Das Trio - Johanna Hedman - E-Book

Das Trio E-Book

Johanna Hedman

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Beschreibung

Drei Freunde in ihren Zwanzigern: Thora, Hugo und August. Sie stammen aus verschiedenen Welten. Aber in zwei magischen Sommern erleben sie eine Liebe fürs Leben.

Thora, einzige Tochter einer charismatischen Stockholmer Industriellenfamilie. August, angehender Künstler, seit Jahren ihr bester Freund und manchmal auch mehr. Hugo, gleichermaßen fasziniert wie verängstigt von dieser neuen und privilegierten Welt, in die er unvermittelt als Untermieter von Thoras Eltern gestoßen wird. Bald sind die drei unzertrennlich und verbringen jede wache Minute miteinander: in Cafés, auf Radtouren, in Paris, London, Berlin. Unter der Oberfläche lauern starke Gefühle; Themen wie Identität, Klasse und Liebe brechen auf. Das fragile Gleichgewicht zwischen ihnen droht schon bald zu zerbrechen, aber noch ist alles in der Schwebe, noch ist alles möglich.

Das Trio ist ein glänzendes literarisches Debüt: zugänglich und präzise, subtil und elegant. Es erzählt von der Jugend und ihren Aufbrüchen, aber auch von Themen, die zeitlos sind: dem Gefühl der Entfremdung wie auch dem Verlangen nach Zugehörigkeit und Verbundenheit.

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Seitenzahl: 445

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Zum Buch

Drei Freunde in ihren Zwanzigern: Thora, Hugo und August. Sie stammen aus verschiedenen Welten. Aber in zwei magischen Sommern erleben sie eine Liebe fürs Leben.

Thora, einzige Tochter einer charismatischen Stockholmer Industriellenfamilie. August, angehender Künstler, seit Jahren ihr bester Freund und manchmal auch mehr. Hugo, gleichermaßen fasziniert wie verängstigt von dieser neuen und privilegierten Welt, in die er unvermittelt als Untermieter von Thoras Eltern gestoßen wird. Bald sind die drei unzertrennlich und verbringen jede wache Minute miteinander: in Cafés, auf Radtouren, in Paris, London, Berlin. Unter der Oberfläche lauern starke Gefühle; Themen wie Identität, Klasse und Liebe brechen auf. Das fragile Gleichgewicht zwischen ihnen droht schon bald zu zerbrechen, aber noch ist alles in der Schwebe, noch ist alles möglich.

Das Trio ist ein glänzendes literarisches Debüt: zugänglich und präzise, subtil und elegant. Es erzählt von der Jugend und ihren Aufbrüchen, aber auch von Themen, die zeitlos sind: dem Gefühl der Entfremdung wie auch dem Verlangen nach Zugehörigkeit und Verbundenheit.

Zur Autorin

JOHANNAHEDMAN wurde 1993 in Stockholm geboren. Sie hat einen Master-Abschluss in Peace & Conflict Studies von der Universität Uppsala und absolvierte ein Praktikum bei der schwedischen UN-Delegation in New York, wo sie Protokoll bei den Sitzungen des Sicherheitsrates führte. Sie hat in Paris, Indien und in New York gelebt und gearbeitet. Dies ist ihr erster Roman.

JOHANNA HEDMAN

DAS TRIO

Roman

Aus dem Schwedischen von Paul Berf

Luchterhand

Die schwedische Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel »Trion« im Verlag Norstedts, Stockholm Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright © der Originalausgabe 2021

Johanna Hedman / Norstedts, Stockholm

Copright © der deutschsprachigen Ausgabe 2024 Luchterhand Literatur Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: buxdesign | München nach einem Entwurf von Penguin Random House UK

Covermotiv: © Mauritius Images / United Archives / Hansmann / TopFoto.

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-28624-8V002

www.luchterhand-literaturverlag.de

facebook.com/luchterhandverlag

ERSTER TEIL

FRANCESRUFT an einem Tag Ende April an und fragt, ob sie nächste Woche vorbeikommen dürfe. Sie sagt das so – vorbeikommen –, als ginge es darum, an einem Nachmittag auf einen Kaffee vorbeizuschauen, obwohl sie sich auf verschiedenen Seiten des Atlantiks befinden. Sie spricht, als sei sie außer Atem, und er kann sie beinahe vor sich sehen: rote Wangen, die Haare vom Wind zerzaust, vermutlich in einer viel zu dünnen Jeansjacke. Sie hat ein billiges Flugticket nach New York ergattert und betont, dass es ein Direktflug ist, als müsste er ihr zu diesem Schnäppchen gratulieren. Er hat sie lange nicht mehr gesehen und sagt, sie sei natürlich herzlich willkommen. Er erkundigt sich, ob sie bei ihm schlafen wolle, aber sie antwortet, dass sie vorhabe, bei Freunden zu übernachten. Es wird still. Er begreift, dass sie nicht nur angerufen hat, um auf einen Kaffee vorbeizukommen.

»Es gibt etwas, worüber ich mit dir reden will«, erklärt sie.

»Aha«, sagt er. »Und worüber?«

»Mutter.«

»Frances«, sagt er, spricht aber nicht weiter, er rechnet damit, dass sie wahrnimmt, mit welchem Nachdruck er ihren Namen betont.

»Ich weiß, ich weiß«, erwidert sie. »Deshalb will ich es ja auch nicht am Telefon besprechen.«

Er hört ihrem Tonfall an, dass sie ihre Hand ein Stück vom Körper entfernt hochhält, als griffe sie nach etwas Unsichtbarem in der Luft. Er hat sich immer gefragt, ob es eine Geste ist, die sie sich als Kind in den französischen Privatschulen angewöhnt hat, sie wirkt zu ausladend, um dem kühlen Stockholmer Temperament entsprungen zu sein.

»Liegt sie im Sterben?«, fragt er sarkastisch.

»Nein.«

»Ist sie krank?«

»Nein …«

»Na also«, sagt er. »Du darfst gerne vorbeikommen, wenn du hier bist, aber ich möchte nicht über Thora sprechen.«

»Ich mache mir Sorgen um sie.«

»Sie will bestimmt nicht, dass du mit mir über sie redest.«

»Wie kannst du dir da so sicher sein?«

Obwohl Frances es nicht sehen kann, schüttelt er den Kopf. Auf dem Schreibtisch steht das aufgeklappte Notebook, aber der Bildschirm ist erloschen. Er berührt das Touchpad mit einem Finger, ein leeres Dokument taucht auf, und er betrachtet es einige Sekunden, ehe er den Bildschirm zuklappt.

»Du kennst sie doch«, sagt Frances.

»Ich kannte sie.«

Er hört ihre Atemzüge und den Verkehrslärm im Hintergrund. Er versucht, sie sich irgendwo in der Stockholmer Innenstadt vorzustellen, ist sich aber nicht mehr sicher, ob die Orte existieren oder ob sie eine Verschmelzung von Erinnerungen an eine Stadt in einem eigentümlich blauen Licht sind, wie alte Postkarten.

»Du kommst hoffentlich nicht deshalb hierher?«, fragt er.

»Nein«, antwortet sie.

»Bist du jetzt sauer auf mich?«

»Ich fliege nicht über den Atlantik, um mit dir über meine Mutter zu sprechen.«

»Okay. Gut.«

»Willst du mich immer noch sehen?«

»Ja, natürlich.«

»Man weiß nie.«

Es gefällt ihm nicht, dass sie das sagt, aber er protestiert nicht.

»Melde dich, wenn du hier bist«, sagt er, ehe sie auflegen.

*

Einige Jahre sind vergangen, seit Frances das erste Mal an seiner Tür klopfte. Er öffnete, und Frances sagte:

»Hallo.«

Und dann:

»Ich glaube, Sie kannten meinen Vater.«

Er hatte sie nicht gefragt, wer ihr Vater war. Es war nicht nötig. Er ließ sie herein.

Frances war in dem Jahr Gaststudentin. Anfangs wohnte sie bei einer von Thoras Cousinen, später zog sie in ein Wohnheim an der Upper West Side. Sie erzählte ihm, außer Thoras Cousine kenne sie niemanden in New York. Sie war einsam.

Er gewöhnte sich daran, dass Frances ein Teil seines Lebens wurde. Nachmittags nahm sie die U-Bahn zu ihm und saß in seinem Wohnzimmer oder in der Küche und lernte bis zum Abend. Sie meinte, sie könne sich bei ihm besser konzentrieren als im Wohnheim. Er gab ihr einen Schlüssel für seine Wohnung. Es gefiel ihm, von der Arbeit heimzukommen und sie auf der Couch oder am Küchentisch vorzufinden, umgeben von Lehrbüchern, Notizblöcken und Textmarkern. Abends spendierte er ihr meistens das Taxi nach Hause. Sonntags lud er sie zum Essen in ein Restaurant ein, und sie aß, als hätte sie die ganze Woche keine richtige Mahlzeit zu sich genommen. Sie stellte ihm Fragen zu August, die er zu beantworten versuchte, so gut er konnte, aber er hatte viele Jahre nicht mehr über August gesprochen und hatte das Gefühl, dass seine Antworten nicht ganz so erschöpfend waren, wie Frances gehofft hatte. Er traute sich nicht, sie nach Thora zu fragen. Aus dem, was Frances beiläufig erwähnte, erschloss er, dass Thora mit einem Franzosen verheiratet war, mit dem sie zwei Söhne hatte. Sie lebte nach wie vor in Stockholm.

Er stellte Frances seinen Freunden vor und lud sie ein, wenn er ein Essen gab. Wenn seine Freunde ihn nach Frances fragten, antwortet er ihnen ehrlich, sie sei ein Kind alter Freunde aus der Studienzeit, aber er nannte keine Details, und sie gaben sich mit seiner knappen Antwort zufrieden. Seine Freunde waren Zugezogene, mehrere von ihnen stammten aus anderen Ländern, und es war nicht üblich, einander nach dem früheren Leben zu fragen. Damals wohnte er in einer kleinen Wohnung, in der die Tischplatte des Esstischs auf wackeligen Beinen ruhte und jede Mahlzeit zu einem Balanceakt machte, aber der Freundeskreis versammelte sich gerne bei ihm, weil die Lage einen Knotenpunkt der unterschiedlichen U-Bahn-Linien aller Anwesenden bildete. Gegen Ende des Abends kletterten sie immer aus dem Fenster auf die Feuertreppe hinaus und rauchten einen Joint, während sie sich beiläufig darüber unterhielten, irgendwohin zu ziehen, wo einem die Wohnungen weniger wie Papphäuser erschienen, die auf dem besten Weg waren, auseinanderzufallen. Er verbot seinen Freunden, Frances Gras und Zigaretten anzubieten. Frances saß gern am Kopfende des Tischs und lauschte dem Klatsch seiner Freunde über ihre Kollegen und Chefs. Wenn er sie über den Tisch hinweg ansah, spürte er manchmal einen Sog in sich, es kam ihm vor, als drehte man an einem Kaleidoskop mit Bildern aus der Erinnerung, bis die Muster miteinander verschmolzen und er sich in der Fortsetzung von etwas befand, das er vor Jahren hinter sich gelassen zu haben glaubte.

Als Frances’ Studienjahr endete, half er ihr beim Auszug aus dem Studierendenwohnheim. Den Kofferraum voller Reisetaschen brachte er sie zum Flughafen, und sie flog heim nach Europa. Danach glaubte er, dass alles zur Normalität zurückkehren würde, was in gewisser Weise zutraf, auch wenn sie eine neue Art von Stille in seiner Wohnung hinterließ.

Mittlerweile arbeitete sie als Journalistin. Obwohl er sie nur selten trifft, ruft sie ihn regelmäßig wegen Artikeln an, die sie schreiben wird, Artikeln, die sie schreiben will, und Artikeln, für die sie keine Abnehmer findet. Wenn sie auf Schwedisch schreibt, liest sie ihm manchmal einzelne Abschnitte vor und fragt anschließend: Ist das gutes Schwedisch? Kann man das so auf Schwedisch sagen?, was ihn über dieses dreisprachige Kind schmunzeln lässt, das mit rasender Geschwindigkeit die Sprachen wechselt, ungefähr so, als würde sie ihre Kleider von sich werfen und den neuen Pullover auf links überstreifen und es erst merken, nachdem sie schon zur Tür hinaus ist. Er antwortet ihr regelmäßig, dass er nicht der Richtige sei, um das zu beantworten, dass sie eine der wenigen sei, mit denen er noch Schwedisch spreche. Wenn sie trotzdem darauf besteht, testet er die Sätze still für sich, um Abweichungen zu entdecken, obwohl er die Unebenheiten durch falsche Präpositionen oder Bezüge nicht mehr instinktiv erfassen kann. Frances’ Fragen zu beantworten ist wie der Versuch, die Beweglichkeit in einer eingeschlafenen Hand zurückzugewinnen. Er lässt sich niemals anmerken, wie schlecht er sich dabei fühlt.

*

Auf dem Weg zur Arbeit hatte er einmal Thora gesehen. Besser gesagt glaubte er, dass sie es war, die auf dem gegenüberliegenden U-Bahn-Steig stand: roter Mantel, offenes Haar, in ihr Handy versunken, eine Hand auf die Schultertasche gelegt. Aus den Augenwinkeln nahm er fette graue Ratten wahr, die über die Gleise rannten, während er versuchte, sie zwischen den Balken besser zu erkennen, die die beiden Bahnsteige voneinander trennten. War sie es? Ihm brach der kalte Schweiß aus, sein Herz raste in der Brust, aber der Rest seines Körpers erstarrte. Er hatte vergessen, wie es sich anfühlen konnte oder vielmehr – wie intensiv sich etwas anfühlen konnte.

Sie war es nicht.

Sie war es.

Er wartete darauf, dass sie aufschaute, er musste nur flüchtig ihr Gesicht sehen, um sich sicher zu sein. Dann donnerte der Zug in die Station, und als er weiterfuhr, war die Frau in dem roten Mantel verschwunden. In den nächsten Tagen suchte er im Menschengewimmel des Berufsverkehrs nach ihr, ließ den Blick über alle Köpfe hinweg schweifen und versuchte einen Zipfel von etwas Rotem zu entdecken, von etwas, das sein Herz ins Wanken bringen würde. Aber er sah sie nie wieder.

*

Auf der Straße kommt er manchmal an Menschen vorbei und schnappt Fragmente von Gesprächen auf, die auf Schwedisch geführt werden, und für einige Sekunden fragt er sich, welche Sprache das ist, ehe er erkennt, dass es seine Sprache ist. Gelegentlich sitzt er in Bars und Restaurants neben Menschen, die sich auf Schwedisch unterhalten, und lauscht ihnen still und mit ungerührter Miene. Niemand hält ihn für etwas anderes als einen Amerikaner, und er denkt, dass er letztlich niemals dem Klischeebild eines Skandinaviers entsprochen hat. Es kommt vor, dass Amerikaner, die erfahren, woher er kommt, die Nase rümpfen, als träte etwas prägnant Nordisches hervor, wenn sie blinzeln. Dann ergänzt er stets, seine Großmutter sei Amerikanerin gewesen, und aus irgendeinem Grund ruft diese Informationen ein »Aha« hervor, als erklärte seine amerikanische Herkunft eine Art Abwesenheit bei ihm.

*

Als Frances nach New York kommt, schickt sie ihm eine Nachricht, und sie verabreden, sich am Wochenende zu treffen. Das Frühjahrssemester steht kurz vor dem Abschluss, und er hat keine regelmäßig stattfindenden Vorlesungen oder Seminare mehr, aber von Zeit zu Zeit melden sich Studierende bei ihm oder tauchen vor seinem Büro auf und stellen ihm Fragen zu Prüfungen und Noten. Am Freitagabend wird traditionell ein Abschlussabend veranstaltet, zu dem sich das ganze Institut und sämtliche Studierende in einem roten Backsteinbau in der Nähe des Washington Square Park versammeln. Offiziell wird nur Kaffee und Tee getrunken, aber fast alle sind schon zu Beginn des Abends entweder bekifft oder angesäuselt. Er sitzt auf der Treppe am Eingang, umgeben von Studierenden und Kollegen. Jemand streichelt seinen Arm, aber er sieht nicht, zu wem die Hand gehört, es interessiert ihn nicht. Er denkt, wenn er seine Hände ausstreckte, würden die Handflächen ein unsichtbares Material berühren, das ihn von den anderen trennt.

In der Nacht zum Samstag wird er von Muskelverspannungen in den Schultern geweckt, die ihm stundenlang den Schlaf rauben. Der Schmerz ist ihm vertraut, er verhält sich immer gleich: Er beginnt als ein Ziehen in der rechten Schulter, dessen Intensität zunimmt, sich in die linke Schulter ausbreitet und in den Nacken ausstrahlt, zu den Kiefern, wo sich der ziehende Schmerz tiefer nach innen bohrt. Am Ende steht er auf, geht in die Küche und macht sich einen Tee. Während das Wasser kocht, liegt er auf dem Fußboden und schaut an die Decke. Er trinkt den Tee nicht, kippt stattdessen ein Glas Whisky hinunter und geht duschen. Er richtet den heißen Wasserstrahl auf den Schmerzpunkt in der rechten Schulter, während er den Mund zu einem stummen Schrei öffnet. Hinterher legt er sich aufs Bett, nackt und nass, und weiß nicht, ob er am Ende aus schierer Erschöpfung einschläft. Als er am Morgen aufwacht, ist alles wie immer, als würde das Schlachtfeld des Körpers vorübergehend hinter sich aufräumen, die Spuren verwischen und so tun, als wäre nichts gewesen.

*

Eines Nachts hatte ihm Thora ein paar Zeilen aus einem Gedicht von Seidel ins Ohr geflüstert. Sie hatte sich bei ihm beklagt, dass sie nicht schlafen könne, und er hatte ihr geraten, etwas zu rezitieren, irgendwas. Er rechnete nicht damit, dass sie seine Aufforderung ernst nehmen würde, und sie lag lange reglos neben ihm, so lange, dass er am Ende glaubte, sie wäre doch eingeschlafen, aber da drehte sie sich zu ihm um, und dann kamen die Worte, warm und feucht auf seiner Haut … Es waren Zeilen, die er schon mehrmals aus ihrem Mund gehört hatte wie ein Lied, das ihr im Gedächtnis geblieben war, seit sie die Gedichtsammlung in einer Buchhandlung in Paris gekauft hatte: I read my way across / The awe I wrote / That you are reading now. / I can’t believe that you are there / Except you are. Wie seltsam, dass Englisch so schön klingen konnte. Aus dem Mund eines Mädchens aus der Stockholmer Oberschicht.

*

Am Samstagnachmittag klingelt Frances bei ihm. Es ist heiß draußen, und sie tritt mit einem Gesicht in den klimatisierten Flur, das von Schweiß glänzt.

»Dass es hier so heiß werden kann«, sagt sie, während sie ihre Schuhe auszieht. »Bleibst du im Sommer wirklich in der Stadt?«

»Nicht, wenn ich es vermeiden kann.«

»Meine Freunde sagen, dass es hier dann ganz schrecklich ist.«

»Es ist schrecklich.«

Sie sehen sich an. Sie ist größer als ihre Mutter und muss sich nicht auf die Zehenspitzen stellen, um ihn zu umarmen. Sie gehen in die Küche, die mit dem Wohnzimmer verbunden ist und ein L um den länglich schmalen Flur bildet. Frances erzählt, dass in der U-Bahn-Station Greenpoint Flüssigkeit von der Decke herabtropfte. Er gibt ihr ein Glas Wasser mit Eiswürfeln. Während er die Kaffeemaschine anstellt, verschwindet sie ins Wohnzimmer und fragt ihn, ob er allein lebe.

»Die meiste Zeit«, antwortet er.

»Ist sie nicht zu groß?«

»Vermutlich. Ich habe die Wohnung von der Uni.«

»Du musst sehr gut verdienen, um so wohnen zu können«, sagt Frances, als sie in die Küche zurückkehrt.

»Brauchst du Geld?«

»Was? Nein.«

»Ich habe gedacht, Studierende, die frisch von der Uni kommen, bräuchten immer Geld.«

»Ich brauche dein Geld nicht.« Frances setzt sich an den Küchentisch, verschränkt die Hände und lässt sie darauf ruhen. »Ich weiß, dass du mich verwöhnt findest.«

»Du bist okay«, sagt er und ergänzt mit einem Lächeln: »Mit dir hätte es ein richtig übles Ende nehmen können.«

Wenn er an Thora und Frances denkt, sieht er sie geschützt von einem feinmaschigen Netz, das jeden Sturz abfedert. Normalerweise sieht man die Fäden nicht, aber manchmal schimmern sie in der Gestalt von Fehlern und Problemen hindurch, die trotzdem niemals an sie herankommen werden. Das hat ihn seit jeher provoziert, gleichzeitig will er, dass sie wohlbehütet von einer Schicht aus Freiheitskapital umschlossen werden.

Frances erzählt von ihrer Reise nach New York – lang und mühsam –, von der Wohnung in Greenpoint, in der ihre Freunde wohnen – verwohnt, aber gemütlich –, davon, wie es ihren kleinen Brüdern geht – der eine studiert in Paris und ist frisch verliebt, der andere lebt in Stockholm und spielt Theater. Sie spricht nicht über ihre Mutter, er wartet darauf, dass sie es tut, und denkt gereizt, dass sie es genauso gut hinter sich bringen können, weil er weiß, dass Frances anfangen wird, über Thora zu reden, als würde seine frühere Weigerung nicht gelten, weil sie telefonisch übermittelt wurde, und vielleicht kann sie ihn ja jetzt überreden, wenn sie sich Auge in Auge unterhalten – er weiß, dass sie so argumentieren wird. Aber Frances sagt nichts über ihre Mutter. Stattdessen spricht sie über ihren Umzug nach Kopenhagen, wie Kopenhagen im Vergleich zu Stockholm ist, zählt nachdenklich die dänischen Vokabeln auf, die sie gelernt hat, als würde sie kleine Schätze aufreihen, die sie bei einem Ausflug gefunden hat.

Anschließend sieht sie ihn über den Rand ihrer Kaffeetasse hinweg ernst an und fragt: »Wirst du nie wieder nach Stockholm kommen?«

»Ich glaube nicht.«

»Aber das ist doch dein Zuhause.«

»Nicht mehr.«

»Dann bleibst du also hier?«

Er lächelt über die bekümmerte Falte auf ihrer Stirn. Er könnte ihr sagen, dass er Stockholm nie so geliebt hat, wie Thora und August es taten, weiß aber, dass auch Frances sehr an ihrer Heimatstadt hängt. Sie würde seine zwiespältige Beziehung zu Stockholm als persönliche Beleidigung auffassen, und deshalb zuckt er als Antwort nur mit den Schultern, als interessierte ihn das Thema nicht.

»Verführt vom Big Apple«, sagt sie. »Ich dachte, du stehst über solchen Klischees.«

»Nein, das tust du«, erwidert er. »Hast du Thora erzählt, dass du dich mit mir triffst?«

»Ja.«

»Spricht sie jemals über mich?«

»Nicht direkt.«

»Aber?«

»Nichts aber – sie spricht nicht über dich.«

Es gelingt ihm, die Frage hinunterzuschlucken, ob Thora noch an ihn denkt. Woher soll Frances das wissen.

*

Als er Thora das letzte Mal in Stockholm traf, saßen sie in einem Café in der Nähe des Vasaparks, in dem gerade die Bäume erblüht waren. Er hat dieses Gespräch so viele Male innerlich abgespult, dass die Szene zusammengefaltet in ihm liegt und er sie jederzeit auseinanderfalten kann wie ein erstarrtes Tableau, über das er den Blick schweifen lässt, ohne zu wissen, wonach er sucht.

Sie saßen sich an einem kleinen, wackeligen Tisch gegenüber, er trank Kaffee, und sie aß einen Salat. Später hat er gedacht, dass sie damit vermutlich eine strategische Wahl getroffen hatte; sie konnte sich auf ihr Essen konzentrieren, sorgfältig das Gemüse und die Salatblätter in kleine Happen schneiden, langsam kauen, sich die Mundwinkel mit der Serviette abwischen. Die wenigen Male, die sie aufschaute, war ihr Blick über sein Gesicht geglitten, als gäbe es dort nichts, woran sie Halt finden könnte. Trotzdem hatte er ihr gegenübergesessen und vergeblich versucht, irgendwie Blickkontakt zu bekommen. Er betrachtete die gesenkten Wimpern vor der sommersprossigen Haut, die Ohrläppchen mit ihren kleinen, goldenen Ohrringen, den sehr geraden Mittelscheitel. Alles um sie herum schien zusammenzufallen, einzustürzen. Wie horizontale Bildstreifen von Landschaften vor Zugfenstern flimmerte vertikal das Café vorbei, von der Decke durch den Fußboden.

»Sag mir, was ich sagen soll«, meinte er schließlich.

»Das geht nicht. So funktioniert das nicht«, erwiderte sie.

*

Auf Englisch erfand er sich neu. Demontierte er ein Ich, das zu zerrupft war von allem, was er nicht kontrollieren konnte, und montierte ein neues Ich zusammen, in das die unpersönliche englische Sprache nicht einzudringen vermochte. Er erlebt die Welt auf Englisch nicht genauso unmittelbar. Es gibt keine direkte Verbindung zwischen den Gefühlen und den englischen Worten, die sie etikettieren, nur Umwege.

*

Als Frances in New York studierte, hatte er seine Stelle an der Universität noch nicht angetreten. Er arbeitete nach wie vor für die große internationale Organisation und verbrachte seine Arbeitstage in einer grauen Kabine in einem Büro, dessen niedrige Decke nur zum Teil durch die Aussicht auf die Wolkenkratzer kompensiert wurde. Er erzählte Frances von stundenlangen Verhandlungen über ein einziges Wort, von Etatbesprechungen und Einsparungen, aber Frances hörte ihm nicht zu oder wollte ihm nicht zuhören. Sie war nicht offen für Beschreibungen der Wirklichkeit, die andeuteten, dass das Leben als Erwachsener eher aus Wiederholungen und Routine bestand, geformt von einer eigentümlichen Mischung aus Stress und Tristesse, und weniger aus Spannung und Abenteuer. Er hegte den Verdacht, dass sie keine Gelegenheit ausließ, ihre Mitbewohner darüber zu informieren, dass sie jemanden kannte, der im Hauptquartier arbeitete. Er erklärte, dass er ihr kein Praktikum beschaffen könne, und wiederholte es noch einmal, als sie ihn fragte, ob er sie mit hineinnehmen und ihr alles zeigen könne.

»Jeder kann hineinkommen«, sagte er. »Man muss nur eine Zeit buchen.«

»Es ist anders, wenn man jemanden kennt«, erwiderte sie.

Er fand sie zu jung, um auf eine so krasse Weise einverstanden zu sein mit dem Unterschied der verschiedenen Zugangsmöglichkeiten. Dann fielen ihm die Clubs ein, in die ihr Großvater sie mitnahm, wenn er zu Besuch war, die Häuser mit Marmorböden und Portiers, in denen Frances’ Kommilitonen wohnten, ihre Art, über europäische Städte zu sprechen, als wäre die ganze Welt eine einzige lauschige Nachbarschaft. Deshalb protestierte er nicht, denn Frances hatte recht: Es war anders.

Eines Morgens stellte er sich mit ihr, den Touristen und den Schulklassen in die Schlange, die sich Tag für Tag an dem hohen Zaun und den Fahnenmasten bildete. Er zeigte dem Wachpersonal seinen Dienstausweis und seinen Passierschein und wartete auf Frances, die durch die Sicherheitskontrolle musste. Er meint, sich an einen sonnigen Herbsttag zu erinnern, es war ein schlechter Tag, um Frances’ Optimismus einen Dämpfer zu verpassen. Als sie durch die Schwingtüren gingen, strahlte sie ihn an und hielt die Riemen ihres Rucksacks umklammert wie die größere Version eines Schulkinds in Uniform. Er zeigte ihr die Räume der Ausschüsse, die Gemälde und Skulpturen, die ihm am besten gefielen, das kleine Café im fensterlosen Erdgeschoss, wo Diplomaten leise Gespräche führten, die prunkvollen Salons, die von reichen Ölförderländern eingerichtet worden waren, die Bar im ersten Stockwerk, in der sich Menschen mit Passierschein jeden Freitagabend trafen, um auf der Terrasse Wein zu trinken. Es war eine Welt, die Frances nicht unbekannt war, und sie verhielt sich auch nicht wie jemand, der erwartete, jeden Moment von einem Wächter hinauseskortiert zu werden. Als sie mit den Fahrstuhlführern scherzte und auf dem Schachbrettmuster des Fußbodens Hüpfen spielte, erkannte er, dass Frances zu Thoras Welt gehörte, nicht zu Augusts, auch wenn ihre ausgelatschten Schuhe, der Rucksack und die Jeans einen anderen Eindruck erweckten. Sie sah aus wie August, redete und bewegte sich jedoch wie Thora. Es war verwirrend.

*

Sie machen einen Spaziergang. Draußen bewegen sich alle Menschen langsam, als machte die Hitze die Luft zu einem physischen Objekt, das man verdrängen musste, um voranzukommen. Die Feuchtigkeit presst sich gegen die Haut und legt sich wie eine glänzende Membran darauf, sie lässt ihn an die durchsichtigen Plastikfolien auf den Bildschirmen neuer Elektronikgeräte denken, und er streicht sich über den Arm, als wollte er den losen Zipfel finden, um die Feuchtigkeit abzuziehen. Aus den Kirchen entlang der Avenues strömen sonntäglich gekleidete Menschen, die wie verschlafen im grellen Sonnenlicht blinzeln, das auf den Straßen liegt, auf deren Bürgersteigen die Cafés geöffnet haben, Nachbarn des Verkehrs.

Frances fragt ihn, ob er Lust habe, ins Museum zu gehen. Er muss Arbeiten benoten, weiß aber schon, dass er sich nicht auf sie wird konzentrieren können, und sagt ja. Vom Union Square aus nehmen sie die U-Bahn und laufen anschließend ein paar Häuserblocks zum Museum. Die Treppen sind voller Touristen, die vor dem Gebäude posieren. Er hat die Hemdsärmel hochgeschlagen und trägt sein Jackett über dem Arm. Am Eingang nimmt sich Frances einen Lageplan und studiert ihn eingehend, während sie vor der Kasse anstehen. Die Frau am Ticketschalter will wissen, ob sie Karten für die große Gedächtnisausstellung über die Pandemie haben wollen.

»Sie wurde am zwanzigsten Jahrestag eingeweiht«, verdeutlicht sie und zeigt auf eine Schachtel mit Masken auf dem Tresen. »Jeder, der sie besucht, muss eine tragen.«

Sie scheint im selben Alter zu sein wie Frances; vermutlich zu jung, um eigene Erinnerungen daran zu haben. Er lehnt schnell dankend ab, plötzlich wird ihm Frances’ kompaktes Schweigen hinter ihm bewusst.

Als sie die Treppen hinaufsteigen, fort von den Besuchern, die Masken mit dem Logo des Museums tragen, hält Frances den Plan vor sich hoch, als führte sie ihn und sich in einer fremden Stadt. Sie geht geradewegs zum amerikanischen Flügel und lässt dort mehrere Flure und Säle hinter sich, bis sie vor ein paar Porträts von Sargent stehen bleibt, und dort verweilt sie, schweigend. Er beobachtet sie, während sie mit verschränkten Armen davor steht, die Hände um die Ellbogen geschlossen, so als führten die Porträts ein Gespräch, und als wüsste sie nicht, ob es ihr erlaubt war, sich daran zu beteiligen.

»Mutter sagt, dass Vater diese Gemälde geliebt hat«, sagt sie. »Schau mal.«

Und er schaut, sagt aber nichts. Er findet, dass er die Frühjahrswärme draußen spüren kann wie ein schnaubendes Tier, das mit dem Kopf gegen das Gebäude stößt.

Frances wirft einen Blick auf ihn. »Gefallen sie dir?«

Er erkennt das Porträt der blassen Frau im schwarzen Kleid. In Augusts Bude hing ein Poster davon. Ein Schweißtropfen läuft seinen Nacken hinab. Er wünschte, er könnte das Jackett von sich werfen – warum hat er es bloß mitgenommen?

»Ein bisschen zu traditionell«, sagt er.

»Traditionell?«

Er lächelt sie an und geht weiter, betritt den nächsten Raum. Als er sich umdreht und Frances durch die Türöffnung betrachtet, ist sie wieder dazu übergegangen, die Porträts zu studieren.

Hinterher gehen sie im Park spazieren. Das Grün leuchtet glitzernd, und die Wolkenkratzer türmen sich hinter den Bäumen auf wie künstliche Gebirgsketten mit Glasgipfeln, die das Sonnenlicht reflektieren. In dem runden Teich nahe der Fifth Avenue spielen Kinder mit Segelbooten in Modellgröße.

Als sie eine Weile schweigend gegangen sind, fragt Frances: »Würdest du sagen, dass du glücklich bist?«

»Frances. Nun komm schon.«

»Was denn?«

Er schüttelt den Kopf. »So etwas kannst du nicht einfach so fragen.«

»Und warum nicht?«

»Bist du glücklich?«

Frances hebt die Hand, um ihr Gesicht zu beschatten, als sie ihn ansieht.

»Manchmal bin ich das.«

*

Als er seine erste Stelle in einem Büro bekam, in dem das Tragen eines Anzugs obligatorisch war, dachte er jeden Morgen, dass er sich mit einer gewissen Ironie anzog. Es war ein Spiel für den Broterwerb, an dem sich alle beteiligen mussten. Erwachsen zu werden heißt, sich zu verkaufen, aber solange jemand anderes die Ironie daran wahrnimmt, fällt es einem leichter, sich eine Form von Selbstrespekt zu bewahren. Er hat niemanden mehr in seiner Nähe, von dem er weiß, dass er oder sie diese Ironie wahrnimmt, und hegt den Verdacht, dass er inzwischen auf einer Wellenlänge kommuniziert, für die kein anderer empfänglich ist. Er weiß, dass er äußerlich eins geworden ist mit Hemd und Jackett, es gibt keinen Raum, in den die Ironie eindringen und das Bild eines zufriedenen Mannes mittleren Alters ins Wanken bringen kann. Er fragt sich, ob die Studierenden ihn anschauen und was – einen Heuchler sehen? Thora und August hätten darüber gelacht.

*

Anfangs hatte New York ihm nicht gefallen. Die Stadt hatte ihm auch nicht direkt missfallen, aber er verstand nicht, warum die Menschen mit leuchtenden Augen nach Europa zurückkehrten, als wären sie von einem hellen Licht geblendet worden. Es war nur eine Stadt. Mit hohen Häusern und breiten Straßen und einer altmodischen U-Bahn. Dann begann er, abends lange Spaziergänge zu machen. Er lief gern planlos herum, schlängelte sich auf und ab durch die Viertel, um später zu begreifen, dass er nicht die geringste Ahnung hatte, wo er sich befand. Er ging in kleinen Restaurants essen, zu denen er selten zurückkehrte, weil er vergaß, wie er dorthin gekommen war. Er schaute nicht auf Stadtpläne und winkte gegen Mitternacht ein Taxi heran. Anhand der Straßenzahlen wurde ihm klar, dass es Stunden gedauert hätte, zu Fuß heimzugehen. Mit schmerzenden Füßen saß er tief in die Rückbank des Taxis gesunken, während auf dem Bildschirm, der an den Sitz vor ihm montiert war, Werbefilme liefen. Er lehnte den Kopf ans Fenster, blickte auf die Menschen und Geschäfte und Restaurants und Cafés und Baustellen und Parks und Bushaltestellen hinaus, und daraufhin entstand ein seltenes Gefühl der Ruhe in ihm, eine Art Erschöpfung und Sättigung durch Eindrücke, die dazu führte, dass er sich aufgelöst fühlte, als hätte sich die Grenze zwischen ihm und der Stadt zeitweilig aufgelöst. Er war niemand und gleichzeitig alle. In diesen Nächten schlief er immer tief und fest.

*

Sie gehen zu einem Café in der Amsterdam Avenue, in der Nähe des Parks. Er stellt sich an und holt Kaffee und Gebäckstücke, während Frances zu einem freien Tisch am hinteren Ende des Raums läuft. Als er bezahlt hat, winkt sie ihm zu.

»Hier bin ich früher immer hingegangen, wenn ich gelernt habe«, sagt sie.

»Ich weiß«, erwidert er und erinnert sie daran, dass sie immer Gebäck in kleinen Kartons dabeihatte, wenn sie bei ihm zu Hause saß und vor einer Prüfung lernte: knusprige Blätterteigteilchen, die sich bei der leisesten Berührung in Krümel auflösten, die zwischen den Bodendielen hängenblieben und in den Nächten Mäuse anlockten.

Der Kaffee ist heiß, brennt im Mund. Er trinkt ihn langsam, während Frances isst. Sobald der Teller leer ist, schiebt sie ihn von sich, faltet die Hände auf dem Tisch und sieht ihn ernst an, als wäre alles, womit sie den Tag verbracht hatten, nur etwas gewesen, das abgehakt werden musste.

»Ich mache mir Sorgen um Mutter«, sagt sie.

»Aha?«

»Sie hat angefangen, sich von Sachen zu trennen. Sie will die Wohnung in Lärkstaden verkaufen.«

»Wo will sie denn wohnen?«

»Das weiß ich nicht. Sie erzählt mir nicht, was sie vorhat. Die Immobilienanzeige ist mir rein zufällig ins Auge gefallen, sonst hätte ich nicht einmal gewusst, dass sie die Wohnung verkaufen will. Mutter liebt diese Wohnung.«

»Vielleicht findet sie ja, dass sie zu groß ist.«

»Aber ist das nicht eigenartig? Dass sie auf die Idee kommt, quasi ihr Elternhaus zu verkaufen?«

»Ich weiß nicht.« Er denkt daran, wie es war, in dem Flur zu stehen, der durch die ganze Wohnung lief, und das Sonnenlicht zu betrachten, das in rechteckigen Formen durch die Türöffnungen hereinfiel, die Ränder von Schatten und Sonne auf dem Fischgrätenparkett. »Vielleicht.«

»Sie sagt nur, dass sie frei werden will.« Frances spricht das Wort aus, als wäre der Gedanke an die Freiheit eines erwachsenen Menschen lächerlich, auf eine Weise lächerlich, wie es die Freiheitssehnsucht eines jungen Menschen nicht sein muss.

»Wenn du glaubst, dass ich sie daran hindern kann, die Wohnung zu verkaufen …«

»Nein. Das glaube ich nicht. Ich finde nur, dass du es wissen solltest.« Sie sieht ihn herausfordernd an, als würde sie trotzdem tatkräftiges Handeln von ihm erwarten. Er begegnet sanft ihrem Blick. Er fragt sich, warum sie der Meinung ist, dass ihn Thoras Immobiliengeschäfte etwas angehen, spricht die Frage aber nicht aus. Es kommt ihm vor, als sprächen sie über eine mythenumsponnene Person, die es einst vielleicht gab, die nun jedoch ohne Konturen ist. Er kann sich Thoras Alltag nicht mehr vorstellen – was sie zum Frühstück isst, wie sie sich kleidet, woran sie vor dem Einschlafen denkt. In seltenen Momenten hat er eine Eingebung, was sie über das eine oder andere gedacht haben könnte, aber das passiert in der Regel in ganz banalen Situationen, zum Beispiel, wenn er eine Besprechung mit einem Kollegen hat und nur daran denken kann, dass Thora der pluderige Schnitt seiner Hose auffallen würde, dass das Hemd zu lang ist und die Schuhe zu leger für ein Büro sind.

»Sie sagt, wir brauchen sie nicht mehr, weil wir jetzt erwachsen sind und unser eigenes Leben haben. Manchmal bekomme ich solche Angst, dass sie verschwindet«, fährt Frances fort. »Dass sie weggeht …«

»Wie ich es getan habe«, sagt er, weil er das Unausgesprochene in ihrem abrupten Verstummen hören kann.

»Ja«, sagt sie. »Wie du.«

Er streicht mit der Hand über den Tisch, fegt einen kleinen, säuberlichen Haufen Krümel zusammen. Weicht ihrem Blick aus.

»Ich wünschte, ich hätte meinen Vater gekannt«, sagt sie.

»Natürlich wünschst du dir das«, sagt er und versucht, sanft zu klingen, aber er hört, dass sein Satz auf Schwedisch unabsichtlich hart herauskommt, sich auf eine Weise teilnahmslos anhört, wie es die englische Erwiderung in seinem Kopf nicht getan hatte.

Frances wechselt die Position und richtet sich auf, als wollte sie sich der veränderten Form und Richtung des Gesprächs anpassen.

»Es kann ganz schön schwierig sein, sich mit dir zu unterhalten, weißt du das?«, sagt sie.

»Nein.«

»Du bist gut darin zu plaudern, wie alle hier, aber manchmal hast du auch etwas Verschlossenes. Zum Beispiel, wenn ich versuche, mit dir über etwas Wichtiges zu reden.«

»Verschlossen?«

»Ja, na ja, du ziehst dich zurück.«

»Nur weil du über etwas sprechen willst, heißt das noch lange nicht, dass ich es auch will«, sagt er.

Frances begegnet seinem Blick über den Tisch hinweg, und er denkt, dass es ist, als sähe sie ihn von einem fernen Ort aus an, und er weiß nicht, ob es sie ist, die sich von ihm entfernt, oder er, der sich von ihr entfernt.

»Ich bin nur eine blasse Kopie von ihnen, stimmt’s?«, sagt sie.

»Du erinnerst mich an sie.«

»Wenn du mich siehst, siehst du sie.«

»Ich sehe auch dich, Frances.«

»Liebst du sie?«

Er erkennt, dass Frances inzwischen die Einzige ist, die auf die Idee kommen kann, ihm eine solche Frage zu stellen. Niemand anderem käme es in den Sinn, sich mit ihm über die Liebe zu unterhalten, es sei denn als theoretisches Konzept. »Love is a social construct«, hatte einer seiner Studierenden einmal während eines Seminars bemerkt, und er erwägt für einen Moment, auf diese Antwort zurückzugreifen.

»Ich liebe sie beide«, sagt er stattdessen und ist unsicher, welche Zeitform er benutzen soll.

Frances wirkt erstaunt, vielleicht hatte sie gar keine Antwort erwartet. Ihre Körperhaltung wird entspannter, und er ist seltsam zufrieden, als hätte er sie überzeugt. Sie schweigen eine Weile, und er isst sein Croissant, während Frances suchend in ihrer Tasche wühlt. Sie findet ein Notizbuch und einen Stift, reißt ein Blatt heraus und schreibt etwas auf ihrem Schoß, die Kappe des Stifts zwischen den Lippen. Anschließend steckt sie Buch und Stift in die Tasche und wendet sich wieder ihm zu.

»Es ist nie zu spät«, sagt sie und schiebt ihm den Zettel zu, auffordernd. Er schaut auf die Telefonnummer, sieht die schwedische Ländervorwahl. Es ist vielleicht das Naivste, was er jemals von ihr gehört hat, aber er nimmt den Zettel, ohne zu protestieren.

»Wollen wir gehen?«, sagt Frances.

Er nickt.

Nach ein paar Häuserblocks trennen sie sich an einer Kreuzung. Er möchte zu Fuß weitergehen, sie will sich in einem anderen Teil der Stadt mit Freunden treffen. Er sieht sie über die Straße gehen, durch den Dampf aus den Schächten, und sie verschwindet die Treppe zur U-Bahn hinunter. Der Zettel, den sie ihm gegeben hat, brennt in seiner Tasche.

*

Als er nach Hause kommt und die Wohnungstür aufschließt, bildet er sich ein, dass Frances im Wohnzimmer auf dem Fußboden sitzt, über Lehrbücher und Notizblöcke gebeugt. Die Zeit ist die vierte Dimension. Aber Frances sitzt nicht im Wohnzimmer, ebenso wenig, wie Thora im Arbeitszimmer sitzt und eine Seminararbeit schreibt, ebenso wenig wie August am Küchentisch sitzt und Kaffee trinkt. Die Wohnung ist dunkel und leer. Er geht von Zimmer zu Zimmer und schaltet die Deckenlampen ein. Er zieht den Zettel heraus und legt ihn auf den Küchentisch. Die Stühle, auf denen er und Frances früher am Tag gesessen haben, stehen noch herausgezogen da, als wären sie eben erst aufgestanden. Er dreht den Zettel um und liest noch einmal Thoras Nummer. Er streckt sich nach dem Notebook und setzt sich, um zu schreiben, vielleicht ihr, er ist sich nicht sicher. Als er fertig ist, reißt hinter den Wasserzisternen auf den Häuserdächern das Morgengrauen auf. Es wird wieder ein heißer Tag werden.

ZWEITER TEIL

HUGO

THORAUNDAUGUST sah ich das erste Mal zusammen aus Anlass eines Essens bei Thoras Eltern. Augusts Name war mehrmals erwähnt worden, beiläufig, aber ich war ihm nie begegnet, und meine Gespräche mit Thora hatten sich auf kürzere Wortwechsel beschränkt. Wenn ich im selben Raum war wie Thora, ignorierte sie mich oder sah mich an, als wollte sie mich mit ihrem Blick vertreiben, und wenn sie mich auf die Art ansah, blieb ich länger als nötig. Während des Essens fiel mir auf, wie Thoras und Augusts Hände einander suchten. Ich wusste nicht, warum diese diskreten Gesten mich beeindruckten, vielleicht war es der Kontrast zwischen der Leichtigkeit, wenn sie sich mit den anderen am Tisch unterhielten, und der Verletzlichkeit, die im Streicheln über Handrücken entblößt wurde. Als ich quer über den Tisch sah, begegnete ich Augusts Blick und empfand dies genauso heftig, als hätte ich den Arm über den Tisch geworfen und die Weinflaschen umgeworfen. August lächelte. Als er wegsah, löste er sich mühelos aus unserem Blickkontakt. Ich blieb sitzen und betrachtete ihn mit schmerzenden Augen, wie wenn man zu lange in die Sonne gesehen hat.

Nach dieser Begegnung begann ich, Thora und August überall in Stockholm zu sehen: auf dem Rasen vor der Königlichen Bibliothek, in den Straßencafés in Södermalm, in der Warteschlange vor dem Club unter der Skanstull-Brücke. Sie waren immer so weit entfernt, dass ich mich nicht genötigt fühlte, sie zu grüßen. Ich war mir nicht sicher, ob Thora mein Hallo erwidern würde, und wollte nicht riskieren, mich vor ihnen lächerlich zu machen. Eine Woche nach dem Essen schickte August mir eine Freundschaftsanfrage, was mich wunderte und gleichzeitig verlegen machte. Ich fragte mich, ob ich versehentlich eines von Augusts oder Thoras Bildern gelikt hatte, und scrollte durch den Verlauf, um mich zu vergewissern, dass ich keine derart plumpen Spuren hinterlassen hatte. Thora schickte mir nie eine Freundschaftsanfrage, aber ich studierte auch ihr Profil. Beide hatten sorgsam ausgewählte Profilbilder, aber keiner von ihnen aktualisierte sie besonders oft. Ich akzeptierte Augusts Anfrage und blickte auf den Bildschirm, als sollte etwas passieren, etwas, das mein Dasein strukturieren würde. Nichts geschah. Ich sah, dass August und ich mehrere gemeinsame Freunde hatten, und fragte mich, ob August ein Mensch war, der wahllos alle hinzufügte, denen er begegnete. Aus irgendeinem Grund war dies ein deprimierender Gedanke.

Eines Tages sah ich die beiden an der Kreuzung Sveavägen und Odengatan. Mein Bus hielt an einer roten Ampel, und als ich aus dem Fenster schaute, fielen mir Thora und August vor einem Imbiss ins Auge. Thora stand da und suchte etwas in ihrer Jackentasche, während August redete und gestikulierte, als versuchte er, sie von etwas zu überzeugen. Schließlich fischte Thora eine Sonnenbrille heraus, setzte sie aber nicht auf, sondern hielt sie in der Hand und betrachtete August amüsiert. August hörte auf zu reden, wie mitten in einem Satz, und lehnte sich vor und küsste sie auf die Stirn, ehe er seine Kappe abzog und sie ihr auf den Kopf setzte. Ein starker Windstoß kam, und sie hob die Hand, um die Kappe festzuhalten. Als die Ampel auf Grün umschlug, schaute sie zur Straße, sie lachte, eine Hand noch auf dem Kopf, die andere an den Haaren, die ihr ins Gesicht geweht waren, und einen Moment lang sah sie mich durch das Busfenster direkt an. Ich war mir nicht sicher, ob sie mich erkannte, aber in ihrem Lachen entstand eine schwache Falte zwischen ihren Augenbrauen. Ich widerstand dem Impuls, mich zu ducken. Sekunden später war der Bus weitergefahren, und ich saß starr auf meinem Platz und hatte das unangenehme Gefühl, dabei ertappt worden zu sein, etwas Privates zu beobachten.

ICHWOHNTE seit einigen Wochen bei Thoras Eltern Aron und Laura, als in allen großen Tages- und Boulevardzeitungen ein Buch über den Stiller-Konzern debattiert wurde. Die Aufmerksamkeit verärgerte die Familienmitglieder so sehr, dass sie sich mehrere Tage hintereinander versammelten, um die Artikel zu diskutieren, und alle, die sich an der Debatte beteiligten, zu brandmarken. Es war Hochsommer, und ich fand nicht, dass irgendetwas davon eine große Rolle zu spielen schien. Lauras Mutter Karla und Lauras Geschwister strömten das ganze Wochenende durch die Wohnung, und es fiel mir schwer, sie auseinanderzuhalten. Ohne zu klingeln, traten sie am frühen Vormittag in den Flur, streiften ihre Schuhe ab und gingen ins Wohnzimmer – dem Mittelpunkt der familiären Beratungen. Ich begriff nicht, warum man Arons und Lauras Wohnung als Treffpunkt auserkoren hatte, denn die Gastgeber schienen von der Buchveröffentlichung am wenigsten berührt zu sein. Im Unterschied zu ihren Verwandten waren sie wortkarg und machten keine Screenshots von einzelnen Abschnitten aus den Artikeln, um sie den anderen vorlesen zu können. Manchmal nahm ich Blicke zwischen ihnen wahr, als tauschten sie geheime Pakete aus, deren Inhalt kein anderer sehen durfte.

Ich trank meinen Kaffee morgens immer auf dem Balkon, der im Anschluss an das Wohnzimmer lag, und Aron und Laura bestanden darauf, dass ich es auch an diesem Wochenende so hielt. Ich fragte mich, ob sie meine Gegenwart benutzten, um eine Distanz zu dem Spektakel zu markieren, aber es fiel mir schwer zu entscheiden, wem gegenüber dies geschehen sollte – mir gegenüber oder ihren Verwandten?

An diesen Tagen grummelte die Kaffeemaschine ununterbrochen in der Küche, und die Tassen stapelten sich, während die Milch in den kleinen Kannen sauer wurde, weil keiner sich die Mühe machte, sie in den Kühlschrank zurückzustellen. Zeitungen lagen auf den Tischen verstreut, und am Nachmittag wurden sie zu Fächern oder zu buchstäblich schlagenden Argumenten in den Gesprächen zusammengerollt. Vor allem Jacob Stiller fand Gefallen daran, eine zusammengerollte Zeitung auf den Wohnzimmertisch zu knallen, um seine Aussagen zu untermauern; eine bewusst plumpe Geste, die seine Geschwister die Augen verdrehen ließ. Wenn ich morgens meinen Kaffee trank, pflegte Aron neben mir zu sitzen, den Arm auf das Geländer gelegt und die Finger in der Luft, als wollte er nach etwas im Wind greifen. Die Baumkronen ragten wie grüne Hüllen über den Straßen von Lärkstaden nach oben. Hätten wir uns über das Balkongeländer gestreckt, wäre es möglich gewesen, mit den Fingerspitzen über die Blätter zu streichen.

Aron erklärte mir, dass die beiden ältesten Geschwister Lauras, Jacob und Charlotte, im Vorstand der Unternehmen und Stiftungen säßen, die zum Konzern gehörten, während weder Laura noch Philip, die jüngeren Geschwister, offizielle Positionen in der Unternehmensgruppe der Familie innehätten. Laura war Professorin für Kunstwissenschaft und Philip Chefredakteur einer Zeitschrift.

»Stege zum Kulturleben«, sagte Aron.

Ich fragte ihn, ob Laura und Philip Aktien des Konzerns besäßen, und Aron lächelte mich schief an, als hätte ich ihm die Frage gestellt, um ihn zu ärgern.

Lauras Geschwister grüßten mich nur im Vorbeigehen, aber Karla nahm sich die Zeit, mir die Hand zu geben. Sie erkundigte sich kurz nach Namen, Alter, Beschäftigung. Dann fragte sie, ob ich Deutsch spreche – ich war erst kürzlich aus Berlin nach Stockholm gezogen, um an der Universität zu studieren –, und als ich Ja sagte, nickte sie irgendwie wohlwollend.

Die Geschwister nahmen im Wohnzimmer immer die gleichen Plätze ein, und ich fand, dass es aussah, als posierten sie für ein seltsames Porträtgemälde. Jacob und Charlotte saßen einander auf zwei Sofas gegenüber, Philip stand an die Bücherregale gelehnt, und Laura saß im Sessel neben Aron, die Beine übereinandergeschlagen. Karla war die Einzige, die keinen bestimmten Platz hatte; sie stand am Kaminsims, ging um die Couchgruppe herum auf und ab, setzte sich, um kurz darauf erneut aufzustehen. Die Geschwister sahen Karla manchmal an, als wollten sie die Richtung des Gesprächs bei ihr verankern, aber sie nahm davon nur selten Notiz.

Nach den Artikeln der ersten Tage begriff ich, dass es Familie Stiller in Wahrheit gefiel, sich in einer künstlichen Krisensituation zu befinden, mitten in der trägen Julistimmung, die Stockholms Straßen mit warmer Schwerfälligkeit betäubte.

»Womit wir uns befassen müssen, ist damage control.«

»Jacob, du hast zu viele Managementkurse absolviert.«

»Wir dürfen uns nicht schwach zeigen.«

»Da steht so gut wie nichts Neues. Es ist eine Zusammenfassung und strategische Neuverpackung von Fakten, die seit Jahrzehnten zugänglich sind.«

»Die große Frage lautet, ob wir uns interviewen lassen sollen.«

»Nein. Wir sind keine Familie, die in den Medien auftaucht.«

»Aber das tun wir jetzt doch, oder? Wenn die Medien über uns reden.«

»Lass sie über uns reden. Aber wir reden nicht mit ihnen.«

»Heißt das, wir tun gar nichts?«

»Wenn wir es nicht kommentieren, laufen wir Gefahr, dass man uns vorwirft, weltabgewandt und elitär zu sein.«

»Sind wir das nicht?«

»Selbst wenn es so sein sollte, braucht das schwedische Volk es ja nicht zu wissen«, meinte Charlotte.

»Es wird doch immer offensichtlicher, dass die ganze Kampagne auf Spekulationen basiert, die zusammengestrickt worden sind und diesen …«, Jacob machte eine ausschweifende Geste mit den Händen, »diesen übertriebenen, aber vollkommen fabrizierten Skandal ausmachen. Der noch dazu lange her ist.«

»Lange her?«, sagte Philip lachend. »Es ist gerade einmal drei Jahre her, dass ihr die Diktatoren umworben habt.«

Seine Wortwahl ließ Jacob und Charlotte zusammenzucken. Sie betrachteten ihren jüngeren Bruder mit einer Miene kühlen Mitgefühls, als hätte er eine Idiotie zum Besten gegeben, für die man ihn selbst nicht tadeln konnte. Philip sah Aron und Laura an, als suchte er ihre Unterstützung.

»Es ist nicht lange her«, sagte Laura.

Jacob räusperte sich. »Wir stecken mitten im Sommerloch. Die Medien schießen sich darauf ein, weil sie nicht wissen, worüber sie im Hochsommer sonst schreiben sollen.« Er verstummte für einige Sekunden, und während der Kunstpause schenkte er jedem im Raum ein Lächeln. »Journalisten suhlen sich gern in den Tragödien anderer Menschen. Ich denke, darin sind wir uns alle einig.«

»Wir müssen sicher nicht so weit gehen, die dritte Staatsgewalt als unseren Feind heraufzubeschwören«, meinte Karla, lächelte Jacob aber an.

Wenn ich irgendwohin wollte, blieb ich manchmal in der Türöffnung stehen und musterte sie, und dann begegnete Aron durch das Stimmengewirr hindurch meinem Blick. Aron hatte dunkle, tief liegende Augen, und das Brillengestell folgte der Form seiner Augenbrauen. Wenn er lächelte, traten die Falten um seine Augen hervor, ein kleines Netz aus Linien, und die Augenbrauen wurden über die Brille gehoben und verstärkten sein Lächeln noch. Er schien mich ermuntern zu wollen, über die ganze Aufregung zu lachen. Ich lachte nicht, nickte ihm aber zu, ehe ich mich umdrehte und ins Treppenhaus hinausging. Durch die Fenster zum Innenhof floss das Licht auf die Marmortreppenstufen herab.

Als später Thoras Cousinen vorbeikamen, grüßten sie zuerst Karla und danach Aron und die Geschwister ihrer Eltern, ehe sie sich in der Küche versammelten. Sie zwängten sich an den Tisch und bedienten sich vom Obst und den Keksen, die sie in den Kaffee tunkten. Es sah aus wie eine Spiegelung der Szene im Wohnzimmer in einem kleineren Maßstab, und ihre lauten Stimmen wurden wie die ihrer Eltern in die Flure der Wohnung getragen, wodurch ich Bruchstücke ihrer Unterhaltung hören konnte.

»Ich finde, dass sie überreagieren.«

»Ich bin Großmutters Meinung.«

»Du bist immer Großmutters Meinung.«

»Es ist unser Name, der in den Schmutz gezogen wird.«

»Was denken Aron und Laura? Sie sagen ja kaum etwas.«

»Wer weiß«, antwortete Thora. »Ich weiß auch nicht mehr als ihr.«

Als sie mich erblickten, verstummten die versammelten Cousinen. Thora hatte die Beine an die Brust gezogen, und ihr Kinn lag auf den Knien, während sie das Handy zwischen ihren Fingern rotieren ließ. Der schwarze Bildschirm reflektierte das Sonnenlicht, das durch die hohen Fenster hereinfiel, und die Lichtreflexe zitterten auf ihrem ausdruckslosen Gesicht.

»Das ist einer der Gäste meiner Eltern«, sagte Thora mit gelangweilter Stimme zu ihren Cousinen, die weiterredeten, während ich meine Kaffeetasse in die Spülmaschine stellte.

Als ich ging, sagte keiner etwas.

*

Aron und Laura nahmen seit mehreren Jahren Untermieter auf. Normalerweise Studierende oder junge Akademiker, die Probleme hatten, in Stockholm eine Wohnung zu finden, und durch Freunde, Kollegen und Bekannte mit Aron und Laura in Kontakt kamen. Mir war das Zimmer angeboten worden, weil meine Eltern und Aron sich seit ihrer Studienzeit in Lund kannten. Als ich meiner Mutter von meinen Plänen erzählte, nach Stockholm zu ziehen, hatte sie mir Arons Handynummer gegeben.

Im Nebenzimmer wohnte ein junger Doktorand namens Tigran, und als wir uns das erste Mal begegneten, klärte er mich darüber auf, dass er im Prinzip jede Form von abstrakter Kunst hasste. Tigran versuchte, etwas über meine Ansichten zur Kunstszene in Berlin herauszufinden, aber als ich ihm sagte, dazu hätte ich keine Meinung, schien er sich zu entspannen und begann mir von seiner Arbeit über den Symbolismus in der Bildenden Kunst zu erzählen. Unter der Woche schrieb Tigran in der Königlichen Bibliothek, aber wenn sie sonntags geschlossen hatte, machte er lange Spaziergänge rund um das Wasser der Riddarfjärden und der Årstaviken, und manchmal leistete ich ihm dabei Gesellschaft. Abends hörte er häufig Sidney Bechet oder Janis Joplin, und wenn »Summertime« oder »Me and Bobby McGee« durch die Wand zwischen unseren Zimmern drang, erfüllte mich das mit eigentümlicher Ruhe, aber ich sagte Tigran niemals, wie sehr ich die Musik mochte, die er hörte.

Ich hatte ein Schlafzimmer nahe der Küche mit einem unscheinbaren eigenen Eingang bekommen, den in früheren Zeiten die Bediensteten benutzt hatten. Tigran und ich teilten uns ein kleines Badezimmer im Eingangsflur. Unsere Zimmer lagen abseits der restlichen Wohnung, was es einfach machte, zu kommen und zu gehen, ohne Aufmerksamkeit zu erregen. Mein Zimmer war schlicht eingerichtet: ein Bett, ein Kleiderschrank, ein Schreibtisch und ein Waschbecken mit einem Spiegel darüber. Ich machte es schnell zu meinem, indem ich meine kleine Büchersammlung auf den Schreibtisch stellte. Außerdem kaufte ich Bett- und Handtücher und ein paar Aufbewahrungskisten, die ich unter das Bett schob, wo meine schwarze Stoffreisetasche lag wie eine große, punktierte Lunge. Ich fand es schön, mir keine Möbel anschaffen zu müssen, ich wollte nicht mehr besitzen als unbedingt nötig und liebte den Gedanken, problemlos alles, was ich besaß, in einen Koffer packen zu können.

Tigrans Ansichten über abstrakte Kunst führten dazu, dass er sich häufig mit dem dritten Schützling stritt, Vera, die Künstlerin war. Vera malte »abstrakte Kunst«, was sie mir erzählte, als wir uns das erste Mal begegneten, wobei sie die Hände hochhielt und Anführungszeichen in die Luft malte. Im Gegensatz zu Tigran und mir wohnte Vera nicht bei Aron und Laura, sondern kam her, um in einem Zimmer im Dachgeschoss zu malen, das man in ein Atelier umgewandelt hatte. Nur wenn sie die letzte U-Bahn verpasst hatte, übernachtete sie auf einer Couch an der Tür zum Atelier.

Vera und Tigran hatten Laura als Dozentin gehabt. Tigran war Doktorand an Lauras Institut, und Vera war ein paar Jahre zuvor von Laura betreut worden, als sie ihre Examensarbeit schrieb. Trotz unterschiedlicher Ansichten darüber, was gute und schlechte Kunst war, wechselten Vera und Tigran manchmal Blicke oder bezogen sich auf eine Vorlesung, woraufhin die oder der andere eifrig wiedererkennend nickte. Sie erzählten, jedes Mal, wenn sie jemandem begegneten, der Kunstwissenschaft in Stockholm studiert hatte, komme man auf Laura zu sprechen. Als ich die beiden fragte, warum Laura so beliebt sei, sah Tigran mich an, als fragte er sich, ob wir über zwei verschiedene Personen sprächen. Aber er antwortete nur kurz und knapp: »Sie ist gut.«

Laura bestätigte meine Vorurteile darüber, wie wohlhabende Stockholmerinnen aussahen. Sie trug immer Hosenanzüge, weiße Blusen, einfache Hemdkleider und verkörperte all das, was meine Bekannten in Berlin liebend gern verachtet hatten: die nordeuropäische Bürgerlichkeit mit ihren subtilen Ausdrucksformen des Überflusses. Dennoch gab es eine stille Intensität in Lauras Augen, die in Kombination mit ihrer dunklen, leicht heiseren Stimme dazu führte, dass ich ihren Magnetismus als Vorleserin erahnen konnte. Sie war freundlich, plauderte aber nicht unnötig mit einem, und ihre Art, mich zu betrachten, hatte etwas Reserviertes, das mir das Gefühl gab, einer Prüfung unterzogen zu werden, deren Ziel es war, meine Schwächen einzukreisen und mich zu kategorisieren. Das gefiel mir nicht, weil ich umgekehrt nicht die geringste Ahnung hatte, wie ich Laura einschätzen sollte. Gleichzeitig fragte ich mich, was sie über mich dachte.

Nach einer Weile begriff ich, dass Laura nur selten lächelte, damit andere Menschen sich wohlfühlten. Sie setzte ihr Lächeln nicht ein, um Schweigen zu überbrücken oder die Person, mit der sie sprach, zu bestätigen. Ich begriff es, als ich das erste Mal sah, wie ihr Gesicht zu einem aufrichtigen Lächeln aufriss, und ich hörte, wie sie in schallendes Lachen ausbrach. Man wollte diesem Lächeln und ihrem Lachen nahe sein, und vor allem wollte man der Grund dafür sein, und ich dachte, das war es, wonach Vera und Tigran suchten, wenn sie mit Laura zusammen waren.

*