Das unerwünschte Mädchen - Tina Hope - E-Book

Das unerwünschte Mädchen E-Book

Tina Hope

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Beschreibung

Als die Erwachsenen ihr alles nahmen, war Mandy ein kleines, hilfloses Kind. Tägliche Misshandlungen und Erniedrigungen, sowie sexuelle und körperliche Gewalttaten, zerstörten ihre reine Seele und beschmutzen ihren Körper. Die Angst war von da an ihr Wegbegleiter. Ihre Seele spaltete sich ab und sie schaute von oben zu. Um die täglichen Erniedrigungen zu ertragen, flüchtete Mandy in ihre selbst erschaffene Welt. Und dann kam plötzlich der Tag, an dem sie sich wie ein Phönix aus der Asche erhob. Mit einer Stärke und dem Mut, der ihr bis dahin fehlte. Doch reicht die gewonnene Kraft, um ihr Leben neu zu gestalten und es zum Guten zu wenden?

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Tina Hope

Das unerwünschte Mädchen

BookRix GmbH & Co. KG80331 München

Das unerwünschte Mädchen

Über dieses Buch:

Als die Erwachsenen ihr alles nahmen, war Mandy ein kleines, hilfloses Kind. Tägliche Misshandlungen und Erniedrigungen, sowie sexuelle und körperliche Gewalttaten zerstörten ihre reine Seele und beschmutzen ihren Körper. Die Angst war von da an ihr Wegbegleiter. Ihre Seele spaltete sich ab und sie schaute von oben zu. Um die täglichen Erniedrigungen zu ertragen, flüchtete Mandy in ihre selbst erschaffene Welt. Und dann kam plötzlich der Tag, an dem sie sich wie ein Phönix aus der Asche erhob. Mit einer Stärke und dem Mut, der ihr bis dahin fehlte. Doch reicht die gewonnene Kraft, um ihr Leben neu zu gestalten und es zum Guten zu wenden?

 

 

Copyright © 2019 Tina Hope

publiziert von www.telegonos.de

(Haftungsausschluss und Verlagsadresse auf der website)

 

Cover: Kutscherdesign

 

 

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

 

 

 

Prolog

 

Klein, hilflos und unwissend, ohne jegliche Vorstellung vom Leben, wurde ich in diese Welt geboren.

Ich kam mit den natürlichen Hoffnungen eines Kindes zur Welt. Mit dem Urvertrauen, das jedes Baby in sich trägt. Dass meine Eltern mich lieben und behüten, mein Vertrauen in mich und die Welt bestärken würden.

Sollten meine Eltern doch meine kleinen Händchen halten, mit mir die ersten Schritte ins Leben gehen. Wie alle Babys habe ich mich blind auf diese Menschen verlassen. Mir blieb ja auch nichts anderes übrig, es war keine bewusste Entscheidung.

Doch es kam alles anders. Weder Liebe, noch Geborgenheit oder der nötige Schutz wurden mir gewährt.1

All das war mir nicht vergönnt, denn nicht lange nach meiner Geburt wurde ich von meinen Eltern einfach weggegeben. Ihr übermäßiger Alkoholkonsum machte es ihnen unmöglich, mich zu lieben, geschweige denn, sich um mich zu kümmern. Und das Schlimmste: Sie konnten mich in keiner Art und Weise schützen, waren sie doch viel zu sehr mit sich und ihrem eigenen verkorksten Leben beschäftigt.

So kam ich zu Pflegeeltern, die sich jedoch nur widerwillig dazu bereit erklärten, mich zu sich zu nehmen. Schon bald wurde mir schmerzlich bewusst, dass das Leben kein Zuckerschlecken sein würde. Ich, das kleine, zarte und vor allem hilflose Mädchen, würde nie Kind sein dürfen, denn von Anfang an bestimmte Gewalt mein Leben. Und Gewalt sollte später ein fester Bestandteil meines Alltags werden.

Es war wie ein böser, dunkler Schatten, der sich über mich und mein ganzes Dasein legte. Ich ahnte das erste Mal, dass die Welt, in die ich hineingeboren worden war, keine Liebe und keinen Trost für mich bereithalten würde, denn ich war diesen gewaltbereiten Menschen schutzlos ausgeliefert. Den Tätern, die mir die gesamte Kindheit rauben würden.

Aus diesem kleinen, stillen, schüchternen und ängstlichen Mädchen wurde eine Frau.

Doch wer nun glaubt, dass von da an alles besser wurde, liegt falsch. In mir lebte dieses Kind von da an weiter, unfähig, sich von diesem Martyrium zu lösen. Dort lebt es hilflos in seiner Angst, immer begleitet von der Trauer, dem Schmerz. Doch damit nicht genug, denn die negativen Erfahrungen, die meinen weiteren Lebensweg pflasterten, ließen mich weitere Martyrien erleiden. Ich musste einen Weg ins Leben finden, wie es eigentlich hätte werden sollen. Und zwar meinen eigenen Weg.

Würde es mir gelingen, aus den Schatten meiner Vergangenheit herauszubrechen – und endlich das Leben zu leben, das mir bis dahin verwehrt worden war?

Der Weg dahin war steinig und mit so vielen Hindernissen gepflastert, dass ich fast daran zerbrochen wäre…

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Kapitel 1

 

Mein biologischer Vater Jochen war Schausteller auf diversen Volksfesten. Er bereiste mit seiner rollenden Bar die Rummelplätze in ganz Deutschland. Überall dort, wo Jahrmärkte und Partys tobten, ließ er sich nieder. Denn genau das war sein Lebensmotto: Das Leben ist eine einzige große Party.

In einer kalten Januarnacht in Hamburg passierte es dann. Er lernte meine Mutter kennen, die damals neunzehnjährige Elli. Es war Liebe auf den ersten Blick. Das Jahr 1975 hätte somit die Wende für die beiden werden können. Nach nur wenigen Tagen, in denen sich dieses Gefühl in richtige Leidenschaft füreinander entwickelte, stand für das junge Paar fest: Ein Leben ohne den anderen konnten sie sich nicht mehr vorstellen. Ausschweifende Partys bestimmten fortan nicht nur das Leben Jochens, sondern auch Ellis. Sie genehmigten sich das ein oder andere Glas und der Alkohol schmeckte ihnen viel zu gut. Sie liebten beide das freie Leben – ohne jegliche Verpflichtungen. Probleme hatten nur die anderen Leute.

Recht schnell holten sie jedoch die Alltagssorgen dieser anderen Leute ein. Voller Entsetzen stellte Elli fest, dass sie schwanger war. Als sie Jochen davon berichtete, folgte für Elli die Ernüchterung: Jochen wollte kein Kind. Und das war für ihn völlig indiskutabel. Denn erst zwei Jahre zuvor hatte er mit seiner vorherigen Frau ein Kind bekommen. Für ihn waren Kinder nur ein Klotz am Bein, eine Bürde, die er nicht bereit war zu tragen. Mit Elli hatte er sich ein ganz anderes Leben vorgestellt – frei und voller Leidenschaft, eine nie enden wollende Party – und er war schlichtweg nicht bereit, all das zu opfern. Ein Kind würde aber genau dieses Opfer fordern.

Obwohl Elli selbst eigentlich gar nicht bereit für ein Kind war, brachte sie es einfach nicht über sich, eine Abtreibung vornehmen zu lassen. Also versuchte sie jeden Tag aufs Neue, sich zu arrangieren und mit dem Gedanken anzufreunden, Mutter zu werden. Jochen hingegen lebte weiter, als existierte der stetig wachsende Bauch seiner Partnerin nicht. Er blendete das Baby völlig aus. Dieses Kind durfte es einfach nicht geben. Warum Jochen, obwohl er nach wie vor mit dem Kind nichts am Hut haben wollte, doch mit Elli mitging, gar versuchte, mit ihr sesshaft zu werden, lässt sich bis heute nicht beantworten. Spontan und ohne großes Aufsehen heirateten sie noch während der Schwangerschaft, damit das Baby wenigstens in geordneten Verhältnissen geboren werden konnte. Leider bedachte keiner der beiden, dass dazu auch der Verzicht auf Alkohol gehört. Kompromisslos jagte eine Party die nächste, bis in den Herbst hinein. Am 7. Oktober im Jahr 1976 gebar Elli schließlich ein kleines, geradezu winziges Mädchen, das sie Mandy tauften. Schwer gezeichnet von den Alkoholexzessen ihrer Mutter, musste sie gleich einen harten Alkoholentzug durchstehen. Sie kämpfte und schon nach kurzer Zeit konnten sie die Ärzte entlassen, in die Obhut ihrer Eltern. Zumindest hätte es im Idealfall so sein sollen, aber das Schicksal wollte es anders.

Ich war ein Schreikind, bei meinen Eltern lagen schon nach kürzester Zeit die Nerven blank. Keiner von beiden wusste so recht, mit mir umzugehen. Für meinen Vater war ich schlicht und einfach nur ein Ding, das er überhaupt nicht haben wollte. Und so beschloss er schon bald, dass meine Mutter sich allein um mich kümmern sollte. Elli war verzweifelt. Sie gab ihr Bestes, doch scheinbar war dies nicht gut genug. Eines Tages in den frühen Morgenstunden hielt sie mich in ihren Armen, immer noch in der Hoffnung, dass ich endlich mal still sein würde. Mein Vater, der mal wieder die ganze Nacht unterwegs gewesen war, kam genau in diesem Moment nach Hause. Stockbetrunken und rücksichtslos polterte er dabei durch die Wohnung, bis er sich fallen lassen konnte und ganz gelassen einschlief. Fast jedes Mal weckte er meine Mutter auf und natürlich auch das kleine Bündel, sprich mich. Ungeachtet dessen, dass meine Mutter darunter litt, wandte sich mein Vater immer mehr anderen Frauen zu, die keine Verantwortung für ein Kind trugen.

Mittlerweile war ich drei Monate alt und meine Mutter fühlte sich ausgezehrt und ausgelaugt. Sie war fast am Ende ihrer Kräfte. Es war wieder einer dieser Abende, an denen mein Vater schon früh zu trinken begonnen hatte und schließlich freudig trällernd die Wohnung verließ. Sie hatte versucht, ihn aufzuhalten, ihn gebeten zu bleiben.

Doch er lachte sie nur aus und sagte: „Was sollte ich denn bei dir? Du bist doch beschäftigt mit dem schreienden Ding.“

Mit aller Kraft versuchte sie, dem Drang nach Alkohol nicht nachzugeben, aber es gelang ihr nicht. Nachdem sie eine ganze Weile wie eine Verdurstende um die Flaschen auf der Küchenanrichte herumgeschlichen war, griff sie schließlich aus lauter Verzweiflung zu einer Flasche Schnaps. Eigentlich war es ihr egal, was es genau war, Hauptsache, es betäubte sie, wenn auch nur für einen Moment. Erst Stunden später holte sie mich endlich aus dem Bettchen, wo ich schon so lange Zeit nur geschrien hatte. Sie nahm mich mit ins Wohnzimmer. Völlig stumm und ausdruckslos sah sie mich an. Mehr aus einem Pflichtgefühl heraus als aus Zuneigung hielt sie mich in jener Nacht bei sich in ihren Armen. Dabei wartete sie verzweifelt auf Jochen. Er war ihr wichtiger als das Leben, das sie geboren hatte. Doch er kam nicht mehr wieder, weder in dieser Nacht, noch in einer anderen, er war einfach fort. Zuerst begriff sie nicht so recht, was da vor sich ging. Wo war er?

Als sie die Wahrheit nicht länger verdrängen konnte, verfiel sie in tiefe Depressionen. Kraftlos und voller Traurigkeit, ohne Hoffnung auf Besserung wurde ihr Leben immer unerträglicher. Und auch ich machte ihr das Leben nicht leichter, ganz im Gegenteil. Die alleinige Verantwortung für mich brachte sie wirklich an ihre Grenzen. Sie suchte Trost im Alkohol. Hörte sie zu Anfang noch nach einer halben Flasche Schnaps auf, steigerte sich ihr Konsum mit jedem Tag.

Für mich indes empfand sie keine Liebe, vielmehr Verachtung, die sich mehr und mehr in puren Hass verwandelte. Sie sehnte sich nach ihrem Leben mit Jochen zurück, das sie als unbekümmert und frei in Erinnerung hatte. So konnte sie mit mir rein gar nichts mehr anfangen. Aus eigener Unfähigkeit, aber auch wegen ihrer Gleichgültigkeit, fasste sie den Entschluss, mich in ein Heim zu geben. Als Mutter hatte sie kapituliert, sie hatte keine Kraft mehr für sich selbst, geschweige denn für mich. Zu ihrem und meinem Schutz musste sie eine Entscheidung treffen.

So ging sie zum Jugendamt und übergab mich einem fremden Menschen, dazu stellte sie eilig eine kleine Tasche mit den nötigsten Babysachen hin. Ohne sich noch mal umzudrehen, verließ sie schnellen Schrittes das Gebäude. Genau wie Jochen war sie einfach weg. Sie kehrte zurück zu ihrem alten Leben und dem Alkohol, ohne nochmal an mich zu denken.

Nun befand ich mich in den Armen einer wildfremden Frau. Es war der Anfang einer Odyssee und ich konnte zu diesem Zeitpunkt nicht einmal annähernd erahnen, wie schlimm sie noch werden würde.

 

 

 

Kapitel 2

 

Diese fremde Frau vom Jugendamt, Frau Michel, hielt mich in den Armen und ging zielstrebig auf die Eingangstür eines Kinderheimes zu. Sie öffnete mit einer Hand die schwere Holztür, die in einen hellen, großen Saal führte. Schon nach ein paar Schritten sah sie in der Ferne eine ältere, untersetzte Frau auf sich zukommen. Die beiden begrüßten sich freundlich, stellten sich kurz vor, dann warfen sie einen Blick auf mich und fingen sofort an, verlegen zu lächeln. Frau Michel legte mich vorsichtig auf einen Spielteppich, dann setzten sich die beiden Frauen ganz in meiner Nähe auf zwei Stühle und begannen eine Unterhaltung. Nachdem alles Notwendige besprochen worden war, nahm die Heimleiterin Frau Müller die kleine Tasche, die meine Mutter dem Jugendamt zurückgelassen hatte, entgegen und Frau Michel ging ihres Weges.

 

Somit stand es nun fest: Meine eigene Mutter wollte mich nicht mehr, sie hatte mich einfach auf- und weggegeben. Es folgten eineinhalb Jahre in diesem Heim, in dem sich alle fürsorglich um mich kümmerten.

 

Eines Tages erschien Frau Michel wieder im Kinderheim, um mit der Heimleiterin zu sprechen. Sie ging direkt in das kleine Büro von Frau Müller und verkündete freudestrahlend:

„Wir haben eine Pflegefamilie für Mandy gefunden!“

„Das freut mich so sehr“, sagte Frau Müller und strahlte über beide Wangen.

Sie erörterten noch die Details und machten einen zeitnahen Termin für meinen Umzug aus.

 

Der Tag des Abschieds rückte schnell näher und Frau Müller, eine herzensgute Frau, hatte alles für mich vorbereitet, auch eine kleine Abschiedsfeier. Das machte sie immer für die Kinder, die ein Zuhause gefunden hatten.

Frau Michel kam am frühen Vormittag, um mich abzuholen. Die Feier war noch in vollem Gange, die größeren Kinder tanzten im Saal umher.

Frau Müller ging sogleich auf die Jugendamtsmitarbeiterin zu und sagte mit Tränen in den Augen:

„Ich glaube, wir ziehen das lieber nicht in die Länge, ich hole eben Mandys Tasche.“

Sie nahm mich, das kleine, zierliche Mädchen mit den Kulleraugen und dem lockigen Haar, hoch und erklärte mir in einem liebevollen Tonfall:

„Komm her, du kleiner, süßer Fratz, die liebe Frau wird dich jetzt mitnehmen. Hab keine Angst.“

Dann drückte sie mich ganz lieb an sich und flüsterte mir ins Ohr:

„Auch wenn du mich jetzt noch nicht verstehen kannst, du bist eine Kämpferin.“

Dann ließ sie mich wieder runter, nahm meine Hand und ich folgte ihr auf wackeligen Beinen zu Frau Michel. Ich konnte noch gar nicht richtig begreifen, was da passierte, und sah mich mit weit aufgerissenen Augen erstaunt um.

„Du bist die kleine, zuckersüße Mandy. Keine Angst, ich tue dir nichts. Ich bringe dich in dein neues Zuhause“, sagte sie lächelnd, nahm meine Hand und verließ mit mir das Kinderheim.

 

Frau Michel hatte extra einen Buggy mitgebracht, mit dem sie mich die Auffahrt hinunter zu ihrem silbernen Auto fuhr, denn ich war noch nicht so sicher auf den Beinen. Ich war sichtlich aufgeregt, ließ mich aber ohne Weinen in den Kindersitz setzen.

Nach einer nicht allzu langen Autofahrt hielten wir vor einem von Efeu zugewuchertem Haus an. Frau Michel lächelte mir aufmunternd zu:

„Wir sind da, hier ist dein neues Zuhause.“

 

Ein dunkles, aus Eisen geschmiedetes Tor führte auf das Grundstück. Es erinnerte an einen betonierten Vorhof und wirkte nicht im Geringsten einladend oder freundlich.

Frau Michel nahm mich an die Hand, holte meine Tasche aus dem Kofferraum ihres Wagens und ging zielstrebig auf das Haus zu. Wir klingelten an der Haustür und warteten, dass jemand öffnete.

Als eine ältere Frau mit Brille die Haustür öffnete, kam uns sofort ein modriger Geruch entgegen. Freundlich, mit einem offenen Lächeln begrüßten sich die beiden Frauen. Man kannte sich, denn ich war nicht das erste Pflegekind der Familie. Neben ihren drei eigenen Kindern, wovon allerdings nur noch Karin und Uwe dort lebten, hatten sie auch noch vier weiteren Pflegekindern ein Zuhause gegeben. Es waren jeweils zwei Geschwister, die auf die Namen Rolf, Kai, Volker und Bernd hörten. Wegen dieser scheinbar hervorragenden Zusammenarbeit hatte sich das Jugendamt auch dazu entschlossen, mich ebenfalls bei dieser Familie unterzubringen. Doch ich hatte Angst, versteckte mich hinter Frau Michel und ließ ihre Hand nicht los. Sie musste meine Furcht förmlich gespürt haben.

Die ältere Frau führte uns durch einen kleinen, engen Flur in ein großes Wohnzimmer, von wo aus man das angrenzende Zimmer mit einem großen Esstisch und vielen Stühlen sehen konnte.

Im Inneren des Hauses war es dunkel und es schien, als gäbe es darin unendlich viele kleine Räume. Der Geruch des alten Hauses war geradezu penetrant. Wir setzten uns zu dritt auf das alte grüne Sofa und die beiden Frauen begannen, sich zu unterhalten. Meine Aufmerksamkeit wurde aber von einem Geräusch angezogen, das aus dem oberen Stockwerk erklang und immer näher zu kommen schien. Kurz darauf kam ein älterer Mann mit einem Gehstock die Treppe herunter. Er begrüßte uns freundlich, wobei der größere Teil seines Interesses mir galt.

Erschrocken rutschte ich von Frau Michels Schoß und versteckte mich unter dem Wohnzimmertisch. Sämtliche Versuche der Erwachsenen, mich aus meinem Versteck herauszulocken, blieben erfolglos.

Dann übernahm die ältere Frau – sie hieß Hildegard – das Ruder, griff nach meiner zierlichen Hand und zog mich einfach hoch.

Hildegard war eine Frau mittleren Alters, sie trug eine Brille und hatte kurze, lockige, braune Haare.

„Du brauchst doch keine Angst haben, Kleines. Wir passen ab jetzt auf dich auf“, versuchte Hildegard, beruhigend auf mich einzureden, doch meine Augen füllten sich mit Tränen und ich fing an, leicht zu zittern.

„Du brauchst nicht zu weinen, Kleines, wir tun dir nichts“, bestätigte ihr Mann Friedrich.

Er war eindeutig älter als seine Frau. Seine Haare waren schon grau, an manchen Stellen sogar ganz weiß, und eine Glatze begann sich in der Mitte des Kopfes zu bilden.

Er stützte sich auf seinem Gehstock ab, was ihn noch älter erscheinen ließ, als er tatsächlich war.

Nachdem die Erwachsenen alle Fragen geklärt hatten, versicherten Hildegard und Friedrich der Dame vom Jugendamt, dass sie sich gut um mich kümmern würden.

Frau Michel hockte sich noch ein letztes Mal zu mir auf den Boden und flüsterte mir lächelnd zu:

„Kleines, habe keine Angst. Diese Menschen werden auf dich aufpassen und dich beschützen.“

Dann übergab Frau Michel die Tasche mit meinen wenigen Habseligkeiten Friedrich und verabschiedete sich.

„Wenn etwas sein sollte, sagen Sie bitte Bescheid. Ansonsten werde ich mich die Tage bei Ihnen melden.“

Weinend blieb ich mit den zwei fremden Menschen zurück und begriff noch gar nicht, was da passierte. Meine Pflegeeltern beachteten mich jedoch gar nicht, sondern Hildegard rief nach den anderen Kindern. Da erklang das Getrampel von etlichen Kindern, die hastig in ihrer Neugier die Treppe hinunterrannten.

Alle wollten die neue Bewohnerin kennenlernen und drängten sich um mich herum. Vollkommen erschrocken, blieb ich regungslos stehen und die Tränen kullerten meine Wangen hinunter.

„So jetzt aber raus mit euch, wir zeigen Mandy ihr Zimmer und das Haus“, rief Hildegard die anderen Kinder in einem herrischen Ton zur Ordnung.

Sofort drehten sich alle Kinder um und stürmten hinaus auf den Hof. Hildegard nahm mich an die Hand und zog mich hinter sich her die Treppe hinauf.

 

Oben befand sich noch ein separates Bad, zwei Zimmer und eine weitere Treppe, die eine Etage weiter nach oben führte.

Das linke der beiden Zimmer war für mich bestimmt.

Es war sehr spartanisch eingerichtet, nur ein Bett, eine alte Kommode und meine Tasche befanden sich darin. Meine Pflegeeltern waren sich darin einig, dass das für mich ausreichte. Später würde ich die alte Kleidung meiner Geschwister auftragen. Auch das musste für mich ausreichen. Die wenigen Spielsachen – ein paar Bälle und zwei kaputte Puppen – musste ich mir mit den anderen Kindern teilen. Hildegard verließ das Zimmer wieder und ließ mich allein dort zurück.

Es war alles so neu und so fremd. Im Heim hatte es immer so gut nach Plätzchen gerochen, die Gerüche in diesem Haus gefielen mir nicht. Doch hier sollte ich von nun an leben.

Aus dem Fenster war der große Garten zu sehen. Er wirkte mit seinem saftigen Gras und den üppigen, am Rand gepflanzten Sträuchern ganz unwirklich, so, als würde er gar nicht zu diesem Haus gehören.

Zwischen dem Haus und der großen Garage befand sich ein langer Weg, der an einem gusseisernen Tor endete.