Das trügerische Gedächtnis - Julia Shaw - E-Book

Das trügerische Gedächtnis E-Book

Julia Shaw

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Beschreibung

Wir sind die Summe unserer Erinnerungen. Stimmen diese aber auch? Haben prägende Ereignisse unserer Kindheit überhaupt so stattgefunden? Identität ist ein kunstvoll gewebter Teppich aus Erinnerungsfragmenten. Die Rechtspsychologin Julia Shaw erklärt, warum dem Gehirn dabei ständig Fehler unterlaufen. Und das Tappen in die Erinnerungsfalle hat Konsequenzen: Wir können uns auf unser Gedächtnis nicht verlassen. Auf der Grundlage neuester Erkenntnisse von Neurowissenschaft und Psychologie sowie ihrer eigenen bahnbrechenden Forschung zeigt Shaw, welchen Erinnerungen wir trauen können und welchen nicht. Ein verblüffender Einblick in die wahnwitzigen Mechanismen des menschlichen Gehirns.

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Seitenzahl: 420

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Wir sind die Summe unserer Erinnerungen. Stimmen diese aber auch? Haben prägende Ereignisse unseres Lebens überhaupt so stattgefunden, wie wir glauben? Die Rechtspsychologin Julia Shaw erklärt, warum unser Gedächtnis ähnlich wie eine Wikipedia-Seite funktioniert: Sie selber können den Inhalt verändern, aber jeder andere kann es auch. Dabei stützt sich Shaw auf ihre bahnbrechende Forschung, in der sie Probanden davon überzeugte, sie hätten Straftaten begangen, die in Wahrheit nie verübt wurden. Shaws Erkenntnisse haben kaum zu überschätzende Auswirkungen auf die Arbeit von Polizei und Justiz. Doch das Tappen in die Erinnerungsfalle hat auch fernab der Gerichtssäle Konsequenzen: Wir können uns auf unser Gedächtnis nicht verlassen. Ein verblüffender Einblick in die Mechanismen unseres Gehirns – nach dessen Lektüre Sie Ihren Erinnerungen endgültig nicht mehr trauen werden.

Hanser E-Book

Julia Shaw

DAS

TRÜGERISCHE

GEDÄCHTNIS

Wie unser Gehirn

Erinnerungen fälscht

Aus dem Englischen von

Christa Broermann

Carl Hanser Verlag

Titel der Originalausgabe:

The Memory Illusion. Remembering, Forgetting, and the Science of False Memory

Random House Books, Random House Books is part of the Penguin Random House group of companies, London 2016

Illustrationen im Buch: Mit freundlicher Genehmigung von Random House Books, Penguin Random House

ISBN 978-3-446-44892-6

Copyright © Julia Shaw 2016

Alle Rechte der deutschen Ausgabe:

© Carl Hanser Verlag München 2016

Umschlag: Hauptmann & Kompanie, Zürich

Satz: Kösel Media GmbH, Krugzell

Unser gesamtes lieferbares Programm

und viele andere Informationen finden Sie unter:

www.hanser-literaturverlage.de

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Datenkonvertierung E-Book:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

Unser Gedächtnis arbeitet konstruktiv. Es arbeitet rekonstruktiv. Das Gedächtnis funktioniert ein bisschen wie Wikipedia: Sie können es aufrufen und es verändern, aber andere können das auch.

Elizabeth Loftu

INHALT

EINLEITUNG

1. ICH ERINNERE MICH AN MEINE GEBURT

Mobiles für Babys, Tee mit Prinz Charles und eine Begegnung mit Bugs Bunny in Disneyland

Warum manche Kindheitserinnerungen unmöglich sind

2. DIRTY MEMORIES

#thedress, Zeitreisen und die gute alte Zeit

Warum Sein Wahrgenommenwerden ist

3. HUMMELN IM KOPF

Plastizität, Benzos und Laserstrahlen

Warum die Physiologie des Gehirns unser Gedächtnis in die Irre führen kann

4. GEDÄCHTNISGENIES

HSAMs, Braincams und Inselbegabungen

Warum niemand ein untrügliches Gedächtnis hat

5. LERNEN IM SCHLAF?

Baby Einstein, Hypnose und Gehirnwäsche

Warum wir aufmerksam sein müssen, um Erinnerungen zu bilden

6. DAS GEHIRN – EIN DETEKTIV MIT SCHWÄCHEN

Größenwahn, Gesichtserkennung und Monster-Erschaffung

Warum wir unser Gedächtnis überschätzen

7. HOCHEMOTIONAL

Blitzlichterinnerungen, Erinnerungs-Hacking und traumatische Ereignisse

Warum unsere Erinnerung an emotionsgeladene Ereignisse fehlerhaft ist

8. DAS DIGITALE GEDÄCHTNIS

Medien-Multitasking, sozialer Bewusstseinsstrom und digitale Amnesie

Warum Medien unsere Erinnerung formen

9. ERINNERUNGSKRIEG

Satan, Sex und Science

Warum wir falsche Erinnerungen an traumatische Ereignisse haben können

10. MIND GAMES

Geheimagenten, Gedankenpaläste und magischer Realismus

Warum wir unser fehlerhaftes Gedächtnis annehmen sollten und wie wir das Beste daraus machen

DANKSAGUNG

ANMERKUNGEN

REGISTER

EINLEITUNG

Wenn Nobelpreisträger ihre Auszeichnung erhalten, bekommen sie eine Kurznachricht ähnlich denen von Twitter mit einer Erklärung, wofür ihnen der Preis verliehen wird. Seit ich das weiß, habe ich mehr Zeit, als mir lieb ist, damit zugebracht, diese Begründungen zu studieren, mit denen die einzigartige Bedeutung der Preisträger für die Welt gewürdigt werden soll.

Einer meiner absoluten Lieblingstexte sucht die Arbeit von Seamus Heaney zusammenzufassen, der 1995 den Literaturnobelpreis bekam, weil er »Werke lyrischer Schönheit und ethischer Tiefgründigkeit schafft, die alltägliche Wunder und eine lebendige Vergangenheit preisen«. Was für eine unglaubliche Aussage! Schönheit, Ethik, Geschichte, alles durchtränkt vom Gefühl des Wunderbaren und in so wenigen Worten eingefangen. Jedes Mal, wenn ich diese Erklärung lese, lächle ich.

Ich notiere mir diese knappen Begründungen für die Nobelpreisverleihung auf dem kleinen Whiteboard, das ich als Inspirationsquelle auf dem Schreibtisch habe, nutze sie in meinen Vorlesungen und versuche sie beim Schreiben in meine Texte einzuflechten. Sie zeigen mir stellvertretend, dass man selbst über die größten Errungenschaften der Menschheit in verständlicher Sprache berichten kann. Ein Echo dieser Idee findet sich bei zahlreichen großen Persönlichkeiten der Geschichte: Soll unsere Arbeit Bedeutung haben, müssen wir sie einfach erklären können. Ich lebe auch selbst mit dieser Philosophie möglichst sparsamer Erklärungen. Allerdings riskiere ich dann, wenn ich Konzepte mithilfe von Analogien, Geschichten oder Vereinfachungen zu erklären versuche, dass einige Nuancen der von Haus aus komplexen Sachverhalte, um die es geht, auf der Strecke bleiben. Die hier verhandelten Themen Gedächtnis und Identität sind beide unglaublich komplex, und in einem einzigen Buch kann ich bestenfalls hoffen, die Oberfläche der enorm umfangreichen Forschung an den Schnittpunkten dieser Gebiete zu streifen. Folglich kann ich zwar nicht versprechen, das wissenschaftliche Gesamtbild einzufangen, aber ich hoffe, einen Frageprozess einzuleiten. Einen Prozess, der sich mit fundamentalen Fragen befasst, die wahrscheinlich an den meisten von uns genagt haben, seit wir begonnen haben, die Gabe der Introspektion zu nutzen.

Wie viele andere auch entdeckte ich meine Fähigkeit zur Introspektion erstmals als Kind. Ich erinnere mich, dass ich als kleines Mädchen stundenlang wach lag und nicht einschlafen konnte, weil ich so tief in Gedanken versunken war. Ich lag dann in der oberen Etage meines Stockbetts, drückte die Fußsohlen an die weiße Decke des Zimmers und dachte über den Sinn des Lebens nach. Wer bin ich? Was bin ich? Was ist wirklich? Obwohl ich es damals nicht wusste, waren das meine Anfänge als Psychologin. Die Fragen, die ich mir stellte, betrafen Kernaspekte des Menschseins, und als kleines Mädchen hatte ich keine Ahnung, dass ich in so guter Gesellschaft war, als ich nicht auf die Antworten kam.

Das Stockbett habe ich inzwischen nicht mehr, aber die Fragen schon. Statt philosophische Zwiesprache mit der Zimmerdecke zu halten, betreibe ich heute Forschung. Statt mit meinem Musikteddy zu diskutieren, wer ich bin, diskutiere ich es heute mit Fachkollegen und sonstigen Wissenschaftlern, mit Studierenden und anderen, die ebenso neugierig sind wie ich. Beginnen wir also unsere abenteuerliche Reise durch die Welt des Gedächtnisses ganz vorne, wo Forschung die Suche nach sich selbst ist, und fragen: Was macht Sie zu dem, der Sie sind?

WER BIN ICH?

Wenn wir uns definieren, denken wir vielleicht an unser Geschlecht, unsere ethnische Zugehörigkeit, das Alter, den Beruf und die Kennzeichen des Erwachsenseins, die wir schon erreicht haben, wie den Abschluss unserer Ausbildung, den Kauf eines Hauses, Heirat, eigene Kinder oder das Erreichen des Rentenalters. Vielleicht denken wir auch an Persönlichkeitsmerkmale – ob wir eher optimistisch oder pessimistisch, lustig oder ernst, selbstsüchtig oder selbstlos sind. Außerdem denken wir wahrscheinlich darüber nach, wie wir im Vergleich zu anderen abschneiden, und schauen dann oft gleich, wie es um unsere Freunde auf Facebook und LinkedIn steht, um zu sehen, ob wir Schritt halten. Doch obwohl alle diese Stichworte mehr oder weniger angemessen definieren mögen, wer wir sind, liegt die wahre Wurzel unserer Identität fast sicher in unseren persönlichen Erinnerungen.

Unsere persönlichen Erinnerungen helfen uns, unseren Lebensweg zu verstehen. Nur durch meine persönlichen Erinnerungen kann ich auf die Gespräche mit einem meiner anregendsten Professoren im Bachelor-Studium, Dr. Barry Beyerstein, zurückgreifen, der mir kritisches Denken beigebracht und viele Male Zitronen-Mohn-Kuchen mit mir gegessen hat. Oder auf die Gespräche mit Dr. Stephen Hart nach seinen Vorlesungen, der mich als erster Mensch in meinem Leben zu einem Graduierten-Studium ermutigt hat. Oder ich kann an den schweren Autounfall zurückdenken, den meine Mutter vor einigen Jahren hatte und der mich gelehrt hat, wie ungeheuer wichtig es ist, rechtzeitig seine Gefühle für die Menschen auszudrücken, die man liebt. Solche wegweisenden Begegnungen und Ereignisse haben eine ungeheure Bedeutung für uns und helfen uns, unser persönliches Narrativ zu organisieren.

Allgemeiner gesagt bilden die Erinnerungen die Grundlage unseres Lebens und unserer Identität. Sie formen das, was wir erlebt zu haben und wozu wir uns daher auch in Zukunft befähigt glauben. Aus all diesen Gründen können wir unser Gedächtnis nicht infrage stellen, ohne zugleich zwangsläufig die Fundamente unserer Identität infrage zu stellen.

Machen Sie zum Beispiel einmal folgendes Gedankenexperiment: Wie wäre es, wenn Sie eines Morgens aufwachen würden und sich an nichts mehr erinnern könnten, was Sie je getan oder gedacht oder gelernt haben. Wären das dann noch Sie?

Wenn wir über dieses Szenario nachdenken, reagieren wir vielleicht instinktiv mit Angst. Wir bekommen sofort das Gefühl, dass man uns alles, was wir sind, nehmen könnte, indem man einfach unsere Erinnerung auslöscht, sodass nur die Hülle unseres früheren Selbst zurückbleibt. Wenn unser Gedächtnis weg ist, was bleibt uns dann? Es klingt wie die Prämisse eines Science-Fiction-Films: »Und dann erwachten sie, und keiner von ihnen wusste mehr, wer er war.« Andererseits könnten wir bei dieser Aussicht auch erleichtert sein, dass wir nicht mehr von unserer Vergangenheit eingeschränkt würden und ein neues Leben beginnen könnten, da ja unsere grundlegenden geistigen Fähigkeiten und unsere Persönlichkeit noch intakt wären. Vielleicht stellen wir auch fest, dass wir zwischen Angst und Faszination hin und her schwanken.

Zum Glück ist ein derart dramatischer Gedächtnisverlust im wirklichen Leben selten, doch gleichzeitig ist unser Gedächtnis anfällig für ein breites Spektrum von Fehlern, Verzerrungen und Veränderungen. Einige davon hoffe ich in diesem Buch erhellen zu können. Ausgestattet mit wissenschaftlichem Rüstzeug und ehrlicher Neugier möchte ich wiederholt zu der Überlegung herausfordern, welche Folgen die vielen möglichen Irrwege unseres Gedächtnisses für unsere persönliche Identität haben können. Dabei werde ich kleine Kostproben meiner eigenen Abenteuer einstreuen. Aber wie finden wir überhaupt einen Anfang für das Gespräch über das komplexe Phänomen des Gedächtnisses? Beginnen wir mit einem Blick auf zwei Schlüsselbegriffe der Gedächtnisforschung.

Das semantische Gedächtnis, auch generisches Gedächtnis genannt, umfasst die Erinnerung an Bedeutungen, Begriffe und Fakten. Dabei können Menschen oft bestimmte Arten von semantischen Erinnerungen besser abrufen als andere. So kann es etwa sein, dass jemand sich ausgezeichnet die Daten historischer Ereignisse merken kann, aber größte Mühe hat, sich an die Namen von Personen zu erinnern. Obwohl beides unter das semantische Gedächtnis fällt, kann bei ein und demselben Menschen die Leistung bei diesen Aufgaben ganz unterschiedlich ausfallen. Ein anderer erlebt vielleicht das Gegenteil – er kann sich hervorragend Namen und Gesichter merken, aber nur ganz schlecht an wichtige Daten erinnern.

Neben dem semantischen Gedächtnis gibt es das episodische oder autobiografische Gedächtnis. Wenn Sie sich an Ihren ersten Tag an der Universität, Ihren ersten Kuss oder Ihren Urlaub in Cancún im Jahr 2013 erinnern, greifen Sie dafür auf Ihr episodisches Gedächtnis zurück. Damit bezeichnet man die Sammlung unserer vergangenen Erlebnisse. Es ist unser persönliches Erinnerungsalbum, das Tagebuch unseres Geistes, unsere innere Facebook-Chronik. Das episodische Gedächtnis behält die Übersicht über Erinnerungen an Ereignisse, die zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort stattfanden. Der Zugriff auf diese Art von Erinnerungen kann sich anfühlen, als würden wir multisensorische Erfahrungen wieder erleben. Wir können den Sand unter unseren Zehen spüren, die Sonne auf der Haut, den Wind in den Haaren. Wir haben den Schauplatz vor Augen, hören die Musik, können uns die Menschen vorstellen. Das sind Erinnerungen, die uns kostbar sind. Diese spezielle Erinnerungsbank definiert, wer wir sind, und nicht einfach unser Faktenwissen über die Welt.

Dennoch ist dieses episodische Gedächtnis, auf das wir alle uns so sehr stützen, etwas, das viele von uns beklagenswert missverstehen. Wenn wir uns ein besseres Bild davon machen können, wie das episodische Gedächtnis tatsächlich arbeitet, gewinnen wir auch ein besseres Verständnis des Zirkus, um den es sich bei unserer erlebten Wirklichkeit handelt.

ERINNERUNG IST FORMBAR

Wenn wir erst einmal beginnen, unsere Erinnerungen und die Erinnerungen anderer infrage zu stellen, finden wir es nicht mehr so überraschend, dass wir uns häufig mit Freunden und Familienmitgliedern über die Details früherer Ereignisse uneinig sind. Selbst die kostbaren Erinnerungen an unsere Kindheit lassen sich formen und umformen wie eine Kugel aus Lehm. Und Erinnerungsfehler treten nicht ausschließlich bei jenen auf, die wir als dafür anfällig ansehen mögen – Menschen, die an Alzheimer, einer Hirnverletzung oder irgendeiner anderen erkennbaren Störung leiden. Vielmehr sind Erinnerungsfehler die Norm, nicht die Ausnahme.

Ebenso treten Erinnerungen, die sich anfühlen wie echte Erinnerungen, aber nicht auf tatsächlichen Ereignissen beruhen, ständig auf. Und die Folgen solcher falscher Erinnerungen können sehr real sein. Wenn wir an grundsätzlich fiktionale Repräsentationen der Wirklichkeit glauben, kann das alles und jedes in unserem persönlichen Leben betreffen. Es hat das Potenzial, echte Freude, echten Kummer und sogar ein echtes Trauma zu verursachen. Wenn wir unsere fehlerhaften Erinnerungsprozesse verstehen, kann uns das daher helfen, ein Gefühl dafür zu entwickeln, wie wir die in unserem Gedächtnis enthaltenen Informationen bewerten – und zugleich auch nicht bewerten – können und wie wir sie angemessen nutzen, um zu definieren, wer wir sind. Das war jedenfalls meine Erfahrung.

Im Laufe der Jahre, die ich der Gedächtnisforschung gewidmet habe, bin ich zu der Erkenntnis gelangt, dass wir die Welt auf zutiefst unvollkommene Weise sehen. Das wiederum hat mir großen Respekt für die Methoden der Wissenschaft und die gemeinsame Forschung eingeflößt – für die Wissenschaft als Gemeinschaftsunternehmen. Sie bietet die besten Aussichten dafür, dass wir durch den Schleier unserer unvollkommenen Wahrnehmungen hindurchschauen und verstehen können, wie das Gedächtnis funktioniert. Doch selbst mit dem Wind jahrzehntelanger Gedächtnisforschung im Rücken muss ich zugeben, dass immer ein Rest von Zweifel bleiben wird, ob überhaupt eine Erinnerung vollständig richtig ist. Wir können lediglich voneinander unabhängige bestätigende Belege sammeln, die darauf hindeuten, dass eine Erinnerung eine mehr oder weniger korrekte mentale Repräsentation von etwas ist, das tatsächlich stattgefunden hat. Jedes Ereignis, wie wichtig, emotional aufgeladen oder traumatisch es auch erscheinen mag, kann vergessen oder falsch erinnert werden oder sogar vollkommen fiktiv sein.

Heute widme ich mein Leben der Erforschung der Frage, wie es zu Erinnerungsfehlern kommt. Dabei konzentriere ich mich besonders darauf, wie wir unser Gedächtnis und das Gedächtnis anderer formen können, indem wir tatsächliche vergangene Erfahrungen so umbilden, dass daraus eine fiktive vermeintliche Vergangenheit wird. Was mich von den meisten anderen Forschern unterscheidet, die an etwas Ähnlichem arbeiten, ist die Natur der Erinnerungen, die ich erzeuge. Im Laufe nur weniger, freundlich geführter Interviews kann ich mein Wissen um Gedächtnisprozesse dazu nutzen, die Erinnerungen meiner Versuchspersonen massiv zu verzerren. Ich habe Menschen schon davon überzeugt, dass sie Straftaten begangen haben, die es nie gegeben hat, dass sie sich eine körperliche Verletzung zugezogen haben, die sie niemals hatten, oder dass sie von einem Hund angefallen wurden, obwohl eine solche Attacke nie stattfand. Das mag unmöglich klingen, aber es beruht einfach auf einer sorgfältig geplanten Anwendung der Gedächtnisforschung. Und es hört sich vielleicht auch unheimlich an, aber ich tue das, weil ich herausfinden helfen möchte, wie starke Erinnerungsverzerrungen zustande kommen. Diese Frage ist besonders im Rahmen strafrechtlicher Settings wichtig, bei denen wir weitgehend auf die Erinnerungen von Augenzeugen, Opfern und Verdächtigen angewiesen sind. Wenn ich komplexe falsche Erinnerungen an Straftaten erzeuge, die im Labor echt aussehen und sich auch so anfühlen, beleuchte ich damit die beträchtlichen Herausforderungen, die unsere fehlerhaften Erinnerungsprozesse für die Justiz darstellen.

Wenn ich das erzähle, wollen alle immer gleich wissen, wie genau ich das mache. Ich werde es später noch erklären, aber vorab möchte ich Ihnen schon einmal versichern, dass dabei weder Gehirnwäsche noch Folter oder Hypnose eine Rolle spielen. Aufgrund unserer psychischen und körperlichen Ausstattung können wir alle dazu gebracht werden, uns mit großer Sicherheit lebhaft an ganze Ereignisse zu erinnern, die in Wahrheit niemals stattgefunden haben.

Das trügerische Gedächtnis wird die fundamentalen Prinzipien unseres Gedächtnisses erklären und die biologischen und strukturellen Gründe dafür darlegen, warum wir vergessen und warum wir uns erinnern. Das Buch wird erläutern, dass und in welcher Weise unsere soziale Umgebung eine entscheidende Rolle dabei spielt, wie wir die Welt erleben und in Erinnerung behalten. Es wird erklären, wie unser Selbstbild unser Gedächtnis formt und davon geformt wird. Es wird sogar erklären, welche Rolle die Medien und die Erziehung dabei spielen, dass wir unserem Gedächtnis zu viel zutrauen. Außerdem wird es detailliert einige der faszinierendsten, manchmal schier unglaublichen Fehler, Entstellungen und Missverständnisse unter die Lupe nehmen, die unserem Gedächtnis unterlaufen können. Auch wenn dieses Buch keineswegs eine erschöpfende Darstellung ist, hoffe ich, dass es Ihnen eine gute Grundlage liefert, die Wissenschaft vom Gedächtnis zu verstehen. Und vielleicht fragen Sie sich am Ende verwundert, wie viel Sie wirklich über die Welt wissen und auch über sich selbst …

1. ICH ERINNERE MICH AN MEINE GEBURT

Mobiles für Babys, Tee mit Prinz Charles und eine Begegnung mit Bugs Bunny in Disneyland

Warum manche Kindheitserinnerungen unmöglich sind

»Ich erinnere mich an meine Geburt« – 62 Millionen Treffer. »Ich erinnere mich an meine Baby-Zeit« – 154 Millionen Treffer. »Ich erinnere mich an die Zeit im Mutterleib« – neun Millionen Treffer. Die Menschen legen ein immenses Interesse für Erinnerungen an ihre frühe Kindheit und sogar für vorgeburtliche Erinnerungen an den Tag. Wir alle möchten unsere frühesten Erinnerungen zu fassen bekommen und die Wirkung verstehen, die die Dinge damals auf uns hatten. Manche möchten ihre frühesten Erinnerungen auch gerne anderen mitteilen, so wie Ruth, die auf eine Online-Frage der Zeitung The Guardian zu diesem Thema antwortete:

Ich war an einem dunklen, warmen Ort und fühlte mich sehr geborgen. Ich hörte ein stetes rhythmisches Blip Blip Blip (Mutters Herzschlag) und fand es tröstlich. Plötzlich geschah etwas Schreckliches und machte mir Angst (sicherlich Mutters Schreie). Dann kam das Geräusch wieder, und ich dachte, alles sei in Ordnung. Doch wieder geschah dieses Schreckliche, und diesmal wusste ich, es würde immer und immer wieder kommen. Ich war von Schrecken erfüllt! Mein Körper wurde schmerzhaft gezogen und gedrückt, Mutter schrie, und ich dachte, etwas Schreckliches, Fürchterliches geschehe. Dann kam ich heraus, und der Arzt sagte etwas Freundliches zu mir, das mich willkommen hieß. Ich verstand die Worte nicht, aber ich begriff seine Botschaft! … Wenn meine Mutter noch am Leben wäre, würde ich sie fragen, ob vor uns ein großes Fenster war, durch das hell die Sonne schien, und ob der Arzt einen schwarzen Schnurrbart hatte und klein und dick war.1

Ruth gehört zu den unzähligen Menschen, die behaupten, sie könnten sich an ihre Geburt erinnern. Oder sie hätten Erinnerungen an ihre Baby-Zeit und wüssten noch, wie ihr Kinderzimmer oder ihr Bettchen aussah. Im Laufe meines Berufslebens habe ich schon viele Beispiele dafür gehört. »Ich erinnere mich noch an die vielen kleinen Flugzeuge an dem Mobile über meinem Bettchen.« »Ich weiß noch, wie ich einmal in meinem Gitterbettchen festhing und Angst bekam, weil ich mich an einem Riegel verhakt hatte.« »Ich erinnere mich, dass mein Lieblingsspielzeug ein blauer Musikteddy war – ich zog immer an der Kordel, und er half mir beim Einschlafen. Und woher sollte ich das wissen, wenn nicht aus der Erinnerung, denn der Bär kam weg, als ich zwei war?«

Wenn Sie einen Moment innehalten und überlegen, ist all das ziemlich unglaubhaft. Wie kann es sein, dass sich diese Menschen an irgendetwas davon erinnern konnten, wenn sie noch so klein waren?

Kurz und knapp: Sie konnten es nicht.

IHRE ALLERERSTE ERINNERUNG

Jeder hat eine erste Erinnerung – eine unserer Erinnerungen muss eindeutig die älteste sein. Und wenn wir den Glauben an frühere Leben ausschließen, muss das eine Erinnerung an ein Ereignis in einem Zeitraum sein, von dem wir wissen können – irgendwann zwischen heute und dem Beginn unserer geistigen Existenz. Aber wie können wir feststellen, ob das, was wir für unsere früheste Erinnerung halten, eine zutreffende Repräsentation von etwas ist, das tatsächlich geschah?

Wenn Menschen behaupten, sie könnten sich an das Mobile erinnern, das über ihrem Bettchen hing, als sie noch ein Baby waren, oder an den Raum im Krankenhaus, in dem sie geboren wurden, oder an Wärme im Bauch ihrer Mutter, dann sprechen sie von etwas, das Psychologen »unmögliche Erinnerungen« nennen. In der Forschung steht schon seit langem fest, dass wir als Erwachsene keine zutreffenden Erinnerungen an unsere Säuglingszeit und frühe Kindheit haben können. Das beruht auf der einfachen Tatsache, dass die Gehirne von Babys physiologisch noch nicht dazu in der Lage sind, Langzeiterinnerungen zu bilden und zu speichern. Dennoch scheinen viele Menschen solche Erinnerungen zu haben, und sie sind auch oft davon überzeugt, dass sie richtig sind, weil sie keine andere einleuchtende Möglichkeit sehen, wie sie sonst zu solchen Erinnerungen gekommen sein könnten.

Gibt es wirklich keinen anderen Weg, in Erfahrung zu bringen, wie unser Mobile oder Kinderbettchen ausgesehen hat oder dass wir uns an einem Riegel verhakt haben oder einen Musikteddy hatten? Es kann zum Beispiel externe Quellen für diese Informationen geben: alte Fotos oder die Erzählungen der Eltern. Vielleicht haben Sie sogar noch Erinnerungen an Gegenstände, die Ihnen persönlich wichtig waren, weil sie auch noch viel später in Ihrem Leben vorhanden waren.

Wir wissen also, dass zumindest ein Teil des Rohmaterials, das nötig ist, damit wir ein überzeugendes Bild von unserer frühen Kindheit entwerfen können, auch anderswo zu finden ist. Wenn wir dann diese Information in scheinbar passende Kontexte einbetten, können wir unabsichtlich unsere Gedächtnislücken füllen und Details erfinden. Unser Gehirn setzt Informationsbruchstücke so zusammen, dass sie für uns sinnvoll werden und sich daher wie echte Erinnerungen anfühlen. Das ist keine bewusste Entscheidung seitens der Person, die sich erinnert, sondern passiert automatisch. Zwei der wichtigsten Prozesse, durch die das geschieht, nennt man Konfabulation und Quellenverwechslung.

Louis Nahum und seine Kollegen von der Universität Genf erklären dazu: »Als Konfabulation bezeichnet man das Auftauchen von Erinnerungen an Erfahrungen und Ereignisse, die nie stattgefunden haben.«2 Dieses eine Wort beschreibt ein komplexes Phänomen, das viele unserer Erinnerungen beeinflusst, besonders die frühen. Natürlich greift diese Definition im Falle früher Kindheitserinnerungen ein wenig zu kurz: Das Ereignis hat vielleicht tatsächlich stattgefunden, es ist aber einfach unmöglich, dass unser Gehirn diese Information so früh schon speichern und sie uns später als einzelne sinnvolle Erinnerung wieder präsentieren konnte.

Andererseits kann der Glaube, dass wir sehr frühe Kindheitserinnerungen an Ereignisse wie unsere Geburt haben, einfach auf einer falschen Identifikation der Informationsquelle beruhen. Das nennt man Quellenverwechslung – wir vergessen die Quelle der Information und lokalisieren sie fälschlicherweise in unserem eigenen Gedächtnis oder unseren Erlebnissen. Wir möchten uns an unsere wunderbare Kindheit erinnern und halten daher die Erzählungen unserer Mutter für eigene Erinnerungen. Oder wir bauen in unsere persönliche Geschichte Erinnerungen ein, die uns Geschwister und Freunde erzählt haben. Oder wir verwechseln unsere Vorstellung davon, wie unsere Kindheit gewesen sein könnte, mit einer echten Erinnerung daran, wie sie war. Viele Erinnerungsfehler gehen auch auf Konfabulation und Quellenverwechslung im Doppelpack zurück.

Eines der ersten Experimente, die zeigten, dass man unsere autobiografischen Kindheitserinnerungen austricksen kann, wurde 1995 von den Gedächtnisforschern Ira Hyman und Joel Pentland an der Western Washington University durchgeführt.3 Ihren 65 erwachsenen Versuchspersonen wurde gesagt, sie nähmen an einem Experiment teil, bei dem untersucht werden solle, wie gut sich Menschen an frühe Kindheitserfahrungen erinnern können. Man erläuterte ihnen, sie würden über eine Reihe von Ereignissen befragt, die vor ihrem sechsten Lebensjahr stattgefunden und zu denen ihre Eltern bereits über einen Fragebogen Einzelheiten beigesteuert hätten. Schließlich sagte man ihnen noch, die Korrektheit der Erinnerung sei von größter Bedeutung.

Aber natürlich war das keine normale Studie zu Kindheitserinnerungen. Die Forscher wollten nicht einfach sehen, wie gut sich die Versuchspersonen an wahre Ereignisse erinnerten – sie wollten erkennen, wie gut sie sich an Ereignisse erinnerten, die in Wirklichkeit gar nicht stattgefunden hatten. Unter die echten Berichte, die von den Eltern der Teilnehmer stammten, hatten sie einen falschen Bericht geschmuggelt, den sie selbst erfunden hatten: »Im Alter von fünf Jahren waren Sie auf der Hochzeitsfeier von Freunden Ihrer Eltern und rannten zusammen mit anderen Kindern herum. Dabei stießen Sie gegen den Tisch, auf dem die Schüssel mit der Bowle stand, und kippten die Bowle über die Eltern der Braut.«

Dieses Ereignis kann man sich leicht vorstellen – es ist sowohl gefühlsbesetzt als auch plausibel. Wir alle wissen, wie eine Hochzeit in unserer jeweiligen Kultur und in unserem Land aussieht. Wir wissen auch alle, wie eine Bowleschüssel aussieht, oder zumindest, wie sie aussehen könnte. Wir alle wissen, dass eine Hochzeit eine offizielle Angelegenheit ist, also stellen wir uns die Brauteltern wahrscheinlich als älteres Ehepaar vor, das sich für dieses Ereignis besonders festlich gekleidet hat. Wir können uns auch leicht vorstellen, wie wir als Fünfjährige auf dem Fest herumgerannt sind. Und es hat sich gezeigt, dass wir uns all das noch leichter vorstellen können, wenn wir das Ereignis ein paar Minuten lang imaginieren: Und zwar wurde jede Versuchsperson zuerst über zwei wahre Ereignisse befragt, die die Forscher von den Eltern der Teilnehmer erfahren hatten, erst danach erkundigte man sich nach dem eingeschmuggelten Vorfall mit der Bowleschüssel. Nachdem man den Versuchspersonen zu jeder Erinnerung ein paar grundlegende Informationen gegeben hatte, wurden sie aufgefordert, sich ein möglichst lebhaftes Bild von dem jeweiligen Ereignis zu machen, um den Zugang zur Erinnerung zu erleichtern. Die Forscher baten die Versuchspersonen, die Augen zu schließen und sich vorzustellen, wie die jeweiligen Schauplätze, Menschen und Gegenstände aussahen. Dann bestellten die Versuchsleiter die Teilnehmer noch dreimal ein, mit je einer Woche Abstand dazwischen, und forderten sie auf, den Prozess zu wiederholen.

Was sie herausfanden: Nachdem sich die Teilnehmer nur ein paar Mal vorgestellt hatten, wie das Ereignis abgelaufen war, und ihre Vorstellungen laut ausgesprochen hatten, verfügten am Ende 25 Prozent von ihnen über falsche Erinnerungen an das Ereignis. Weitere 12,5 Prozent schmückten die Information, die die Versuchsleiter ihnen gaben, weiter aus, erklärten aber, sie könnten sich nicht daran erinnern, tatsächlich Bowle über jemanden gekippt zu haben, sodass sie als Personen klassifiziert wurden, die sich bruchstückhaft erinnerten. Das heißt, eine große Anzahl von Versuchspersonen, die sich bloß vorstellten, ein Ereignis hätte stattgefunden, dachten am Ende wirklich, es hätte stattgefunden, und das nach lediglich drei kurzen Vorstellungsübungen. Zudem glaubten sie, sich zu erinnern, wie es genau abgelaufen war. Das zeigt, dass wir Informationen internalisieren, die uns jemand anders angeboten hat, und sie dann als Bestandteil in unsere persönliche Vergangenheit einweben. Das ist eine extreme Form der Konfabulation, die von jemand anderem dadurch herbeigeführt werden kann, dass er unsere Vorstellungskraft aktiviert.

Nebenbei bemerkt ist Ira Hyman nicht nur ein hervorragender Forscher, der sehr viel zu unserem Verständnis von falschen Erinnerungen beigetragen hat, sondern auch ein Mensch, den man sofort sympathisch findet. Wo wir gerade über ihn sprechen: Hier zu Ihrer Erholung nach anstrengendem Kapitel ein kurzes Multiple-Choice-Quiz für Sie. Vervollständigen Sie bitte den folgenden Satz: Ira Hyman …

a) schrieb seine erste akademische Veröffentlichung über die Beatles.

b) hat in einem Ballett getanzt.

c) hasst Pickles.

d) erfüllt alle diese Kriterien.

Natürlich lautet die richtige Antwort »d«. Und wir lieben ihn dafür.

SUPER-KURZZEIT

Gehen wir nun einen Schritt zurück und sprechen über die neurowissenschaftliche Seite des Gedächtnisses und darüber, warum genau frühe Kindheitserinnerungen physiologisch gesehen so anfällig für Verzerrungen sind. Wenn Wissenschaftler über die Reifung des Gedächtnisses sprechen – über die Veränderung unseres Gedächtnisses im Laufe des Älterwerdens –, sprechen sie typischerweise getrennt über Veränderungen im Kurzzeitgedächtnis und im Langzeitgedächtnis. Das Kurzzeitgedächtnis ist ein System im Gehirn, das kleine Informationsmengen für kurze Zeit behalten kann. Sehr kurze Zeit – nur ungefähr 30 Sekunden. Wenn wir uns beispielsweise eine Telefonnummer merken wollen und sie im Stillen so lange vor uns hinsagen, bis wir sie wählen – sie also in der sogenannten phonologischen Schleife speichern –, dann benutzen wir unser Kurzzeitgedächtnis.

Dieses System kann nicht viel Gedächtnisinhalt aufnehmen. Seit einem bahnbrechenden Artikel, den George Miller von der Princeton University 1956 veröffentlicht hat und der zu den meistzitierten Artikeln aller Zeiten gehört, sagt man, die Anzahl der Informationseinheiten, die wir gleichzeitig im Arbeitsgedächtnis halten können, läge bei sieben plus/minus zwei.4 Anders ausgedrückt kann unsere Kapazität, abhängig von unseren individuellen Gedächtnisfähigkeiten und unserem jeweiligen mentalen Zustand, auf fünf Informationseinheiten sinken oder auf das Behalten von neun Einheiten steigen. Diese Veränderlichkeit fällt uns manchmal auf: Wenn wir sehr müde sind, stellen viele von uns fest, dass unser Kurzzeitgedächtnis sich fast vollständig in Luft aufzulösen scheint.

Millers magische Zahl Sieben wurde inzwischen jedoch infrage gestellt – laut einem Artikel von Nelson Cowan von der University of Missouri aus dem Jahr 20015 können wir vielleicht nur vier Einheiten behalten –, doch das Prinzip bleibt dasselbe: Wir können nur wenige Dinge gleichzeitig im Kurzzeitgedächtnis speichern, und zwar für etwa 30 Sekunden.

Ein Begriff, der in Diskussionen über das Kurzzeitgedächtnis häufig auftaucht, ist »Arbeitsgedächtnis«. Dieses Wort bezeichnet normalerweise ein größeres theoretisches Konstrukt, das damit zu tun hat, wie wir Informationen flexibel präsent halten, während wir beispielsweise Aufgaben lösen – das Kurzzeitgedächtnis wird im Allgemeinen als eine Art von Arbeitsgedächtnis angesehen. Es gibt zwar wichtige konzeptuelle Unterschiede zwischen diesen Begriffen, im Rahmen unserer Diskussion werde ich sie jedoch austauschbar verwenden.

Christian Tamnes und seine Kollegen an der Universität Oslo haben die Reifung des Arbeitsgedächtnisses im Alter zwischen acht und 22 Jahren untersucht.6 In einem Artikel, den sie 2013 veröffentlichten, stellten sie fest, dass Veränderungen in spezifischen Teilen des Gehirns mit Verbesserungen des Arbeitsgedächtnisses zusammenhingen. Vor allem zeigten sie, dass die Reifung des sogenannten frontoparietalen Netzwerks für die Entwicklung des Kurzzeitgedächtnisses verantwortlich war. Ihre Forschung hatte ergeben, dass das Kurzzeitgedächtnis eng mit unserer Fähigkeit verbunden ist, höhere kognitive Funktionen (verortet im Frontallappen) in Harmonie mit unseren Sinnen und unserer Sprache (im Parietallappen) einzusetzen, und dass diese Fähigkeit mit dem Alter zunimmt. Je weiter sich die Beziehung zwischen diesen Teilen des Gehirns entwickelt, desto besser werden wir darin, Informationseinheiten im Kurzzeitgedächtnis zu behalten.

Das klingt sehr schwierig und neurowissenschaftlich, deshalb will ich es etwas weiter aufschlüsseln. Unser Großhirn ist in vier Hauptteile gegliedert. Der Parietal- oder Scheitellappen, der ganz oben unter dem Schädeldach sitzt, ist für die Integration von Information von den Sinnen und aus der Sprache zuständig, die für das Kurzzeitgedächtnis notwendig ist. Der Frontal- oder Stirnlappen liegt vorne am Gehirn, hinter der Stirn. Er ist für höhere kognitive Funktionen wie Denken, Planen und Argumentieren verantwortlich. Dem präfrontalen Kortex, dem vordersten Teil des Stirnlappens, wird eine besonders wichtige Rolle für das komplexe Denken zugeschrieben, und er hat mit Fähigkeiten wie der Planung von komplexem Verhalten und mit Entscheidungsfindung zu tun.

Die vier Hauptteile des menschlichen Großhirns

Das ist der Teil des Gehirns, den man früher bei manchen Patienten, bei denen man schwere Geisteskrankheiten vermutete, mit einem Verfahren abgetrennt hat, das man »präfrontale Lobotomie« nennt. Diese grobe Prozedur, bei der man im Wesentlichen mit einer Art Eispickel durch die Augenhöhle des Patienten in sein Gehirn eindrang, hatte schwerwiegende Folgen für den Intellekt und die Persönlichkeit der Betreffenden. Das hielt man damals jedoch für gerechtfertigt, weil man dachte, dadurch würden die Krankheitssymptome gelindert. Das traf vielleicht sogar zu, aber nur in dem Sinne, dass die Operation diejenigen, an denen sie durchgeführt wurde, in Zombies verwandelte, die praktisch keine Persönlichkeit mehr hatten. Präfrontale Lobotomien wurden unter anderem in den USA, in Großbritannien, Skandinavien, Japan, der Sowjetunion und Deutschland an vielen Tausenden von Patienten vorgenommen. Die Technik wurde erstmals 1936 von Egas Moniz beschrieben – der erstaunlicherweise für ihre Erfindung einen Nobelpreis bekam –,7 wurde jedoch 1967 allgemein aufgegeben, als eine Patientin des Psychiaters Walter Freeman daran starb.8

Wer hätte gedacht, dass wir ein so umfangreiches Netzwerk brauchen, um eine klein erscheinende Menge an Information zu speichern? Wie in Kapitel 2 dargelegt, müssen wir natürlich selbst für die Ausführung kleiner Gedächtnisaufgaben dazu fähig sein, eine unglaubliche Zahl von Dingen auf einmal zu tun – wir müssen vieles gleichzeitig wahrnehmen und es sortieren, und wir müssen in der Lage sein, diese Informationen in unsere bereits vorhandenen Gedächtnisschemata zu integrieren, damit wir verstehen, was wir sehen oder woran wir uns erinnern.

Kehren wir noch einmal zu unseren Erinnerungen an die frühe Kindheit zurück: Man konnte zeigen, dass Säuglinge und Kleinkinder eine gewisse Fähigkeit zur Kurzzeitspeicherung haben, wenn auch weniger als Erwachsene. Ihre Gedächtnisstrategie scheint generell anders zu sein – weniger im Hinblick auf die grundlegende Kapazität des Kurzzeitgedächtnisses (was allerdings im Laufe der Jahre immer wieder diskutiert wurde) als im Hinblick darauf, wie sich Kinder ihrer Umgebung annähern.

Wir haben bereits erwähnt, dass das Kurzzeitgedächtnis zu einer gegebenen Zeit eine bestimmte Anzahl von Informationseinheiten behalten kann. Und eine Informationseinheit kann zu unterschiedlichen Zeiten etwas Verschiedenes bedeuten. Nehmen wir noch einmal eine Telefonnummer. Sie könnten versuchen, sich jede Ziffer einzeln zu merken, also Sieben-Fünf-Drei-Acht-Neun-Sechs-Null, aber es ist leichter, wenn sie die Ziffern zu Gruppen bündeln: 75, 38, 96, Null. Dadurch haben Sie die Anzahl der Einheiten von sieben auf vier gesenkt, was es erheblich leichter macht.

Der Fachausdruck »Chunking« für die Bündelung von Einheiten beim Aufgabenlösen wurde von George Miller geprägt, dem wir auch den Aufsatz über die magische Zahl Sieben verdanken.9 Eigentlich bezieht er sich auf unsere Fähigkeit, höhere kognitive Prozesse für die Bildung von Einheiten in unserer Umwelt zu nutzen (daher die Bedeutung des präfrontalen Kortex). Dank unserer erstaunlichen Fähigkeit, Dinge miteinander zu verknüpfen, kann unser Gehirn Informationen aktiv oder passiv in Portionen bündeln.

Wenn ich beispielsweise »Starbucks« zu Ihnen sage, dann wissen Sie, dass ich von einem Milliardenunternehmen spreche, das in Seattle gegründet wurde und den Konsumismus in der heutigen westlichen Welt repräsentiert. Oder von Kaffee und kostenlosem WLAN-Zugang rede. Das bedeutet, Sie haben bereits eine Vorstellung davon, was für Informationen zu diesem Begriff in Ihrem Gehirn abrufbar sind. Folglich zählt er für die Verarbeitung im Gedächtnis als nur eine Informationseinheit und zerfällt nicht in die unzähligen verschiedenen, mit »Starbucks« assoziierten Begriffe, die Sie im Kurzzeitgedächtnis behalten müssten: Grün, Sirene (Meerjungfrau), Kaffee, WLAN, bequeme Sessel, Baristas, Venti, Grande, Tall, Latte, Muffins, Frappuccinos, Amerika, falsch geschriebene Namen auf Bechern … Sie verstehen, was ich meine.

Dasselbe gilt auch für die übrige Welt. Je mehr wir Ideen oder Begriffe zu Chunks bündeln können, desto eindrucksvoller wird unser Arbeitsgedächtnis. Das ist eine der Fähigkeiten, die mit dem Alter zunehmen; wenn wir mehr Erfahrung im Umgang mit unserer Welt und mit ihrer Deutung gewinnen, werden wir im Chunking erheblich besser.

Das heißt, dass wir im Erwachsenenalter Dinge besser im Arbeitsgedächtnis behalten können als in der Kindheit und dass Kinder darin schon besser sind als Säuglinge, weil wir in den ersten Jahren Reize nur in geringerem Maße gleichzeitig verarbeiten können, ganz zu schweigen davon, dass wir sie zu dauerhaften Erinnerungen verfestigen könnten, die wir als Erwachsene abrufen können.

Und wie sieht es mit dem Langzeitgedächtnis aus? Zunächst einmal möchte ich noch einmal betonen, dass das Kurzzeitgedächtnis in der Tat sehr kurz ist, dass aber auch Langzeitgedächtnis nicht unbedingt heißen muss, es sei sehr lang. Gedächtnisforscher verstehen unter »Langzeit« alles, was länger als 30 Sekunden im Gedächtnis bleibt (allerdings ist auch das Gegenstand von Diskussionen). Der Begriff umfasst jedoch auch Erinnerungen, die wir haben, bis wir sterben – also auch das episodische Gedächtnis für Ereignisse und das semantische Gedächtnis für Faktenwissen. Und die Forschung über die Art von episodischen Langzeiterinnerungen, die Tage, Jahre oder sogar ein Leben lang bleiben, hat einige faszinierende Ergebnisse erbracht.

INFANTILE AMNESIE

Die Erinnerung an die frühe Kindheit gehört zu den meistuntersuchten Bereichen in der Gedächtnisforschung. Dabei sind sich die Wissenschaftler im Allgemeinen einig, dass das magische Alter, in dem wir mit der Bildung von Erinnerungen beginnen können, die bis ins Erwachsenenalter erhalten bleiben, bei dreieinhalb Jahren liegt. Einige, wie etwa Qi Wang von der Cornell University, sind der Meinung, das Alter sei individuell verschieden und könne irgendwo zwischen zwei und fünf Jahren liegen.10

Warum ist das so? Weil für die Erinnerung notwendige Gehirnstrukturen noch unterentwickelt sind und zudem für Kinder unter drei Jahren noch alles neu, aufregend und unbekannt ist. Sie wissen nicht, was wichtig ist, und sie haben nicht die Struktur – und die Sprache –, um die Welt als sinnvoll zu begreifen, und schon gar nicht die kognitiven Fähigkeiten, die für eine Verarbeitung notwendig wären. Weil Kleinkinder und Säuglinge noch nicht richtig verstehen und unterscheiden, haben sie auch keinen Rahmen, der ihnen begreifen helfen könnte, was sie sich zu merken versuchen und was sie wieder vergessen sollten.

Das führt dazu, dass in der frühen Kindheit noch keine Erinnerungen gebildet werden können, die bis ins Erwachsenenalter erhalten bleiben; dieses Phänomen nennt man infantile Amnesie, ein Begriff, der 1893 von der Psychologin Caroline Miles geprägt wurde.11 Bei ihren Forschungsarbeiten fand sie heraus, dass die frühesten Erinnerungen der meisten Menschen in die Zeit zwischen dem zweiten und dem vierten Lebensjahr fallen. Inzwischen verstehen wir zwar weit genauer, was das bedeutet und warum das so ist, aber ihre Alterseinstufung war schon ziemlich treffend. Das ist besonders deshalb erstaunlich, weil das Konzept der falschen Erinnerungen, der unzutreffenden Pseudoerinnerungen an Ereignisse, die nie stattgefunden haben, noch 70 Jahre später weder ernstlich erforscht oder gar verstanden war, bis Wissenschaftlerinnen wie Elizabeth Loftus kamen und unser Denken über die Formbarkeit von Erinnerungen revolutioniert haben.

Ich sage nicht, dass kleine Kinder keine Erinnerungen hätten – das ist durchaus der Fall. Nur halten sie sich im Allgemeinen nicht bis ins Erwachsenenalter. Schon Neugeborene können sich einfache Formen und Farbkombinationen bis zu einem Tag lang merken. Dabei werden sie von den Emotionen beeinflusst, die mit diesen Formen gekoppelt sind: In einer Studie von 2014 zeigten Ross Flom und seine Kollegen in Utah fünf Monate alten Babys geometrische Formen – Quadrate, Dreiecke und Kreise – und gleichzeitig menschliche Gesichter, die entweder lächelten, neutral oder ärgerlich aussahen. Das heißt, dass die Babys beispielsweise »Kreis« mit »glücklich« assoziierten oder »Quadrat« mit »neutral«. Als die Kinder kurz danach getestet wurden, erinnerten sie sich am besten an die »glücklichen« Formen. Am nächsten Tag erinnerten sie sich jedoch am besten an die Formen, die man ihnen zusammen mit einem neutralen Gesicht gezeigt hatte. Wie testet man das Gedächtnis von Babys? Man misst, wie lange Babys sich etwas anschauen. Säuglinge bevorzugen neue Objekte. Wenn sie sich an ein Objekt erinnern, schauen sie es daher für kürzere Zeit an. Die Ergebnisse dieser Studie bedeuten, dass Säuglinge sich nicht nur mindestens einen Tag lang an diese Gegenstände erinnern, sondern dass ihr Gehirn auch Information über die Emotion verarbeitet und speichert, die mit einer Erfahrung verbunden war.

Hat ein Säugling die Fähigkeit, sich Dinge für einen Tag zu merken, so nimmt die Merkfähigkeit danach rasch zu, denn schon Zweijährige können sich an Erlebnisse bis zu einem Jahr lang erinnern. Deshalb weiß meine zweijährige Nichte noch, wer ich bin, wenn zwischen meinen Besuchen nur einige Wochen verstrichen sind, kann sich aber nicht mehr an mich erinnern, wenn wir uns 13 Monate nicht gesehen haben. Das erklärt, warum wir alle Situationen wie die folgende erlebt haben: »Kennst du Tante Julia noch? … Nein? … Von der hast du doch deinen Kuschelbär bekommen, als du noch klein warst!« Mitfühlender Blick in meine Richtung.

Wir wissen, dass Teile des Gehirns, die für das Langzeitgedächtnis zuständig sind, wie etwa ein Teil des Frontallappens und des Hippocampus, um den achten oder neunten Monat herum zu reifen beginnen, daher ist es vorher für Säuglinge unmöglich, sich Erinnerungen für mehr als etwa 30 Sekunden zu merken.12 Für den Harvard-Professor Jerome Kagan ist dies ein Hinweis dafür, dass Kinder mit etwa neun Monaten ein Gedächtnis zu entwickeln beginnen, dass sie sich typischerweise ab dieser Zeit weniger bereitwillig von ihren Eltern trennen. Wenn Kinder ihre Mutter vermissen, heißt das für Kagan, dass sie sich genau erinnern, dass ihre Mutter gerade noch da war, und bemerken, wenn sie weggeht. In einem Interview mit dem Sender ABC News sagte Kagan 2014: »Wenn man fünf Monate alt ist, heißt es: Aus den Augen, aus dem Sinn. Man weint weniger wahrscheinlich, weil man einfach vergisst, dass die Mutter überhaupt da war, deshalb bekommt man weniger Angst.«13

Ob diese Erinnerungen sich aber auch bis in spätere Jahre hinein halten, ist eine andere Frage, mit der sich Eunhui Lie und Nora Newcombe von der Temple University in Philadelphia beschäftigt haben. In einer 1999 veröffentlichten Studie testeten sie, ob Elfjährige Fotos von Kindern wiedererkannten, mit denen sie früher im Kindergarten gewesen waren.14 Sie zeigten jedem Kind eine Reihe von Fotos drei- und vierjähriger Kinder, unter denen sich auch solche befanden, die wirklich den gleichen Kindergarten besucht hatten. Die meisten erkannten keines dieser Kinder wieder. Wenn also Elfjährige bei dieser Aufgabe ein Problem haben, woran können sich dann Erwachsene 20, 30 oder 60 Jahre später erinnern? Wenn wir nicht bis in ein höheres Alter mit denselben Kindern in die Schule gegangen sind oder mit ihnen befreundet blieben, bis wir erwachsen waren, würde es uns äußerst schwerfallen, uns auch nur an eines davon zu erinnern. Dabei haben wir Jahre mit ihnen zugebracht. Das sind keine verloren gegangenen Erinnerungen an kurze Begegnungen mit Fremden. Nein, das sind verloren gegangene Erinnerungen an jahrelange Interaktionen mit denselben Personen.

Glücklicherweise entwickelt sich die Leistungsfähigkeit des Langzeitgedächtnisses rasch weiter, wenn wir älter werden, sowohl in Bezug auf die Dauer als auch auf die Komplexität der Speicherung. Wir verstehen besser, wie die Welt um uns herum funktioniert und was wir für wichtig halten sollten. Die elementaren Grundlagen des autobiografischen Langzeitgedächtnisses werden in den ersten Lebensjahren gelegt, aber die Hauptstrukturen, die beim Gedächtnis eine Rolle spielen (der Hippocampus und damit verwandte kognitive Strukturen), reifen bis ins Erwachsenenalter immer noch weiter. Diese Erkenntnis hat zum Konzept einer »verlängerten Adoleszenz« beigetragen, die sogar bis zum Alter von 25 Jahren reicht, da das Gehirn bis mindestens dahin noch substanziell reift.

Wir können also verstehen, dass die infantile Amnesie eine unumstößliche Tatsache ist, sobald wir erkennen, dass die Gehirne von Babys noch unreif und unfertig sind. Sie sind noch nicht so weit, dass sie bei Erinnerungen bei den Großen mitspielen können.

BABY-GEHIRNE

So groß und dabei noch so wenig entwickelt – niedliche, zappelnde Babys mit vergleichsweise riesigen Köpfen bergen ein ungeheures Potenzial: fetthaltige Gehirne, die noch fetter werden müssen (ihr Gehirn, die komplexeste Struktur im uns bekannten Universum und die Grundlage für unsere künftige Persönlichkeit, besteht tatsächlich zu etwa 60 Prozent aus Fett).

Wie bereits ausgeführt, macht unser Gehirn in den ersten Lebensjahren gewaltige physische Veränderungen durch. Ein Team der University of North Carolina unter der Leitung von Rebecca Knickmeyer wollte genauer herausfinden, wie diese Veränderungen aussehen, und warf einen Blick in die Gehirne von 98 Kindern.15 Einige dieser Kinder konnten sie vom Alter von zwei bis vier Wochen an durchgehend bis zu zwei Jahre lang verfolgen. Für ihre Studie legten sie die Kinder in einen Magnetresonanztomografen, der dreidimensionale Bilder von den Strukturen des Gehirns erzeugen kann. Das ist Stoff für Science-Fiction, und ich würde jeden ermutigen, der sich für eine Teilnahme an der neurologischen Forschung eignet – suchen Sie sich ein Forschungszentrum in Ihrer Nähe, dann bekommen Sie vielleicht die Chance, einen Blick in Ihr eigenes Gehirn zu werfen! Ich habe diese Möglichkeit genutzt und das dabei entstandene Bild sofort zu meinem Profilbild auf Facebook gemacht. Jemand meinte dazu, meine Ventrikel seien sexy …

Zurück zum Gehirn von Babys. Was die Forscher herausfanden, war erstaunlich. Das Gehirn nahm im ersten Jahr um 101 Prozent an Gesamtvolumen zu und um weitere 15 Prozent im zweiten Jahr. Das heißt, es vergrößerte sich um mehr als das Doppelte. Anhand des Datums der einzelnen MRT-Aufnahmen ließ sich das noch genauer unterteilen und man sah, dass das Gehirn eines Babys im Alter von zwei bis vier Wochen nur rund 36 Prozent des Endvolumens im Erwachsenenalter hat, im Alter von einem Jahr 72 Prozent und im Alter von zwei Jahren 83 Prozent. Verlängern wir diese Zeitleiste für die Gehirnentwicklung über diese Studie der Anfangszeit hinaus, dann sehen wir anhand einer weiteren Arbeit von Verne Caviness und einem Team der Harvard Medical School, dass das Gehirn von Neunjährigen etwa 95 Prozent der Erwachsenengröße hat und erst bei 13-Jährigen seine volle Erwachsenengröße erreicht.16 Diese Zunahme der Größe des Gehirns entspricht sehr schön den Altersstufen, in denen wir uns nach und nach an mehr erinnern können.

Doch während das kleine Gehirn von Babys rasant wächst, wird es zugleich neuronal erheblich zurückgestutzt. Das heißt, dass einzelne Neuronen verschwinden. Dieser Prozess setzt fast sofort nach der Geburt ein und endet, wenn wir in die Pubertät kommen. Laut Maja Abitz und ihrem Team haben Erwachsene satte 41 Prozent Neuronen weniger als Neugeborene, und zwar in wichtigen Teilen des Gehirns, die eine Rolle für das Denken und das Erinnern spielen, wie etwa im mediodorsalen Nucleus des Thalamus.17 Sähe man diesen Abbauprozess, ohne zu wissen, was da geschieht, würde man mit ziemlicher Sicherheit entsetzt annehmen, dass der arme Mensch, den man da beobachtet, bald eines schrecklichen Hirntodes sterben wird – schließlich verschwinden all diese schönen, Galaxien ähnlichen Neuronen für immer. Aber Sie können beruhigt sein: Das hat alles seine Richtigkeit. Mit dem starken Wachstum des Gehirns geht auch eine starke Bereinigung einher. Auf diese Weise wird unser Gehirn leistungsfähiger. Es wächst und optimiert sich. Und wächst und optimiert sich. Wächst und optimiert sich. Während also das Gesamtvolumen und die Größe zunehmen, nimmt die Anzahl der Neuronen stetig ab, um den wichtigsten und bleibenden Informationen Platz zu machen.

Während das Gehirn Neuronen einbüßt, aber an Größe gewinnt, ändert sich offenbar auch die Art der Verbindungen zwischen Neuronen, die man als Synapsen bezeichnet. Von diesen wird oft angenommen, dass sie Lernprozesse im Gehirn widerspiegeln, wie etwa jene, die unserem Arbeitsgedächtnis erlauben, Informationen zu Chunks zu bündeln. Die Synaptogenese – die Bildung von Synapsen – bringt die Art von Verbindungen hervor, die uns ermöglichen, ein physisches Netz zwischen miteinander assoziierten Begriffen zu knüpfen, wie beim Starbucks-Beispiel und den Assoziationen Grün, Kaffee, Barista und WLAN.

Laut einer Forschungsarbeit über dieses Phänomen, die der Neurowissenschaftler Peter Huttenlocher von der University of Chicago durchgeführt hat, gibt es im Säuglingsalter eine Überproduktion von synaptischen Verbindungen, gefolgt von einem hohen Niveau synaptischer Dichte, das bis in die späte Kindheit und die Adoleszenz anhält.18 Dann folgt eine synaptische Bereinigung (synaptic pruning), die normalerweise um die Mitte der Adoleszenz abgeschlossen ist. Das heißt, wir beginnen unser Leben mit vielen Neuronen und der Bildung einer unglaublich hohen Anzahl von Verbindungen zwischen ihnen, die wir bis in die Kindheit behalten. Wenn wir jedoch in die späten Kinderjahre kommen, weiß unser Gehirn allmählich besser, welche Verbindungen wir behalten müssen und welche überflüssig sind. Ab da findet bis in die Mitte der Adoleszenz hinein eine Art Frühjahrsgroßputz in unserem Gehirn statt. Als Sie fünf Jahre alt waren, konnten Sie vielleicht die Liste sämtlicher Dinosaurier aufsagen, aber haben Sie all diese Informationen wirklich gebraucht? Wahrscheinlich nicht, sagt Ihr Gehirn, und löscht die Verbindungen und Neuronen, die für einen Großteil dieses Wissens verantwortlich waren.

Nicht benötigte Synapsen zu eliminieren ist ein entscheidender Schritt im Lernprozess, denn wir müssen nicht nur sinnvolle Verbindungen zwischen verwandten Begriffen im Gehirn herstellen, sondern auch dazu fähig sein, unpassende wieder loszuwerden. Wir löschen folglich jegliche potenzielle Vernetzung zwischen Starbucks und Begriffen, die nichts damit zu tun haben, wie etwa die Farbe Gelb, Blumen und Einhörner. Das maximiert unsere Effizienz, wenn wir uns daran zu erinnern versuchen, was Starbucks ist, und unsere Fähigkeit, dieses Wissen rasch anzuwenden, wenn wir es brauchen.

Wenn wir heranwachsen, finden im verworrenen und komplizierten Netz unnötiger Verbindungen zwischen Neuronen also zwei Prozesse gleichzeitig statt: Einerseits wächst es stark, andererseits wird es bereinigt, damit es leichter gesteuert werden kann. Es entsteht eine riesige Zahl von Neuronen mit vielen möglichen Verbindungen und dann werden die Neuronen und synaptischen Verbindungen wieder beseitigt, die am wenigsten genutzt werden. Diesen Prozess bezeichnen Gal Chechik und seine Kollegen von der Universität Tel Aviv als optimale »Minimalwert-Löschung«.19 Im Wesentlichen wird aus einem vollgestopften ein elegantes Gehirn, das für unsere ganz spezielle Umwelt optimiert wird, abgestimmt auf unser individuelles Lernen, die Biologie und die Umstände.

Aufgrund ungenügender struktureller Entwicklung und auch des Mangels an Organisation und Sprache können Erinnerungen an Ereignisse in der frühen Kindheit nicht bis ins Erwachsenenalter erhalten bleiben. Aber wir müssen noch gründlicher erforschen, warum wir oft denken, wir könnten uns trotzdem an diese Jahre erinnern. Intuitiv versteht man leicht, dass unzureichende Fähigkeiten des Gehirns bedeuten, dass wir Dinge vergessen können, die tatsächlich stattgefunden haben, aber wie kommt es, dass wir uns scheinbar an Dinge erinnern, die nicht stattgefunden haben? Warum war Ruth in dem Beispiel am Anfang des Kapitels so fest davon überzeugt, dass sie sich an ihre Geburt erinnern kann? Sie hatte lebhafte, detaillierte, multisensorische »Erinnerungen«. Sie schilderte Geräusche, die sie im Mutterleib gehört hatte, ihre Emotionen und ihren körperlichen Schmerz bei der Geburt, den Arzt und das Krankenhauszimmer, in dem sie zur Welt kam. Wie ist das möglich?

BUGS BUNNY UND PRINZ CHARLES

Damit wir das erklären können, wollen wir uns einer Reihe von sehr cleveren Studien über Mobiles für Babys zuwenden. Dafür gehen wir zurück in die Mitte der 1990er Jahre. Wir befinden uns in Kanadas Hauptstadt Ottawa, wo der Psychologe Nicholas Spanos mit seinem Forschungsteam zusammensitzt. Die Anwesenden beschließen gemeinsam, den Beweis zu erbringen, dass es möglich ist, frühe Erinnerungen zu erzeugen, die nicht nur unwahrscheinlich, sondern unmöglich sind. Nach einer längeren Debatte reichen sie einen Antrag zur ethischen Begutachtung einer Studie ein, die später die Grundlagen des wissenschaftlichen Verständnisses von Erinnerung erschüttern und nachweisen wird, dass bei den meisten Menschen leicht falsche Erinnerungen an Ereignisse in der frühen Kindheit zu erzeugen sind. Tragischerweise kam Spanos am 6. Juni 1994 bei einem Flugzeugabsturz ums Leben und konnte seine Arbeit nicht selbst zu Ende führen.20 Sie wurde jedoch von seinen Mitarbeiterinnen Cheryl und Melissa Burgess weitergeführt, die 1999 die Ergebnisse veröffentlichten.

In der unter Spanos konzipierten Studie bekamen die Teilnehmer eine Reihe von Fragebogen zum Ausfüllen, die dann von einem Psychologen mitgenommen wurden, der die Antworten angeblich in einen Computer eingab.21 Dann kam der Psychologe zurück und gab jedem Teilnehmer eine Rückmeldung, sagte zu jedem, er habe gut koordinierte Augenbewegungen und sei gut in visueller Exploration, einer Fähigkeit, die sich nach Aussage des Psychologen direkt nach der Geburt entwickelt haben musste. Weiterhin sagte man den Teilnehmern unwahrheitsgemäß, ihre ausgezeichneten visuellen Fähigkeiten seien vermutlich darauf zurückzuführen, dass sie in Krankenhäusern geboren wurden, in denen bunte Mobiles über die Bettchen von Neugeborenen gehängt wurden.

Das war jedoch eine wohlüberlegte Lüge, falsches Feedback, das die Forscher im voraus festgelegt hatten, damit sie eine Ausrede für den Versuch hatten, an die Kindheitserinnerungen der Teilnehmer heranzukommen. Diesen teilte man daraufhin mit: Um bestätigen zu können, dass sie diese Erfahrung tatsächlich gemacht hätten, würde man sie mittels einer hypnotischen Altersregression bis zum Tag nach ihrer Geburt zurückführen und dann danach fragen, woran sie sich erinnern.

Die Altersregression ist ein Verfahren, bei dem eine Person mental in eine frühere Zeit ihres Lebens zurückversetzt werden soll, um leichter Zugang zu Erinnerungen zu bekommen, die damals gebildet wurden. Dieses Konzept kommt aus der Psychoanalyse und hat seinen Ursprung in Ideen Sigmund Freuds. Zahlreiche empirische Studien haben es jedoch in Misskredit gebracht, weil es nicht zuverlässig als Erinnerungsstütze funktioniert.22 Mit anderen Worten logen die Forscher sowohl bezüglich des Ziels ihrer Studie, bei der es angeblich um visuelle Fähigkeiten ging, als auch bezüglich der Effektivität ihrer Werkzeuge zum angeblichen Zurückholen von Erinnerungen.

Doch obwohl Cheryl und Melissa Burgess in ihrer Forschungsarbeit diese äußerst zweifelhaften Techniken zum Zurückholen von Erinnerungen einsetzten, stellten sie fest, dass die Versuchsteilnehmer sich an eine große Anzahl von Einzelheiten aus der Zeit erinnerten, in die sie angeblich zurückversetzt wurden. So behaupteten 51 Prozent der Teilnehmer, sie könnten sich an die bunten Mobiles erinnern, von denen ihnen erzählt worden war. Und genau wie Ruth erinnerten sich viele, die sich nicht an das Mobile erinnerten, dafür an Ärzte, Krankenschwestern, helles Licht, Kinderbettchen oder Masken.

Das Schockierende war, dass beinahe alle Teilnehmer mit Pseudoerinnerungen steif und fest behaupteten, es seien echte Erinnerungen und keine Phantasien. Die Psychologen hatten erfolgreich falsche Erinnerungen erzeugt. Sie stammten aus einer Zeit, in der das Gehirn noch nicht dazu in der Lage ist, Langzeiterinnerungen zu bilden. Die Teilnehmer waren verführt worden, eine Erinnerung aus dem Nichts heraus zu konfabulieren; sie hatten unmögliche Kindheitserinnerungen generiert.