Das Tosen der Wellen - A.S. Opiolka - E-Book

Das Tosen der Wellen E-Book

A.S. Opiolka

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Beschreibung

"Wie entschuldigte man sich bei jemandem, dem man ganze Sommer zur Hölle gemacht hatte?" Jahrelang hat Nicklas auf seinen Vater gehört. Jahrelang hielt er seine Worte für bare Münze. Nur für ihn stieß er seinen besten Freund aus Kindertagen nach dessen Outing als trans von sich. Und nur für ihn verschloss er sich vor der Welt mit all ihren Farben. Doch als seine Eltern sich scheiden lassen und er mit seiner Mutter fortzieht, lernt er Jessie kennen. Jessie ist nicht-binär. Und obwohl Nicklas zunächst an den Überzeugungen seines Vaters festhält, möchte Jessie ihm helfen, sich eine eigene Meinung zu bilden. Dey führt ihn in deren Freundeskreis ein, in dem Nicklas mit der Zeit lernt, wie schön es sein kann, queer zu sein. Und dann ist da noch Sascha. Der Skater mit den pinken Haaren, der in einer Punk-Band singt und Nicklas' Herz ordentlich aus dem Takt bringt.

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Seitenzahl: 409

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Wichtig:

Jessie ist nicht-binär und verwendet die Neo-Pronomen dey/deren. Wie diese im Sprachfluss genutzt werden, zeigt die Tabelle auf Seite 285.

Triggerwarnung

Liebe Leser:innen, dieser Roman enthält einige wenige Elemente, die eine Belastung darstellen könnten. Ihr könnt sie auf Seite 286 finden.

Wir wünschen allen ein bestmögliches Leseerlebnis und viel Spaß

mit dem folgenden Roman!

© A. S. Opiolka

Über die Autorin

A. S. Opiolka ist in Duisburg geboren und aufgewachsen, bevor sie dann für ihr Psychologie-Studium nach Bonn zog. Am liebsten schreibt sie daheim bei ihren Eltern im Garten, wobei Musik und eine große Tasse Tee nicht fehlen dürfen. Und wenn sie gerade einmal nicht an einem Manuskript arbeitet, verbringt sie die meiste Zeit in der Natur, wo sie auf ausgedehnten Spaziergängen zahlreiche neue Ideen findet.

Bereits erschienene Titel

Band 1: Das Salz der Meere

WREADERS E-BOOK

Band 278

Dieser Titel ist auch als Taschenbuch erschienen

Vollständige E-Book-Ausgabe

Copyright © 2025 by Wreaders Verlag, Sassenberg

Verlagsleitung: Lena Weinert

Bestellung und Vertrieb: epubli, Neopubli GmbH, Berlin

Umschlaggestaltung: Mo Weinert

Lektorat: Anna Zauner

Korrektorat: Kristina Butz

Satz: Elci J. Sagittarius

www.wreaders.de

Für die Magie des Herbstes.

Playlist

Du bist mein Sommer – Roger Cicero

Where Are You Now – Lost Frequencies, Calum Scott

3 Tage am Meer – AnnenMayKantereit

Dancing in the Moonlight – Toploader

Cure For Me – AURORA

Alone In A Room – Asking Alexandria

Rebel Love Song – Black Veil Brides

Ballad Of The Lonely Hearts – Black Veil Brides

Bohemian Rhapsody – Queen

Dancing Queen – ABBA

Shake It Off – Taylor Swift

Our Destiny – Black Veil Brides

Dying In A Hot Tub – Palaye Royale

Complicated – Avril Lavigne

Anti-Hero – Taylor Swift

Walking On Sunshine – Katrina & The Waves

Chemical – Post Malone

Still into You – Paramore

Days Are Numbered – Black Veil Brides

Someone, Somewhere – Asking Alexandria

I See You – MISSIO

Jackie And Wilson – Hozier

Sharp Edges – Linkin Park

Kein Mitspracherecht

Ein letztes Mal ließ ich meinen Blick durch das Zimmer schweifen. Kahle Wände, abgeschliffener Boden. Keine Vorhänge vor den Fenstern, keine Möbel. Einzig die bis zum Bersten gefüllte Sporttasche zu meinen Füßen war übrig geblieben.

»Kommst du?« Die Stimme meiner Mutter hallte in der leeren Wohnung. Ich konnte genau hören, wie sie im Flur erwartungsvoll mit den Autoschlüsseln klimperte.

»Eine Sekunde«, rief ich ihr zu und bückte mich nach meiner Sporttasche. Ich hielt inne. Es fühlte sich falsch an, dieses Zimmer einfach so zurückzulassen. Ganz ohne eine Spur von mir und all den Jahren, die ich hier gelebt hatte. Meine Finger tasteten nach dem Seitenfach meiner Reisetasche. Ehe ich mich versah, hielt ich meinen Schlüsselbund in der Hand. Das Klimpern des Metalls durchbrach die Stille im Raum.

Ich nahm meinen alten Haustürschlüssel – immerhin würde ich diesen zukünftig sowieso nicht mehr brauchen – und machte mich daran, meine Initialen in den Boden zu ritzen. Direkt in der Mitte des Raumes. Offen für jedermann sichtbar. Der Schlüssel kratzte über den Stein, der zum Vorschein gekommen war, als wir meinen alten Teppich herausgerissen hatten. Ich lächelte grimmig, während ich mein Werk betrachtete. N. K. Nicklas Küppers. Das hier war mein Zimmer. Mein Zuhause! Und so würde ich wenigstens eine letzte Erinnerung an mich selbst in diesen vier Wänden zurücklassen.

»Jetzt mach schon. Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit!«, rief meine Mutter. Nun klang sie schon um einiges ungehaltener.

Ich straffte die Schultern, ehe ich den Schlüssel wieder in seinem Fach verstaute und aufstand. Entschlossen hob ich die Tasche zu meinen Füßen auf. Ohne mich noch einmal umzudrehen, verließ ich den einst so vertrauten Raum.

Die Zimmertür fiel mit einem lauten Knall ins Schloss. Ich ignorierte den warnenden Blick meiner Mutter und stiefelte an ihr vorbei durch den Flur, aus dem Haus und zum Auto. Die schwarze Karosserie glänzte in der Sonne. Ich verfluchte meine Mutter dafür, sich nicht doch noch vor dem Umzug um einen Termin in der Werkstatt gekümmert zu haben. Ohne Klimaanlage würden das lange vier Stunden Fahrt werden.

Ich öffnete die Tür zur Rückbank, nur um festzustellen, dass beide Sitze zugestellt waren mit Reisetaschen, Snacks, Jacken und anderem Kleinscheiß. War ja klar!

»Scheint, als müsstest du mit meiner Wenigkeit vorliebnehmen, Nicki«, sagte meine Mutter grinsend. Sie stieg mit einem fröhlichen Pfeifen ein. Ich verdrehte meine Augen über den Spitznamen. Lange vier Stunden!

Ich warf meine Sporttasche auf einen Stapel Jacken, bevor ich die Autotür mit einem Scheppern zuschmiss.

»Hey«, hörte ich den entrüsteten Protest meiner Mutter durch ihr bereits heruntergekurbeltes Fenster. »Das Auto kann nichts für deine schlechte Laune!«

»Ist ja gut«, grummelte ich, während ich mich neben sie auf den Beifahrerplatz setzte.

»Hast du alles?«, fragte sie in versöhnlicherem Tonfall.

Ich nickte.

»Sicher? Nichts im Zimmer vergessen?«, hakte sie nach. »Da bin ich nicht noch mal durch, das liegt also in deiner Verantwortung.«

Ein erneutes Nicken meinerseits.

»Warst du auf dem Klo? Hast noch was gegessen? Genug getrunken?« Sie ließ nicht locker.

»Ja, verdammt, hab ich! Können wir einfach losfahren und diese Scheißfahrt hinter uns bringen?«, fuhr ich sie an. Noch im selben Moment machte ich mich auf eine Standpauke gefasst.

Doch meine Mutter seufzte bloß. Sie ließ den Motor an. »Versuch wenigstens, dem Ganzen eine Chance zu geben, Nicki«, bat sie mich.

»Nenn mich nicht so«, giftete ich.

»Oh, entschuldigen Sie bitte, der feine Herr. Ich meinte natürlich Nicklas. Welch unverzeihlicher Fehler von mir.« Feixend sah sie zu mir.

Ich spürte, wie sich meine Fingernägel in meine Handflächen bohrten, und zwang mich, ruhig zu atmen.

Das Lächeln verschwand aus ihrem Gesicht. Mit einem Seufzen lenkte sie den Wagen aus der Einfahrt heraus und auf die Straße.

Die Stille zwischen uns dehnte sich aus, wurde nur unterbrochen vom Pfeifen des Fahrtwindes, der durch die geöffneten Fenster ins Auto drang und ihre blonden Haare zerzauste. Ihre Finger tippten unruhig auf dem Lenkrad herum, flogen schließlich zur Mittelkonsole.

Musik tönte durch den Wagen. Die Schultern meiner Mutter entspannten sich langsam. Ich verdrehte abermals die Augen, als ihre Finger begannen, im Rhythmus der fröhlichen Melodie auf das Lenkrad zu trommeln. Gut gelaunt pfiff sie mit. Schon bald erfüllte ihr Gesang das Auto. Roger Cicero – Du bist mein Sommer. Ich war nicht überrascht, dass sie bereits vor Beginn der Fahrt eine ihrer geliebten CDs eingelegt hatte.

Für eine Sekunde fragte ich mich, wie sie in Anbetracht der aktuellen Situation derart fröhlich Liebeslieder schmettern konnte. Doch dann verbot ich mir jeglichen weiteren Gedanken an die Scheidung und die Tatsache, dass meine Mutter drauf und dran war, mich ans andere Ende des Landes zu verfrachten, während mein Vater sich daheim ein neues Leben aufbaute.

Du weißt, wie stressig es gerade in der Firma ist. Der neue Kunde ist echt ein dicker Fang. Aber ich melde mich, sobald du mich besuchen kannst. Pass nur auf, dass du mir in der Zeit nicht verweichlichst.

Seine Stimme hallte in meinem Kopf nach. Für einen Moment spürte ich den festen Druck seiner Hand auf meiner Schulter. Hätte ich wählen können, wäre ich vermutlich bei ihm geblieben. Aber ich hatte kein Mitspracherecht gehabt. Ich wusste bloß, dass ich meinen Vater, meine Freunde und meine Heimat verlassen musste, um mit meiner Mutter in die Stadt zu ziehen, in der sie aufgewachsen war.

Meine Mutter löste eine Hand vom Steuer, um im Takt zu schnipsen, und riss mich damit aus meinen missmutigen Gedanken. Entschlossen griff ich nach hinten auf die Rückbank, wo ich in meiner Sporttasche nach meinen Kopfhörern fummelte. Ich öffnete Spotify und steckte mir die Kopfhörer in die Ohren. Harter Rap erklang. Die schnellen Texte und Rhythmen übertönten meine Gedanken, brachten das Chaos in meinem Kopf zum Verstummen.

Meine Lippen flogen tonlos über die Zeilen. Ein Blick zur Seite verriet mir, dass meine Mutter in der Zwischenzeit ihre Sonnenbrille aufgesetzt hatte. Sie pfiff eine Melodie, die ich nicht hören konnte. Als sie sich kurz zu mir drehte, wandte ich mich eilig von ihr ab.

Ich sah aus dem Fenster. Schallschutzmauern, Felder, Raststätten. Jeder Kilometer sorgte dafür, dass wir uns weiter von zu Hause entfernten. Ich dachte an die Freunde, die ich zurückließ. An all die Mittagspausen, die wir zusammen verbracht hatten.

Pass bloß auf, dass du mir in der Zeit nicht verweichlichst, hallte die Stimme meines Vaters abermals in mir nach. Ich kämpfte gegen den Kloß an, der sich in meiner Kehle bildete. Entschieden schloss ich die Augen, lehnte meinen Kopf an die Scheibe. Ich konzentrierte mich auf die Musik in meinen Ohren. Heulen brachte mich auch nicht weiter! Wenn mein Vater wüsste, wie sehr ich mich hier anstellte, würde er mich vermutlich auslachen und für mindestens zehn Runden um den Platz jagen.

Laufen. Genau das sollte ich tun, sobald wir ankamen. Laufen und vergessen, was ich hinter mir ließ. Stark bleiben, Anschluss finden, mich einem neuen Team anschließen. Wettkämpfe laufen, Pokale gewinnen, meinen Vater stolz machen. So wie ich es immer getan hatte. Immerhin war ich sein Sohn und kein flennendes Weichei!

Pinke haare

Willkommen am linken Niederrhein.« Meine Mutter schlug die Autotür hinter sich zu. Sie breitete die Arme aus. Ich musterte die Straße, blinzelte gegen die gleißende Augustsonne an. Schmale Bürgersteige, ausladende Vorgärten. Vereinzelte Autos parkten am Straßenrand, saugten die Hitze der Luft begierig in sich auf. Ich schaute zu meiner Mutter, deren leichter Cardigan sanft im Sommerwind flatterte. Dann die Straße rauf und wieder runter. Keine einzige Menschenseele war zu sehen. Es schien, als hätte sie mich buchstäblich dorthin gebracht, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagten.

Ich wusste ja, dass sie auf dem Dorf groß geworden war, aber das überstieg dann doch meine schlimmsten Albträume. Hoffentlich hatte die Schule wenigstens eine Laufmannschaft, sonst könnte ich den Vorsatz, ein neues Team zu finden, direkt über Bord werfen.

»Fantastisch.« Ich löste meinen Blick von den verwaisten Bürgersteigen und öffnete die Hintertür des Autos, um die Sporttasche vom Rücksitz zu nehmen.

»Warte ab, bis du dein neues Zimmer siehst. Hast sogar mehr Platz als in deinem alten«, versuchte meine Mutter, mich aufzumuntern. Sie nickte in Richtung Häuserfront. »Nummer 52«, ließ sie mich wissen.

Ich schlurfte ihr voran über den Bürgersteig. Der Vorgarten des Hauses bestand aus einer fein säuberlich geschnittenen Rasenfläche, durch die sich ein kleiner Steinpfad zur Tür wand. Links neben dem Weg stand ein großer Kübel voll bunter Blumen. Unter dem Fenster neben der Haustür befand sich eine grün lackierte Holzbank. Der kleine Gartenzwerg zu Füßen der Bank ließ mich leise aufstöhnen. War ja klar, dass meine Mutter das Haus geil fand.

»Süß, oder?« Mit einem Grinsen schob sie sich an mir vorbei, um die Tür aufzuschließen. »Kathie und ich haben die letzten Wochen eigentlich schon alles fertig gemacht. Wäre aber super, wenn du mir noch helfen könntest, die Sachen aus dem Auto zu holen«, bat sie mich. »Und du müsstest dich natürlich um dein Zimmer kümmern. Möbel stehen schon drin, aber dein Zeug hab ich nicht angerührt.«

Abwartend sah sie mich an. Ich nickte langsam, um ihr zu signalisieren, dass ich zugehört hatte. Doch ihre Augen verharrten auf mir.

»Was denn noch?«, fragte ich ungehalten.

»Willst du dich nicht umsehen?« Sie brodelte nahezu vor erwartungsvoller Energie.

»Eigentlich wollte ich laufen gehen«, sagte ich, stellte die Sporttasche auf der Schwelle ab und setzte mich auf die Stufe vor dem Haus.

»Bist du nicht neugierig?« Die Enttäuschung in ihrer Stimme war nur allzu deutlich zu hören.

»Hab doch Fotos gesehen.« Ich kramte meine Laufschuhe aus der Tasche. Mit routinierten Griffen zog ich sie an.

»Und was ist mit den Sachen im Auto?«

»Laufen«, gab ich zurück.

»Nicki«, setzte meine Mutter an. Als ich ihr einen finsteren Blick zuwarf, ruderte sie eilig zurück. »Nicklas, bitte.«

»Frag doch Tante Katharina, ob sie dir hilft. Immerhin war der Scheiß hier ihre Idee«, fuhr ich sie wütend an.

»Das ist nicht fair, Nicklas.«

»Komm mir bloß nicht mit Fairness«, stieß ich hervor, überprüfte den Sitz meiner Schuhe und stand auf. »Wir sehen uns.«

»Sicher, dass du bei der Hitze laufen willst?«, rief sie mir hinterher. »Du weißt genau, dass das gefährlich werden kann!«

Ich verdrehte meine Augen. Sie hatte doch keine Ahnung! Ohne auch nur einen Blick zurückzuwerfen, lief ich los. Im Laufen startete ich den Fitnesstracker in meinem Handy, bevor ich mein Tempo steigerte. Die Sohlen meiner Schuhe trafen in regelmäßigem Rhythmus auf den Asphalt. Ich lief die Straße hinunter, bis ich an eine Abzweigung kam. Es gab einen Wegweiser, der nach links in Richtung Ortskern/Promenade und nach rechts in Richtung Rheinaue/Damm deutete. Ich bog rechts ab, folgte der schmaler werdenden Straße, die aus dem Ort hinaus und hinein in die Felder führte. Ohne weiter nachzudenken, bog ich in einen der zahlreichen Feldwege ein.

Die Sonne schien erbarmungslos auf mich herab. Ich war froh, heute Morgen bloß eine Shorts und ein Tanktop angezogen zu haben. Ich lief Minute um Minute, ließ Meter um Meter hinter mir. Mit einem Mal konnte ich am Horizont einen Damm erkennen. Dahinter musste der Rhein liegen, der Wegweiser hatte also nicht gelogen. Ich lief locker weiter. Schließlich erreichte ich das Ende des Feldes. Ein schmaler Weg führte hoch auf den Damm.

Oben angekommen konnte ich tatsächlich den Rhein sehen. Mit sichtbarer Kraft flossen die Wassermassen flussabwärts, während die Wiesen direkt hinter dem Damm sowie der schmale Streifen Strand am Ufer von zahlreichen Familien zum Picknicken und Ballspielen genutzt wurden. Auch auf dem Damm waren einige Menschen unterwegs. Bänke gaben in regelmäßigen Abständen die Möglichkeit zum Ausruhen. Kinder liefen lachend über den breiten Fußgängerweg.

In der Hoffnung, an der Promenade anzukommen, wenn ich dem Weg hier oben nur lange genug folgte, wandte ich mich erneut nach rechts. In gemäßigtem Tempo joggte ich zwischen den anderen Besuchern hindurch. Ich wich zahlreichen Skatern aus und fragte mich instinktiv, ob es in der Nähe einen Skatepark oder so etwas gab. Ich nahm mir vor, die nächsten Male am frühen Morgen oder später am Abend laufen zu gehen, wenn es hoffentlich nicht so voll war. Und nicht so heiß. Ich wischte mir den Schweiß von der Stirn und verfluchte die Tatsache, dass meine Mutter recht gehabt hatte.

»Achtung!« Ein Skater fuhr haarscharf an mir vorbei. Er rempelte mich an der Schulter an. Ich kam aus dem Takt.

»Pass doch auf, Alter«, rief ich, während ich mich wieder fing. Fluchend blieb ich stehen und sah dem Skater nach, der im Weiterfahren entschuldigend die Hand hob. Pinke Haare und ein locker sitzendes Shirt. Mehr konnte ich nicht erkennen, da war er auch schon in der Ferne verschwunden. Was für ein Freak! Konnte der Arsch nicht aufpassen?

Missmutig setzte ich meinen Lauf fort. Schließlich erreichte ich die Rheinpromenade. Der Strand und die Wiesen hinter dem Deich waren immer weiter geschrumpft, wodurch die alte Stadtmauer hier direkt am Fluss entlang verlief. Sie war ausgebaut worden, sodass man oben entlanggehen konnte und so die etwas höher gelegene Promenade erreichte, auf der sich zahlreiche Eisdielen und Restaurants aneinanderreihten. Ich lief die Treppe der Wehrmauer hoch und verlangsamte mein Tempo.

Ich ging über die Promenade. An ihrem Ende fand ich den bereits vermuteten Skatepark. Halfpipes, Rampen und eine große, glatt betonierte Fläche. Zahlreiche Grüppchen hatten sich versammelt, Hip-Hop-Tracks erklangen aus Boxen, vermischten sich in der Luft mit dem Lachen und Rufen der Skater. Bei einer der Gruppen erkannte ich einen Schopf pinker Haare – der Typ, der mich angerempelt hatte. Ich verdrehte die Augen, als er vor seinen Freunden einen Trick aufführte und ihren Applaus erntete. Was für ein Poser!

Ich schlug den Weg zwischen der letzten Eisdiele und dem Skatepark ein, um zum Ortskern und von dort aus in meine neue Nachbarschaft zurückzukehren.

»Hey, Läufer.« Ich hatte gerade die Hälfte des Parks passiert, da hörte ich eine vage vertraute Stimme. Ich blickte auf. Der pinkhaarige Skater winkte mir fröhlich zu. »Sorry fürs Anrempeln«, brüllte er mir über die Musik und den Lärm des Platzes zu. Er salutierte scherzhaft. Lächerlich!

Mein Blick verdüsterte sich. Kurzerhand zeigte ich ihm den Mittelfinger, bevor ich mein Tempo anzog. In Rekordzeit legte ich den Rest des Weges zurück.

Ich bog in die Straße meines neuen Zuhauses ein und erreichte die Nummer 52. Als ich den dunkelblauen Ford direkt hinter unserem Wagen sah, wäre ich am liebsten direkt wieder umgekehrt. Natürlich war Tante Katharina da. Wie sollte es auch anders sein? Ich atmete einmal tief durch, holte mein Handy hervor, speicherte die Ergebnisse des heutigen Laufes und klingelte.

»Ich hoffe, du hast vor, dich bei meiner Schwester zu entschuldigen«, begrüßte meine Tante mich.

Ich schob mich kommentarlos an ihr vorbei. Achtlos pfefferte ich meine Laufschuhe in die Ecke neben der Tür.

»Wo ist mein Zimmer?«, fragte ich.

»Wie wäre es erst mal mit einer Begrüßung?«, verlangte Tante Katharina.

Ich zwang mich, nicht mit den Augen zu rollen. »Mein Zimmer?«

»Es reicht«, zischte meine Tante. »Mir ist egal, was deine Mutter dir alles hat durchgehen lassen, aber du wirst mir und vor allem ihr ein bisschen mehr Respekt zollen. Wir wissen alle, dass du den Umzug blöd findest, aber du bist nicht der Einzige, der sein altes Leben hinter sich lassen musste. Denk nur an deine arme Mutter. Wie sehr sie unter der Scheidung gelitten hat.«

»Ja, genau.« Jetzt verdrehte ich doch die Augen. »Ich bin mir sicher, sie leidet ganz schrecklich darunter, dass sie ihren fucking Willen durchgesetzt und mich hierhergeschleppt hat.«

»Nicklas!«

»Was? Stimmt doch«, giftete ich sie an. »Aber war ja klar, dass du auf ihrer Seite stehst. Immerhin hast du ihr den ganzen Scheiß eingeredet. Ohne deine Einmischung hätte sie sich doch nie von Papa scheiden lassen.«

»Sie hat sich von deinem Vater scheiden lassen, weil er ein manipulatives und menschenverachtendes Arschloch ist«, rief meine Tante voller Hass.

»Katharina«, erklang die Stimme meiner Mutter. »Genug jetzt.« Sie stand in einer der Türen, die vom Flur abgingen. Müde sah sie zwischen uns hin und her. Ihre sonst so gute Laune war völlig hinfortgeblasen. »Dein Zimmer ist oben, Nicklas. Linke Tür. Nebenan ist direkt das Bad. Duschzeug habe ich dir schon reingestellt. Wasch dich und mach deinen Kram. Ist mir ehrlich gesagt ziemlich egal.« Ihre Stimme war ruhig und monoton, fast so, als hätte sie aufgegeben.

Das schlechte Gewissen durchzuckte mich, doch dann war da wieder die Stimme meines Vaters und die Tatsache, dass sie mich, ohne zu fragen, ans andere Ende des Landes geschleppt hatte. Also machte ich auf dem Absatz kehrt. Wütend polterte ich die Treppe nach oben.

Von unten hörte ich Tante Katharina, die mit gesenkter Stimme auf meine Mutter einredete, doch sobald ich die Tür des Badezimmers hinter mir geschlossen hatte, verstummten sämtliche Geräusche aus dem Flur.

Mika

Das Handtuch um die Hüften gebunden öffnete ich die Tür zu meinem neuen Zimmer. Ich blieb stehen und sah mich um. An der Wand mir gegenüber befand sich ein großes Fenster, durch das man hinunter in den Garten sehen konnte. In der Ecke daneben hatten die Leute von der Umzugsfirma mein Bett aufgebaut. An der Wand links von mir befand sich der geräumige Schreibtisch, über dem ein weiteres kleines Fenster für genügend Licht zum Arbeiten sorgte. Anschließend mein Kleiderschrank. Neben der Tür einige neue, leere Regale und auf der anderen Seite, direkt gegenüber vom Bett, eine schmale Kommode, auf der mein Fernseher stand. Mein Blick fiel auf die zahlreichen Kartons, die in der Raummitte gestapelt waren und zu deren Füßen meine Sporttasche lag.

Ich öffnete den Karton mit der Aufschrift Klamotten Nicki und wühlte darin nach einem weiteren Tanktop, Boxershorts und einer kurzen Hose. Ich streifte die Sachen über. Für einen Moment zog ich in Erwägung, mit dem Auspacken der Kartons anzufangen. Doch das Bett war frisch gemacht – zweifellos dank meiner Mutter –, und meine Knochen waren vom Laufen und der anschließenden Dusche müde. Kurzerhand ließ ich mich auf die weichen Laken fallen. Ich schloss meine Augen. Was für ein beschissener Tag!

Die heiße Luft staute sich unter dem Dach, und bereits nach wenigen Minuten öffnete ich genervt meine Augen. Ich schlurfte zum Fenster hinüber, um etwas frische Abendluft in den Raum zu lassen.

»Magst du was essen?«, rief meine Mutter aus dem Garten zu mir herauf.

Ich steckte den Kopf aus dem Fenster, um nach unten zu sehen. Sie stand ein Stück von der Veranda entfernt auf dem Rasen und blinzelte zu mir hoch. Die Überdachung der Terrasse versperrte mir die Sicht, doch Tante Katharinas gedämpfte Stimme verriet mir, dass sie immer noch da war. Ich zögerte. Wenn ich dieses Friedensangebot meiner Mutter ablehnte, würde es Krieg geben, dessen war ich mir sicher. Doch ich würde mich ganz sicher nicht zu ihr und meiner Tante setzen! Entschlossen ignorierte ich das Knurren meines Magens.

»Nein, danke«, rief ich hinunter.

Der Blick meiner Mutter verdüsterte sich. Sie zuckte mit den Schultern und verschwand unter der Überdachung. Ich hörte meine Tante wütend auf sie einreden, ohne wirklich zu verstehen, was sie sagte. Seufzend wandte ich mich vom Fenster ab. In der Sporttasche kramte ich nach meiner Bluetooth-Box, um sie mit meinem Handy zu verbinden. Schon bald erfüllten die mir so vertrauten Songs meiner Lieblingslieder-Playlist den Raum. Rückwärts ließ ich mich auf mein Bett fallen und konzentrierte mich auf die Musik, die durch den Raum tönte.

»Mach den Scheiß leiser«, tönte die Stimme meiner Tante aus dem Garten zu mir herein.

Kurzerhand drehte ich meine Box noch ein bisschen lauter. Nun waren die protestierenden Rufe aus dem Garten kaum noch zu hören.

Ich entsperrte mein Handy und öffnete Instagram. Gedankenverloren scrollte ich durch meinen Feed, sah mir die Storys meiner Freunde daheim an. Sie waren heute im Kino gewesen. Ohne mich. Natürlich ohne mich. Schließlich befand ich mich hier. Am Ende der Welt. Genervt rollte ich mit den Augen. Was für eine Scheiße!

Wie ferngesteuert glitten meine Finger über den Bildschirm und öffneten die Suchleiste. Ein altbekanntes Ritual. Ich musste den Namen des Accounts gar nicht erst eingeben. LorenzoooM leuchteten mir die Buchstaben entgegen. Ehe ich mich eines Besseren besinnen konnte, hatte ich ihren Account auch schon geöffnet. Sie hatte ein neues Bild gepostet. Ich klickte es an. Die Caption war ein einfaches rotes Herz.

Auf dem Foto leuchteten mir die feurigen Haare meiner Cousine entgegen. Meine Finger verkrampften sich um das Handy, als ich an meinen letzten Sommer an der Küste zurückdachte. Daran, wie Chiara uns begleitet hatte, während mein Vater daheim geblieben war. Anstatt Zeit mit mir und meinen Freunden zu verbringen, hatte sie sich mit Mika und den anderen verbrüdert. Schlimmer noch: Sie war mit Mika zusammengekommen. Dabei war diese zuerst meine Freundin gewesen. Meine beste Freundin!

Wir hatten jeden Sommer zusammen verbracht, hatten uns zwischen den Urlauben gegenseitig besucht. Ich war sogar ein bisschen in sie verliebt gewesen. Bis sie vor drei Jahren plötzlich auf die grandiose Idee gekommen war, lieber ein Junge sein zu wollen.

Ich erinnerte mich noch genau an den angewiderten Blick meines Vaters, als ich ihm davon erzählt hatte. Wir waren sofort abgereist. Er hatte mir klar gemacht, wie falsch das alles war. Dass Mika ein Freak war und dass unsere Freundschaft zu enden hatte. Also hatte ich sie im folgenden Sommer von mir gestoßen. Mein Vater hatte mir mit einem stolzen Lächeln auf die Schulter geklopft. Ich hatte mich gut gefühlt.

Mein Blick löste sich von meiner Cousine, fiel auf Mika, die neben ihr breit in die Kamera grinste. Ihre Haare waren lächerlich kurz, ihre Brust viel zu flach. Sie sah kaum noch aus wie ein Mädchen. Das war doch alles total bescheuert!

Ich stockte, als mein Blick an ihrem Gesicht hängen blieb. Sie trug eine Brille. Ein dünner Goldrahmen, der ihre grünen Augen zur Geltung brachte. Ich ballte meine freie Hand zur Faust. Gott, ich hasste einfach alles daran! Mein Blick glitt zu der Bildunterschrift. Das einfache rote Herz schien mich zu verhöhnen.

Ich legte mein Handy zur Seite, zwang mich, ruhig zu atmen. Mika und Chiara. Warum meine Cousine unbedingt einen Freak daten wollte, konnte ich einfach nicht verstehen. Diese Haare … und diese Brille … einfach alles daran war lächerlich.

Abermals griff ich nach meinem Handy, um das Foto meiner Kindheitsfreundin zu betrachten. Ihr Lächeln war so breit, ihre Augen funkelten förmlich. In meinen Gedanken hörte ich ihr Lachen, während wir mit zehn oder elf wild über den Strand rannten und mit lautem Kreischen in den kühlen Fluten verschwanden. Ein Hauch von Sehnsucht erfüllte mich. Wir waren so glücklich gewesen. So frei.

Der Puls raste in meinen Ohren. Ich pfefferte mein Handy auf die Decke neben mir. Das war alles lange her! Mika war nicht mehr die, die sie einmal gewesen war. Sie war ein Freak! Ich sollte froh sein, dass ich nichts mehr mit ihr zu tun hatte. Wenn mein Vater wüsste, dass Chiara mit ihr zusammen war, würde er vermutlich einen Anfall kriegen. Allerdings erklärte das Bild, warum meine Cousine noch nicht hier aufgekreuzt war, um meine Mutter willkommen zu heißen. So wie es aussah, verbrachte sie den Sommer mit Familie Lorenz an der Küste, während ich mich mit der beschissenen Scheidung und dem fucking Umzug herumschlagen durfte. Ich hasste alles daran. Ich hasste Mika. Ich hasste Chiara. Ich hasste meine Mutter. Wütend starrte ich an die Decke über mir, während draußen langsam die Dämmerung einsetzte. Die Musik aus meiner Box dröhnte immer noch durch mein Zimmer, übertönte die gedämpfte Unterhaltung auf der Terrasse.

Grässliches gelb

Am nächsten Morgen weckte mich das Krähen eines Hahns, begleitet von ohrenbetäubend lautem Vogelgezwitscher. Mit einem Stöhnen vergrub ich meinen Kopf unter dem Kissen, in der Hoffnung, die viel zu fröhlichen Töne der Natur ausblenden zu können. Das Letzte, was ich jetzt brauchte, war ein weiterer Reminder an die Tatsache, dass ich nicht mehr zu Hause war. Wer hätte gedacht, dass ich den nicht enden wollenden Strom an Motoren auf der Hauptstraße vor meinem alten Zimmerfenster mal vermissen würde?

Unter das Kreischen der Vögel mischte sich das Quaken eines Frosches. Ich gab auf. Achtlos schmiss ich mein Kissen ans Fußende und rollte mich zur Seite aus dem Bett heraus. Ich verließ mein Zimmer. Missmutig schlurfte ich die Treppe hinunter und musterte die Türen im Flur. Probeweise öffnete ich eine. Mein Spiegelbild blinzelte mir entgegen. Müde graue Augen, das blonde Haar meiner Mutter.

Ich schloss die Tür zum Gästebad. Die nächste, die ich versuchte, führte mich tatsächlich in die Küche. Sprachlos blieb ich mitten im Raum stehen. Der Unterschied zu unserer alten Küche hätte nicht größer sein können.

Da, wo früher elegante Edelstahlflächen und klinisches Weiß vor Sauberkeit nur so geblitzt hatten, leuchtete mir nun eine schier endlose Vielfalt an Farbe und Holz entgegen. Ein rustikaler Tisch, hölzerne Arbeitsplatten und Schrankfronten in grellem Pink, Orange und Gelb. Einfache Holzbretter an der Wand neben der Küchenzeile balancierten zahlreiche Gewürze und Blumentöpfe. Eine der Pflanzen war so groß, dass ihre Ranken, gehalten von kleinen Ösen, beinahe die gesamte Wand zum Esstisch hin ausfüllten. Es war, als hätte man die Persönlichkeit meiner Mutter genommen und einmal über den gesamten Raum gegossen. Sie und Tante Katharina hatten wirklich ganze Arbeit geleistet. Mühsam schluckte ich den Kloß in meinem Hals hinunter, bevor ich an den Küchentisch herantrat. Geflochtene Tischsets in Pink- und Orangetönen lagen darauf verteilt, während die Korbstühle in zartem Grün gehalten waren. Mein Vater würde im Strahl kotzen, wenn er diesen Raum sehen könnte.

Ich fragte mich, wie der Rest des Hauses wohl aussah, doch bevor ich auch nur darüber nachdenken konnte, eine große Besichtigungstour zu unternehmen, zog ein kleiner Zettel mitten auf dem Tisch meine Aufmerksamkeit auf sich.

Bin einkaufen.

Die verspielte Handschrift meiner Mutter, jedoch ohne Smiley oder Blumen als Verzierung. Sie war immer noch sauer.

Ich zuckte mit den Schultern. Dieses Spiel konnte ich auch spielen! Ich öffnete den grässlich gelben Kühlschrank und schnappte mir die halb volle Flasche Orangensaft, die von der Fahrt gestern übrig geblieben war. Mein Blick glitt über die verschlossenen Schränke, über Spüle und Herd. Kurzerhand trank ich den Saft direkt aus der Flasche.

Ich schlurfte zurück in mein Zimmer, zog meine Sportsachen über und ging laufen. Über die Felder zum Rhein, über den Damm, über die Promenade, vorbei am Skatepark und wieder zum Haus zurück.

Ich ging duschen, kramte meinen Laptop hervor, startete Netflix.

Meine Mutter kehrte vom Einkaufen zurück. Ich hörte sie in der Küche hantieren. Sie rief mich zum Essen, doch ich ignorierte sie.

Ich schloss Netflix, machte Musik an. Sie rief, ich solle die Box leiser drehen. Ich stellte sie noch lauter.

Sie rief mich zum Abendessen. Ich ignorierte sie erneut, schlich mich nachts in die Küche, um Kekse und ein bisschen Obst zu klauen.

Ich ging schlafen, wachte auf. Wir wiederholten das Spiel.

Irgendwann gingen wir dazu über, uns zu ignorieren. Meine Mutter hörte auf, mich zum Essen zu rufen, beschwerte sich nicht mehr über die Lautstärke.

Gegen Ende der Woche kam Chiara zu Besuch. Sie war also aus dem Urlaub zurückgekehrt. Ich hielt meine Zimmertür geschlossen, verließ das obere Stockwerk nicht, während ich ihre Stimme vermischt mit der meiner Mutter aus dem Garten hörte. Chiara erzählte vom Meer, von ihren Ausflügen und natürlich von Mika. Ich schloss mein Fenster, drehte die Musik auf ein Neues lauter.

zu ruhig!

Am Samstag brach meine Mutter das Schweigen zwischen uns. Sie kam am Abend in mein Zimmer und schaltete meine Box mit einem entschiedenen Tippen ihres orange lackierten Fingernagels aus. Sie stemmte ihre Hände in die Hüften. Missbilligend sah sie sich im Raum um.

»Willst du nicht langsam mal auspacken?«, wollte sie wissen.

Ich brummte bloß.

»Montag beginnt die Schule«, erinnerte sie mich. Sie trat an den leeren Schreibtisch heran, zog den Stuhl hervor, schob ihn in die Mitte des Raumes und setzte sich darauf. Langsam drehte sie sich von links nach rechts, behielt mich dabei jedoch eisern im Blick. Der Stoff ihres luftigen Kleides flatterte leicht im Wind, der durch das geöffnete Fenster drang. Geistesabwesend spielte sie mit dem Kristall an einer der langen Ketten um ihren Hals. »Wo wir schon bei Schule sind«, fuhr sie fort. Ihre Stimme klang seltsam sanft. Beinahe freundschaftlich.

Ich richtete mich ein Stück auf, traute dem Braten nach all den Tagen des eisigen Schweigens nicht.

Sie rückte mit dem Stuhl noch ein bisschen näher an mein Bett heran. »Ich weiß, dass es blöd ist, so spät noch die Schule zu wechseln. Aber sieh das Ganze als Chance. Du hättest die Q1 sowieso wiederholen müssen.«

Ich verdrehte die Augen. Natürlich mussten wir jetzt auch noch darüber reden. Als wäre der Scheiß nicht deprimierend genug.

»Das ist dein Abi, Nicki.« Sie klang beinahe flehentlich. Als wollte sie an meine Vernunft appellieren.

Ich zog abschätzend eine Augenbraue hoch.

»Nicklas. Dein Abi!«, wiederholte sie ungehalten. Hilflos hob sie ihre Hände. Die Armreifen an ihren Handgelenken klackerten. »Ich verstehe, dass du im letzten Jahr etwas abgesackt bist wegen der Scheidung und allem. Aber jetzt musst du dich echt zusammenreißen. Zwei Jahre, dann bist du aus der Schule raus und kannst machen, was du willst.« Sie sah mich ernst an. »Aber ich werde nicht zulassen, dass du deine Zukunft wegschmeißt, nur weil du sauer auf mich bist.«

Ich spürte deutlich, wie die Wut in mir heranwuchs. Nur weil du sauer auf mich bist. Das klang alles nichtig, wenn sie das so sagte. Aber ich war nicht einfach nur sauer auf sie. Sie hatte mich von meinen Freunden getrennt, von Papa. Nur ihretwegen war ich hier am Arsch der Welt und musste Montag an eine fucking neue Schule gehen. Ich war nicht sauer. Ich raste innerlich vor Zorn. Mit vor der Brust verschränkten Armen funkelte ich sie an.

Sie seufzte resigniert. Ich hatte gewonnen. Sie deutete auf die Kartons neben sich. »Ich will, dass du den Kram bis morgen Abend einräumst, sonst gehe ich die Kartons, so wie sie sind, spenden«, ließ sie mich wissen, während sie von meinem Schreibtischstuhl aufstand. »Gib dem Ganzen eine Chance, Nicki«, startete sie einen letzten Versuch.

Ich hörte ihr kaum noch zu.

»Dein Vater …«, sie unterbrach sich selbst. »Ist auch egal.« Ihre Schultern hingen geschlagen herab, als sie den Raum verließ. »Schlaf gut.« Leise zog sie die Tür hinter sich zu. Mein Zimmer hüllte sich in Stille. Nur der Wind und die verdammten Vögel vor dem Fenster durchbrachen die plötzliche Ruhe im Raum.

Ich starrte die Kisten mit meinen Sachen an. Ich würde bestimmt nicht den Fehler begehen, ihr nicht zu glauben. Sie würde die Sachen definitiv spenden, also sollte ich anfangen, den Scheiß auszupacken. Dennoch blieb ich wie gelähmt auf meinem Bett sitzen.

Dein Vater … Was hatte sie über ihn sagen wollen? Ihre Stimme hatte so matt geklungen. Vermutlich hätte sie etwas gesagt wie Dein Vater ist kein guter Mensch oder Dein Vater war noch nie sonderlich einfühlsam oder Tante Katharinas Lieblingssatz: Dein Vater ist ein manipulatives Arschloch.

Oder sie hätte den Satz ausgesprochen, der Nacht für Nacht in meinen eigenen Gedanken herumgeisterte und dafür sorgte, dass die Säure in meinem Magen sich ätzend ihren Weg nach oben bahnte. Dein Vater will dich sowieso nicht bei sich haben. Aber nein! Hastig schob ich die Worte beiseite. Er würde sich melden! Er hatte versprochen, dass er sich melden würde. Er brauchte bloß Zeit, um sich nach der Scheidung wieder zu fangen. Und dann war da ja auch noch der neue Kunde, der die Firma so auf Trab hielt. Sobald er bereit war, würde er sich melden. Und dann würde ich zu ihm ziehen und meine Mutter mit ihrem scheiß Gequatsche von neuen Chancen weit hinter mir lassen!

Ich riss mich aus meiner Starre und schaltete meine Box wieder an. Musik erfüllte den Raum. Ich begann, die Kartons auszuräumen. Klamotten fanden ihren Weg in den Kleiderschrank. Schulbücher und die paar Aufzeichnungen, die ich im letzten Jahr gemacht hatte, wanderten in den Rollcontainer beim Schreibtisch. Ich baute meine Playstation auf, verband sie mit dem Fernseher.

Im Anschluss zockte ich ein paar Runden FIFA. Dann ging ich schlafen. Den Rest konnte ich auch morgen nach dem Laufen noch ausräumen. Ich lauschte der lauen Sommernacht vor meinem Fenster und fragte mich, ob die Leute, die hier geboren waren, wohl wussten, welche Vögel ich da gerade hörte.

Meine Gedanken wanderten zu den Geräuschen in meiner alten Nachbarschaft. Das Brummen der Hauptstraße, die übermütigen Rufe der Betrunkenen. Denn auch wenn unser Haus von innen piekfein und hochmodern gewesen war, hatte es doch mitten im Herzen der Stadt gelegen. Das Businessviertel, in dem mein Vater arbeitete, war nicht weit entfernt, aber auch der Bahnhof war direkt um die Ecke gewesen. Mir fehlte die Hektik, das Chaos. Hier war alles so ruhig. Zu ruhig!

Ich fragte mich, wo mein Vater nun lebte. Er war schon einige Wochen vor uns ausgezogen. Seitdem hatten wir uns kaum noch gesehen. Früher war das anders gewesen. Er war am Wochenende mit auf den Platz gekommen, hatte meine Zeit gestoppt. Jeden Freitag hatten wir zusammen Pizza gegessen, und am ersten Sonntag des Monats waren wir ins Kino gegangen. Jede Woche, jeden Monat. Er hatte nie einen Termin verpasst.

Ich zog in Erwägung, ihn anzurufen. Doch als unser Abschied in meinem Kopf widerhallte, verwarf ich die Idee gleich wieder.

Pass bloß auf, dass du mir in der Zeit nicht verweichlichst.

Er würde wollen, dass ich stark war. Die Zeit, bis er sich meldete, hinter mich brachte und mich nicht anstellte. Vielleicht sollte ich einfach gute Miene zum bösen Spiel machen. Den Streit mit meiner Mutter beiseitelegen, zur Schule gehen, mich im Training anstrengen, um dann zu meinem Vater zu ziehen, sobald er mir sein Okay gab. Denn das würde er bestimmt! Sobald er sich in seinem neuen Zuhause eingelebt hatte und der Stress auf der Arbeit nachließ. Ich musste nur noch ein bisschen warten. Bald würde ich in mein altes Leben zurückkehren können!

Ein schlechter scherz

Am Montagmorgen stand ich ewig im Badezimmer vor dem Spiegel. Immerhin wollte ich einen guten Eindruck machen. Meine Mitschüler für mich gewinnen.

Ich kämmte die längeren Strähnen meiner Haare nach hinten, fuhr ein paarmal mit den Fingern hindurch. Als sie locker an meinem Kopf auflagen, fixierte ich das Ganze mit einer halben Tonne Haarspray.

»Nicki. Du kommst gleich am ersten Tag zu spät, wenn du so weitermachst«, rief meine Mutter von unten.

Ich eilte fluchend in mein Zimmer, um meinen Rucksack zu holen. Dann stürmte ich die Treppe hinunter in den Flur, wo ich meine Schuhe anzog. »Hab dein Fahrrad schon mal aus der Garage geholt«, sagte meine Mutter. Sie drückte mir einen schnellen Kuss auf die Wange.

Ich sah davon ab, mein Gesicht zu verziehen. Immerhin hatte ich mir vorgenommen, nicht mehr mit ihr zu streiten. Sollte sie sich in Sicherheit wiegen, bis Papa sich bei mir meldete und mich endlich zu sich holte! Gestern Abend hatte ich mich daher wortlos zu ihr an den für mich mitgedeckten Platz gesetzt. Sie hatte das Ganze unkommentiert gelassen, genau wie die leeren Kartons, die ich in die Garage gebracht hatte, doch das sanfte Lächeln auf ihren Lippen hatte sie verraten. Wir hatten Frieden geschlossen. Vorerst.

»Viel Erfolg für deinen ersten Tag!« Sie lächelte.

Ich schwang mich auf mein Fahrrad und radelte den Weg entlang, den sie mir gestern noch beschrieben hatte.

Bald erreichte ich den Parkplatz vor dem Schulgelände, wo ich mein Fahrrad auf den dafür vorgesehenen Hof lenkte, um es abzuschließen. Zahllose Schüler hatten sich bereits auf dem Gelände versammelt, rauchten vor dem Tor, tauschten sich schnatternd über die Ferien aus. Ich entdeckte Chiara, die bei einer Gruppe Mädchen stand. Sie warf mir finstere Blicke zu. Ich wandte mich von ihr ab. Langsam schlurfte ich zum Schulgebäude.

Meine Mutter hatte mir gesagt, ich solle mich zuerst im Sekretariat melden, um meinen Stundenplan und eine Übersicht über die Räume und Lehrer zu bekommen. Also drückte ich die schweren Türen des Hauptgebäudes auf und folgte den Schildern, die mir den Weg durch das Labyrinth aus Fluren wiesen. Ich stieg eine Treppe hoch in den ersten Stock. Schließlich stand ich vor einer blau angestrichenen Tür mit der Aufschrift Sekretariat. Ich klopfte, wurde hereingerufen.

»Nicklas Küppers?«, fragte mich die junge Frau hinter dem Tresen.

Ich nickte.

»Willkommen«, strahlte sie mir entgegen. »Ich bin mir sicher, dir wird es hier gefallen.«

Ich kämpfte gegen den Impuls an, laut zu seufzen. Was wusste sie denn schon?

»Hier sind dein Stundenplan und eine Übersicht über das Gebäude«, sagte die Sekretärin. Ihre Lippen wurden nach wie vor von einem sonnigen Lächeln geziert. Sie blickte auf den Plan, bevor sie ihn mir reichte. »In der ersten Stunde hast du Leistungskurs Deutsch. Herr Engelbert. Da hast du Glück gehabt, er ist ein absoluter Schüler:innen-Liebling.«

Schüler:innen. Vor meinem inneren Auge sah ich, wie mein Vater sein Gesicht verzog.

Ich nahm die beiden Blätter, die sie mir reichte, entgegen und studierte meinen Stundenplan. Dreimal die Woche lang und kaum Freistunden – ätzend!

»Die Hausordnung hast du ja bereits unterschrieben, daher würde ich sagen, der Rest ergibt sich im Laufe des Tages«, zog die Frau hinter dem Tresen meine Aufmerksamkeit wieder auf sich. Sie blickte auf die Uhr über der Tür und schnalzte zufrieden mit der Zunge. »Du wirst sogar noch pünktlich zur ersten Stunde kommen.«

Sprachlos stand ich inmitten des kleinen Büros. Irgendwie hatte ich gedacht, das hier würde länger dauern. Sollte ich nicht eigentlich noch eine Einführung oder so was bekommen? Irgendwas?

»Was ist denn noch?«, fragte sie und deutete zur Tür. Das Lächeln in ihrem Gesicht würde mich garantiert in meinen schlimmsten Albträumen verfolgen! Ich fragte mich, ob sie überhaupt zu anderen Gesichtsausdrücken in der Lage war. »Ab mit dir und lern fleißig«, forderte sie mich auf.

Verdattert sah ich sie an, drehte mich jedoch zur Tür und verließ den Raum. Unschlüssig stand ich auf dem Gang vor dem Sekretariat. Die Wände waren weiß, der Boden grau. Typisch Schule. Etwa auf Augenhöhe hingen einige Auszeichnungen und Kunstprojekte der Schüler. Ich sah hinab auf meinen Stundenplan. Deutsch-LK Herr Englb. Raum 124. Ein Blick auf die Gebäudeübersicht und ich lief los. Die Klingel ertönte. Schüler strömten auf die Flure, schlossen sich meinem Weg an, um ihre Klassenzimmer aufzusuchen.

Ich erreichte Raum 124. Neugierige Blicke musterten mich. Ich hob grüßend meine Hand in Richtung der etwas größeren Clique, die direkt an der Tür stand. Gerade als ich zu ihnen hinübergehen wollte, hörte ich das eindrückliche Klimpern eines Schlüsselbundes und zügige Schritte, die sich mir von hinten näherten. Ein Mann, vermutlich Anfang dreißig, überholte mich und wurde von der Clique freudig begrüßt.

»Moin Jungs, schöne Ferien gehabt?«, fragte er, während er die Tür aufschloss.

»Natürlich, Engelchen. Und selbst?«, antwortete ein Typ mit eng geflochtenen Braids für die Gruppe.

»Herr Walker, was habe ich Ihnen über das Tragen von Jogginghosen in meinem Unterricht gesagt?«

»Finden Sie super«, gab er feixend zurück.

Ich unterdrückte ein Lachen, während Herr Engelbert die Tür aufschloss und die Anwesenden in den Raum scheuchte.

»Herr Küppers, Sie können direkt vorn bei mir bleiben«, fing Herr Engelbert mich ab. Ich folgte seiner Aufforderung. Er wartete darauf, dass der Raum zur Ruhe kam, und sah dann abwartend zu mir. »Herr Küppers, erweisen Sie uns die Ehre und stellen sich vor?«

Ich sah in die Gesichter meiner Mitschüler. Im Handumdrehen setzte ich ein gewinnendes Lächeln auf. »Nicklas. Freut mich, euch kennenzulernen.«

»Und weiter?«, bohrte Herr Engelbert nach.

Ich blinzelte ihn an, unsicher, was er noch von mir wollte.

»Der verarscht dich nur, Alter«, rief der Junge von vorhin. »Hat er bei mir auch gemacht, letztes Jahr.« Er wandte sich an Herrn Engelbert, der mit einem breiten Grinsen kämpfte. »Ehrenlos, Engelchen. Einfach ehrenlos.«

Ein leises Schnauben entwich meinem neuen Lehrer. Er zuckte mit den Schultern. »Hätte ja klappen können. Aber gut, back to business.« Fragend wandte er sich an den Kurs. »Wer meldet sich freiwillig, um Herrn Küppers in der Pause die Schule zu zeigen?«

Die Tür zum Klassenzimmer wurde mit einem lauten Knall aufgestoßen.

Herr Engelbert stieß einen triumphierenden Laut aus. »Perfekt. Mx. Williams, wie schön, dass Sie sich freiwillig melden, dem Frischfleisch eine Tour durch die Schule zu geben.«

Mx.? Verwirrt scannte ich die Person ab, die hereingestolpert war. Schwarze Haare, die Hälfte in einem lockeren Knoten hochgebunden, der Rest etwas kürzer als schulterlang. Vereinzelte Strähnen hingen in die Stirn. Blaue Augen, dunkel umrahmt.

Uneindeutiges Gesicht. Silberschmuck in den Ohren. Schwarze Converse an den Füßen, graue knielange Shorts, breiter Stand, haarige Beine – ein Typ also? Mein Blick wanderte weiter, weißes Hemd, nicht ganz zugeknöpft und … Brüste. Sehr gut. Eindeutig. Ein Mädchen!

Sie kaute einen Kaugummi, sah mich abschätzend an. Dann lächelte sie. »Aber gerne doch.«

Mir lief ein eiskalter Schauer den Rücken hinunter. Ihre Stimme klang ungewöhnlich tief. Fast so wie die von Mika. Ich holte tief Luft und zwang mich, ruhig weiter zu atmen. Das durfte doch nicht wahr sein! Ein weiterer Freak in meinem Leben hatte mir gerade noch gefehlt.

»Fantastisch!«, stellte Herr Engelbert fest. »Und jetzt ab auf Ihren Platz.« Er deutete auf einen freien Tisch am Fenster. »Herr Küppers, Sie können sich direkt neben Mx. Williams setzen. Dey wird Ihnen dann später alles zeigen.«

Dey? Ich musste im falschen Film gelandet sein! Wie angewurzelt stand ich vorn neben dem Pult.

»Gibt es ein Problem, Herr Küppers?« Herr Engelbert sah mich mit schiefgelegtem Kopf an.

»Dey?« Ich zog eine Augenbraue fragend nach oben.

»Oh, ach so.« Sein Gesicht hellte sich auf. »Mx. Williams ist nicht-binär und verwendet genderneutrale Pronomen. Sie sagen also einfach dey statt sie oder er und dementsprechend deren und denen zum Deklinieren.«

Nicht-binär? Genderneutral? Die Verwirrung musste mir ins Gesicht geschrieben stehen, denn Herr Engelbert zog spöttisch eine Augenbraue nach oben.

»Sie haben Deutsch-LK gewählt, mein Junge. Da sollten Sie das ja wohl locker hinkriegen«, sagte er. Mit einem Kopfnicken gab er mir zu verstehen, dass ich mich endlich setzen sollte.

Ich dachte nicht einmal daran.

»Gibt es ein Problem?«, fragte Herr Engelbert. Nun klang er schon nicht mehr ganz so geduldig wie noch vor ein paar Minuten. »Ich würde gerne mit dem Unterricht beginnen.«

»Ist das ein Scherz?«, brachte ich heraus, während die Stimme meines Vaters in meinem Kopf widerhallte.

Leute wie Mika. Das sind erbärmliche Freaks! Ich will nicht, dass mein Sohn sich mit so etwas abgibt.

Seine Aussagen hatten vor Verachtung getrieft. Eben jene bahnte sich nun ihren Weg durch meine Adern.

Unruhe breitete sich im Klassenraum aus. Stühle wurden leise quietschend verschoben. Jemand räusperte sich. In der letzten Reihe fiel ein Stift auf den Boden. Ich sah zu meinen neuen Mitschülern, die gespannt das Schauspiel zwischen mir und Herrn Engelbert beobachteten. Das Freak-Mädchen musterte mich, während sich steile Falten auf ihrer Stirn bildeten. Sie schüttelte kaum merklich ihren Kopf. Ich las deutliche Enttäuschung in ihrem Blick.

»Herr Küppers. Ich hoffe wirklich, dass Sie damit nicht andeuten, ein Problem mit Mx. Williams Geschlechtsidentität zu haben«, sagte Herr Engelbert. Er musterte mich streng.

»Geschlechtsidentität«, ich schnaufte verachtend. »Und ich identifiziere mich als Traktor.« Ich wartete auf das grölende Lachen meiner Mitschüler, doch die Klasse blieb still. Verwirrt sah ich in den Raum.

Abwartende, genervte und zum Teil sogar wütende Gesichter musterten mich.

Was?

Wie konnten die nur so ruhig bleiben? Wie konnten die mich so abschätzend ansehen? Meine alte Truppe hätte das Williams-Mädchen schon längst in der Luft zerrissen.

»Okay, Herr Küppers. Sie haben sich soeben einen Ausflug zum Rektor verdient.« Herrn Engelberts Stimme war ruhig und ernst. »Bitte verlassen Sie umgehend mein Klassenzimmer. Sollte ich erfahren, dass Sie nicht auf direktem Weg den Rektor aufsuchen, wird das ernste Konsequenzen mit sich ziehen.«

Was? Was passierte hier gerade?

Ich versuchte, die Geschehnisse der letzten Minuten in meinem Kopf zu rekapitulieren, da stapfte Herr Engelbert auch schon an mir vorbei, um die Tür des Klassenzimmers zu öffnen.

»Jetzt. Herr Küppers.« Er deutete hinaus auf den Gang. »Verlassen Sie umgehend meinen Unterricht!«

Wie ferngesteuert folgte ich seiner Anweisung. Ich trat auf den Flur.

»Und jetzt ab zum Rektor.« Herr Engelbert sah auf seine Armbanduhr. »Zehn Minuten an der Schule.« Er schüttelte seinen Kopf. »Ich glaube, damit stellen Sie einen neuen Rekord auf!«

Die Tür des Klassenzimmers fiel hinter mir ins Schloss. Verdattert blieb ich mitten im Korridor stehen. Das musste doch alles ein schlechter Scherz sein!

Widerwillig trat ich meinen Weg zum Rektor an. Ich klopfte an die Tür des Sekretariats und trat ein.

»Nicklas Küppers. Was kann ich für dich tun?« Die Sekretärin blickte fragend von ihrem Bildschirm auf. Schon wieder zierte dieses strahlende Lächeln ihr Gesicht. »Hast du deinen Raum nicht gefunden?«

Ich schüttelte wie in Trance meinen Kopf. »Ich soll zum Rektor?« Unsicher sah ich auf die Tür, die vom Sekretariat aus in einen weiteren Raum führte. Merlin Steffens – Schulleitung verkündete ein schlichtes Messingschild auf dem Türblatt.

»Ist das eine Frage oder eine Aussage?«, wollte die Sekretärin schmunzelnd wissen.

»Aussage. Herr Engelbert schickt mich«, stellte ich klar.

»Innerhalb der ersten zehn Minuten?« Das Lächeln auf ihren Lippen verlor langsam an Intensität. Sie legte die Stirn in Falten. »Da musst du ja ganz schön was ausgefressen haben. Mal schauen, ob Herr Engelbert schon eine Mail geschickt hat.«

Ihre Augen flogen über den Bildschirm vor sich. Nun verschwand das Lächeln vollends. Ihr Blick verdüsterte sich. Sie war also doch noch zu anderen Gesichtsausdrücken in der Lage.

»Ich verstehe«, sagte sie schließlich. »Setz dich, ich gebe Herrn Steffens Bescheid.« Sie deutete mit finsterem Blick auf eine Stuhlreihe neben der Tür.

Ich nahm Platz. Mit zügigen Schritten umrundete sie den Tresen, um dann hinter der Tür des Rektors zu verschwinden. In mir breitete sich das ungute Gefühl aus, tatsächlich in der Klemme zu stecken.

Mein Blick wanderte durch den kleinen Raum und landete auf einem Poster neben dem Erste-Hilfe-Schrank. Bunte Regenbogenfarben leuchteten mir entgegen, darauf ein Slogan: Schule für alle. Schule ohne Hass. Ich schluckte. Dunkel erinnerte ich mich an die Schulordnung. Ich hatte sie bloß überflogen und meinen Namen darunter gesetzt. Immerhin hatte ich nicht wirklich eine andere Wahl gehabt, aber ich glaubte, mich an einen Absatz zu erinnern, der jegliche Form der Diskriminierung und des Mobbings verbot. Ich seufzte.

Niemals hätte ich gedacht, dass die das hier so ernst nehmen würden. An meiner alten Schule war den Lehrern schließlich auch egal gewesen, was wir taten, solange niemand am Ende einen Krankenwagen rufen musste.

»Du kannst jetzt zu ihm«, erklang die Stimme der Sekretärin. Sie deutete mir an, aufzustehen.

Ich schlurfte hinüber zur Tür des angrenzenden Büros und trat ein.

»Herr Küppers«, begrüßte der Rektor mich. »Ich hatte gehofft, unser erstes Treffen würde einen erfreulicheren Anlass haben. Setzen Sie sich.«

Ich nahm vor dem wuchtigen Schreibtisch Platz. Eingehend musterte ich den Mann vor mir. Ich schätzte ihn auf Mitte fünfzig. Erstes Grau melierte sein Haar. Er trug einen schicken Anzug, ebenfalls in hellem Grau. Der einzige Farbakzent an ihm war das dunkle Blau seiner Krawatte, das perfekt zu den Griffen seines Rollstuhls passte.

»Wie sind Sie in den ersten Stock gekommen?«, brach es aus mir heraus, als ich an die Treppen dachte.

Er gab ein überraschtes Schnaufen von sich. »Damit wollen Sie anfangen? Wirklich? Keine Rechtfertigung? Keine Entschuldigung?«

Ich zuckte mit den Schultern. Immerhin hatte ich nur meine Meinung gesagt. Das sollte ja wohl noch erlaubt sein! Wenn mein Vater wüsste, dass ich wegen eines Freaks wie Mika beim Rektor gelandet war, würde er vermutlich vor Wut in die Luft gehen.

»Es gibt einen Aufzug beim Hintereingang«, klärte Herr Steffens mich auf. »Aber jetzt zu den wesentlichen Dingen. Herr Engelbert schreibt mir, Sie hätten inakzeptable Bemerkungen hinsichtlich der Geschlechtsidentität eines Kursmitglieds getroffen. Wie kam es dazu?«