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Ein alter Trabi erzählt aus seinem Leben, von „seinen Menschen“, wie er sie nennt, ihren Freuden und Sorgen in der DDR, lange Zeit vor der Wende und danach. Zwar kann er die Menschensprache nicht, aber wenn man ihm genau und zugewandt zuhört, versteht man ihn gut … Die Geschichten eines kleinen Autos, an dem viele seiner Besitzer hingen, sind eine Freude für Trabi-Fans und für alle, die das einfache Leben lieben, die zu verstehen suchen in unserer von Vorurteilen geprägten Zeit. Der Trabi-Nachfolger, ein kleiner „West-Wagen“, eifert ihm nach und berichtet über seine Erlebnisse, die sich mit den Erfahrungen seines Vorgängers aber kaum messen können. Ein Kaleidoskop an Erlebnisberichten und Gedanken mit Ost-West-Bezug rundet die Erzählungen der beiden Autos ab. In allem spiegelt sich deutsche Geschichte wider, abseits vom großen Geschehen, mitten im Alltag der Menschen.
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Seitenzahl: 215
Vorbemerkung
Das Trabidenkmal
Endstation
Geburt und erste Schritte
Erste Erfahrungen
Jugenderinnerungen – Kollegen und Freunde
Die Karte oder das kleine Beben
Mit dem IM nach Ungarn
Die ungekannte Zeitung
Meine Sprache
Schön und merkwürdig war’s in Ungarn
Wieder daheim und schon …
Abschied
Bei den Czernis
Interessante Transporte
Wolfgang und Gabi unter Aufsicht
Der Melancholische – ein Antifaschist
Westbesuch und ähnliche Erscheinungen
Ost-West regt auf
Das Ohr an der Mauer und der Warnschuß
Der Schock
Noch ein Abschied und Neubeginn
Die besondere Neugeburt
Mein Leipzig lob(te) ich mir …
1988 und unsere Seelen
Kurzweil auf dem Scheiterhaufen
Unruhe, Angst, Hoffnung
1953 und meine Gedanken
Unvergeßlich und spannend neu
Schon wieder verkauft – in die Heimat und in Wessihand
Trabantle
Der Opel Senator
Das Geständnis
Nicht so einfach, diese Wende
Klassentreffen und die 40 Jahre
Immer noch auf dem Schrott
Unglaublich – oder doch nicht?
Garnspinnerei
Aufschub und Viertakt
Und nun sah ich IHN
Nostalgie in Celle
Viertakt und die Gesellschaftsordnungen
Das Alter!
Prägungen
Die Blühenden
Coburger Schlüsselerlebnis
Wahre innere Einheit – mit Lücken
Denkmal?
Und meine Menschen?
Der Lila
Rote Socken
Reisen, ein Problem?
Gemaust
Unser Bier und die Marktwirtschaft
Disco in meiner Zeit
Das Ende
Und andere deutsche Geschichten
Der Nachfolger
Ich
Die Gruppe
Hinnerk
Ärgerlich
K.
Ich komm‘ gern wieder in mein’ Osten
Katharina
16 Jahre Wende …
Was heißt hier „Ost-West-Unterschiede“?
Die Partei, die Partei, die hat immer Recht
Die Akte
Die Vertreibung aus den Kontaktlinsen
Heiko
Der dritte Abschied
Heimatbrücke
Drago ist verhindert
Haben wir DEN KRIEG vergessen?
Es weihnachtet sehr
Frage und Antwort
Im Rückspiegel
Manfred Weniger
Allen Gutwilligen
Salier Verlag
Leipzig und Hildburghausen
Print: ISBN 978-3-939611–72-1
eBook EPUB: ISBN 978-3-96285-173-6
1. Auflage 2013
Copyright © 2013 by Manfred Weniger, Hamburg
für diese Ausgabe: Salier Verlag, Leipzig
Alle Rechte vorbehalten. All Rights reserved.
Erweiterte und verbesserte Ausgabe.
Die Originalausgabe erschien 1995
im Verlag Frankenschwelle KG Hildburghausen.
Einbandgestaltung: Christine Friedrich-Leye, Leipzig
unter Verwendung einer Fotografie von Manfred Weniger
Herstellung: Salier Verlag, Bosestr. 5, 04109 Leipzig
www.salierverlag.de
Im Jahr 1995 erschien im Verlag Frankenschwelle die erste Auflage meines kleinen Buches „Das Trabi-Denkmal“. Es wurde von vielen Menschen in den neuen Ländern positiv aufgenommen. Weitere Auflagen folgten. Inzwischen ist viel Zeit vergangen, in der eine große Menge an Literatur zur Vor- und Nachwendeentwicklung entstand. Dennoch darf das historische Interesse an diesen spannenden Jahren, vor allem die Neugier auf die Schicksale und Befindlichkeiten der Menschen nicht erlahmen. Daher stelle ich das „Trabi-Denkmal“ in leicht überarbeiteter und ergänzter Form hiermit erneut vor. Zugleich enthält diese Ausgabe weitere „deutsche“ Geschichten, die eng mit dem Sujet verbunden sind. Versetzen Sie sich in die geschilderte Zeit zurück; ein Trabi erzählt Ihnen überwiegend wahre Geschichten. Namen und Orte sind verändert. Der Leser möge bedenken, dass der Inhalt der damaligen Zeit geschuldet ist.
Für Orthografie-Fans: Was vor der Rechtschreibreform geschrieben wurde, bleibt von ihr verschont.
Es ist kühl und windig hier oben. Ich schwanke leicht hin und her. Ich mußte mich erst sehr daran gewöhnen, in luftiger Höhe zu stehen, nein, zu hocken, denn ich kann mich nicht einmal richtig auf meine Räder stützen.
Das ist meine letzte Station. Ich komme mir vor wie auf einem Scheiterhaufen in Indien, auf dem die Toten verbrannt werden. Die Asche schüttet man in den großen Fluß. Ich habe das einmal gehört, als es einer meiner Herren einem Freund erzählte. Mit mir wird es anders sein. Mich wird niemand geleiten, wenn ich in die Schrottpresse komme. Dann wird man mich einschmelzen, umformen. Wird man mich für ein neues Auto verwenden? Das wünsche ich mir, denn ich glaube an Seelenwanderung.
Ob ich eine Seele habe? Ich weiß nicht, ob alle Autos eine Seele haben. Zweifel habe ich bei vielen westlichen, die wild gefahren und viel rascher verschrottet werden als ich. Aber ein Trabi? Der hat eine Seele, die im Lauf des Lebens immer goldener wird.
Hier oben, auf dem Schrott in der kleinen thüringischen Stadt, nahe der Eisenbahn, da geht einem in der letzten Station so manches durch den Motor.
Gestern hatte ich wieder Hoffnung. Ich dachte, ich dürfte noch einmal durch das Städtchen knattern. Am liebsten wäre ich ins nahe Coburg gefahren, wo manche so gern über mich die Nase rümpften. Ich hätte ihnen gezeigt, daß ich noch da bin. Aber es wurde nichts.
Und das kam so: Plötzlich fuhr der riesige Schrottgreifer an mich heran, senkte seine Arme über mich, ergriff mich, hob mich in einem Schwung herunter und setzte mich sanft auf. Ich hatte das nicht anders erwartet, denn so geht man mit einem Gefährt meiner Spezies um: liebevoll. Dann öffnete ein Mann meine Kühlerhaube; ich war gnädig und ließ den Hebel nicht klemmen. Denn ich dachte: Jetzt geht es wieder los. Aber weit gefehlt: Der Mann riß nur ein Zündkabel heraus und sagte zu einem anderen: „Das ist Kupfer. Wollen Sie nicht noch den Anlasser haben?“ Da wußte ich, das ist das Ende. Aber ich war nicht so traurig, wie man denken möchte. Die Menschen brauchten mich noch, und sei es, um Teile auszubauen. Dennoch verweigerte ich vorsorglich erst einmal den Anlasser. Die beiden hatten nämlich keinen Inbus-Schlüssel, und so war es mit dem Ausbauen nichts. Dann kam wieder der Greifer, hob mich an und setzte mich auf meinen alten Platz hoch oben auf dem Schrotthaufen. Aus der Traum von einer letzten Fahrt!
Nun warte ich auf die Schrottpresse. Erinnerungen werden wach, Bilder ziehen an mir vorbei, Bilder aus glücklichen Tagen, als ich, nachdem mein erstes Herrchen lange Jahre auf mich gewartet hatte, geliebt, gehätschelt und verzogen wurde. Die Verachtung gegenüber Trabis hatte erst viel später begonnen, nach dem Ereignis, das die Menschen „Wende“ nennen. Da wollten sie „ein richtiges Auto“, mit Flüssigkeitskühlung, besseren Abgaswerten, stärkerem Motor und allem, was es da so an Überflüssigem gibt. Da wurden sie hoffärtig und gierig. Ich aber hatte Glück. Ich wurde nicht sogleich abgeschafft, doch davon später.
Wie ich heiße? Oh, ich hatte viele Namen. Fast jeder Besitzer gab mir einen anderen. Zuletzt nannte man mich nur „das Trabantle“. Darüber freute ich mich, denn das war ein Name, der Zärtlichkeit ausdrückte, der sich voll zu mir bekannte. Niemand mußte, wenn er ihn hörte, erst hinzufügen, daß ich ein Trabant sei. Offiziell hieß ich bis zuletzt HBN-P 680. Mein Stolz aber war OL 77-10 gewesen, bis man dieses Schild von mir riß, ebenso wie das ovale DDR-Kennzeichen. „D“ prangt jetzt auf mir. Ich bin zu alt, um noch zu verstehen, was „D“ wirklich ist ...
OL, da wußte doch jeder Bescheid: Das war die autonome Bergrepublik Suhl, wie die Menschen scherzhaft sagten. Eigensinnig, ein bißchen stur, aber herzlich und sangesfreudig ist man hier, so wie es die Menschen in den Bergen sind, in Andorra, in San Marino. Aber was weiß ich von Andorra und San Marino, da kam ich doch nie hin. Nur gehört habe ich, daß das auch Bergrepubliken sein sollen.
Suhl, Bezirkshauptstadt, Parteihochburg, was waren das für Zeiten! Vor allem knatterte und stank es da um mich herum. Meine Gefährten waren viele an der Zahl. Und da gab es auch noch andere Zweitakter, die auf uns ein wenig arrogant und mitleidig herabschauten, die Wartburgs. Aber ob sie je so geliebt waren? Ein Kultfahrzeug soll ich sein, sagte einmal ein Wessi, der mich neugierig aus seinem Mercedes 300 betrachtete. Nun ja, dann bin ich eben ein Kultfahrzeug. Danke für das Lob, wenn es denn eines ist. Ich habe mich eher wie ein treuer Ackergaul gefühlt. So genau weiß ich übrigens gar nicht, was das ist, ein Kultfahrzeug ...
„Baul, da hammer widder eenen“, rief Herbert seinem Kollegen in der Endfertigungsbrigade zu. Stolz schwang in seiner Stimme. Ich höre es noch wie heute. Er gab mir einen Klaps auf mein Plastedach, und so war ich in der Welt. Babys klopft man auch, kurz nach der Geburt, allerdings auf den Popo. Von Anbeginn an hatte ich also etwas Menschliches, damals im Juni 1972.
An diesem Sommertag, kurz vor meiner Geburt (ich konnte schon vieles wahrnehmen) widerfuhr mir etwas Merkwürdiges. Zumindest empfand ich es so. Dem Embryo hinter mir widerfuhr das nicht, soweit ich mit den Rückleuchten sehen konnte (Trabis können das, sie schauen nach allen Richtungen!). Herbert hatte noch eine Schraube an der Lichtmaschine festgezogen, als er sich scheu nach allen Seiten umsah, ein Blatt Papier aus der Tasche zog, klein zusammenfaltete und vorne in meine Karosserie steckte, hinter dem linken Scheinwerfer. Ich konnte nicht protestieren, obgleich ich genau spürte: Das gehört da nicht hin. Da es mir nicht wehtat und auch beim Probelauf nicht auffiel, habe ich es vergessen. Erst jetzt fällt es mir wieder ein. Ob es noch da ist? Sicher ist es nach 22 Jahren verrottet.
Ich stand nur wenige Tage in der Auslieferungshalle, dann wurde ich mit drei Brüdern auf die Bahn verladen, und schon ging es von meiner Geburtsstadt „Zwicke“ nach Thüringen. Lange hat das gedauert, ständig standen wir auf irgendeinem Verschiebegleis, und manchmal dachten wir, man hätte uns vergessen. Und dabei hatten uns Paul und Herbert noch nachgerufen: „Viel Glück, die warten schon lange auf euch!“ Endlich waren wir da, in Suhl.
Also doch Suhl! Einige von uns hatten uns schon gewarnt: „Leicht wird‘s nicht für euch, dort in den Bergen.“ Ich mußte später häufig daran denken, wenn ich die Steigungen im Thüringer Wald hinaufächzte. Immerhin, ich wurde schön warm dabei. Da freuten sich im Winter die Menschen. Denn ich hatte keine Zusatzheizung.
„Bau auf, bau auf, bau auf, bau auf, Freie Deutsche Jugend, bau auf. Für eine bessere Zukunft bauen wir die Heimat auf!“ So klang es um mich herum. Ein Kabel in meinem Sicherungskasten vibrierte mit. Ich schnarrte ein wenig. Es war ein schöner Anblick. Da standen sie, die Jungen und Mädchen in ihren Blauhemden mit dem Emblem der aufgehenden Sonne, ebenso strahlend wie der Himmel über Suhl. Dann das Rennsteiglied. Viele hielten es für kitschig. Ich nicht. Mir hat es gleich gefallen. Es war so einfach und klar wie ich selbst. Es mag auch daran liegen, daß die musikalische Begrüßung durch die FDJ-Gruppe der polytechnischen Oberschule mir galt. Hilmar Lorenz, der junge Lehrer, und seine Frau Karin hatten mich gekauft. Besser: Ich war endlich bei ihnen angekommen. Allerdings, ganz so lange wie andere hatten sie nicht gewartet, denn ein bißchen Beziehung konnte der gesellschaftlich sehr aktive Hilmar schon nutzen.
Ich stand auf einem kleinen Vorplatz der Lorenz-Datsche am Berg. Ein dunkellockiger Junge holte einen Zerrwanst (was das ist? Na, ein Schifferklavier!), und schon ging die offizielle Begrüßung in eine fröhliche Feier über. „Toll sieht er aus“, meinte einer. Dabei fand ich mich gar nicht schön. So ganz habe ich mein Blau nie gemocht. Aber ich mußte zugeben, daß es sich heute gut machte, denn man hatte ein gelbes FDJ-Zeichen ausgeschnitten und auf meine Kühlerhaube gelegt. „Er guckt so treuherzig“, sagte Ilona, die kesse Leiterin der Gruppe. Ich sollte das später noch oft hören. Anfangs wußte ich nicht, was die Menschen damit meinten, abgesehen davon, daß ich als waschechter Sachse den südthüringisch-fränkischen Dialekt mit dem rollenden „R“ nicht gleich verstand. Aber dann, als ich mich endlich einmal in einer leider etwas schmutzigen Schaufensterscheibe sah, dann wußte ich, was an mir treuherzig sein sollte. Diese heruntergezogene Kühlerhaube und die runden Scheinwerfer konnten tierliebe Menschen an einen Boxer erinnern, und die schauen ja auch so traurig-lieb drein. Mehr aber dürfte ich mit diesem Hund nicht gemein haben; denn niemand erschrak vor mir, auch nicht kleine Kinder. Was mich wiederum sehr freute.
Erstmalig in meinem noch so kurzen, aber doch schon erwachsenen Leben – wir Trabis werden erwachsen geboren, haben natürlich trotzdem manchmal Kinderkrankheiten – erstmalig also stieg mir jetzt ein betörender Duft in den Kühlergrill. Als Hilmar in die Menge schrie: „Was is‘n nu mit die Bratwürscht“ (ich kann das heute noch nicht richtig nachahmen), „da muß jetzt Bier drüber“, da vibrierte ich innerlich vor Freude, was glücklicherweise niemand merkte. Aber es mag der Grund dafür sein, daß ich später schlecht ansprang. Gemach, gemach, eins nach dem anderen.
Endlich stand ich nahe neben ihr, und sie stand neben mir: die sagenumwobene Thüringer Bratwurst. In der Endmontage im Sachsenring-Werk hatten sie davon gesprochen. Ein Freund von Paul hatte 14 Tage Urlaub im Wald gemacht und begeistert erzählt, daß fast jeden Abend gebrätelt und die Bräunung der Bratwurst zu einem heiligen Zeremoniell gestaltet wurde, so wie Fahnenappell, dachte ich. (Heute darf ich das ja offen sagen). Die Bratwurst muß, wenn sie wirklich schmecken soll, auf Tanneküh gebrätelt werden. Tanneküh? Na, das sind die Tannenzapfen aus dem hohen Thüringer Wald. Manche nehmen Holz, das sie zunächst zu Asche herunterbrennen lassen. Soll auch ganz gut schmecken. Hauptsache, man nimmt nicht etwa wie in den großen Städten Holzkohle, aber das sind dann keine Thüringer Würste mehr. Ach, was mir alles einfällt heute. Aber ein paar Erfahrungen darf ich weitergeben. Das ist das Recht des Alters, besonders, wenn man auf einem Scheiterhaufen steht.
Dann endlich, an diesem schönen Sonnentag in Suhl, gaben Hilmar und Karin die Bratwürste frei. Herrlich, so knusprig braun waren sie. Ich konnte sie ganz genau mit dem linken Seitenspiegel sehen. – Trabis sehen auch mit ihren Spiegeln, das dürfte doch bekannt sein, oder?
„Bier her, Bier her, oder ich fall‘ um“, intonierten die Blauhemden. Ein Lied der internationalen Arbeiterklasse, dachte ich. „Oh ja, ganz vergessen!“ Hilmar holte einen Kasten Tannen Bräu, in dem noch sechs andere Flaschen waren. „Was is‘n das?“, wollte einer wissen. Der junge Lehrer flüsterte ehrfurchtsvoll: „Wernesgrüner.“ O ha! Da kam der Normalmensch nicht ran. Aber Hilmar, der schon! „Wernesgrüner, und die rückst du raus?“, fragte Ilona. „Na hör‘ mal, für‘n Trabi doch immer!“ Was war das für ein Tag heute! Allein für mich Musik, Bratwürste, Tannen Bräu und ... Wernesgrüner, das sonst nur der Erich und der Bezirksfürst Albrecht getrunken haben sollen. Wenn ich ein Kultfahrzeug sein soll, könnte das vielleicht Kultbier gewesen sein?
Ich muß noch etwas mehr von Bratwürsten erzählen. Am Tag meiner Zulassung, denn der war es, wie ich später hörte, wußte ich das alles noch nicht. Aber fahre du mal mit Hilmar und Karin durch die Thüringer Lande. Dann merkst du, wieviel Bratwurstsorten es gibt, dicke, dünne, schärfere, mildere. Meine Herren mochten die Südthüringer am liebsten. Später, vor ein paar Jahren erst, lernte ich die Konkurrenz kennen: die Coburger. Aber am Tag meiner Zulassung, den die jungen Leute so fröhlich feierten, wußte ich noch gar nicht, was Coburg war. Eines Tages hörte ich davon, aber ich durfte nicht hin. In Coburg sollen die Kapitalisten zur Beschwichtigung der notleidenden Arbeiterklasse auf dem Markt auch Bratwürste verkaufen, erzählte man mir.
Ich weiß, ich komme ein wenig durcheinander, möchte alles auf einmal berichten. Aber, so geht es einem, der nicht weiß, wie lange ihm noch bleibt, – auf dem Schrottscheiterhaufen wie in Indien. Ihr müßt das schon verstehen.
Jetzt setzten sich die Blauhemden mit Hilmar und Karin neben mich auf Holzbänke, aßen, tranken, sangen. Was war das für ein Fest! Und alles für mich! Erst war ich ungehalten, dann hatte ich nichts mehr dagegen: Einige stellten ihre Bierhumpen auf mich, auf mein Dach, meine Kühlerhaube. Hinten ging das nicht, denn ich bin ein Kombi. „Auch als Tisch is‘ er prima“, meinte einer. „Wie heißt er überhaupt, heißt er schon irgendwie? Machen wir doch eine Namensgebung!“ Die zurückhaltende Iris dachte dabei an „Taufe“, beschloß aber, diesen Begriff zweckmäßigerweise nicht zu verwenden. „Gut“, meinte Hilmar begeistert, „soll er ‚Kolja‘ heißen.“ Hilmar hatte einen Freund in der ruhmreichen Sowjetunion mit Namen Kolja, ein Lehrer wie er selbst. Da der Namensvorschlag von den sowjetischen Freunden entlehnt war, gab es keine Widerrede. Einige fanden ihn sogar gut. „Hoch die Tassen!“ rief Hilmar. (Weshalb er die Gläser Tassen nannte, habe ich nie verstanden, aber ich wollte den Menschen ihre Eigenheiten lassen.) Alle standen auf, hoben ihre Humpen, riefen „Kolja“ und sangen „Hoch soll er leben, hoch soll er leben, dreimal hoch“. Dann zischte das Bier die durstigen Kehlen hinunter. Und, obgleich es doch erst Juni war, sangen sie „Im August, im August blüh‘n die Rosen“. Mir war das egal, ich fand es schön. Wenn nur nicht noch das Horst-Wessel-Lied kam. In Zwicke an der Endmontage haben sie nämlich gesagt, das hätte man früher immer gesungen, es sei aber eine widerliche Zeit gewesen. Und ich wollte nun mal kein Lied aus einer widerlichen Zeit. Sie sangen es nicht.
Es wurde dunkel, man trank und sang weiter, rief ab und zu „Kolja“ und freute sich. Unterdrückt wie in einem Terrorregime sahen die jungen Leute eigentlich nicht aus. In Zwicke hatten sie sich erzählt, daß ein Berliner Sender (Risa oder so ähnlich, nein wohl eher RIAS, Riesa war ja eine Arbeiterstadt) immer vom Terrorregime der DDR berichtete. Noch verstand ich das alles nicht, aber irgendetwas Unnatürliches mußte los sein in Deutschland.
Gegen 24 Uhr folgte ein schrecklicher Moment. Mir kam zu Ohren, daß man mich jetzt stehen lassen müsse. Ich und hier oben an der Datsche alleine stehen, wo doch die anderen zu ihren Wohnungen gingen! „Nee“, sagte Hilmar, „gleich Totalschaden am ersten Tag, das nicht.“ Als er dabei schwankte, ahnte ich, daß er mich besser doch nicht steuern sollte.
Solche Minuten habe ich später oft erlebt. Ich fand mich damit ab, neben der Datsche zu warten, blau an Farbe, mit dem gelben FDJ-Emblem auf der Kühlerhaube und einem frohen Motor-Herzen. Denn es war ein herrlicher Tag gewesen, damals in der DDR ... Soll das etwa alles nichts getaugt haben? Ob das eine Nische war ... oder einfach nur das Leben?
Am nächsten Morgen kam Karin und wollte mich holen, aber ich sprang nicht an. Es war ein Skandal. Man hatte uns Trabis schon beim Einbau von Vergaser und Elektroanlage ideologisch gestärkt und uns eingebleut, daß wir immer, unter jeder Bedingung, anzuspringen hätten, weil das bei Trabis einfach so sei. Und in der Tat habe ich auch später nur sehr selten gehört, daß ein Trabi nicht ansprang. Und nun das! Und ich war neu! Da vibriert man mal vor Freude, und schon passiert es. Ich nahm mich sehr zusammen, dachte konzentriert an einen laufenden Motor, – und da klappte es. Ich weiß beim besten Willen heute nicht mehr, was damals mit mir los war, vor der Lorenz-Datsche. Man soll sich eben doch vor zuviel Gefühl hüten, Mensch wie Trabi, damit man gut funktioniert. Der Erich, der konnte das. Selbst bei seinem Besuch in Wiebelskirchen in der BRD soll er rasch wieder fit gewesen sein.
Die Zeit verging, und ich lernte das Leben der Menschen verstehen. Ich wußte bald sehr genau, was mit ihnen los war, wie es ihnen ging, auch wenn sie es nicht in meiner Gegenwart erzählten. Es ist besser, wenn ich das jetzt klarstelle, damit man sich nicht noch fragt, woher ich meine vielen Erinnerungen nähme. Ein Trabant ahnt, ein Trabant weiß. So ist das.
Hilmar und Karin waren Lehrer an derselben Schule, er für Russisch und sie für Geschichte. Viel Freude an ihrem Beruf schienen sie zu haben, aber auch viele Probleme. Doch dazu komme ich noch. Erst möchte ich vom ersten Stellplatz in meinem Leben erzählen. Jugenderlebnisse, die auch wir Trabis haben, obgleich wir erwachsen geboren werden, prägen Menschen wie Autos. Ich hatte es nicht schlecht in der Wiesenstraße. Meine Eigentümer wohnten dort im zweiten Stock eines Hauses, das eine goldene Hausnummer trug. Und ich stand unten, inmitten der hohen Häuser des einförmigen Wohnkomplexes auf einem kleinen Parkplatz, zusammen mit vielen Brüdern, auch mit Wartburgs, einigen Škodas und einem Moskwitsch. Wie wurde ich bestürmt, als ich ankam! „Ein neuer ... wie geht‘s denn in Zwickau? Hast du noch sechs Volt oder schon zwölf?“ (Ich habe sechs, leider.) Die Wartburgs waren zurückhaltender; es schien unter ihrer Würde, sich von einem Trabi-Neuankömmling aus der Ruhe bringen zu lassen. Aber freundlich gaben sie sich auch. Und gemeinsam hegten wir starkes Mißtrauen gegen den Mercedes 200, der einige Tage neben uns stand. „Klassenfeind“, murmelte ein NVA-Trabi, so ein Kübelwagen mit Zeltverdeck. Übrigens, wenn der gewußt hätte, welchen Wert er später bei den Klassenfeinden einmal bekommen sollte! Aber damals, da war die Welt noch in Ordnung für uns.
Über die goldene Hausnummer klärte mich am zweiten Tag ein ganz alter Trabi auf, ein rundlicher, einer der ersten. Er wußte über alles Bescheid in der Wiesenstraße. Die goldene Nummer war den Bewohnern als vorbildliche sozialistische Hausgemeinschaft verliehen worden. Sie waren ideologisch gefestigt, halfen einander, sorgten für Sauberkeit und hatten sich einen Kellerraum als Stätte gemütlichen Beisammenseins und gesellschaftlicher Fortbildung ausgebaut. Das Thüringer Tannen Bräu soll dort nie ausgegangen sein, hieß es. Und Wernesgrüner soll auch immer einer gehabt haben ...
Nachbarn von Hilmar und Karin waren ein Offizier der NVA, ein Oberst des MfS mit seiner jungen Frau, einer Parteisekretärin, und ein Rentnerehepaar, das sich nach Thüringen zurückgezogen hatte, – er war Held der sozialistischen Arbeit aus dem Kombinat Schwarze Pumpe und verschreckte das Goldnummerhaus mit seinem heiseren Bronchialhusten.
Nach der Wende, die stramme Marxisten die „Katastrophe“ nennen, war ich noch mehrmals in Suhl. Zweimal stand ich mit Tränen in den Scheinwerfern auf dem kleinen Parkplatz. Den Rundtrabi gab es nicht mehr, und ein anderer erzählte mir, daß es vorbei sei mit der freundschaftlichen Wohngemeinschaft. Man schleiche mehr oder weniger verängstigt und schuldbewußt umeinander herum ... Die goldene Nummer gab es noch. Der Husten hatte aufgehört, Todesfall.
Nach und nach freundete ich mich mit dem Moskwitsch an, ein gemütliches Auto, das sich viel darauf zugute hielt, ein amerikanisches Vorbild zu haben. Man konnte sich da nur wundern, denn sein Herrchen war Hauptmann Prager vom MfS, der Nachbar von Hilmar und Karin. Aber in diesen Kreisen nahm man es nicht so genau. Da fiel schon mal ein für Normalsterbliche unzulässiges Wort. Schließlich zeigte man sich nicht selbst an! Prager war ein schweigsamer Mann, und so konnte mir der Moskwitsch nicht viel erzählen. Dennoch erfuhr ich, daß der Hauptmann in der SU auf der Parteischule gewesen war und sein ganzer Ehrgeiz darin bestand, Republikfeinde zur Strecke zu bringen. Prager führte zu diesem Zweck eine Reihe von zivilen „inoffiziellen“ Mitarbeitern, darunter den schmächtigen Helmut M., der in der Akte „Windhund“ genannt wurde.
Der Windhund wohnte in dem kleinen Dorf Werhausen bei Eisfeld in Grenznähe. Er war regelmäßiger Kneipengänger, gab sich am Stammtisch republikkritisch und lieferte schöne, saubere Berichte über die unachtsamen Äußerungen seiner Trinkbrüder, von denen einer, den sie den Schnetter nannten, nach einem besonders lustigen Abend für einige Tage verschwand, weil er sich „zu einem Sachverhalt“ äußern mußte ... Der Schnetter hat nie erzählt, was damals wirklich los war. Und der Windhund gab sich wieder politisch besonders unvorsichtig, als er nach seiner Arbeit bei der Wasserwirtschaft in fröhlicher Runde seine Bierchen trank.
Hauptmann Prager, vertraute mir der Moskwitsch an, habe auf diese Weise schon zweimal eine Republikflucht vereiteln und die Schuldigen dem Zuchthaus Untermaßfeld zuführen können. „Wir, der Hauptmann und ich, dürfen keine Nachsicht üben. Wir müssen unser sozialistisches Land vor verbrecherischen Einflüssen schützen“, meinte er. Ich, den man Kolja nannte, hatte da keine so ausgeprägte Meinung. Ich dachte immer, sollen sie doch machen, die Menschen, Hauptsache sie sind gut zu mir, fahren mich vernünftig und schmieren mich regelmäßig ab. Ich konnte mich eher an den kleinen Dingen freuen, wie an dem schönen, selbstgestickten Kissen auf meinem Beifahrersitz. Bürgerliche Idylle im Sozialismus, das gefiel mir! Ich war ein gemütlicher Typ, was sich auch an meiner Geschwindigkeit zeigte, vor allem am Berg bei Suhl.
Die kleinen Freuden, die habe ich selbst jetzt noch auf meinem Scheiterhaufen. Stellte man doch gestern mit dem Riesengreifer einen Kollegen neben mich, der Paul und Herbert von der Endmontage im Sachsenring-Werk kannte! Er ist ein eher trauriger Typ, der sich mit seinem Schicksal noch nicht abfinden kann. Während ich mich langsam darauf vorbereitet hatte, indem ich meine Lichtmaschine und die Kupplung immer schwächer werden ließ, war er vor wenigen Tagen mit einem Ford Fiesta zusammengestoßen. Und da war natürlich nichts mehr zu machen, seine Gesundung wäre zu teuer geworden.
So etwas geht jetzt nicht mehr mit der D-Mark, da muß „sich“ alles „rechnen“. Früher? Ja, früher, da hätte die ganze Nachbarschaft geholfen, irgendeinen Weg hätte man schon gefunden. Aber heute? Wer hilft noch? Wo ist sie geblieben, die Solidarität, von der so viel die Rede war, die aber auch praktiziert wurde? Die D-Mark muß eine wundersame Kraft haben. Langsam aber hartnäckig verändert sie die Menschen.
Der Ford Fiesta übrigens, der meinen neuen Scheiterhaufen-Freund die linke Vorderseite gekostet hatte, war, so erzählte der Nachbar, zu schnell gefahren. Oh ja, das können sie, herumrasen, besonders wenn sie von jungen Leuten gesteuert werden, die glauben, die ganze Welt mit ihrer Seligkeit liege unter ihrem Hintern und ihrem rechten Fuß. Und dabei kennen sie die Westautos noch nicht einmal richtig. Also, der Ford war von Hildburghausen nach Werhausen geprescht, hatte sich selbständig gemacht, die scharfe Linkskurve im Dorf (wo es nach Veilsdorf geht), gerade noch geschafft und war dann ein wenig von der Straße abgekommen. Dort, wo der Windhund wohnte, hatte er den Nachbar-Trabi gestreift. „Unangepaßte Geschwindigkeit“, hieß es tags darauf im MDR Radio Thüringen.
Ich war gar nicht böse, daß mein Nachbar ein stiller, melancholischer Typ war. Er sprach nicht viel und störte meine Erinnerungen und Träume nur selten. Wenn uns einmal beide die Traurigkeit als Begleiterin des Alters überkam, konnten wir uns austauschen und gegenseitig trösten. Übrigens: den Windhund hatte er gekannt. Aber was aus ihm geworden war, wußte er nicht.
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