, dass Adrian von Löwenstein seine Zähne noch im Mund trägt«, konterte Sidonia.

»Kätzchen, Kätzchen. Alle Welt sagt, er sei ein stattlicher blonder Recke, so wie es sein Vater war. Und nun zieh dich an. Ich möchte nicht, dass du wie eine Dirne durchs Haus läufst. Lamberts Untugenden genügen mir.«

Sidonia erhob sich, schlenderte zur Tür und drehte sich noch einmal um.

»Wie schaut denn eine Dirne aus? Ich dachte, man erkennt die Hübschierinnen nur an ihren gelben Ärmeln oder Bändern? Weißt du mehr darüber, Vater, und woher?«

Das Gesicht des Kaufmanns verfärbte sich. Das Kind gehörte verheiratet. Gebe Gott, dass der Reliquienhändler noch heute Bescheid vom Ritter brachte.

Ungerührt setzte Sidonia hinzu: »Ich weiß, dass Dirnen ihre Gunst gegen Geld verschenken. Bei meiner Heirat ist es genau umgekehrt! Der Ritter sollte sich zeigen, damit wir prüfen können, ob er sein Geld wert und nach meinem Geschmack ist.«

Van Berck griff nach dem Kontobuch und wollte es in ihre Richtung schleudern. Ein Klopfen an der Tür ließ ihn innehalten.

5

Sidonia und ihr Vater wandten die Köpfe, aber die Tür blieb zu. Mit einem Laut des Unmuts drückte Sidonia den Schnappriegel herab. Es gab nur eine Person in diesem Hause, die erwartete, dass man auf ihr Klopfen hin die Tür öffnete, vielmehr, sie auftat wie für eine Königin: Doña Rosalia de Fraga, der ihr Vater eine eigene Magd und tägliche Besuche eines Judenarztes zugebilligt hatte. Eingebildete Krankheiten waren neben übertriebener Frömmigkeit ihr Hauptvergnügen, fand Sidonia.

In tiefes Schwarz gekleidet, stand die gräfliche Witwe im Türbogen und erinnerte an einen Totenvogel. Ihr Gesicht unter dem Haubengebände war schmal, die Augen hell und hübsch, aber die Nase schnabelartig. Ein Zeichen vieler Generationen von Verwandtenehen, wie Sidonia voll Abscheu dachte. Claas van Berck deutete eine Verneigung an und näherte sich mit Trippelschritten, die er für vornehm und Sidonia für peinlich hielt. »Doña Rosalia, tretet ein.«

Die fünfzigjährige Frau lehnte einen Stuhl ab und schaute an Claas van Berck vorbei in die Ferne.

»Es ist Nachricht gekommen«, sagte sie. Sie sprach langsam und war bemüht, jeden Akzent zu unterdrücken. Rosalia de Fraga war stolz darauf, viele Sprachen fließend zu sprechen.

»Nachricht! Von wem?« Sidonia hüpfte von einem Bein auf das andere. Der Vater verneigte sich erneut.

Doña Rosalia ließ sich Zeit mit der Antwort. »Ein Metzgersbote hat eben einen Brief gebracht.« Sie griff nach der Riechkugel, die vor ihrer flach geschnürten Brust baumelte, und sog die Aromen von Ambra und Zibet ein, als würde sie durch den Geruch von rohem Fleisch belästigt.

Lächerlich, dachte Sidonia, es war in allen Städten Europas üblich, dass die Metzger Nachrichten von den umherziehenden Viehtreibern entgegennahmen und sie durch ihre Lehrbuben vor Ort verteilen ließen. Reitende Boten konnten sich nur Kaiser und Landesfürsten leisten. Sidonia griff nach Rosalias Arm: »Ist es ein Brief vom Reliquienhändler?«

Doña Rosalia starrte auf Sidonias schlanke Finger hinab. Claas van Berck zog seine Tochter fort und verbannte sie hinter seinen Rücken.

»Nein«, sagte Doña Rosalia und musterte die Gesichter der van Bercks, als handele es sich um widerwärtige Exemplare aus der Familie der Aasfliegen. Sidonia hielt die Luft an. Wenn der Sohn auch nur entfernt die Manieren seiner Mutter hatte, dann, dann ...

»Es ist ein Brief Adrians.«

»Adrian!« Sidonia stahl sich hinter dem Rücken des Vaters hervor. Claas van Berck leckte sich die Lippen. Doña Rosalia kostete den Moment ihrer Macht aus. Endlich sagte sie.

»Er ist in Köln und will dieses Haus morgen Abend aufsuchen.«

»Halleluja«, rief Claas van Berck. »Ganz Köln wird mich beneiden. Er wird die Zierde meines Festes sein, und ich kann die Verlobung verkünden. Was für eine gute Nachricht, zum Teufel noch mal!«

Doña Rosalia strafte ihn mit strengem Blick.

Claas van Berck sanken die Schultern herab. »Ich meine natürlich, prächtig, prächtig. Und, äh, lasset uns beten in meiner Hauskapelle ...«

Doña Rosalia wandte sich mit raschelnden Röcken der Tür zu. »Ich war eben auf dem Weg dorthin. Kommt, van Berck, und du auch mein Kind. Sidonia? Sidonia!«

Sidonia war bereits entschlüpft und nicht auf dem Weg in die Kapelle auf der anderen Seite des Flurs.

Claas van Berck dienerte sich an der Seite der Gräfin zur Kapelle voran: »Die Freude, Frau Gräfin, die Freude hat sie überwältigt. Sicher will sie allein einen Rosenkranz beten.«

»Oder einen Ausflug auf die Gassen unternehmen, um ihr Glück mit Fuhrknechten zu teilen.«

»Ehrwürdige Gräfin, was denkt Ihr von meiner Tochter!«, stieß Claas van Berck hervor und straffte seinen Bauch, was die eben gelöste Pluderhose ins Rutschen brachte.

Doña Rosalia wandte den Blick ab. Es war widerwärtig, dass ihr Lieblingssohn Adrian in diese Familie von Emporkömmlingen einheiraten musste. »Ich denke, dass es Sidonia an Frömmigkeit ebenso mangelt wie an Benehmen. Genau wie ihrem Bruder Lambert. Ich kann nicht garantieren, dass mein Sohn der vereinbarten Hochzeit zustimmen wird!«

Als ob es darauf ankäme, dachte Claas, während er den Bund der Pluderhose neu schnürte. Sollte die Heirat mit Adrian nicht zustande kommen, fiele dem Haus van Berck wegen Bruch des Ehevertrages der letzte Besitz der Löwensteins zu. So hatte er es mit dem klammen Grafen ausgehandelt. Die Besitzungen, die im Burgund lagen und schwer zu bewirtschaften waren, reizten van Berck allerdings weniger als der gute Name.

Lächelnd öffnete er darum der Witwe die Pforte seiner Kapelle, die Sankt Martin, dem Schutzpatron der Waffenschmiede, und dem Apostel Jakobus geweiht war. Die Heiligen flankierten die Pforte als Holzfiguren, beide trugen Miniaturschwerter aus den Werkstätten van Bercks. Ihre Gesichter waren dem des Kaufmanns nachempfunden. Schläue paarte sich darin mit Selbstbegeisterung.

»Werte Doña Rosalia, habe ich Euch schon von den Reliquien erzählt, die ich erwarte? Mein Händler muss gestern eingetroffen sein. Es wäre mir eine Freude, eine der schönsten an Euch zu übergeben. Neben dem Lehnsgut im Bergischen, das ein vortrefflicher Witwensitz wäre. Denkt nur, vierzig Fronbauern, Weingärten ...«

»Und eine eigene Kapelle?« Die Witwe verharrte auf der Schwelle zum Gebetsraum.

»Eine Kapelle mit einem auf Lebenszeit bepfründeten Diakon dazu! Er liest täglich zwei Seelenmessen für meine verstorbene Frau. Gegen eine weitere Stiftung wird er den Grafen Maximilian in seine Gebete einschließen und ihm tausende Jahre Fegefeuer ersparen.«

»Das ist nicht nötig. Für sein Seelenheil ist gesorgt«, sagte Doña Rosalia. »Mein ältester Sohn Aleander ist in Spanien ein hoher Kirchendiener, der sicher seinen Weg bis an den Kaiserhof machen wird.«

Der Kaufmann sah in ihren grauen Augen die Flamme des Hasses auflodern. Galt die Abneigung ihm, ihrem Sohn oder dem toten Grafen? Die Liebe der Weiber war unergründlich und undankbar.

6

Sidonia schüttelte im Schutz einer Flurnische den Kopf. Welche Verstellungskünste auf beiden Seiten! Sei es drum. Anpassung an die Verhältnisse hatte ihren Vater weit gebracht. Alles, was zählte, war, dass ihr Ritter auf dem Weg war!

Vielleicht konnte sie auf dem Heumarkt beim Haus der spanischen Kaufmannschaft etwas über Adrian erfahren oder wenigstens die kleine Tierbändigerin Lunetta aufspüren. Eine Gauklernummer mit Bär wäre auf dem morgigen Fest sicher nach dem Geschmack eines Ritters.

Eine Hand legte sich von hinten auf ihre Schulter und ließ sie herumfahren.

»Lambert!«

»Pssst.« Ein schlaksiger Junge mit unfertigem Gesicht legte den Zeigefinger auf seine Lippen.

»Ist Vater in der Kapelle?«

Sidonia runzelte die Stirn. »Warum willst du das wissen? Und was trägst du da unter deinem Arm?«

Lambert ließ ein blutverschmiertes Bündel hinter seinem Rücken verschwinden. »Nichts.«

»Lambert! Was hast du wieder vor? Die Kapelle ist Vaters ganzer Stolz.«

»Und voll von papistischem Mummenschanz«, ereiferte sich der Bruder. »Diese Reliquiensammlung gehört zerschlagen, all diese falschen Knochen. Luther sagt, bald käme es so weit, dass einer behauptet, er besitze ein Ei und zwei Federn des Heiligen Geistes oder dreißig Fürze von der Pauke Miriams, der Schwester Moses.«

»Lass bloß die Finger von Vaters Sammlung, und rede nicht von Luther. Wir erwarten morgen den Ritter von Löwenstein, du dummer Maulheld.«

»Und du bist eine Gassenkatze. Ich hab dich gestern Nacht gesehen. Weiß Vater von den Ausflügen seines Kätzchens?«

»Wieso bist du Lümmel nachts unterwegs?«

»Das geht dich nichts an. Also: dein Schweigen gegen meines.« Er spuckte auf seine rechte Hand und hielt sie der Schwester treuherzig hin.

»Igitt, du Kindskopf.« Lachend schlug Sidonia seine Hand weg. »Lass mich durch.«

»Willst du wieder auf die Gasse?«

»Nur auf den Markt, ich habe Besorgungen für unser Fest zu erledigen.«

»Gottlose Prasserei«, setzte Lambert zu einer Moralpredigt an, »die Todsünde der Völlerei ist ...«

»Spar dir den Atem, um beim Fest deine heißen Honigwachteln kalt zu pusten. Letzthin hast du zwölf Stück verputzt!«

Sidonia stürmte an ihm vorbei und die Treppe zu ihrer Schlafkammer hinauf. Hastig zog sie sich ein Stadtkleid an, steckte ihr Haar hoch und schmückte es mit einem Barett. Aus dem Spiegel lächelte ihr das Gesicht einer Bürgerstochter entgegen.

»Herzlichen Glückwunsch, Gräfin Sidonia von Löwenstein, und willkommen in Eurem neuen Leben«, raunte sie dem Spiegelbild zu und schenkte ihm eine Kusshand.

7

Während im Hause van Berck von einer Liebesheirat geträumt und um Mitgiften geschachert wurde, schärfte der Stadthenker in seiner Hütte an der Schmierstraße Beile und Schwerter. Nach dem Pfingstfest würde er sie gewiss brauchen.

Im vergangenen Jahr hatten sturzbetrunkene Weberknechte nach den Schützenturnieren nachts einen Chorherrn abgekehlt und entmannt. Mit dem bedauernden Kopfschütteln des Fachmanns erinnerte sich der Henker an den zerfleischten Schoß des Kirchendieners und strich über die Klinge des Kurzdolches, den er für Blendungen nutzte. Der Hass auf hurende und prassende Pfaffen war groß und wurde von lutheranischen Heckenpredigern angeheizt.

Diese Umtriebe mussten auch der Grund für den außergewöhnlichen Besuch sein, den er kurz nach acht Uhr in seiner Hütte empfing. Ein Dominikanermönch schlüpfte in den verrußten Raum, der Waffen-, Wohn- und Schlafkammer des Scharfrichters und einer Ziege war. Nur an Hinrichtungstagen und wenn es einem Bürger an Kopf und Kragen ging, stand dem Henker ein Mietshaus beim Heumarkt zur Verfügung.

Der Mönch duckte sich unter dem Strohdach und hielt sich gegen den Gestank den Ärmel seiner Kutte vor die Nase: »Mein Name ist Aleander, ich komme aus Spanien und führe in Köln Untersuchungen im Auftrag der Heiligen Inquisition durch.«

Misstrauisch blickte der Henker von einem Brandeisen auf: »So? Ich muss Euch warnen, Bruder, wie überall spricht auch in Köln niemand öffentlich mit dem Henker.« Das musste ein Kirchendiener doch wissen! Jedem Blutschergen nahm man die Arbeit des Tötens so übel wie dem Schinder das Abdecken von Vieh und dem Abtrittfeger das Ausschöpfen der Kloakegruben. Man rückte in der Schenke von ihm ab, legte sein Brot beim Bäcker mit dem Rücken nach oben, damit kein anderer es versehentlich kaufte, und hütete sich, ihn zu berühren, da dies die eigene Ausgrenzung nach sich zog.

»Ich bin kein Freund des Aberglaubens, sondern des Wissens«, erwiderte der Mönch. »Und ein Mann wie du weiß so einiges über das Gesindel und darüber, welche Gefahren Köln – dieser treuen Tochter der katholischen Kirche – in Zeiten der religiösen Schwärmer droht.«

Der Scharfrichter nickte. Oh ja, er kannte jede Menge Pack, niederes wie gehobenes. Des Nachts schlich sich so mancher zu ihm – von der Bürgersfrau bis zum redlichen Bader –, um sich die Zähne eines Gehenkten oder die Fasern eines Galgenstricks zu sichern, mit dem sich Schaden abwehren oder eine Schwangerschaft verhindern ließ. Jüdische Ärzte betrieben mit den Beinen eines Galgenvogels ihre anatomischen Studien, und Bettler nutzten die faulenden Gliedmaßen, um sie vor den Kirchen unter ihren Lumpen vorlugen zu lassen.

Erst gestern hatte ein Bürgersöhnchen sich die Hände eines Diebes besorgt. Ein blasser Bursche im Talar eines Rechtsstudenten, in dem der Henker Lambert van Berck erkannt hatte. Ein Tunichtgut, den sein Vater bislang von jeder Bestrafung hatte freikaufen können. Der Himmel wusste, für welchen Schabernack der Sohn die abgeschlagenen Hände brauchte. Dem Mönch würde er nichts davon verraten, die Nachtgeschäfte waren ein hübscher Beiverdienst. Der Henker griff nach dem Brandeisen und begann es zu polieren.

»Ich merke, du bist ein verschwiegener Mann«, sagte der Mönch. »Nun, ich bin auf der Suche nach einem Trupp spanischer Gaukler, die gestern eingetroffen sein sollen. Es heißt, in dieser Straße finden Spielleute Unterkunft.«

»Ach, Ihr sucht Gaukler«, sagte der Blutscherge. »Davon gibt es hier vor den Pfingstmärkten reichlich.«

»Ist unter ihnen ein dunkelhaariges Mädchen, etwa elf oder zwölf Jahre alt?«

Der Henker wischte sich die Hände an seiner Lederschürze ab und griff nach dem Richtschwert mit dem kölnischen Dreikronenwappen. Sorgfältig kratzte er getrocknetes Blut aus der Klingenrinne.

Die Stimme des Mönches gewann an Schärfe. »Es gehört doch zu deinen Aufgaben, die Gaukler zu überwachen.«

»Ich hab Wichtigeres zu tun, und wen interessiert schon ein Gauklerkind.«

»Mich, wenn es sich dabei um eine Hexentochter handelt.« Der Mönch zog eine Lederbörse unter seiner Kutte hervor und klimperte damit – es war die Börse des Reliquienhändlers.

Der Henker leckte sich die Lippen. »Nun ... drei Häuser weiter bei meinem Freund, dem Hahnenwirt ...«

... krochen gerade die gesuchten Gaukler unter Decken und Schaffellen hervor, um den Morgenbrei in Empfang zu nehmen. Der feiste Wirt stand in der Mitte des Hofs, dessen Stroh mit tierischen und menschlichen Auswürfen gemischt war. Er schwenkte über einem Eisenkessel die Kelle wie eine Schlagwaffe.

»Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit, um euch Lumpenpack zu füttern«, schimpfte er und schlug nach einem Hündchen mit Halskrause, das auf seinen Hinterläufen umhertrippelte. »Pack dich, Flohbündel.«

Ein dunkelhaariges Mädchen näherte sich mit zwei Holzschalen.

»Was, zwei Schalen? Glaubst wohl, du kannst dich auf meine Kosten dick fressen?«

Lunetta schüttelte stumm den Kopf und deutete auf ein Zelt, vor dem ein Greis kauerte.

Der Wirt verzog das Maul: »Bei dem ist jeder Bissen eine Verschwendung. Mein Gasthaus ist kein Hospital der Barmherzigen Brüder.«

Lunetta streckte die Schüsseln vor, als der Bärenzähmer Pancheo mit dem Fuß nach ihr trat. Das Mädchen drehte sich zur Seite und entkam den Tritten.

»Gib Essen«, schnauzte der Bärentreiber den Wirt an. Der tauchte flugs die Kelle in die Gerstensuppe.

»Kein Fleisch?«, fragte der Riese.

Der Wirt duckte sich unter der drohenden Figur des Gauklers und schielte zu dem Bären hinüber, der an einem Karren festgekettet schlief.

»Beste Reste vom Leimsieder habe ich mitgekocht. Der schabt noch vom traurigsten Schafskopf saftige Fetzen herab.«

Pancheo schnüffelte an der Gerstenbrühe, zuckte mit den Schultern und leerte die Schale. Die Jongleure, Hundedresseure, Feuerschlucker, Zwerge und Weiber des Trupps drängten sich um den Kessel. Zuletzt stand wieder Lunetta an und musste sich mit dem verbrannten Rest begnügen. Sie balancierte die Schüsseln zum Zelt des Greises und begann ihn zu füttern.

»Danke, Lunetta«, stöhnte der alte Mann nach drei Löffeln und ließ sich auf einen Kleiderballen zurücksinken. »Und nun, leg mir die Karten. Ich möchte wissen, wann der Herr meine Reise auf Erden beendet.«

Lunetta schüttelte den Kopf. Der Greis streichelte ihre Locken. »Du brauchst nicht in die Karten zu schauen? Nun, hab keine Angst, wo ich hingehe, wird Frieden sein. Reitet der Sensenmann auf deinen Karten nicht vor blauem Himmel der Morgensonne entgegen? Der Tod bedeutet Hoffnung für unsereins!«

Das Mädchen nickte, doch ihre Augen schimmerten verdächtig.

Der Greis beugte sich vor. »He, ich hab nicht verdient, dass du um mich weinst. War wenig genug, was ich für dich getan hab, dabei war deine Mutter eine Freundin von mir. Und Geld von Padre Fadrique hab ich auch dafür genommen.«

Er griff stöhnend hinter sich und nestelte aus dem Kleiderballen eine Lederbörse hervor. Verstohlen legte er sie dem Kind in den Schoß.

»Hier, das ist mir vom Geld des Padre geblieben. Nimm es und schau, dass du zu deinen Leuten hier kommst. Suche im Haus van Berck nach der Löwensteinwitwe, Rosalia de Fraga, hörst du? Zeig ihr die Heiratsurkunde deiner Mutter.«

Eine Wolke der Furcht verdüsterte Lunettas Kindergesicht.

»Versprich mir, dass du zu ihr gehst. Sie wird dir helfen. Padre Fadrique glaubt fest daran. Die Witwe ist seine Schwester! Ich fürchte, meine Gefährten werden dich nicht beschützen, wenn ich ...«

Ein harter Husten hinderte ihn daran weiterzusprechen. Das Mädchen stützte seinen Oberkörper, um ihm das Atmen zu erleichtern.

»Zeit, dass wir über das Kind reden«, erklang die Stimme des Bärenbändigers über ihnen. Lunetta ließ die Geldbörse in ihrem Bündel verschwinden.

»Was soll aus dem Bastard werden? Kann kaum seiltanzen, und als stumme Kartenlegerin bringt sie nichts ein. Oder hat sie endlich die Sprache wiedergefunden?«

Der Greis stieß pfeifende Töne aus, während er antwortete: »Lass sie in Ruhe, Pancheo.« Wieder schüttelte ihn ein Hustenanfall, ließ ihn würgen.

Der Hüne stemmte die Arme in die Hüften. »Wer zu uns gehört, muss arbeiten.«

Grob riss er Lunetta am Kragen ihres Leinenhemdes nach oben, ließ sie vor sich in der Luft baumeln. »Das Luder hat mich im Hafen gestern wie einen Narren aussehen lassen mit ihrer Bärenschau.«

Lunetta versuchte, sich freizustrampeln. Ihr Hemd rutschte hoch und entblößte die Knospen junger Brüste. Der Bärenzähmer packte sie um die Taille und setzte sie sich auf die Hüften. Mit seiner Pranke fuhr er über die samtigen Hügel. Lunettas Gesicht verzog sich in Ekel und Angst.

Ein Grinsen schlich sich in das zernarbte Gesicht Pancheos. »Hm, damit ließe sich Geld machen. Zartes Fleisch, danach giert es vornehme Freier. Und dass sie das Maul nicht nutzen kann, ist nur günstig. He, Wirt!«

Der Gastgeber, der die Szene vor dem Zelt beobachtet hatte, flitzte herbei. »Hast du Ärger? Oh, was für ein verdorbenes Stück, sich so nackt vor aller Welt zu zeigen.« Lüstern ließ er seine Blicke über Lunettas Oberkörper gleiten.

»Verdorben? No, no«, brummte der Tierbändiger und schob Lunettas Rock hoch. Die Augen des Wirtes tasteten sich zu der schmalen Spalte vor, die von einem Leinenschurz kaum bedeckt wurde.

»Nun?«, wollte Pancheo wissen und umklammerte die sich windende Lunetta. »Wie viel Stechpfennige bringt in Colonia der erste Ritt auf einem spanischen Fohlen?«

Der Wirt rieb sich den verdächtig prallen Hosenlatz. »Ist sie noch versiegelt? Der nackte Hügel unbewässert?«

Pancheo nickte und befingerte den Leinenstreifen über der Scham des Mädchens.

Der Wirt seufzte. »Nun, solch eine Männerfalle bringt in der Domstadt genug ein, um gerecht zu teilen. Ich kenne gewisse Prälaten, die kindliche Unschuld über alles lieben und sie gern einer genauen Prüfung unterziehen. Mit ihren geweihten Kerzen.« Er lachte dröhnend.

Lunetta trat mit den Füßen aus und traf Pancheos Magengrube. Der Bärenzähmer holte aus und schlug ihr ins Gesicht.

Mit letzter Kraft kämpfte sich der Greis vor dem Zelt auf die Beine. »Lass das Mädchen los.«

Lunetta biss ihrem Peiniger in die Schultern. Pancheo schrie auf, warf das Kind zu Boden und legte sich mit seinem ganzen Gewicht auf seinen zarten Körper. Hilflos suchend schaute sich der Alte um. Die anderen Gaukler hatten sich abgewandt. Sie übten Kunststücke oder belauerten heimlich das Geschehen. Nur der Bär zerrte an seiner Kette.

Pancheo presste seinen Unterleib gegen Lunettas Scham, stützte sich mit den Armen ab und markierte Stöße. »Ein Domherr ist nicht gut genug? Dann werde ich ...«

Ein Schrei des Wirtes ließ ihn innehalten, dann fuhr die krallenbewehrte Tatze des Bären auf Pancheo hinab und zerfetzte die Haut seines linken Schulterblattes. Vor Schmerz jaulend rollte sich Pancheo von Lunetta herab. Sie sprang auf die Beine, griff nach ihrem Bündel und rannte über den Hof auf das Tor zu. Mit einem letzten Blick sah sie den Greis, der sterbend neben dem Karren zusammenbrach, von dem er den Bären losgekettet hatte.

Lunettas Beine gingen wie Trommelstöcke, der Atem strich in harten Stößen über ihre Rippen, während sie auf den Dom zujagte. Sie presste ihre Habseligkeiten an sich und schlug Haken um die Abfallhaufen der Leimsieder und umherlaufende Schweine. Sie lief ohne sich umzublicken. Sie lief um ihr Leben. Sie sah weder den weiß gekleideten Dominikanermönch, der ihre Flucht mit Interesse verfolgte noch den Henker, der neben ihm in den Hof der Schenke eilte. Dort spaltete der Scharfrichter mit seinem Beil dem Bären den Schädel und rettete so Pancheos Leben, das nichts weniger als gottgefällig war. Dem Dominikaner Aleander jedoch sollte es noch nützlich sein.

8

Sidonia ließ ihre Finger über einen Handschuh aus Schwanenleder gleiten.

»Das ist feinste Ware, mit Hühnermist gegerbt, weich wie Kükenflaum und mit Rosenöl beduftet«, versicherte der Kürschner. Er lehnte im Fenster seiner Werkstatt, vor dem ein Holzladen so hinabgeklappt war, dass er seine Werkstücke zur Straße hin ausstellen konnte.

Sidonia beachtete ihn nicht. Sie beobachtete den Eingang zum spanischen Haus. Sie hoffte, dort einen Bekannten des Vaters zu entdecken, den sie über neue Gäste befragen könnte. Vor der Eingangstreppe standen friesische, flämische und iberische Kaufleute in Grüppchen. Geldwechsler hatten ihre Bänke mit Rechentüchern aufgeschlagen, auf denen sie spanische Real, italienische Scudi oder flämische Gulden gegen rheinische Taler verrechnen und tauschen konnten.

Kurz streifte Sidonias Blick einen Mann mit dunkler Lockenmähne, der die Treppe des Hauses herabsprang. Die Sporen seiner Stiefel klirrten auf dem Stein und verrieten neben der dunklen Kleidung den spanischen Höfling. Seine Rechte umschloss einen Kurzdegen, den er an der Seite trug. Die Pluderhosen waren kurz, die Beinlinge darunter schmiegten sich eng an seine Schenkel, und sein Wams war in kaiserlichem Scharlachrot unterfüttert.

Sidonias Herz klopfte schneller, als ihre Blicke sich trafen. Fast schwarz waren die Augen des Fremden, der sich ohne Interesse abwandte. Konnte das der Ritter Löwenstein sein? Aber nein, tadelte sie sich. Adrian, hieß es, war blond. Blond und deutsch wie sein toter Vater, blond, wie sie es sich wünschte. Ein Siegfried, kein Geringerer. Herrje, wenn sie noch lange warten musste, würde sie sich dem nächsten Gecken an den Hals werfen. Denn ein Geck musste dieser schlanke Degenträger sein. Auf dem Rücken trug er eine zierliche Laute. Nervös griff sie nach einem weiteren Paar Handschuhe.

»Oh, die sind nichts für Euch, das ist grobes Hundeleder«, warnte der Händler laut, weil er glaubte, die Barettträgerin könne ihn bei dem Geschrei der Butter- und Käsehändler nicht verstehen.

Sidonia warf die Handschuhe auf die Ladenklappe zurück und stakste auf hölzernen Stelzenschuhen, die sie zum Schutz gegen den Straßenkot unter ihren Ledersohlen trug, zum Stand eines Lumpenhändlers. Der Handschuhmacher schüttelte den Kopf.

»Hundeleder ist ihr nicht gut genug, aber an Flohpelzen und verwanzten Hemden, die nur für Papiermacher taugen, findet sie Gefallen. Dumme Gans.«

Sidonia gab auf. Die Rathausglocken läuteten bereits zum Mittag. Seit mehr als zwei Stunden lief sie schon auf dem Heumarkt herum. Blieb nur das Rathaus. Dort tummelten sich immer Geschäftsfreunde des Vaters, um die Ansprache des Bürgermeisters zu hören, der Verordnungen gegen freilaufende Schweine und ähnlich nutzlose Beschlüsse zu verkünden hatte.

Sidonia raffte die Röcke und bahnte sich einen Weg zum benachbarten Alter Markt. Im Schatten des Rathausturms tummelten sich Marktleute, Kräuterweiber, Zahn- und Possenreißer. Kiepenkerle boten Pfingstbrezeln und Taubenpasteten feil. Die Luft war gewürzt mit den Gerüchen der Kölner Orient- und Drogenhändler, die im Laubengang unter dem Rathaus ihre Apotheken betrieben. Sidonias Laune besserte sich beim Anblick des Treibens.

Der Marktvogt schritt mit zwei Bütteln durch die Budengassen und kassierte Standgelder. Er prüfte Äpfel auf ihre Bissfestigkeit, erfrischte sich mit Dollbier und lauschte mit halbem Ohr, ob die Marktschreier nicht zu frevlerisch für die Kaufhäuser unter den Ratsarkaden warben.

»Zu Fettes Tünn kommt all gelaufen!

Da gibt es Schmalzkringel und Süßes

Für Kussmäulchen und Leckerschmecker,

nur nicht für Arsch- und Speichellecker.«

Das konnte man durchgehen lassen. Dem Volk gefiel es.

Rund um den Pranger lockten Drecksapotheker mit Wundermitteln von Skorpionöl bis Elefantenschmalz. Andenkenhändler warben für Pfingstkerzen und Heiligenbildchen. Ein Schwertschlucker fesselte Sidonias Aufmerksamkeit, als er auf einem Brunnenrand stehend eine Sarazenerklinge in seinem Schlund versenkte. Der Marktvogt, der unter einem Arkadenbogen Posten bezogen hatte, spendete Beifall, bis ein Mädchen ihn am Arm zupfte. Sidonia erkannte das Kind quer über den Platz – es war Lunetta.

Das Mädchen zog ein aufgerolltes Seil aus ihrem Bündel und erklärte dem Marktvogt mit Gesten ihre Absichten. Immer wieder zeigte es auf eine Gasse zwischen zwei Zunfthäusern, die sich in Sidonias Rücken erhoben. Am Ende nickte der Marktvogt. Lunetta zählte ihm Münzen in die Hand und tauchte in der Menge ab.

Sie flitzte direkt an Sidonia vorbei, doch bevor diese Lunetta aufhalten konnte, war das Kind schon in einer Schenke verschwunden. Sidonia kaufte sich eine Pfingstbrezel und beschloss zu warten. Als neben ihr Köpfe in die Höhe fuhren, schaute auch sie nach oben und hielt den Atem an.

Die kleine Bärenführerin balancierte hoch über dem Markt auf dem Hebearm eines Flaschenzugs, hatte eine Schlinge in ihr Seil geknüpft, holte aus, ließ das Seil kreisen und warf die Schlinge mit Schwung über einen Kranbalken am Nachbarhaus. Mit einem Ruck zog sie die Schlinge fest, straffte das Seil und verknotete das andere Ende an dem Balken, auf dem sie stand. Sidonia klatschte vor Aufregung in die Hände. »Wie wundervoll«, rief sie aus.

»Maldito. Sie wird sich den Hals brechen!«

Sidonia wandte sich um. Hinter ihr stand der spanische Degenträger, den sie kurz für ihren Ritter gehalten hatte. Seine schwarzen Augen glühten vor Zorn. Was für ein arroganter Spaßverderber!

9

Lunetta atmete tief ein und aus, so wie der Greis es ihr beigebracht hatte. Atme ruhig und gleichmäßig, dann tanze auf das Seil, setze die Füße kreuzweise. Deine ersten Schritte müssen flink sein. Nur Mut.

Das Mädchen schloss die Augen, der Lärm unter ihr versank. Lunetta beschwor das Bild einer Brücke. Nichts war schwer daran, eine Brücke zu überqueren. Sie riss die Augen auf und setzte den linken Fuß auf das vibrierende Seil, lief los. Das Seil schwang sanft nach beiden Seiten, mit einem Sprung rettete sie sich auf den gegenüberliegenden Balken. Seufzer und leiser Beifall waren ihr Lohn. Wollte sie allerdings mehr als ein paar Kupfermünzen einstreichen, musste sie nun einen Drehsprung oder Salto wagen. Lunetta holte wieder Luft.

Der Seiltanz war ihre einzige mögliche Verdienstquelle, denn selbst für das Recht zu betteln verlangte man in Köln Geld. Sie brauchte viel Geld, um Kleider zu erwerben, die anständig genug waren, um sich im Haus van Berck und bei Doña Rosalia vorzustellen. Einem zerlumpten Gauklerkind würde man dort gewiss die Tür weisen. Heiratsurkunde hin oder her. Kleider machen Leute, hatte ihre Mutter sie gelehrt, und das Leben der Mutter war der Beweis dafür gewesen, auch wenn die vornehmsten Kleider ihr am Ende nichts genutzt hatten. Nicht einmal ihr Brautkleid aus seidenem Bombasin. Es hatte lichterloh gebrannt wie eine Fackel. Heller Schmerz loderte in Lunetta auf, heiß wie eine Flamme. Nur nicht daran denken. Nie daran denken. Selbst der Traum von Flammen bedeutete Tod. Lunetta beschwor erneut das Bild einer Brücke, breitete die Arme aus, setzte den Fuß vor, verharrte wie schwebend für einen Moment über dem Seil.

»Ich muss sie herunterholen«, zischte im Publikum der Mann mit der Laute und wollte sich an Sidonia und den Schaulustigen vorbei zum Eingang der Schenke drängen.

Sidonia schüttelte den Kopf. »Die Kleine ist Seiltänzerin. Sie beherrscht noch ganz andere Kunststücke, ich sah gestern ...«

»Sie ist keine Seiltänzerin«, erwiderte der Fremde und schob Sidonia beiseite.

»Schaut nur, schaut«, schrie ein Gaffer. Sidonia und der Lautenspieler rissen die Köpfe hoch. Sidonia tat einen Schrei. Ein brennender Pfeil sauste auf das Kind zu. Lunetta wandte schlafwandlerisch den Kopf. Sie erstarrte. Darum also hatte sie eben an Flammen denken müssen. Ihre Ahnungen trogen nie. Lunetta hob abwehrend die Arme, krümmte sich und schwankte.

»Halt dich fest«, schrie Sidonia, während sie sich an der Seite des Lautenspielers durch die Menge kämpfte, um unter das Seil zu gelangen. »Verdammt, halt dich irgendwo fest!«

10

»Ein guter Schuss«, lobte Aleander, der sich neben Pancheo in einer Treppengasse auf der anderen Seite des Marktplatzes verborgen hielt.

Pancheo ließ seine Armbrust sinken und verfolgte mit zusammengekniffenen Augen die Bahn des Feuerpfeils. »Nicht gut genug.« Er spuckte aus. Ärgerlich rieb er seine von der Bärenpranke verletzte Schulter. »Ich habe sie verfehlt.«

»Das macht nichts«, sagte Aleander. »Sie stürzt ab.« Die Augen der Männer verfolgten Lunettas Fall. »Irgendwer hat sie aufgefangen!« Aleander starrte in die wogende Menge unter dem Seil. »Das kann sie nicht überlebt haben!«

»Sie ist die Tochter einer Hexe, sí? Die Nachtweiber können fliegen!«

Aleander schnalzte mit der Zunge, hob seine weiße Kutte, lief hinkend und mit schlappenden Sandalen die Treppe hinab. Pancheo warf die Armbrust fort und folgte ihm. Den Lohn für den Schuss wollte er in jedem Fall einstreichen und – sollte Lunetta überlebt haben – auch das Mädchen für sich fordern. Die Kleine und ihre Geheimnisse mussten eine Menge wert sein, wenn der hohe Inquisitor so erpicht auf ihren schnellen Tod war, statt einen Hexenprozess anzustrengen.

Unter dem Seil herrschte Gedränge. Der Marktvogt winkte von seinem Posten unter den Rathausarkaden zwei Gewaltrichterdiener herbei. Einer von ihnen war der Stadtsoldat Goswin.

»He«, rief der Marktvogt ihn an. »Dort vorne ist eine Seiltänzerin abgestürzt. Besser, Ihr schaut nach dem Rechten, der Pöbel ist aufgebracht und ...«

Goswin wischte sich müde das Gesicht. »Ein totes Gauklerkind? Das kann warten, wir müssen dem Rat einen Leichenfund melden.«

Der Marktvogt hob die Augenbrauen. »Einen Leichenfund?«

Goswin nickte mit einem Anflug von Stolz. Es war eine ganz besondere Leiche. »In den Rheinmühlen hat sich der Körper eines Jakobspilgers verfangen und ein Rad zum Stillstand gebracht. Hing zwischen den Speichen wie ein Gekreuzigter.«

Der Marktvogt zuckte die Schultern. »Ach Gott, ein Betrunkener, der in den Fluss fiel. Man kennt doch diese Jaköbesse, verdingen sich in den schlimmsten Spelunken als Bierzapfer, erzählen wüste Reisegeschichten und trinken sich die Nase rot und blau.«

»Nun, die Nase fehlt dem Kerl«, erwiderte Goswin. »Genauer gesagt der ganze Kopf. Er wurde mit einem van Berckschen Messer vom Rumpf getrennt, das wir auf einer niederländischen Koef fanden. Nebst einer verdächtigen Spielkarte. Lass uns durch, wir müssen Anzeige beim Rat machen. Ein Mord hat Vorrang vor einem Unfall.«

Der Marktvogt schüttelte erbost den Kopf. »Unfall? Man hat mit einem brennenden Pfeil nach dem Kind geschossen.«