Das tibetische Buch vom Leben und vom Sterben - Sogyal Rinpoche - E-Book
SONDERANGEBOT

Das tibetische Buch vom Leben und vom Sterben E-Book

Sogyal Rinpoche

0,0
6,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 6,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Kaum ein Werk wie "Das tibetische Buch vom Leben und vom Sterben" hat unsere Auffassung vom Tod so stark beeinflusst. Auch die Krankenbetreuung und Sterbebegleitung im Westen ist dadurch revolutioniert worden. Unzählige Menschen haben die tibetische „Kunst zu sterben“ – vor allem aber auch „zu leben“ – lernen können. Denn beide sind nach tibetischer Auffassung nur die zwei Seiten einer Medaille. Es gibt im Westen ein Bedürfnis, ein tieferes Verständnis vom Mysterium des Todes zu bekommen und auch ein Wissen, wie man sich am besten auf den Tod vorbereitet bzw. Angehörigen bei dieser Vorbereitung helfen kann. Dieses Bedürfnis wird in diesem Klassiker über den Tod umfassend nachgekommen. Die Schilderungen über die Natur unseres Bewusstseins, über die inneren Abläufe beim Sterbeprozess und über die Zustände nach dem Tod, aber auch die praktischen Ratschläge für eine Sterbebegleitung und das konkrete Praktizieren von Mitgefühl beim Sterbenden sind einprägsam und unverzichtbar für die Situationen, die alle einmal in der einen oder anderen Weise erleben. Diese zeitgemäße Auslegung des „tibetischen Totenbuchs“, die gleichzeitig auch eine fundierte Einführung in den tibetischen Buddhismus ist, wird weiterhin maßgeblich sein. Sie wird verantwortet von RIGPA, einer internationalen Gemeinschaft, die sich dem Studium und der Praxis der Lehren Buddhas widmet.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 829

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Sogyal Rinpoche

Das tibetische Buch vom Leben und vom Sterben

Ein Schlüssel zum tieferen Verständnis von Leben und Tod

Knaur e-books

[home]

Vorwort S. H. des XIV. Dalai Lama

In diesem zeitgemäßen Buch zeigt Sogyal Rinpoche auf, wie wir Sinn in unserem Leben finden können, wie wir den Tod annehmen lernen und wie wir Sterbenden und bereits Verstorbenen helfen können.

Der Tod ist ein natürlicher Teil des Lebens, und wir alle müssen uns ihm früher oder später stellen. Ich sehe zwei Möglichkeiten, wie wir mit dem Tod umgehen können, so lange wir noch leben. Wir können ihn entweder ignorieren, oder wir können uns der Aussicht auf unseren eigenen Tod stellen und beginnen – indem wir uns eingehend mit ihm befassen – das Leiden, das er uns bringen kann, zu vermindern. Wir können ihn aber in keinem Falle umgehen.

 

Als Buddhist sehe ich im Tod einen normalen Prozess. Ich akzeptiere ihn als Realität, der ich solange ausgesetzt bin, wie ich mich in weltlicher Existenz befinde. Da ich weiß, dass ich mich dem Tod nicht entziehen kann, sehe ich keinen Sinn darin, mich vor ihm zu fürchten. Ich sehe den Tod eher so, wie wenn man Kleider wechselt, wenn sie alt und abgetragen sind, und nicht als letztes Ende. Doch der Tod ist nicht vorherzusehen: Wir wissen weder wann noch wie er uns ereilen wird. Daher ist es klug, sich auf ihn vorzubereiten, bevor es so weit ist.

Natürlich wünschen sich die meisten von uns einen friedlichen Tod; es ist auch klar, dass wir nicht auf einen friedlichen Tod hoffen können, wenn unser Leben voller Gewalt ist oder unser Geist die meiste Zeit von Emotionen wie Zorn, Anhaften oder Furcht besessen ist. Wenn wir also gut zu sterben wünschen, müssen wir lernen, gut zu leben: Wenn wir auf einen friedvollen Tod hoffen, dann müssen wir in unserem Geist und in unserer Lebensführung den Frieden kultivieren.

 

Wie Sie in diesem Buch lesen, ist die Erfahrung des Todesmoments aus buddhistischer Sicht von großer Bedeutung. Obwohl das Wie und Wo unserer Wiedergeburt hauptsächlich von karmischen Kräften bestimmt wird, kann der Zustand unseres Geistes zum Zeitpunkt des Todes doch die Qualität unserer nächsten Wiedergeburt beeinflussen. Wenn wir uns bemühen, einen heilsamen Geisteszustand zu erzeugen, können wir im Moment des Todes – trotz der großen Vielfalt von unterschiedlichem Karma, das wir angesammelt haben mögen – ein heilsames Karma aktivieren und stärken und auf diese Weise zu einer glücklichen Wiedergeburt gelangen.

Der Todesmoment bringt gleichzeitig auch die tiefsten und heilsamsten inneren Erfahrungen zum Vorschein. Durch wiederholtes Vertrautwerden mit dem Todesprozess in der Meditation kann ein erfahrener Praktizierender den eigenen Tod nutzen, um große spirituelle Verwirklichung zu erreichen. Aus diesem Grund konzentrieren sich erfahrene Praktizierende auf ihre spirituelle Praxis, wenn sie sterben. Ein Anzeichen für ihre Verwirklichung ist die Tatsache, dass ihr Körper oft lange Zeit nach dem klinischen Tod nicht in den Zustand der Verwesung übergeht.

 

Nicht weniger wichtig als die Vorbereitung auf unseren eigenen Tod ist es, anderen zu helfen, gut zu sterben. Als Neugeborene waren wir alle vollkommen hilflos, und ohne die Güte und Fürsorge anderer hätten wir nicht überleben können. Da Sterbende oft ähnlich hilflos sind, liegt es an uns, sie von Angst und Schmerz zu befreien und es ihnen – so gut wir können – zu ermöglichen, gefasst zu sterben.

In diesem Zusammenhang ist es am wichtigsten, alles zu verhindern, was den Geist des Sterbenden noch mehr verstören könnte, als er ohnehin schon sein mag. Unser Hauptziel in der Unterstützung von Sterbenden muss es sein, ihnen Gelassenheit zu vermitteln, und hierzu gibt es viele Möglichkeiten. Man kann einen sterbenden Menschen, der mit spiritueller Praxis vertraut ist, ermutigen und inspirieren, wenn man ihn an seine Praxis erinnert; aber auch unser sanfter Trost kann schon eine friedliche, entspannte Haltung im Geist des Sterbenden bewirken.

 

Tod und Sterben sind auch ein Begegnungsfeld für den tibetischen Buddhismus und die moderne Wissenschaft. Ich glaube, beide Traditionen haben einander viel zu geben, sowohl was ihr jeweiliges Verständnis angeht als auch in praktischen Fragen. Sogyal Rinpoche ist in einer besonderen Position, diese Begegnung zu erleichtern; er ist in der tibetischen Tradition geboren und aufgewachsen und hat Unterweisungen von einigen unserer bedeutendsten Lamas erhalten. Gleichzeitig hat er auch eine moderne Ausbildung genossen und so viele Jahre im Westen gelebt und gelehrt, dass er mit dem westlichen Denken sehr vertraut geworden ist.

Dieses Buch geht nicht nur theoretisch auf Fragen im Zusammenhang mit Tod und Sterben ein, sondern bietet dem Leser auch praktische Methoden zum Verständnis von Leben und Tod und für eine ruhige und inspirierende Vorbereitung auf den Tod – für sich und für andere.

2. Juni 1992

[home]

Einleitung zur überarbeiteten Ausgabe

Zehn Jahre sind vergangen, seit Das tibetische Buch vom Leben und vom Sterben zum ersten Mal erschien. Das Buch war Ausdruck meiner Bemühungen, etwas von der Weisheit der Tradition zu vermitteln, in der ich aufgewachsen war. Ich wollte deutlich machen, von welch praktischem Nutzen diese jahrhundertealten Lehren sind, und wie sie uns an jedem Punkt unseres Lebens und Sterbens helfen können. Viele Menschen hatten mich jahrelang gedrängt, dieses Buch zu schreiben. Sie meinten, es würde helfen, das intensive Leid zu lindern, das so viele von uns in dieser modernen Welt bedrängt. Seine Heiligkeit der Dalai Lama weist darauf hin, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der es den Menschen immer schwerer fällt, einander mit Respekt und Zuneigung zu begegnen, und in der eine tiefere Dimension des Lebens fast völlig missachtet wird. Es ist kein Wunder, dass sich die Menschen heutzutage so sehr nach dem Mitgefühl und der Weisheit sehnen, die uns die spirituellen Lehren bieten können.

Die Begeisterung, mit der Das tibetische Buch vom Leben und vom Sterben in der ganzen Welt aufgenommen wurde, kann sicher als ein Zeichen dieses Bedürfnisses verstanden werden. Anfangs war ich erstaunt; ich hätte nie erwartet, dass das Buch solchen Anklang finden würde, zumal das Thema Tod zum Zeitpunkt seines Erscheinens immer noch eher gemieden und ignoriert wurde. Während ich verschiedene Länder bereiste, um zu lehren, Workshops abzuhalten und Ausbildungen zu leiten, die auf den Lehren in diesem Buch basierten, entdeckte ich allmählich, in welchen Ausmaß es die Herzen der Menschen berührt hatte. Immer häufiger sprachen sie mich an oder schrieben mir, um mich wissen zu lassen, welche Hilfe und Unterstützung diese Lehren ihnen in einer Lebenskrise oder beim Tod eines geliebten Menschen gegeben hatten. Und selbst wenn ihnen die in diesem Buch enthaltenen Lehren nicht vertraut sein mochten, erfuhr ich doch von einigen, dass sie es gleich mehrmals gelesen hatten und immer wieder als Quelle der Inspiration darauf zurückgriffen. Eine Frau aus Madras in Indien war nach dem Lesen des Tibetischen Buchs vom Leben und vom Sterben so inspiriert, dass sie eine medizinische Stiftung mit einem Hospiz und einer Palliativstation ins Leben rief. Eine Frau aus den Vereinigten Staaten kam zu mir und sagte, es hätte sie sehr verblüfft, wie ein bloßes Buch – wie sie es ausdrückte – ihr eine so vollständige Liebe entgegenbringen konnte. Solche bewegenden und persönlichen Geschichten sind ein Beweis für die Kraft und Relevanz der buddhistischen Lehren für die heutige Zeit. Wann immer ich davon höre, fühle ich eine von Herzen kommende Dankbarkeit, sowohl den Lehren, als auch den Lehrern und Praktizierenden gegenüber, die so viel durchgemacht haben, um sie schließlich zu verkörpern und weiterzugeben.

Mit der Zeit erfuhr ich, dass Das tibetische Buch vom Leben und vom Sterben von verschiedensten Institutionen, Zentren und Gruppen im Bildungswesen wie im medizinischen und spirituellen Bereich aufgegriffen und genutzt worden war. Krankenschwestern, Ärzte und andere, die beruflich mit Sterbenden zu tun haben, erzählten mir, wie sie diese Methoden in ihre tägliche Arbeit integriert hatten, und mir sind viele Berichte von ganz gewöhnlichen Menschen zu Ohren gekommen, die diese Praktiken anwandten und erlebten, wie dies den Tod eines Freundes oder Angehörigen transformierte. Besonders berührt mich die Tatsache, dass Menschen unterschiedlichster Glaubensrichtungen das Buch gelesen haben und sagten, es hätte ihr Vertrauen in ihre eigene Tradition verstärkt und vertieft. Sie erkennen offensichtlich die Allgemeingültigkeit seiner Botschaft und verstehen, dass es niemanden überzeugen oder bekehren will, sondern einfach die Weisheit der alten buddhistischen Lehren anbietet, um von größtmöglichem Nutzen zu sein.

Während Das tibetische Buch vom Leben und vom Sterben ganz im Stillen eine Art Eigenleben entwickelte und unauffällig in vielen Bereichen und Disziplinen Einlass fand, begann ich langsam, die letztliche Ursache seines großen Einflusses und Anklangs zu verstehen. Diese außergewöhnlichen Lehren sind die Herz-Essenz der mündlichen Übertragungslinie, in der die Weisheit über Jahrhunderte in ungebrochener Abfolge als eine lebendige Erfahrung weitergegeben wurde. Jemand bezeichnete dieses Buch einmal als eine Mischung aus »einem lebendigen Meister und einem Buch«. Und es stimmt: Im Tibetischen Buch vom Leben und vom Sterben kommen die größten Meister dieser Zeit zu Wort, und ihr Rat und ihre Antwort auf Fragen stehen unterstützend hinter ihm. Es sind ihre Stimmen, die durch diese Seiten sprechen, ihre Weisheit und ihre Vision von einer mitfühlenden Welt, durchdrungen vom Wissen um unsere wahre Natur, die innerste Natur des Geistes. Die Tatsache, dass Das tibetische Buch vom Leben und vom Sterben solch großen Zuspruch gefunden hat, ist meiner Meinung nach dem Segen der Linie und der Energie und Lebendigkeit der mündlichen Tradition zuzuschreiben. Die Beliebtheit des Buches macht mich bescheiden und erinnert mich daran, dass ich jegliche Begabung, diese Lehren zu kommunizieren, einzig und allein der Hingabe zu verdanken habe, welche die Lehren und die Güte meiner Lehrer in mir wachgerufen haben.

In den letzten zehn Jahren hat sich unsere Einstellung zum Tod und die Weise, in der wir für Sterbende und Hinterbliebene in dieser Gesellschaft sorgen, sehr verändert. Der Tod und viele Fragen, die das Sterben betreffen, sind stärker ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Bücher, Websites, Konferenzen, Fernsehserien, Filme und Selbsthilfegruppen haben alle zu einer größeren Offenheit gegenüber dem Tod beigetragen. Die Zahl der Hospizinitiativen und Palliativstationen ist beträchtlich gewachsen, und in einigen Ländern hat der ganze Bereich der Sterbebegleitung in diesem Zeitraum eine große Öffnung erlebt. Vielfältige Initiativen wurden durch den Mut vieler Männer und Frauen ins Leben gerufen, für die ich größten Respekt und Bewunderung empfinde. Inzwischen wurden auch immer mehr Menschen aus dem buddhistischen Umfeld darum gebeten, sich an Projekten zu beteiligen und zu erforschen, wie ihr spezieller Beitrag aussehen könnte.

Einige meiner Freunde und Schüler haben schrittweise ein internationales Ausbildungs- und Trainingsprogramm aufgebaut, das auf den Lehren in diesem Buch beruht und darauf ausgerichtet ist, Sterbende und ihre Angehörigen und Betreuer spirituell zu unterstützen. Wir bieten Kurse für Berufstätige im medizinischen Bereich und für die Öffentlichkeit an, koordinieren ehrenamtliche Helfer und haben begonnen, mit Krankenhäusern, Hospizen und Universitäten zusammenzuarbeiten. Es macht Mut zu sehen, wie das Verständnis für die zentrale Rolle spiritueller Fragen in der Sterbebegleitung zunimmt, und in einigen Ländern bieten medizinische Ausbildungsstätten inzwischen neben Kursen in Medizin auch Kurse über Spiritualität an. Wie ich gehört habe, wird Umfragen zufolge der Tod jedoch noch immer weitgehend verleugnet, und es gelingt uns oft noch immer nicht, Sterbende spirituell zu begleiten und auf ihre innersten Bedürfnisse einzugehen. Es ist von großer Wichtigkeit, auf welche Art wir sterben. Der Tod ist der entscheidende Moment unseres Lebens, und jeder Einzelne von uns sollte in Frieden und erfüllt sterben können, im Wissen, dass uns die bestmögliche spirituelle Begleitung zur Seite steht.

Wenn Das tibetische Buch vom Leben und vom Sterben uns ein klein wenig dazu verholfen hat, uns einmal anzuschauen, wie wir mit unserem eigenen Tod und dem der Menschen um uns herum umgehen, ist dies die Erfüllung meiner Gebete, und ich bin zutiefst berührt und dankbar dafür. Ich träume weiterhin davon, dass die hier vorgestellten Lehren überall Menschen aller Alters- und Bildungsstufen zur Verfügung stehen können. Meine ursprüngliche Hoffnung war, dass dieses Buch eine stille Revolution auslösen möge in unserer gesamten Art, den Tod zu betrachten und uns um Sterbende zu kümmern, als auch in der Weise, wie wir das Leben betrachten und uns um Lebende kümmern. In den letzten zehn Jahren hat die Notwendigkeit zu spiritueller Transformation und dafür, im wahrsten Sinne für uns selbst und andere Verantwortung zu übernehmen, nichts an Dringlichkeit verloren. Was würde es bedeuten, wenn immer mehr Menschen ernsthaft über ihre Zukunft und die Zukunft der Welt nachdächten? Stellen Sie sich vor, was geschehen würde, wenn wir unser Leben auf eine sinnerfüllte, heilige Weise leben könnten, wenn die Betreuung am Ende eines Lebens immer von einem Gefühl der Ehrfurcht vor dem Tod erhellt wäre und wenn wir Leben und Tod als ein untrennbares Ganzes betrachten würden. Welche Auswirkung hätte es, wenn wir danach trachteten, Liebe und Mitgefühl zum Maß all unserer Handlungen zu machen und so weit wie möglich die innerste Natur des Geistes zu verstehen, auf der unsere gesamte Existenz beruht? Das wäre eine wahre Revolution, die Männern und Frauen die Freiheit gäbe zu entdecken, was ihnen von Geburt an zusteht, diese innere Dimension, die wir so lange vernachlässigt haben und die uns mit der Gesamtheit und Fülle der menschlichen Erfahrung vereint, in all ihrem Mysterium und ihrer Pracht.

 

Sogyal RinpocheLerab Ling, Frankreich, im November 2001

[home]

Vorwort des Autors

Ich wurde in Tibet geboren und kam im Alter von sechs Monaten in das Kloster meines Meisters Jamyang Khyentse Chökyi Lodrö in der Provinz Kham. In Tibet haben wir eine einzigartige Methode, die Wiedergeburten verstorbener großer Meister zu erkennen. Sie werden bereits sehr jung ausgewählt und erhalten eine ganz besondere Erziehung, die sie befähigen soll, in der Zukunft wieder als Lehrer zu wirken. Ich erhielt den Namen Sogyal, obwohl mein Meister mich erst zu einem späteren Zeitpunkt als die Reinkarnation von Tertön Sogyal erkannte, einem berühmten Mystiker, der einer seiner eigenen Lehrer und Meister des XIII. Dalai Lama gewesen war.

Mein Meister Jamyang Khyentse war für einen Tibeter recht groß gewachsen und in einer Menschenmenge überragte er die anderen stets um Haupteslänge. Er hatte silbergraues, sehr kurz geschnittenes Haar, gütige Augen, die humorvoll leuchteten, und seine Ohren waren lang wie die des Buddha. Am auffallendsten aber war wohl seine Präsenz. Sein Blick und seine Haltung machten jedem deutlich, dass man hier einem weisen und heiligen Mann begegnete. Er hatte eine tiefe, volle, wohlklingende Stimme, und wenn er lehrte, neigte er seinen Kopf leicht nach hinten, und die Lehren flossen in einem Strom von Redegewandtheit und Poesie nur so aus ihm heraus. Trotz des Respekts, ja der Ehrfurcht, die er erweckte, war er in allem, was er tat, bescheiden.

Jamyang Khyentse war das Fundament meines Lebens, und er ist die Inspiration für dieses Buch. Er war die Inkarnation eines Meisters, der die Praxis des Buddhismus in unserem Lande verwandelt hatte. In Tibet ist es niemals genug gewesen, nur dem Namen nach eine Inkarnation zu sein; man musste sich den Respekt durch eigene Gelehrsamkeit und spirituelle Praxis erst einmal verdienen. Mein Meister verbrachte Jahre in zurückgezogener Meditation, und es gibt viele Wundergeschichten über ihn. Er hatte ein tiefes Wissen und war spirituell hoch verwirklicht. Ich entdeckte später, dass er eine Enzyklopädie der Weisheit war: Er wusste die Antwort auf praktisch jede Frage, die einem nur einfallen konnte. In Tibet gab es viele spirituelle Traditionen, und Jamyang Khyentse galt in allen als Autorität. Er war für jeden, der ihm begegnete oder von ihm hörte, die Verkörperung des tibetischen Buddhismus, das lebendige Beispiel eines Menschen, der die Lehren verwirklicht und die Praxis vollendet hat.

Ich habe gehört, wie mein Meister sagte, ich würde seine Arbeit weiterführen helfen, und zweifellos behandelte er mich wie seinen eigenen Sohn. Ich weiß, dass alles, was ich in meiner Arbeit bisher erreicht habe – dass es mir gelungen ist, so viele Menschen zu erreichen –, ein Ausdruck seines Segens ist.

All meine frühesten Erinnerungen ranken sich um ihn. Er war die Umgebung, in der ich aufwachsen durfte, und seine Gegenwart bestimmte meine Kindheit. Er war wie ein Vater für mich. Er gewährte mir alles, um das ich bat. Seine spirituelle Gefährtin, Khandro Tsering Chödrön, die auch gleichzeitig meine Tante war, sagte oft: »Stör Rinpoche nicht, er ist bestimmt beschäftigt.«[1] Ich wollte aber immer in seiner Nähe sein, und er hatte mich gern um sich. Ich habe ihn dauernd mit Fragen gelöchert, und er hat sie mir alle geduldig beantwortet. Ich war ein freches Kind, das kein Lehrer bändigen konnte. Wann immer mein Lehrer mich schlagen wollte, bin ich zu meinem Meister gerannt und habe mich hinter ihm versteckt. Keiner hätte sich getraut, mich dorthin zu verfolgen. Wenn ich so einer Bestrafung entgehen konnte, war ich stolz und zufrieden mit mir, er aber lachte nur. Eines Tages sprach mein Lehrer mit ihm, ohne dass ich davon wusste. Er erklärte, dass es zu meinem eigenen Besten so nicht weitergehen könne. Das nächste Mal, als ich wieder mein Heil in der Flucht suchte und mich hinter meinem Meister versteckte, kam mein Lehrer mir nach, machte drei Niederwerfungen vor meinem Meister und zog mich dann aus meinem schützenden Versteck hervor. Ich kann mich noch heute gut erinnern, dass es mir damals, als ich aus dem Raum gezerrt wurde, sehr seltsam vorkam, dass mein Lehrer gar keine Angst mehr vor meinem Meister zu haben schien.

Jamyang Khyentse lebte in dem Raum, in dem seine frühere Inkarnation ihre Visionen gehabt und die Renaissance von Kultur und Spiritualität ins Leben gerufen hatte, die im vergangenen Jahrhundert ganz Osttibet beeinflusst hatte. Es war ein wunderbarer Raum, nicht besonders groß, aber mit einer magischen Atmosphäre, voll mit sakralen Objekten, Bildern und Büchern. Die anderen nannten ihn »Himmel der Buddhas« oder »Raum der Ermächtigung«, und wenn es einen Ort in Tibet gibt, an den ich mich genau erinnere, dann ist es dieses Zimmer. Mein Meister saß auf einem niedrigen Sitz aus Holz und Leder, und ich saß neben ihm. Ich aß nur aus seiner Schale oder gar nicht. In dem kleinen Schlafgemach nebenan gab es eine Veranda, aber es war immer recht dunkel, und stets stand ein Kessel mit heißem Tee auf einem kleinen Ofen in der Ecke. Gewöhnlich schlief ich in einem kleinen Bett, das am Fußende seines Bettes stand. Ein Geräusch, das ich stets in Erinnerung behalten werde, ist das Klicken der Perlen seiner Mālā, des buddhistischen Rosenkranzes, wenn er leise seine Gebete rezitierte. Wenn ich einschlief, saß er da und praktizierte, und wenn ich morgens aufwachte, saß er schon wieder da und praktizierte, floss über von Segen und Kraft. Wenn ich meine Augen aufschlug und ihn so sitzen sah, erfüllte mich ein warmes, behagliches Glück, eine solche Atmosphäre des Friedens umgab ihn stets.

Als ich dann älter wurde, ließ Jamyang Khyentse mich Zeremonien leiten, während er als Vorsänger agierte. Ich wohnte allen Unterweisungen und Einweihungen bei, die er anderen gab; aber es sind nicht so sehr die Einzelheiten, an die ich mich heute noch erinnere, eher die Atmosphäre. Für mich war er der Buddha – da gab es für mich überhaupt keinen Zweifel. Und alle anderen sahen ihn genauso. Wenn er Einweihungen gab, waren seine Schüler so von Ehrfurcht erfüllt, dass sie ihm kaum ins Gesicht zu sehen wagten. Einigen erschien er tatsächlich in der Form seines Vorgängers oder in verschiedenen Buddha- oder Bodhisattva-Formen.[2] Jeder nannte ihn Rinpoche, »Kostbarer«, ein Titel, mit dem man einen Meister anspricht; und wenn er zugegen war, wurde kein anderer Lehrer so angesprochen. Seine Präsenz war so beeindruckend, dass viele ihn ehrfürchtig den »Ur-Buddha«[3] nannten.

Wäre ich meinem Meister Jamyang Khyentse nicht begegnet, wäre ich ein völlig anderer Mensch geworden. Seine Warmherzigkeit, seine Weisheit und sein Mitgefühl machten ihn zur Verkörperung der heiligen Wahrheit der Lehren, und er hat sie praktisch anwendbar und lebendig werden lassen. Wenn ich diese Atmosphäre meines Meisters mit anderen teile, können auch sie die tiefe Empfindung spüren, die er in mir geweckt hat. Was Jamyang Khyentse in mir erweckt hat? – Ein unerschütterliches Vertrauen in die Lehren und eine Überzeugung von der zentralen und dramatischen Bedeutung des Meisters. Was immer ich an Verständnis habe, verdanke ich nur ihm. Das ist etwas, das ich niemals vergelten kann; aber ich kann es an andere weitergeben.

Während meiner ganzen Kindheit sah ich die Liebe, die Jamyang Khyentse in der Gemeinschaft ausstrahlte, ganz besonders in seiner Fürsorge für die Sterbenden und die Verstorbenen. In Tibet war ein Lama nicht nur ein spiritueller Lehrer, sondern gleichzeitig auch ein weiser Mann, ein Therapeut, ein Pfarrer, ein Arzt und spiritueller Heiler, der den Kranken und Sterbenden beistand. Später lernte ich selbst die besonderen Techniken der Führung Sterbender und bereits Verstorbener, die mit dem »Tibetischen Totenbuch« in Verbindung stehen. Aber die eindrucksvollsten Lektionen über den Tod und das Leben erhielt ich durch das, was ich beobachtete, wenn mein Meister Sterbende mit unendlichem Mitgefühl, Weisheit und Verständnis leitete.

Ich bete darum, dass dieses Buch der Welt etwas von seiner großen Weisheit und seinem Mitgefühl vermittelt und dass dadurch Sie, wo immer Sie sich befinden, die Präsenz seiner Weisheit spüren und eine lebendige Verbindung zu ihm finden können.

[home]

Erster TeilLeben

1.Im Spiegel des Todes

Meine erste Begegnung mit dem Tod hatte ich im Alter von sieben Jahren, als wir uns eben darauf vorbereiteten, das östliche Hochland zu verlassen, um nach Zentraltibet aufzubrechen.

Samten war einer der persönlichen Betreuer meines Meisters, ein wunderbarer Mönch, der immer gütig zu mir gewesen war. Er hatte ein strahlendes, pausbäckiges Gesicht, immer bereit zu einem Lächeln. Jeder im Kloster liebte ihn, weil er so gutmütig war. Mein Meister lehrte jeden Tag, gab Initiationen und leitete Rituale und Übungen. Gegen Ende des Tages versammelte ich dann meine Freunde und spielte mit ihnen die Ereignisse des Tages in kleinen Theaterstücken nach. Samten besorgte mir dafür immer die Gewänder, die mein Meister zu den verschiedenen Anlässen getragen hatte. Niemals hat er mir etwas ausgeschlagen.

Doch eines Tages wurde Samten plötzlich sehr krank, und bald war klar, dass er nicht mehr lange leben würde. Wir mussten unsere Abreise verschieben. Die folgenden zwei Wochen werde ich niemals vergessen. Der strenge Geruch des Todes hing wie eine Wolke über allem, und immer, wenn ich an damals zurückdenke, kommt mir dieser Geruch wieder in Erinnerung. Das Kloster war durchdrungen von einem intensiven Gewahrsein des Todes, das jedoch niemals morbide oder beängstigend war. In der Gegenwart meines Meisters gewann Samtens Tod eine besondere Bedeutung. Er wurde zu einer Lehre für uns alle.

Samten lag auf einem Bett am Fenster eines kleinen Tempels in der Residenz meines Meisters. Ich wusste, dass er im Sterben lag, und ab und zu ging ich zu ihm und saß an seiner Seite. Er konnte schon nicht mehr sprechen und die Veränderung in seinem Gesicht, das jetzt hager und eingefallen war, machte mich sehr betroffen. Ich begriff, dass er uns verlassen musste und wir ihn niemals wiedersehen würden. Ich fühlte mich unendlich allein.

Samten hatte keinen leichten Tod. Die Laute seines mühevollen Atmens verfolgten uns überallhin, und wir konnten den Verfall seines Körpers riechen. Das Kloster war überwältigend still, bis auf sein Atmen. Alles konzentrierte sich auf Samten. Aber obwohl er in seinem langen Sterben sehr viel zu leiden hatte, war für alle sichtbar, dass er im tiefsten Innern Frieden und Vertrauen besaß. Zuerst war mir dies unerklärlich, aber schließlich erkannte ich, dass sein Glaube, seine Schulung und die Präsenz unseres Meisters ihm diese innere Sicherheit gaben. Und obwohl ich immer noch traurig war, war ich mir gewiss: Da unser Meister zugegen war, würde alles gut werden, denn er war in der Lage, Samten zur Befreiung zu verhelfen. Später erfuhr ich, dass es der Traum eines jeden Praktizierenden ist, im Beisein seines Meisters zu sterben und das Glück zu haben, von ihm durch den Tod geleitet zu werden.

Als mein Meister Jamyang Khyentse den Mönch Samten ruhig durch den Sterbeprozess führte, machte er ihn mit jeder Stufe vertraut, die er gerade durchlief. Ich war beeindruckt von der Präzision des Wissens meines Meisters und von dem Vertrauen und dem Frieden, die er ausstrahlte. In seiner friedvollen Präsenz und Zuversicht schöpften selbst die Ängstlichen Mut. Jamyang Khyentse bewies in diesen Tagen wieder, dass er keinerlei Angst vor dem Tod hatte. Nicht, dass er den Tod jemals leicht genommen hätte. Oft genug hatte er uns gesagt, dass er großen Respekt vor ihm habe und uns ermahnt, dem Tod niemals naiv oder selbstgefällig zu begegnen. Woran lag es also, dass mein Meister dem Tod auf eine Art entgegentreten konnte, die zugleich nüchtern und leichtherzig, ganz praktisch und dennoch unerklärlich sorglos war? Diese Frage faszinierte mich und nahm mich ganz in Anspruch.

Samtens Tod erschütterte mich. Im Alter von sieben Jahren hatte ich einen ersten Vorgeschmack von der ungeheuren Kraft der Tradition erhalten, von der ich ein Teil war, und ich begann, den Sinn und Zweck spiritueller Praxis zu begreifen. Durch Praxis hatte Samten zu einer Annahme seines Todes gefunden und zu dem klaren Verständnis, dass Leiden und Schmerz Teil eines tiefen, natürlichen Reinigungsprozesses sind. Durch Praxis hatte mein Meister sein umfassendes Wissen über den Tod erworben und auch die präzise »Technologie«, wie man Menschen durch den Todesprozess führen kann.

Nachdem Samten gestorben war, machten wir uns auf nach Lhasa, der Hauptstadt Tibets; es wurde eine beschwerliche, dreimonatige Reise zu Pferde. Von dort führte uns unsere Pilgerreise zu den heiligen Orten Süd- und Zentraltibets, zu den Orten der Mystiker, Gelehrten und Könige, die seit dem siebten Jahrhundert dazu beigetragen hatten, den Buddhismus in Tibet heimisch zu machen. Mein Meister war die Emanation vieler Meister aus allen Traditionen und genoss ein so hohes Ansehen, dass wir überall begeistert empfangen wurden.

Für mich war die Reise ungeheuer aufregend, und noch heute denke ich gern daran zurück. Wir gingen bei Dämmerung zu Bett und standen schon vor Tagesanbruch auf, um das ganze Tageslicht zu nutzen. Beim ersten Morgengrauen brachen schon einige der Yaks auf, die die Lasten trugen. Dann wurden die Zelte abgebrochen; das Küchenzelt und das Zelt meines Meisters blieben immer bis zuletzt stehen. Ein Kundschafter ritt voraus und suchte einen geeigneten Platz für unseren nächsten Halt. Gegen Mittag schlugen wir dann dort für den Rest des Tages und die Nacht unser Lager wieder auf. Ich liebte es besonders, am Fluss zu kampieren und dem Klang des Wassers zu lauschen, oder gemütlich im Zelt zu sitzen und den Regen aufs Dach prasseln zu hören.

Wir waren eine eher kleine Gruppe mit insgesamt etwa dreißig Zelten. Während des Tages ritt ich auf einem goldfarbenen Pferd neben meinem Meister her, und während wir ritten, gab er mir Belehrungen, erzählte Geschichten, praktizierte und verfasste sogar eine Reihe von Praktiken ganz speziell für mich. Eines Tages – wir näherten uns gerade dem heiligen See von Yamdrok Tso und unser Blick fiel zum ersten Mal auf das türkisfarbene Schimmern seines Wassers – begann ein anderer Lama aus unserer Gruppe sich dem Tod zu nähern: Lama Tseten.

Der Tod von Lama Tseten sollte eine weitere intensive Unterweisung für mich werden. Er war der Tutor der spirituellen Gefährtin meines Meisters, Khandro Tsering Chödrön. Viele Tibeter sahen in ihr das Beispiel einer idealen Praktizierenden, einer Meisterin im Verborgenen, die durch die Einfachheit ihrer liebevollen Präsenz lehrte. Für mich war sie die Verkörperung von Hingabe schlechthin. Lama Tseten nun war ein äußerst menschenfreundlicher, großväterlich wirkender Charakter. Er war über sechzig Jahre alt, groß, grauhaarig, und er strahlte eine unbeschwerte Güte aus. Darüber hinaus galt er als tief verwirklichter Praktizierender der Meditation, und schon seine bloße Nähe hatte in mir stets ein Gefühl von Frieden und ruhiger Heiterkeit geweckt. Ab und zu schimpfte er wohl auch mit mir, und dann hatte ich Angst vor ihm, aber auch wenn er manchmal streng war, verlor er doch niemals seine Warmherzigkeit.

Lama Tsetens Sterben war wirklich außergewöhnlich. Obwohl ganz in der Nähe ein Kloster war, weigerte er sich, dorthin gebracht zu werden. Er sagte, er wolle ihnen dort nicht die Umstände machen, seinen Leichnam beseitigen zu müssen. Wir schlugen also wie gewöhnlich unser Lager auf, indem wir die Zelte im Kreis aufstellten. Khandro kümmerte sich um Lama Tseten, der ja ihr Lehrer war, und pflegte ihn. Ich war mit ihr allein bei ihm im Zelt, als er sie plötzlich zu sich rief: Er hatte eine liebevolle Art, sie mit dem Kosenamen »A-mi« zu rufen, was in seinem Dialekt so viel wie »mein Kind« bedeutet. »A-mi«, sagte er sanft, »komm her. Es ist jetzt so weit. Ich habe keinen weiteren Rat mehr für dich. Bleib wie du bist, ich bin zufrieden mit dir. Diene deinem Meister weiter so liebevoll wie bisher.«

Augenblicklich sprang sie auf, um aus dem Zelt zu laufen, aber er erwischte sie beim Ärmel. »Wo willst du hin?«, fragte er. »Ich will Rinpoche holen«, antwortete sie. »Stör ihn nicht, das ist nicht nötig«, sagte er lächelnd. »Letztlich ist man vom Meister nie getrennt.« Dann richtete er seinen Blick in den Himmel und starb. Khandro befreite sich aus seinem Griff und eilte hinaus, Jamyang Khyentse zu rufen. Ich saß einfach nur da, unfähig, mich zu bewegen.

Ich war überaus verwundert, wie jemand im Angesicht des Todes ein solches Vertrauen besitzen konnte. Lama Tseten hätte seinen Meister zur Seite haben können, um ihm zu helfen – etwas, wonach sich jeder andere gesehnt hätte –, aber er hielt es nicht für nötig. Heute verstehe ich: Er hatte die Präsenz des Meisters in sich selbst gefunden. Jamyang Khyentse war ständig bei ihm, in seinem Geist und in seinem Herzen; nicht für einen Augenblick fühlte er sich von ihm getrennt.

Khandro kehrte mit unserem Meister zurück.[4] Ich werde niemals vergessen, wie er das Zelt betrat und sich dabei ein wenig bückte. Er warf einen kurzen Blick auf Lama Tsetens Gesicht, blickte ihm prüfend in die Augen und begann zu schmunzeln. Er hatte ihn als Zeichen seiner Zuneigung immer »La Gen«, »alter Lama« genannt. »La Gen«, sagte er nun, »bleib nicht in diesem Zustand!« Er konnte – wie ich heute weiß – erkennen, dass Lama Tseten eine bestimmte Meditationpraxis ausübte, in der der Praktizierende die Natur seines Geistes mit dem Raum der Wahrheit verschmelzen lässt und viele Tage in diesem Zustand verharren kann, wenn er stirbt. »La Gen, wir sind Reisende. Wir sind Pilger. Wir können nicht so lange warten. Komm, lass mich dich führen.«

Wie versteinert beobachtete ich, was dann geschah, und hätte ich es nicht selbst miterlebt, ich würde es niemals geglaubt haben. Lama Tseten erwachte wieder zum Leben. Mein Meister setzte sich an seine Seite und führte ihn durch das Phowa, die Praxis, in der das Bewusstsein im Augenblick unmittelbar vor dem Tod geleitet wird. Es gibt viele Variationen dieser Praxis; jene, die er damals benutzte, gipfelt darin, dass der Meister dreimal die Silbe »A« ausstößt. Als mein Meister das erste »A« ertönen ließ, konnten wir deutlich Lama Tsetens begleitende Stimme vernehmen. Beim zweiten Mal war seine Stimme schon kaum mehr zu hören und beim dritten Mal war er still – er war gegangen.

Samtens Tod hatte mich den Sinn spiritueller Praxis verstehen lassen; Lama Tsetens Tod zeigte mir, dass Praktizierende seines Kalibers ihre außergewöhnlichen Qualitäten nicht selten zu Lebzeiten verbergen. Manchmal zeigen sie sie tatsächlich nur ein einziges Mal: im Augenblick des Todes. Obwohl ich noch ein Kind war, verstand ich, dass es zwischen dem Tod von Samten und dem Tod von Lama Tseten einen eindrucksvollen Unterschied gab. Im einen Fall hatte es sich um den Tod eines einfachen, guten Mönches gehandelt, der in seinem Leben praktiziert hatte, im anderen Fall aber war ein sehr viel tiefer verwirklichter Praktizierender gestorben. Samten starb gewöhnlich und unter Schmerzen, doch mit dem Vertrauen seines Glaubens; Lama Tsetens Tod war eine Demonstration spiritueller Meisterschaft.

Bald nach Lama Tsetens Beerdigung erreichten wir das Kloster von Yamdrok. Wie üblich schlief ich im selben Zimmer wie mein Meister, und ich erinnere mich gut, dass ich an diesem Abend furchtsam die Schatten der flackernden Butterlampen an der Wand beobachtete. Während alle anderen tief und fest schliefen, lag ich die ganze Nacht wach und weinte. In jener Nacht habe ich begriffen, dass der Tod Wirklichkeit ist und dass auch ich sterben werde. Als ich so auf meinem Bett lag und darüber nachdachte, dass der Tod real ist und dass auch ich würde sterben müssen, begann ich allmählich, diese Tatsache zu akzeptieren, und gleichzeitig keimte der ernsthafte Entschluss in mir auf, mein Leben der spirituellen Praxis zu widmen.

So wurde ich schon sehr früh mit dem Tod und seiner Tragweite konfrontiert. Nie hätte ich mir damals aber träumen lassen, wie viele Tode mir – einer nach dem anderen – noch begegnen sollten: Der Tod in Form des tragischen Verlustes meines Heimatlandes Tibet nach der Besetzung durch die Chinesen, der Tod, den das Exil bedeutet, der Tod, alles zu verlieren, was meine Familie besessen hatte. Meine Familie Lakar Tsang hatte zu den reichsten in ganz Tibet gehört. Seit dem vierzehnten Jahrhundert hatte sie zu den wichtigsten Gönnern des Buddhismus gehört und war berühmt für ihre tatkräftige Unterstützung sowohl der Lehren des Buddha insgesamt als auch der Arbeit der großen Meister.[5]

Der erschütterndste Tod stand mir jedoch noch bevor. Es war der meines Meisters Jamyang Khyentse. Mit ihm, so empfand ich, verlor ich die Grundlage meiner Existenz. Er starb im Jahr 1959, im Jahr der größten Katastrophe für Tibet. Für die Tibeter war der Tod meines Meisters ein zweiter vernichtender Schlag, und mit ihm ging in Tibet eine Ära zu Ende.

Der Tod in der modernen Welt

Als ich dann in den Westen kam, war ich schockiert, wie grundlegend sich die hier vorherrschende Einstellung zum Tod von der Sicht, mit der ich aufgewachsen war, unterschied. Trotz aller technologischen Errungenschaften besitzt die moderne westliche Zivilisation kein wirkliches Verständnis vom Tod, von den Vorgängen beim Sterben oder von dem, was nach dem Tod geschieht.

Ich begriff, dass die Menschen heutzutage lernen, den Tod zu verdrängen, und daher im Sterben nichts als Vernichtung und Verlust sehen. Daraus folgt, dass die meisten Menschen den Tod entweder vollständig leugnen oder in Angst vor ihm leben. Bloß über den Tod zu sprechen, wird schon als morbid angesehen, und viele Menschen glauben, dass sie allein durch Erwähnung des Todes das Risiko eingehen, ihn auf sich zu ziehen.

Andere sehen dem Tod mit einer naiven, gedankenlosen Zuversicht entgegen. Sie denken, aus irgendwelchen unbekannten Gründen werde schon alles gut gehen, und man müsse sich keinerlei Sorgen machen. Wenn ich an diese Menschen denke, werde ich immer an den Ausspruch eines tibetischen Meisters erinnert: »Die Menschen nehmen den Tod oft zu leicht und denken: ‹Was soll’s, der Tod ereilt schließlich jeden. Was ist schon dabei, er ist etwas ganz Natürliches, es wird schon werden.› Das ist eine nette Theorie – bis man dann stirbt.«[6]

Von diesen beiden Einstellungen sieht die eine den Tod als etwas, vor dem man sich hastig in Sicherheit bringen muss, die andere meint, es komme schon alles von selbst in Ordnung. Wie weit entfernt sind doch beide von einem Verständnis der wahren Bedeutung des Todes!

Alle großen spirituellen Traditionen der Welt, das Christentum selbstverständlich eingeschlossen, haben uns erklärt, dass der Tod nicht das Ende ist. Alle haben die Vision eines wie auch immer gearteten Lebens danach, das unserem jetzigen Leben erst seine wahre Bedeutung verleiht. Aber trotz dieser Lehren ist die moderne Zivilisation in weiten Teilen eine spirituelle Wüste – die Mehrheit glaubt, dieses Leben sei alles. Ohne einen wirklichen, authentischen Glauben an ein Leben danach führen die meisten Menschen ein Leben ohne jeden letztendlichen Sinn.

Ich bin zu der Überzeugung gelangt, dass die katastrophalen Folgen einer Verdrängung des Todes weit über das Individuum hinausreichen: Sie betreffen den ganzen Planeten. In seinem eigensinnigen Glauben, dies Leben sei das einzige, hat der moderne Mensch keine Langzeitvisionen entwickelt. Nichts hält ihn mehr davon ab, den Planeten aus kurzfristigem Eigeninteresse auszuplündern und auf eine Weise selbstsüchtig zu leben, die sich für die Zukunft als fatal erweisen könnte. Wie viele Warnungen, wie die folgende des früheren brasilianischen Umweltministers, in dessen Verantwortungsbereich auch der Regenwald im Amazonas-Gebiet lag, brauchen wir eigentlich noch?

»Die moderne Industriegesellschaft ist eine fanatische Religion. Wir demolieren, vergiften und zerstören alle Lebenssysteme auf diesem Planeten. Wir zeichnen Schuldscheine, die unsere Kinder nicht werden einlösen können … Wir handeln, als seien wir die letzte Generation auf diesem Planeten. Ohne einen radikalen Wandel in unseren Herzen, in unserem Geist und in unserer Vision wird die Erde enden wie die Venus: tot und verkohlt.«[7]

Angst vor dem Tod und Ignoranz gegenüber einem Leben danach sind der Treibstoff für die Umweltzerstörung, die unser aller Leben bedroht. Muss es daher nicht zutiefst beunruhigen, dass die Menschen nicht lernen, was der Tod wirklich ist und wie man friedlich stirbt, dass niemand ihnen Hoffnung gibt auf das, was hinter dem Tod steht und daher letztlich auch hinter dem Leben? Was könnte paradoxer sein als die Tatsache, dass junge Menschen in jedem nur erdenklichen Fach hoch gebildet sind, außer in diesem einen, das den Schlüssel für den Sinn des Lebens enthält und möglicherweise sogar für unser aller Überleben?

Es hat mich schon immer fasziniert, dass manche buddhistische Meister den Menschen, die sie um Belehrungen bitten, eine einfache Frage stellen: Glaubst du an ein Leben nach dem Tod? Philosophische Lehrmeinungen interessieren sie dabei nicht, sie wollen ausschließlich wissen, was man tief im Herzen spürt. Die Meister wissen, dass Menschen, die an ein Weiterleben glauben, eine ganz andere Lebenseinstellung haben. Sie besitzen einen entschiedenen Sinn für persönliche Verantwortung und Ethik. Menschen, die nicht an ein Leben danach glauben, machen sich kaum Gedanken über die Konsequenzen ihres Tuns und schaffen eine Gesellschaft, die fast ausschließlich auf Kurzzeitergebnisse fixiert ist – und das ist es, was die Meister am meisten beunruhigt. Könnte darin nicht auch der tiefere Grund für die Brutalität und Oberflächlichkeit der Welt liegen, die wir uns geschaffen haben und in der wir jetzt leben – eine Welt, in der aufrichtiges Mitgefühl selten geworden ist?

Manchmal denke ich, dass die blühendsten und mächtigsten Länder der entwickelten Welt dem Wohnort der Götter gleichen, wie er in den buddhistischen Lehren beschrieben wird. Wie es heißt, leben die Götter in sagenhaftem Luxus, schwelgen in allen nur denkbaren Sinnesfreuden, ohne jemals auch nur einen einzigen Gedanken an die spirituelle Dimension des Lebens zu verschwenden. Alles scheint wunderbar, bis ihr Tod naht und unerwartete Zeichen von Verfall sichtbar werden. Dann wagen sich die Gefährtinnen und Liebhaber nicht mehr in ihre Nähe, sondern werfen aus der Entfernung Blumen auf sie, mit beiläufigen Gebeten, dass sie doch wieder als Götter geboren werden mögen. Keine Erinnerung an Glück oder Bequemlichkeit kann ihnen dann noch Schutz vor dem Leiden bieten, das ihnen bevorsteht – im Gegenteil, es macht alles nur noch grausamer. Die Götter sterben, von allen verlassen, einen einsamen, elenden Tod.

Das Schicksal der Götter erinnert an die Art, wie die Alten, Kranken und Sterbenden heutzutage behandelt werden. Unsere Gesellschaft ist jugend-, sex- und machtbesessen; Alter und Verfall werden einfach verdrängt. Ist es nicht erschreckend, dass wir alte Menschen fallen lassen, sobald sie »nutzlos« geworden sind, weil ihr Arbeitsleben beendet ist? Ist es nicht beunruhigend, dass wir sie in Altersheime verbannen, wo sie dann einsam und verlassen sterben?

Ist es nicht auch langsam an der Zeit, dass wir die Art und Weise überdenken, mit der wir Menschen mit tödlichen Krankheiten wie AIDS und Krebs nicht selten behandeln? Ich habe einige Menschen kennen gelernt, die an AIDS starben, und ich habe gesehen, wie sie selbst von ihren Freunden als Ausgestoßene behandelt wurden. Ich habe miterlebt, wie der Makel, der diesen Krankheiten anhaftet, sie hat verzweifeln lassen, weil die Welt ihnen das Gefühl gab, sie seien ekelhaft und ihr Leben eigentlich schon zu Ende.

Selbst wenn ein Mensch stirbt, den wir lieben, können wir häufig nicht helfen, weil wir einfach nicht wissen wie; und später, nach seinem Tod, bestärkt uns gewöhnlich kaum jemand darin, uns noch weiter gehende Gedanken um die Zukunft und ein eventuelles Fortdauern dieses Menschen zu machen oder gar Mittel und Wege zu suchen, wie wir ihm auch dann noch helfen können. Tatsächlich gibt man sich mit jedem Gedanken in diese Richtung dem Vorwurf der Unvernunft oder der Lächerlichkeit preis.

Dies alles führt uns mit schmerzlicher Klarheit vor Augen, dass wir dringend einen fundamentalen Wandel in unserer Einstellung zu Tod und Sterben herbeiführen müssen – heute mehr denn jemals zuvor. Glücklicherweise beginnen sich die Haltungen bereits zu verändern. Die Hospizbewegung zum Beispiel leistet hervorragende Arbeit in Bezug auf praktische und emotionale Unterstützung für Sterbende. Das allein ist allerdings noch nicht genug; sterbende Menschen brauchen zwar dringend Liebe und Fürsorge, aber das ist noch nicht alles. Sie müssen außerdem einen wirklichen Sinn im Tod und im Leben entdecken. Was sonst könnte ihnen wirklichen Trost geben? Wahre Hilfe für Sterbende muss daher immer auch das Angebot spiritueller Betreuung beinhalten, denn nur mit spirituellem Wissen können wir uns dem Tod wirklich stellen und ihn tatsächlich verstehen.

Die Art und Weise, wie das Thema Tod in den letzten Jahren von Pionieren wie Elisabeth Kübler-Ross und Raymond Moody im Westen offen angegangen wurde, hat mir Mut gemacht. Im Hinblick auf die Sterbebegleitung hat Elisabeth Kübler-Ross gezeigt, dass mit bedingungsloser Liebe und einer aufgeklärteren Vision Sterben eine friedvolle, ja verwandelnde Erfahrung sein kann. Die wissenschaftlichen Untersuchungen der verschiedenen Aspekte der Nahtod-Erfahrung, angeregt durch die mutige Arbeit von Raymond Moody, haben die Menschheit um die lebendige und starke Hoffnung bereichert, dass das Leben mit dem Tod nicht zu Ende ist, sondern dass es in der Tat ein »Leben nach dem Leben« gibt.

Einige Menschen haben allerdings die volle Bedeutung dieser Entdeckungen in Bezug auf Tod und Sterben nicht richtig verstanden. Dadurch kann es zu Extremen bis hin zu einer Verherrlichung des Todes kommen, und ich habe von tragischen Fällen gehört, in denen junge Menschen Selbstmord begingen, weil sie glaubten, der Tod sei etwas Wunderbares und ein Ausweg aus der bedrängenden Enge ihres Lebens. Ob wir den Tod nun fürchten und verdrängen oder ob wir ihn verklären – in beiden Fällen trivialisieren wir ihn. Sowohl Verzweiflung als auch Euphorie sind Ausflüchte. Der Tod ist weder deprimierend noch spannend, er ist einfach eine Tatsache des Lebens.

Es ist eine traurige Tatsache, dass die meisten von uns ihr Leben erst dann zu würdigen beginnen, wenn es ans Sterben geht. Ich muss häufig an die Worte des großen buddhistischen Meisters Padmasambhava denken: »Die, die glauben, sie hätten noch eine Menge Zeit, bereiten sich erst vor, wenn der Tod naht. Dann werden sie plötzlich von Reue überwältigt. Aber ist es dann nicht zu spät?« Ist es nicht ein äußerst beunruhigendes Zeichen, dass die meisten Menschen der modernen Welt dem Tod genauso unvorbereitet begegnen wie zuvor ihrem Leben?

Die Reise durch Leben und Tod

Nach der Lehre des Buddha können wir unser Leben jederzeit nutzen, um uns auf den Tod vorzubereiten. Wir müssen nicht erst warten, bis der schmerzliche Tod eines geliebten Menschen oder der Schock einer unheilbaren Krankheit uns zwingt, unser Leben näher anzuschauen. Auch sind wir nicht dazu verdammt, unvorbereitet in den Tod zu gehen und etwas völlig Unbekanntem zu begegnen. Wir können hier und jetzt anfangen, in unserem Leben Sinn zu finden. Wir können aus jedem Augenblick eine Gelegenheit machen, uns zu ändern und uns – mit friedvollem Geist und offenem Herzen – sorgfältig auf den Tod und die Ewigkeit vorzubereiten.

Der Buddhismus sieht Leben und Tod als eine Ganzheit, wobei der Tod ein neues Kapitel im Leben einleitet. Der Tod ist ein Spiegel, in dem der ganze Sinn des Lebens reflektiert wird. Diese Sicht steht im Mittelpunkt der ältesten Schule des tibetischen Buddhismus. Viele werden schon vom »Tibetischen Totenbuch« gehört haben. Ich möchte mit meinem Buch das »Tibetische Totenbuch« erläutern und es erweitern, indem ich neben dem Tod auch das Leben behandle und im Detail auf die ganze Lehre eingehe, von der das »Tibetische Totenbuch« nur ein Teil ist. Dieser wunderbare alte Lehrzyklus stellt uns die Ganzheit von Leben und Tod als eine Reihe andauernd sich verändernder Übergangsrealitäten vor, die »Bardos« genannt werden. Mit dem Wort »Bardo« wird gewöhnlich ein bestimmter Zwischenzustand bezeichnet, nämlich der Zeitraum, der zwischen Tod und Wiedergeburt liegt. In Wirklichkeit aber finden Bardos kontinuierlich sowohl im Leben als auch im Tod statt. Es sind Momente, in denen es eher als sonst möglich ist, zur Befreiung oder Erleuchtung zu gelangen.

Die Bardos sind besonders kraftvolle Gelegenheiten zur Befreiung, denn gewisse Momente, so sagen die Lehren, sind machtvoller als andere, mit viel mehr Potential aufgeladen, und was immer man dann tut, zeitigt starke und weit reichende Wirkungen. Ich stelle mir einen Bardo wie den Moment des Herantretens an einen Abgrund vor. In einem Augenblick von solcher Qualität würde zum Beispiel ein Meister seinen Schüler in die essentielle, ursprüngliche und innerste Natur seines Geistes einführen. Der mächtigste und energiegeladenste dieser Momente ist jedoch der Augenblick des Todes.

Vom tibetisch-buddhistischen Standpunkt lässt sich unsere ganze Existenz in vier kontinuierlich miteinander verbundene Realitäten einteilen: 1. Leben, 2. Sterben und Tod, 3. die Phase nach dem Tod und 4. Wiedergeburt. Sie sind als die vier Bardos bekannt: 1. der natürliche Bardo dieses Lebens, 2. der schmerzvolle Bardo des Sterbens, 3. der lichtvolle Bardo der Dharmatä und 4. der karmische Bardo des Werdens.

Wegen der ungeheuren und allumfassenden Tiefe der Bardo-Lehren wurde dieses Buch sehr sorgfältig gegliedert. Der Leser wird Stufe für Stufe durch die sich entfaltende Vision einer Reise durch Leben und Tod geleitet. Unsere Untersuchung beginnt notwendigerweise mit einem direkten Nachdenken über die Bedeutung des Todes und über die vielen Facetten der Wahrheit von der Vergänglichkeit. Diese Reflexionen befähigen uns, vollen Nutzen aus unserem Leben zu ziehen, solange wir noch Zeit haben; und sie führen dazu, dass wir sterben können, ohne Bedauern zu empfinden und ohne uns vorwerfen zu müssen, unser Leben verschwendet zu haben. Wie Tibets berühmter Heiliger und Poet Milarepa sagte: »Meine Religion ist es, ohne Bedauern zu leben – und zu sterben.«

Eine eingehende Kontemplation der verborgenen Botschaft der Vergänglichkeit – dessen also, was tatsächlich hinter Veränderung und Tod steht – führt uns direkt ins Herz der alten und machtvollen tibetischen Lehren: die Einführung in die essentielle »Natur des Geistes«. Die Natur des Geistes – wir könnten sie auch unser innerstes Wesen nennen – ist die Wahrheit, nach der wir alle suchen. Ihre Verwirklichung ist der Schlüssel zum Verständnis von Leben und Tod. Denn im Moment des Todes stirbt der gewöhnliche Geist mitsamt seinen Verblendungen, und in dieser Lücke enthüllt sich die grenzenlose, himmelsgleiche Natur des Geistes. Diese essentielle Natur ist der Hintergrund für die Gesamtheit von Leben und Tod – sie ist wie der Himmel, der das ganze Universum umfasst.

Die Lehren lassen keinen Zweifel: Wenn wir nur den groben Aspekt des Geistes kennen, der sich im Tod auflöst, bleiben wir ohne eine Vorstellung dessen, was weitergeht, ohne Wissen um die Dimension der tieferen Wirklichkeit der Natur des Geistes. Es ist daher wesentlich, uns mit dieser Natur vertraut zu machen, solange wir noch leben. Nur dann werden wir vorbereitet sein, wenn sie sich spontan und machtvoll im Moment des Todes enthüllt, und fähig sein, sie wiederzuerkennen, »so natürlich, wie ein Kind in die Arme seiner Mutter läuft« – und, in diesem Zustand verbleibend, endlich befreit zu sein.

Eine Beschreibung der Natur des Geistes führt uns dann ganz natürlich zu einer vollständigen Anleitung zur Meditation, denn Meditation ist der einzige Weg, wie wir die Natur des Geistes immer wieder neu entdecken und schrittweise stabilisieren können. Daran schließen sich Erklärungen zur Natur menschlicher Entwicklung, zu Wiedergeburt und Karma an, um dem Leser den umfassenden Sinnzusammenhang unserer Reise durch Leben und Tod deutlich zu machen.

An diesem Punkt wird der Leser bereits genug Verständnis erworben haben, um zuversichtlich zum eigentlichen Herzstück des Buches zu kommen: einer aus vielen Quellen zusammengestellten, umfassenden Darstellung der vier Bardos und der verschiedenen Stadien des Sterbevorganges und des Todes. Anweisungen, praktische Ratschläge und spirituelle Praktiken, die uns selbst und anderen helfen, durch Leben und Sterben, den Tod und die Erfahrungen nach dem Tode zu gehen, werden im Detail vorgestellt. Das Buch schließt mit einer Vision, wie die Bardo-Lehren uns helfen können, die tiefste Natur des menschlichen Geistes und des Universums zu begreifen.

Meine Schüler fragen mich häufig: Woher können wir wissen, was diese Bardos wirklich sind, und woher kommt die erstaunliche Präzision der Bardo-Lehren und ihr unglaublich klares Wissen um jeden Abschnitt des Sterbevorganges, des Todes und der Wiedergeburt? Die Antwort mag für viele Leser anfangs schwer nachzuvollziehen sein, weil die Vorstellung, die sich der Westen heute vom Geist macht, eine extrem begrenzte ist.

Ungeachtet großer Durchbrüche, die in den letzten Jahren vor allem auf den Gebieten der Wissenschaften, die sich mit dem Zusammenhang von Körper und Geist befassen, sowie im Bereich der transpersonalen Psychologie erzielt werden konnten, reduziert die Mehrzahl der Wissenschaftler den Geist noch immer auf physische beziehungsweise chemische Prozesse im Gehirn. Diese Ansicht widerspricht dem Zeugnis der Erfahrung von Heiligen und Mystikern aller Religionen seit tausenden von Jahren.

Aus welcher Quelle schöpfend und kraft welcher Autorität kann ein Buch wie dieses geschrieben werden? Die buddhistische »Wissenschaft vom Inneren« gründet, wie es ein amerikanischer Gelehrter ausdrückte, auf »einer genauen und umfassenden Kenntnis der Realität, auf einem bereits überprüften tiefen Verständnis des Selbst und der Umgebung, mit anderen Worten auf der vollständigen Erleuchtung des Buddha«.[8] Die Quelle der Bardo-Lehren ist der erleuchtete Geist, der vollkommen erwachte Buddha-Geist, erfahren, erläutert und übertragen durch eine lange Reihe von Meistern, die sich bis zum Ur-Buddha zurückerstreckt. Ihre sorgfältigen, genauen, man könnte fast sagen wissenschaftlichen Forschungen und Formulierungen dessen, was sie über den Geist durch viele Jahrhunderte hindurch herausgefunden haben, liefern uns eines der vollständigsten Bilder von Leben und Tod, die je entstanden sind. Inspiriert durch Jamyang Khyentse und meine anderen großen Meister, möchte ich den Versuch wagen, dieses vollständige Bild nun dem Westen zu vermitteln.

Während vieler Jahre der Kontemplation, des Lehrens und Praktizierens sowie der Klärung vieler Fragen mit meinen Meistern habe ich dieses Buch als Quintessenz der Herzensanweisungen all meiner Meister, als ein neues Tibetisches Buch des Todes und ein Tibetisches Buch des Lebens geschrieben.

Ich wünsche mir, dass es ein Handbuch wird, ein Führer, ein Nachschlagewerk und eine Quelle der Inspiration. Ich möchte allen Lesern den Rat geben, dieses Buch wieder und wieder zu lesen und es auf sich wirken zu lassen; nur auf diese Weise können seine vielen Bedeutungsebenen ausgelotet werden. Je mehr man es benutzt, desto tiefer werden seine Wirkungen spürbar und desto klarer wird die Tiefe der Weisheit, die durch diese Lehren übertragen wird.

Die Bardo-Lehren zeigen uns deutlich, was geschieht, wenn wir uns auf den Tod vorbereiten, und welche Folgen es hat, wenn wir es versäumen. Die Alternativen könnten klarer nicht sein. Wenn wir uns weigern, den Tod zu akzeptieren, solange wir noch am Leben sind, werden wir in diesem Leben, im Tod und danach einen hohen Preis zahlen müssen. Die Folgen einer solchen Weigerung werden sowohl dieses als auch kommende Leben ihres Sinns berauben. Wir werden nicht in der Lage sein, unser Leben voll und ganz zu leben, weil wir in dem Aspekt von uns gefangen bleiben, der sterben muss. Diese Ignoranz wird uns die Grundlage für unseren weiteren Weg zur Erleuchtung entziehen und uns endlos an den Bereich der Illusion fesseln, den unkontrollierten Kreislauf von Geburt und Tod, den Ozean des Leidens, den die Buddhisten Samsāra[9] nennen.

Die grundlegende Botschaft der buddhistischen Lehren lautet jedoch: Wenn wir vorbereitet sind, liegt überwältigende Hoffnung sowohl im Leben als auch im Tod. Die Lehren enthüllen uns die Möglichkeit einer gewaltigen und letztlich grenzenlosen Freiheit. Es liegt an uns, hier und jetzt – in unserem Leben – nach dieser Freiheit zu streben. Sie wird es uns ermöglichen, Selbstbestimmung in unserem Tod und weiterhin auch in unserer Geburt zu verwirklichen. Für jemanden, der praktiziert und sich vorbereitet hat, kommt der Tod nicht als Niederlage, sondern als Triumph – als glorreichster Augenblick und Krönung des Lebens.

2.Vergänglichkeit

Der Tod lauert auf uns an allen Ecken. Wir mögen unseren Blick ohn’ Unterlass hierhin wenden und dorthin, wie in einem verdächtigen Lande … Wäre es denn möglich, dass man sich der Gedanken an den Tod entschlagen kann und dass es nicht alle Augenblicke scheinen, als habe er uns beim Kragen gepackt … so bin ich der Mann nicht, der sich lange bedenken würde … Aber Torheit wär’s zu denken, damit frei durchzukommen! Man geht, man kommt, man springt, man tanzt, vom Tode hört man kein Wort. Alles recht gut! Aber kommt er dann auch zu ihnen selbst oder zu ihren Weibern, Kindern und Freunden und überrascht sie unter welcher Gestalt er mag, was setzt es da nicht für Not und Elend, was für ein Geheule, was für Wut, welche Verzweiflung! …

Um damit anzufangen, ihm seinen großen Vorteil über uns abzugewinnen, müssen wir eine der gewöhnlichen ganz entgegengesetzte Methode einschlagen. Benehmen wir ihm das Fremde, machen wir seine Bekanntschaft, halten wir mit ihm Umgang und lassen uns nichts so oft in Gedanken vorbeieilen als den Tod … Es ist ungewiss, wo uns der Tod erwartet; erwarten wir ihn also allenthalben! Sinnen auf den Tod ist sinnen auf Freiheit. Wer sterben gelernt hat, ist kein Sklave mehr.

Montaigne[10]

Warum ist es so ungeheuer schwierig, den Tod und die Freiheit zu üben? Und warum eigentlich haben wir eine derartige Angst vor dem Tod, dass wir uns weigern, uns überhaupt mit ihm zu befassen? Irgendwo tief innen wissen wir, dass wir der Begegnung mit dem Tod nicht ständig ausweichen können. Wir wissen, um mit Milarepa zu sprechen: »Dies Ding, das wir Leichnam nennen und so sehr fürchten, lebt mit uns hier und jetzt.« Je länger wir die Konfrontation mit dem Tod hinausschieben, je mehr wir ihn ignorieren, desto größer werden die Angst und Unsicherheit, die uns heimsuchen. Je mehr wir versuchen, vor dieser Angst zu fliehen, desto überwältigender wird sie.

Der Tod ist ein tiefes Geheimnis; zwei Dinge können wir aber über ihn sagen: Es ist absolut gewiss, dass wir sterben werden, und es ist unsicher, wann oder wie wir sterben werden. Die einzige Sicherheit, die wir also haben, ist die Unsicherheit bezüglich unserer Todesstunde. Das ist unsere Ausrede, um die direkte Auseinandersetzung mit dem Tod aufzuschieben. Wir sind wie Kinder, die sich beim Versteckspielen die Augen zuhalten und glauben, niemand könne sie sehen.

Warum leben wir in solch panischer Angst vor dem Tod? Weil es unser instinktives Verlangen ist, zu leben und am Leben zu bleiben, und weil wir den Tod für das grausame Ende all dessen halten, was uns so vertraut ist. Wir ahnen, dass wir in etwas gänzlich Unbekanntes gestoßen werden und uns völlig verändern, wenn wir sterben. Wir stellen uns vor, dass wir uns verloren und verwirrt an erschreckend unbekannten Orten wiederfinden. Wir malen uns aus, es sei wie das Aufwachen in einem völlig fremden Land, allein und gequält von Angst; wir kennen weder das Land noch die Sprache, wir haben kein Geld, keine Kontakte, keinen Ausweis und keine Freunde …

Vielleicht ist aber die eigentliche Ursache unserer Angst die Tatsache, dass wir nicht wissen, wer wir wirklich sind. Wir glauben an eine persönliche, einzigartige und unabhängige Identität. Wagen wir es aber, diese Identität zu untersuchen, dann finden wir heraus, dass sie völlig abhängig ist von einer endlosen Reihe von Dingen: von unserem Namen, unserer »Biographie«, von Partner, Familie, Heim, Beruf, Freunden, Kreditkarten … Auf diese brüchigen und vergänglichen Stützen bauen wir unsere Sicherheit. Wenn uns all das genommen würde, wüssten wir dann noch, wer wir wirklich sind?

Ohne diese vertrauten Requisiten sind wir nur noch wir selbst: eine Person, die wir nicht kennen, ein verdächtiger Fremdling, mit dem wir zwar schon die ganze Zeit zusammenleben, dem wir aber nie zu begegnen wagten. Haben wir nicht aus eben diesem Grund versucht, jeden Augenblick unserer Zeit mit Lärm und Aktivität zu füllen – egal wie trivial oder öde –, um sicherzustellen, dass wir nur ja niemals mit diesem Fremden in der Stille allein sein müssen?

Deutet das nicht auf etwas grundlegend Tragisches in unserer Art zu leben hin? Wir leben in einer neurotischen Märchenwelt unter einer angenommenen Identität, die nicht wirklicher ist als die Ersatz-Schildkröte aus Alice im Wunderland. Fasziniert vom Abenteuer des Bauens haben wir das Haus unseres Lebens auf Sand errichtet. Diese Welt kann wunderbar überzeugend scheinen, bis der Tod die Illusion zerschlägt und uns aus unseren Schlupflöchern treibt. Was wird dann aus uns werden, wenn wir keine Ahnung von einer tieferen Wirklichkeit haben?

Wenn wir sterben, lassen wir alles zurück, vor allem unseren Körper, den wir so sehr geschätzt haben, auf den wir uns blind verlassen haben und den wir so angestrengt am Leben zu halten versucht haben. Aber auch unser Geist ist um keine Spur verlässlicher als unser Körper. Schauen Sie sich Ihren Geist einmal für nur wenige Minuten an. Sie werden sehen, er ist wie ein Floh: andauernd hüpft er hin und her. Sie werden herausfinden, dass Gedanken ohne jede Ursache erscheinen und ohne Verbindung sind. Mitgerissen vom Chaos des jeweiligen Augenblicks sind wir das Opfer der Unbeständigkeit unseres Geistes. Wenn das der einzige Bewusstseinszustand ist, den wir kennen, dann wäre es ein absurdes Glücksspiel, uns im Augenblick des Todes auf diesen Geist verlassen zu wollen.

Die große Täuschung

Die Geburt des Menschen ist die Geburt seiner Not. Je länger er lebt, desto törichter wird er, denn immer drängender wird sein ängstliches Bemühen, dem unvermeidlichen Tod zu entweichen. Wie bitter das ist! Er lebt im Streben nach dem, was immer außer Reichweite bleibt! Sein Durst nach Überleben in der Zukunft macht ihn unfähig, in der Gegenwart zu leben.

Chuang-tzu

Nach dem Tod meines Meisters kam ich in den Genuss einer engen Verbindung mit Dudjom Rinpoche, einem der bedeutendsten zeitgenössischen Meditationsmeister, Mystiker und Yogis. Eines Tages fuhr er mit seiner Frau durch Frankreich, und sie bewunderten die Landschaft. Als sie an einem lang gezogenen Friedhof vorbeikamen, auf dem alles frisch gestrichen und mit Blumen geschmückt war, sagte Dudjom Rinpoches Frau: »Rinpoche, sieh doch nur, wie hier im Westen alles so adrett und sauber ist. Selbst die Orte, wo sie die Leichen aufbewahren, sind makellos. In Asien sind selbst die Wohnhäuser oft nicht annähernd so sauber.«

»Ach ja«, antwortete er, »dies ist ein wirklich zivilisiertes Land. Selbst für die Körper der Toten haben sie wunderbare Häuser. Aber ist dir noch nicht aufgefallen, dass auch in ihren anderen schönen Häusern oft nur lebende Leichname wohnen?«

Immer wenn mir diese Geschichte in den Sinn kommt, muss ich daran denken, wie hohl und fruchtlos das Leben sein kann, wenn es auf den falschen Glauben an Kontinuität und Dauerhaftigkeit gegründet ist. Wenn wir auf diese Weise leben, dann werden wir, wie Dudjom Rinpoche es ausdrückte, unbewusst – lebende Leichname.

Wir Menschen leben oft sehr oberflächlich, wie nach einem vorbestimmten Plan. Unsere Jugend verbringen wir mit Ausbildung; dann finden wir einen Job, begegnen jemandem, heiraten und haben Kinder. Wir bauen oder kaufen uns ein Haus, versuchen Karriere zu machen, träumen von einem Haus auf dem Land oder von einem Zweitwagen. Wir fahren mit unseren Freunden in Urlaub. Wir machen Pläne für die Zeit, wenn wir in Rente gehen. Das größte Dilemma, mit dem wir uns konfrontiert sehen, besteht aus Fragen wie »Wohin fahren wir im nächsten Urlaub?« oder »Wen laden wir zu Weihnachten ein?«. Unser Leben ist monoton und belanglos, verschwendet in Trivialitäten, weil wir nichts Besseres zu kennen scheinen.

Unser Leben ist so hektisch, dass ein Nachdenken über den Tod das Letzte ist, wofür wir Zeit haben. Wir ersticken unsere geheime Angst vor Vergänglichkeit, indem wir uns mit immer mehr Gütern umgeben, mit immer mehr Dingen, mit immer mehr Bequemlichkeit, bis wir schließlich zu Sklaven all dieser Umstände werden. Unsere gesamte Zeit und Energie erschöpfen sich in ihrem Unterhalt. Schon bald besteht unser einziges Lebensziel darin, alles so sicher und überschaubar wie nur möglich zu halten. Wenn Veränderungen eintreten, finden wir als Gegenmittel ganz schnell schlaue, kurzfristige Lösungen. Und so geht unser Leben dahin, bis uns eine schwere Krankheit oder ein Schicksalsschlag aus unserer Betäubung reißt.

Es ist nun aber nicht etwa so, dass wir nur den Tod ignorieren, der Gestaltung unseres Leben hingegen viel mehr Zeit und ernsthafte Gedanken widmen würden. Man denke nur an die Menschen, die ein ganzes Leben lang arbeiten, dann in den Ruhestand versetzt werden und nun, da sie alt geworden sind und dem Tod entgegensehen, nichts mit sich anzufangen wissen. Obwohl wir dauernd tönen, wie wichtig es sei, praktisch zu denken, bedeutet »praktisch denken« im Westen oft nichts anderes als sich ignorant und – oft genug – auf selbstsüchtige Weise kurzsichtig zu verhalten. Diese engstirnige Ausrichtung auf nichts anderes als dieses Leben ist die große Täuschung; sie ist die Quelle für den menschenverachtenden und zerstörerischen Materialismus der modernen Welt. Niemand spricht über den Tod, und niemand spricht über das Leben danach, weil wir in dem Glauben erzogen werden, dass solches Gerede nur unser so genanntes »Vorankommen« in der Welt behindern würde.