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"Die innere Reise ist ein Experiment. Eine Reise, die den Mut braucht, seinen eigenen Weg zu achten und zu verfolgen. Die aber gleichzeitig angebotene Unterstützung annimmt und einfordert. Eine Reise ohne Rezept und ohne die Möglichkeit Erfahrungen zu wiederholen." Anna Berg lädt Sie ein, sie auf ihrem Weg der Stille zu begleiten und Sie auf Ihrem Weg der Stille zu begleiten. Über zehn Jahre hinweg nimmt sie an unzähligen Schweigeseminaren verschiedenster Art teil. Sie liegt mit Good Dharma in leeren Getreidespeichern, sitzt eisern bei Vipassana-Kursen, genießt die Stille des neuseeländischen Busches, schweigt vier Monate am Stück und trifft auf unzählige Lehrmeister der Meditation. Tauche ein in die persönlichen Lernerfahrungen einer inspirierenden Persönlichkeit, die ehrlich von den Höhen und Tiefen der Auseinandersetzung mit sich selbst und vielen anderen wundersamen Erlebnissen spricht.
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Seitenzahl: 315
Veröffentlichungsjahr: 2020
Alles entsteht als eine Idee,
eine Vorstellung von etwas Großen,
Wunderbaren und Einzigartigen.
Nicht jede Idee wird verwirklicht,
tritt in diese Welt als etwas Reales und Lebendiges.
Manche Idee ist im Begriff zu entstehen.
Jeder spürt es - dieses Knistern in der Luft.
Herzen, die in Erwartung warten.
Dennoch vergehen einige dieser Ideen wieder,
ohne sichtbare Spuren.
Ideen, die das Leben berührten,
die sich dennoch niemals dem Leben hingaben.
Jenen Ideen, denen die Hoffnung
auf ihre Entstehung innewohnte,
die jeder spürte und keiner sah,
ist dieses Buch gewidmet.
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Die Handlung entspricht der persönlichen Wahrnehmung von Anna Berg. Alle Namen und Organisationen wurden geändert. Jede Übereinstimmung mit Örtlichkeiten bzw. lebenden oder verstorbenen Personen ist rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Das Werk ist in einer verlagskonform geschlechtsneutralen Schreibweise verfasst. Wenn vom „Arzt“ die Rede ist, ist daher gleichzeitig auch stets die „Ärztin“ gemeint.
Markenschutz:
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VORWORT
DIE REISE BEGINNT
DAS ERSTE SCHWEIGESEMINAR
BUDDHISTISCHE MÖNCHE UMS ECK
RETREAT IN DEUTSCHLAND
SCHWEIGEN,SCHWEIGEN, SCHWEIGEN
AM HEILIGSTEN ORT DER HINDUS
DIE SPIRITUELLE SEITE VON RISHIKESH
RADIkALE WÜNSCHE
SCHICHT UM SCHICHT ZUR MITTE
FAMILIäRE UNTERSTÜTZUNG
ZEIT DER STILLE
MAMA-JI IM SCHLEPPTAU
REGALE VOLLER BÜCHER
SCHWEIGEN MIT DER SONNE
IM EXIL DES DALAI LAMA
DAS GUTE WIEDERHOLEN
WO DIE LIEBE HINFÄLLT
MEDITATION: LEHRER UND PHASEN
INDIEN RUFT
STRENGE REGELN, KLARE STRUKTUREN
TIEFE ERKENNTNISSE IN ENGLAND
AM ANDEREN ENDE DER WELT
MEINE KLEINE FAMILIE
HEUTE
UNSERE ERDE, DIE MIR AM HERZEN LIEGT
EPILOG
VIER JAHRE SPÄTER
Kennen Sie das? Sie machen einfach etwas, weil Sie es in diesem Moment so machen, weil es sich richtig anfühlt, weil die Erfahrung und das bereits Gelernte Sie lenkt.
Ich backe beispielsweise meine Kuchen so. Jeder Kuchen ist anders, eine Momentaufnahme der Backkunst. Man kann ihn nicht nachbacken, es gibt kein Rezept, auch wenn tausend Leute danach fragen. In diesem einen Kuchen stecken all jene Kuchen, die ich in der Vergangenheit gebacken habe, auch die stark experimentellen, die ich selbst nicht essen konnte, weil sie einfach eine Katastrophe waren, die bestenfalls „Birnen-Matsch und Zimtexplosion" hätten heißen können, all die Versuche in meiner Kindheit Kuchen ohne Zucker, ohne Butter oder ohne Mehl zu backen. An dieser Stelle ein dickes Dankeschön an meine Eltern, die mir dennoch nie verboten haben mich auszuprobieren, obwohl sie häufig Opfer der verrücktesten Kreationen wurden, wie beispielsweise Erdbeerquark mit Radieschen.
So in der Art ist es mit der Meditation. Meditation ist eine stark individuelle Erfahrung und jeder hat eine andere Herangehensweise. Hier bin ich innerlich schon bei der ersten Frage für dieses Buch angelangt: Wie kann ich etwas in Worte fassen, über etwas berichten, das sich einfach als Meditationserfahrung in jeder Zelle niedergelassen hat? Etwas, das da ist und mich ausmacht, ohne dass Sie es sehen können. Einen Weg, für den es kein Rezept gibt und der für jeden unterschiedlich ist? Könnte ich überhaupt ein solches Buch schreiben?
Hier ist er also wieder: der Kuchen ohne Rezept. Gerne würde ich ihn nachbacken, um ihn noch einmal schmecken zu können, gerne würde ich genau diese „supergut gelungene Torte“ für die nächste Geburtstagsparty backen, das Rezept verteilen - und dennoch bin ich gezwungen, neu zu beginnen bzw. den Weg fortzusetzen.
Ich sehne mich nach Rezepten, denn das ist, was ich von klein auf gelernt habe. Die Zähne putzt man nach der KAI-Methode und jene mathematische Gleichung wird unter bestimmten Bedingungen genau so angewandt. Die Regeln für den Straßenverkehr sind in der Straßenverkehrsordnung festgelegt und die Vergangenheitsform vom englischen „is“ ist „was“. So lässt sich die Welt strukturieren, wird überschaubar, vorausplanbar und scheinbar sicher. Es entstehen viele „Wenn-Dann“ Verknüpfungen. Denn, wenn ich die Teige genau nach Rezept herstelle und kombiniere, dann habe ich in zwei Stunden eine Schwarzwälder Kirschtorte auf dem Tisch stehen.
Doch was ist, wenn es nicht um etwas Sichtbares geht, etwas, das nicht so greifbar ist, etwas das für jeden anders ist? Etwas, wofür es kein Rezept geben kann, da unterschiedliche Backzutaten vorliegen, unterschiedliche Gegebenheiten, Hitze zu erzeugen vorhanden sind und unterschiedliche Bereitschaften, etwas Neues zu probieren, den Verlauf variieren.
Stellen Sie sich vor, Sie möchten eine Schwarzwälder Kirschtorte backen, sind aber eine Nomadin in der Mongolei, die auf ihrem offenen Feuer, welches durch getrockneten Yakdung genährt wird, kocht. Sie haben keine Ahnung wie Kirschen schmecken, noch haben Sie gerade Eier oder weißes Mehl zur Hand. Sie sind Spezialistin in der Herstellung von gereiftem Yakmilchkäse und können erlegte Tiere so verarbeiten, dass alle Bestandteile, vom Fell bis zu den Sehnen und Knochen, irgendwo in Ihrer Jurte Verwendung finden. Dann hat das Rezept für Schwarzwälder Kirschtorte nur den Nutzen des Papiers, mit welchem Sie ein Feuer entzünden können.
Dennoch ruft der Kopf nach Rezepten, Anleitungen und Regelwerken. Doch er spielt mir damit oft eine Geschichte vor: einen Glaubenssatz, der für mich zur Realität wird. Wenn ich nach dieser oder jener Methode meditiere, bin ich in 365 Tagen erleuchtet. Wenn ich währenddessen zusätzlich nichts esse und meinem Körper keine Aufmerksamkeit schenke, wird der Prozess verkürzt und da ich sowieso schon halb erleuchtet bin, schaffe ich es in einem Monat. Dann reise ich als anerkannter und hochgeachteter Lehrer durch die Länder und erzähle jedem, der es wissen möchte oder auch nicht, was er tun muss, um genauso schnell erleuchtet zu werden, wie ich es sein werde. Das ist mein Zukunftsplan und den teile ich jetzt auch dem Arbeitsamt mit, damit sie mir dort die Ausbildung zum Meditationslehrer bezahlen. Hmh ... Kennen Sie auch Gedanken, die eine starke Eigendynamik entwickeln?
Inzwischen schießen Bücher über Meditation, wie auch Meditationszentren aus dem Boden wie Pilze nach einem Regentag im Herbst. Ähnlich wie es auch Back- und Kochkurse gibt. Es schadet nicht, diese Kurse zu besuchen, um die Grundregeln und Kombinationsmöglichkeiten zu kennen. Dennoch wird die Zeit kommen, in der ich erkenne, dass nur Neues entstehen kann, wenn ich mich auf Experimente einlasse und vielleicht auch Dinge kombiniere, die nur für mich Sinn machen.
Die innere Reise ist ein Experiment. Eine Reise, die den Mut braucht, seinen eigenen Weg zu achten und zu verfolgen. Die aber gleichzeitig angebotene Unterstützung annimmt und einfordert. Eine Reise ohne Rezept und ohne die Möglichkeit Erfahrungen zu wiederholen.
Ich möchte Sie einladen den Verlauf meiner persönlichen inneren Reise zu begleiten. Eine Reise zu inneren Erkenntnissen, aber auch zu seltsamen Gedanken und noch undurchsichtigeren Handlungen. Eine Reise, die etwa zwei Jahre des Schweigens beinhaltet. Eine Reise mit dem Wunsch nach Rezepten. Eine Reise über viele Jahre, die natürlich jeden Tag andauert, kein klares Ziel verfolgt und dennoch voranschreitet.
Beginnt die spirituelle Reise mit dem ersten Schweigeseminar? Oder ist es vielmehr der Aufbruch zu Neuem: neue Gedanken, neue Bücher, neue Menschen, neue Länder, neue innerliche Haltungen und Erkenntnissen? Ist dieses Buch eventuell Teil Ihres Aufbruchs zu etwas Neuem?
Da stand ich nun, aber nur ganz kurz, denn schon stürmte eine Traube von indischen Männern in bräunlichen Hemden und braunen Leinenhosen auf mich zu. „Madam, where you go?", „I good hotel, very close.", „Taxi, Madam, Taxi.", schallte es in ungewohntem Englisch in meine Ohren. Es war mitten in der Nacht und ich war nach neun Stunden Flug in Bombay zwischengelandet. In meiner Vorstellung wäre ich einfach ein paar Schildern gefolgt und völlig entspannt in meinen Anschlussflug eingestiegen. Mein Gepäck wäre natürlich auch einfach weitergeleitet worden. Es war eher Zufall, dass ich es auf dem Gepäckband entdeckte und nun auf einem rostigen Gepäckwagen vor mir herschob. Kaum hatte ich gestammelt, dass ich eigentlich unterwegs nach Bangalore war, als sich einer der Männer meinen Rucksack auf die Schultern schwang und damit in der Nacht verschwand. Eine Welle der Angst brach sich in meinem Inneren und ich eilte meinem Rucksack nach. So auch weitere fünf Männer, die sich wohl ein Trinkgeld für ihren Einsatz für die fremde deutsche junge Frau erhofften. In meinem Kopf überschlugen sich die Befürchtungen: Wahrscheinlich würden die Inder meinen Rucksack klauen, mich ausrauben und sicher vergewaltigen. Hier in dem Aufzug, in welchem wir jetzt standen, wäre dies sicher möglich. Vielleicht schlugen sie mich noch nieder und ließen mich blutüberströmt liegen. Ich fühlte mich mehr als unwohl. Völlig verwundert stellte ich kurz darauf fest, dass mein Rucksack auf einen weiteren Gepäckwagen geladen wurde, welcher mir vor der Tür überreicht wurde, auf dem mit großen Leuchtbuchstaben „National Airport“ stand. Natürlich streckten mir die sechs Fremden ihre Hände in der Hoffnung auf ein Trinkgeld entgegen. Leider hatte ich weder Rupien noch anderes Kleingeld und konnte ihnen für ihre Hilfe nichts geben. Das tat mir leid. Wie sehr hatte ich mich in deren Motivation getäuscht.
Auch der Anschlussflug nach Bangalore war ein Abenteuer. Die Gepäckklappen für das Handgepäck ließen sich nicht schließen und wurden mit Klebeband dazu gezwungen. Auch ließ sich mein Sitz nicht feststellen und senkte sich immer wieder unweigerlich auf den Schoß meines Hintermannes. Aber meine Anmerkung wurde von der Stewardess nur mit einem Schulterzucken quittiert. Mit einer ausholenden Armbewegung zeigte sie auf die voll belegte Maschine der Air India. Es war kein weiterer Platz frei. Also flog ich im Liegen, beim Starten vielmehr mit dem Kopf bergab, in ein Abenteuer, das Indien hieß.
Zum Glück wurde ich in Bangalore von einem Mitarbeiter des Kinderheimes, das mein Zuhause für die nächsten fünf Monate sein sollte, in Empfang genommen. Wir fuhren mitten in der Nacht in einer Autorikscha, einem motorisierten Dreirad, durch die Großstadt. Überall lagen Menschen zum Schlafen auf den Bürgersteigen und ein beißender Rauchgeruch von verbranntem Plastik stieg mir in die Nase und brannte sich ihren Weg hinunter in meine Lungenflügel. Ich sah in den ersten fünf Minuten, dass hier vieles anders war, als ich es gewohnt war und bisher als normal empfunden hatte. Ich atmete tief aus und gratulierte mir noch einmal zu meiner Entscheidung, erst einmal das Land aus dem sicheren Hafen eines Zufluchtortes, in diesem Fall des Kinderheims, zu erkunden. Ich studierte Sozialpädagogik und hatte ein praktisches Semester eingeschoben, um Erfahrungen zu sammeln. Da ich schon immer nach Indien wollte, hatte ich die Gelegenheit genutzt und mich als freiwilliger Helfer in dem Kinderheim beworben. Hier sollte ich zusammen mit anderen Freiwilligen die Lehrer in der Schule unterstützen und die Freizeitgestaltung der Heimkinder übernehmen. Das klang mehr als einfach und sollte kein großes Problem darstellen. Irgendetwas in mir wollte unbedingt dieses Praktikum machen, obwohl ich es seit meiner Abreise schon mindestens fünf Mal bereut hatte.
Ich sollte es in den nächsten Monaten noch viel öfter hinterfragen, denn Indien war einfach Indien und ich war einfach ich. Ich, die als Tochter eines Kriminalbeamten und einer Krankenschwester sehr behütet aufgewachsen war. Ich hatte eine klare Vorstellung von dem, was richtig und falsch war, wie man Sachen machen sollte und dass Arbeiten verlässlich, pünktlich und genau gemacht wurden. Ich hatte ein katholisches Mädchengymnasium besucht und engagierte mich als Jugendbetreuer bei der freiwilligen Feuerwehr. Ich hatte Zusatzausbildungen in Erlebnispädagogik und Psychomotorik erworben und wollte nach dem Studium zu meinem damaligen Freund nach Hamburg ziehen.
Indien war hingegen Indien. Ein intensives, lautes, chaotisches Land mit Überraschungen an jedem Tag. Nichts war voraussehbar, außer vielleicht der Essensplan der indischen „Aunties“, die im Kinderheim kochten, wuschen und putzten. Dort waren zum einen die Kinder meine besten Lehrmeister, zum anderen fühlte ich mich sehr oft alleine und hatte schreckliches Heimweh. Im Oktober 2004 schrieb ich in mein Tagebuch:
„Es hat mich! Es ist das große Heulen. Mein Heimweh. Oder eher der Kulturschock. Ich weine schon den ganzen Tag und hab noch nicht wirklich den Grund dessen gefunden. Ich glaube, es geht in Richtung Kultur. Ich vermisse eigentlich nicht meine Eltern, meine Schwester oder meine Freunde. An sich vermisse ich meine KULTUR. Etwas, worin ich mich ausruhen kann, das gewohnt und bekannt ist. Ich glaube, ich habe bisher alles wunderbar beiseite geschoben und nun überflutet es mich komplett. Alles ist anstrengend hier..."
Natürlich war es nicht anstrengender als irgendwo sonst, doch wurden meine ganzen Gedankenmuster und Lebensregeln auf den Kopf gestellt. Sich auf so viel Neues einzustellen, war und ist einfach anstrengend. Immer wieder war ich mit Situationen überfordert und hatte keine Handlungsmöglichkeiten auf Lager. Ich musste irgendwie improvisieren, mal mit mehr, mal mit weniger Erfolg.
Denn:
Wenn das Mehl plötzlich gut ist, obwohl Würmer darin sind und man es einfach sieben muss, bevor man es verwenden kann ...
Wenn man feststellt, dass ein Zug auch mal zwölf Stunden Verspätung haben kann, ohne, dass sich jemand aufregt ...
Wenn man die Wäsche mit der Hand schrubbt, weil der Glaube vorherrscht, dass eine vorhandene Waschmaschine nicht sauber waschen kann ...
Wenn Mädchen mit Leggings und Langarmshirt versuchen Schwimmen zu lernen, da man besser keine Haut zeigt ...
Wenn „alleine sein“ als Strafe empfunden wird und man nie alleine ist ...
Wenn der Milchmann mit dem Fahrrad vorbeikommt und die Milch aus den mit Gürteln befestigten riesigen Milchkannen schöpft ...
Wenn es scheinbar keine Vekehrsregeln gibt und man nur mit guter Hupe gehört wird ...
Wenn weder Strom noch Wasser immer verfügbar sind ...
Wenn es kein Toilettenpapier gibt und man hierfür die linke Hand verwendet und deshalb nur mit der rechten isst ...
Wenn man alle paar Tage mal wieder Durchfall hat ...
Wenn das Essen dreimal am Tag aus Reis mit scharfer Soße besteht ...
Wenn man am besten mit dem linken Fuß aufsteht, um an jedem Tag Glück zu haben und man mit 24 Jahren sicher als alte Jungfer stirbt, da man in diesem Alter keinen Mann mehr finden wird ...
Wenn auch mal bei einem Bus der Boden fehlt oder der Schalthebel einfach abbricht ...
Wenn man bei längeren Busfahrten sicher ein Kind auf dem Schoß hat, dass wahrscheinlich bald einschläft und man die Läuse in seinem Haarschopf zählen kann ...
Wenn einem beim ersten Schritt auf die Straße eine Horde Bettler folgt ...
Wenn man immer wieder hereingelegt wird, um etwas zu kaufen oder man bitterlich für angemessene Preise verhandeln muss ...
Wenn die Menschen scheinbar wissen, was man braucht und bestimmte Dinge einfach auftauchen ...
Wenn die Einheimischen ihre Kühe genauso gut kennen wie ihre Freunde ...
Wenn man auf der Straße einem Elefanten, einem Dromedar oder vielen Kühe begegnet ...
Wenn Kleidungstücke mit Kohlebügeleisen gebügelt werden und die Häuser in den schrillsten Farben leuchten ...
Wenn alles vor Leben bebt und Musik aus jedem Haus erschallt ...
Wenn alle scheinbar ihr Wohnzimmer auf der Straße haben und der Müll einfach weggeworfen wird ...
Wenn es Bananenblätter als Teller und Tontässchen als Teebecher gibt ...
Wenn man merkt, dass jeder Tag ein Abenteuer und eine Herausforderung für den Kopf ist, dann
...
... dann ist man vielleicht in Indien.
Dies sind natürlich nur Fragmente dieses außergewöhnlichen Landes und es ist nach wie vor eines meiner liebsten Reiseziele, einfach weil es mich zum Lernen auffordert und aus bekannten Denkmustern herausholt. Dies hat bisher kein anderes Land in der gleichen Intensität geschafft.
Nach fünf Monaten freiwilliger Hilfe im Kinderheim hatte ich mich dazu durchgerungen ein Schweigeseminar zu besuchen. Immerhin war Indien für seine Vielfalt an spirituellen Angeboten bekannt und ich hatte mehrfach von stolzen Indern oder von überzeugten Reisenden gehört, dass die Erdanziehungskraft, speziell in Südindien, am geringsten auf der ganzen Erde sei. Bei Betrachtung der „Weltwiegekarte“ liegt Indien tatsächlich in einer Vertiefung und dadurch näher am Erdmittelpunkt. Dies wiederum, so wurde mir glaubhaft versichert, würde sich stark auf alle Bemühungen der inneren Einkehr und Meditation auswirken. Ich wäre in Indien näher am Erdmittelpunkt und somit im übertragenen Sinne näher am Zentrum des Seins.
Denn im Zentrum einer jeder Bewegung ist Ruhe, an jenem Platz ist alles in Balance, ähnlich wie im Auge eines Wirbelsturms oder am Drehpunkt einer Wippe. Also ging es bei der Meditation wohl darum, die Ruhe in Person zu sein.
Bildlich gesprochen waren laut den geduldigen Erklärungen des jungen Inders die Arme der Wippe in seinem Land kürzer und ich hätte einen kürzeren Weg zum ruhigen Pol des Drehpunktes. Ich zog die Augenbrauen hoch und blickte mein Gegenüber skeptisch an, denn Indien hatte nichts, aber auch gar nichts Ruhiges an sich. Es erinnerte mich eher an einen nicht endenden Jahrmarkt der Superlative. Als wollte Indien meine Gedanken unterstreichen, gab es vor der Tür des Teeladens eine große Auseinandersetzung zweier Rikschafahrer, weil ein Passagier bereits in einer Rikscha saß, während sein Gepäck in eine andere Rikscha verladen worden war. Beide Rikschafahrer erhoben Anspruch auf die Fahrt und schlugen sich fast. Der Tourist blickte nur entsetzt von einem zum anderen. Gleichzeitig hupten alle anderen Fahrzeuge auf der Straße, da die zwei Rikschafahrer den Verkehr behinderten. Dennoch war der junge Inder mir gegenüber von seinen Aussagen mehr als überzeugt. Ich lächelte und nickte. Dies war inzwischen meine Methode mit all den seltsamen Ideen meiner Mitmenschen hier umzugehen. Möglich war alles, warum auch nicht? Dann konnte ja nichts mehr schiefgehen ...
Ich würde mich in dem Schweigeseminar der geringsten Anziehungskraft der Erde hingeben und die Ruhe genießen, die ich hier seit meiner Zwischenlandung in Bombay noch nicht gespürt hatte.
Mein erstes Schweigeseminar fand zum Glück in Tiruvannamalai, kurz Tiru, statt. Dort erhebt sich der heilige Berg Arunachala, in einer dessen Höhlen Ramana Maharshi (1879-1950) viele Jahre in tiefer Meditation zubrachte. Als er 1950 starb, versicherte er den Zurückbleibenden: „Das, was ich bin, kann nicht sterben, weil es nie geboren wurde."
Warum soll jemand gewisse Zeit seines Lebens schweigend verbringen? Für was soll dies gut sein? Reicht es da nicht, am Strand in der Sonne zu liegen?
Ich war zum Retreat angemeldet und mit dem Bus unterwegs nach Tiru. Natürlich hatte ich einen schlafenden Jungen auf dem Schoß, der auf meinem Oberteil einen bleibenden Kokoshaarölfettleck hinterließ. Er war wie eine kleine zusätzliche Heizung und der Schweiß stand mir auf der Stirn. Zum Glück hatte ich Ohrenstöpsel in den Ohren, denn der Busfahrer, der einen Videofilm auf Tamil laufen ließ, hatte die Lautstärke bis zum Anschlag aufgedreht. Dass die Qualität der Musik selbst für mein schlechtes musisches Verständnis katastrophal war, störte keinen. So schaukelten wir gen Süden und die anderen Fahrgäste schliefen selbst im Stehen. Mir tat alles weh, dennoch wollte ich mich nicht bewegen, um den Jungen auf meinem Schoß nicht zu wecken.
Zehn Tage würde ich schweigend verbringen. Übermorgen sollte das Seminar losgehen. Ich hatte keine konkrete Idee, wie so ein Retreat vonstatten gehen würde, doch inzwischen hatte ich es aufgegeben, mir Gegebenheiten in der Zukunft auszumalen und irgendwie vorzustellen. Hier in Indien hatte dies nicht funktioniert. Also auf ins Abenteuer, ins innere Abenteuer.
Meine Hoffnung war, all die Ereignisse im Kinderheim irgendwie verarbeiten zu können und Klarheit in verschiedene Situationen zu bringen. Immerhin hatte ich vor, meine Diplomarbeit über die Zeit in Indien zu verfassen. Da konnte es auf gar keinen Fall schaden, etwas Ordnung in mein Gefühlchaos zu bringen. So war mein persönlicher „Plan“ - denn ganz ohne konnte ich nicht sein.
Wie würde das Retreat werden? Welchen innerlichen Monstern würde ich begegnen? Vielleicht würde es mir schrecklich ergehen und ich hätte keine Möglichkeit das Seminar abzubrechen. Es hörte sich für mich ein bisschen an wie eine geschlossene Psychiatrie. Wer wusste schon, welche Horrorszenarien sich innerlich abspielen würden, wenn ich so lange nicht reden würde und sollte. Ich hatte Angst. Angst vor mir selbst. Erschrocken stellte ich fest, dass ich nicht mit Sicherheit sagen konnte, dass mir alles, was aus meinem Inneren auftauchen würde, bekannt war. Was wäre, wenn ich das abscheulichste Monster auf Erden und im ganzen Universum in mir trug? Wollte ich dieses wirklich wecken, indem ich mich genauer in mir umschauen würde? Was wäre, wenn es einfach von alleine aufwachen und ich verrückt werden würde? Dann wäre ich hier in Indien, verschollen bis in alle Ewigkeit. Keiner würde mich finden, wenn ich vergessen hatte, wer ich war! Aber ich hatte ja noch meinen Pass. Sicher würde mich jemand nach Hause schicken, dann könnte ich wenigstens dort in die Psychiatrie. Dieser Gedanke beruhigte mich etwas. Auf was hatte ich mich da nur eingelassen?
Nach der Registrierung in einem Café ging es am nächsten Tag vor einem Ashram, einem klosterähnlichen Meditationszentrum, los. Dort wurden alle angemeldeten Seminarteilnehmer mit Rikschas abgeholt und wir fuhren zu einem Bauernhof aufs Land. Wir waren eine ganze Weile unterwegs, so dass meine Hoffnung schwand, einfach verschwinden zu können, wenn es mir zu viel wurde. Und tatsächlich: Als die Autorikschas anhielten, waren wir mitten in der Pampa angekommen. Reisfelder und Wälder umsäumten die einzelnen Gebäude des Bauernhofes. Es würde noch einige Wochen dauern, bis der Reis geerntet würde, deshalb waren die Reislager leer und in ihnen lagen jetzt überall Matratzen für die Teilnehmer des Seminars. Schön ruhig war es hier auf dem Land. Im Gegensatz zum Lärm der Großstadt Bangalore. Alle Menschen, die ich sah, gingen zu Fuß oder fuhren ein Ochsengespann. Kompetent lenkten die Fahrer ihre Ochsen, indem sie ihnen mit den Füßen rechts und links des Schwanzes Signale schickten. Erstaunt stellte ich fest, dass ich tief ausatmete und mir die Ruhe bereits im ersten Moment guttat. Es war, als ob unzählige Päckchen, die überall an mir hingen und baumelten, einfach von mir abfielen, so dass ich mich leichter umschauen konnte.
Mein Name stand an der Tür eines Lagerraums und ich wählte die Matratze ganz hinten links. Darauf lag zwar Moskitonetz, allerdings konnte ich nirgends einen Hacken entdecken. Zum Glück spannte eine Zimmerkollegin gerade Schnüre aus Zahnseide kreuz und quer durch den Raum. Dabei pries sie die tollen Eigenschaften von Zahnseide an: „Minimal aufgerollt, unheimlich reißfest mit integrierter Abreißmöglichkeit und viele, viele Meter.“ Ich muss sagen, alle Moskitonetze hingen superfest und stabil an ihrem Netz aus Zahnseide.
An diesem ersten Tag konnten wir uns bis zur Eröffnungsrede am Abend noch austauschen. Außer mir waren etwa 40 weitere Personen auf dem Gelände. Es waren mehr Frauen als Männer und die meisten nicht älter als 40 Jahre. Wie ungewöhnlich dies ist, sollte ich erst Jahre später feststellen, denn zumeist nutzten vor allem Rentner die Zeit, um die inneren Gegebenheiten ihres Seins zu erforschen. Ich sprach mit einer sehr netten Frau aus Australien, die auch zum ersten Mal zu einem Schweigeseminar kam. An sich war sie nach Indien gekommen, um als Yogalehrerin ausgebildet zu werden und hatte dementsprechende Kurse besucht. Ein junger Mann aus England erzählte mir, dass er bereits seit Anbeginn bei Good Dharma gewesen war und dort die „wichtigsten inneren Werkzeuge seines Lebens“ erlernt habe. Er war überzeugt, dass mich diese zehn Tage näher an mein Sein heranbringen würden und es nichts Wichtigeres im Leben gab, als zu meditieren. Unser Leben sei eigentlich ein Traum und es sei unser aller Ziel, daraus aufzuwachen. Ich schaute ihn mit großen Augen an, lächelte und nickte. Diese Methode hatte sich zu seltsamen Ansichten bewährt. Aber wer weiß? Vielleicht war mein Leben wirklich nur ein Traum. Und wenn ich schlief und träumte? War das dann der Traum im Traum? Ob mein Leben wohl ein süßer Traum oder ein Alptraum war? Für mich fühlte sich mein Leben real an, wobei ich zugeben musste, dass es dies auch tat, während ich träumte. Oft stellte ich erst nach dem Aufwachen fest, dass ich geträumt hatte. Konnte es sich mit dem wirklichen Leben tatsächlich auch so verhalten? Etwas irritiert reihte ich mich in die Schlange der Teilnehmer ein, die auf ein Gespräch mit den Meditationslehrern warteten.
Es fand das erste Interview mit einem Lehrer statt. Ich denke, so verschalen sie sich einen Überblick über die Gruppe. Jeder der Teilnehmer füllte einen Anmeldebogen aus, in welchem auch Fragen zur generellen psychischen Verfassung aufgenommen waren. Ich wechselte ein paar Sätze mit der Meditationslehrerin Jewel. Dann läutete schon die Glocke zur Eröffnungsrede. In der Meditationshalle blieb ich hinten in der Nähe der Türe. So konnte ich einfach gehen, wenn ich nicht mehr wollte. Zumindest sagte ich mir dies. Auch war ich sehr zwiegespalten, was ich von den teilweise krassen Freaks halten sollte, die sich auf Türmen von Wolldecken, Kleidungsstücken und Tüchern zu Füßen der Lehrer niedergelassen hatten. Teilweise trugen sie verschiedene Amuletts und Wegweiser zur Erleuchtung um ihren Hals oder hatten diese in der Nähe ihres Sitzkissens drapiert. Nein, zu diesen zählte ich mich nicht. Ich wollte dieser Gruppe nicht einmal angehören. So ein Hokuspokus. Da hielt ich besser etwas Abstand und beobachtete die Sache aus der Ferne.
Jetzt räusperten sich die Organisatoren und erklärten uns den Ablauf des Retreats. Es würde einen festen Tagesablauf geben, der mit der Möglichkeit zum Yoga um 6:30 Uhr begann und um 21 Uhr endete. Es wurde darum gebeten diesen einzuhalten. Nach dieser Rede begann das Schweigen und wir sollten unter keinen Umständen mit irgendjemandem ein Wort wechseln. Es wäre möglich, am Pinnbrett geschriebene Nachrichten für die Organisatoren und die Lehrer zu hinterlassen. Diese würden darauf reagieren und uns eine Nachricht am Pinnbrett zukommen lassen. Auch würden wir dort alle wichtigen Informationen finden. Darüber hinaus wiesen sie uns auf alles Mögliche Getier hin, dass es hier in Indien in den ländlichen Gegenden gab und baten uns darum, nicht quer durch den Busch laufen, sondern bitte die dafür vorgesehenen Wege zu nutzen. Da brauchten sie sich bei mir keine Gedanken machen, denn ich würde sicher nicht mit den Schlangen durchs Unterholz kriechen. Am Schluss wurden Uhrzeiten abgeglichen und man wünschte uns ein fruchtvolles Retreat.
Dann waren die Meditationslehrer mit ihrer ersten Rede an der Reihe. Interessanterweise hatte neben Siri und Jewel auch ein älterer Inder Platz genommen, der uns als Ajeet vorgestellt wurde. In der Rede ging es um ein Musikinstrument, dessen Saiten richtig gestimmt sein müssten, um einen schönen Klang zu erzeugen. Auch wurden die verschiedenen Grundbedingungen der Menschen von Ost und West beleuchtet. Viele Meditationspraktiken wurden für Menschen, die in asiatischen Ländern aufwuchsen, entwickelt. Wären jene Menschen in der bildlichen Vorstellung eine Gitarrensaite, wäre diese eventuell zu schwach gespannt und es wäre angebracht, dass sie mit starken Regeln und langen Sitzmeditationen zu mehr Spannung kämen. In der Erfahrung der Meditationslehrer von Good Dharma waren die Saiten bei der westlichen Bevölkerung oft zu stark gespannt und es ginge darum, die Spannung zu reduzieren, um einen schönen Ton im Sein zu kreieren. Aus diesem Grunde wurden wir ermutigt, die Meditationen im Liegen auszuprobieren und auszuführen. Da ich keine Vorerfahrungen in Meditation hatte, konnte ich diesen Vorschlag gut annehmen. Auch machten die Erklärungen Sinn für mich. Ich hatte erlebt, dass die Inder oft zu mir sagten: „Madam, sit down, have a chai. Relax!“ Speziell wenn ich im Kopf hatte, dass nun ein Auftrag längst hätte ausgeführt sein müssen: meine Kleidung genäht, die Fotos fertig entwickelt oder der Zug eingefahren. Meist wurde mir dann ein Plastikstuhl zurechtgerückt und ein süßer Tee in die Hand gedrückt. Diese Entspanntheit kannte ich aus Deutschland nicht. Es konnte durchaus sein, dass meine Saiten des Seins etwas überspannt waren.
Was ich damals nicht wusste, ist, dass Good Dharma mit dem Angebot der Liegemeditation revolutionär war und immer noch ist. Welchen Mut sie damals auftrachten! Kein anderer Meditationsanbieter erlaubte Liegemeditationen. Auch bis heute ist mir dies nicht bekannt. In Ausnahmefällen wird Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen zugebilligt einen Stuhl zur Meditation zu verwenden oder sich mal hinzulegen, zumeist mit schlechtem Gewissen. Doch, dass 90 Prozent der Meditierenden in der Meditationshalle herumliegen und es so aussieht, als schliefen alle, ist sehr ungewöhnlich. Aus diesem Grund wird Good Dharma von anderen Meditationsanbietern etwas belächelt, obwohl die Lehrer durchaus im Sinne ihrer spirituellen Erfahrungen anerkannt sind. - Vielleicht waren die Methoden von Good Dharma genau das, was ich brauchte, um die Stille in mein Leben zu integrieren und weiterzuverfolgen.
Mir fiel schon bei der ersten Rede auf, dass die Lehrer untereinander, wie auch die anderen Kursteilnehmer, oft ein -ji an den Namen hängten. So wurde aus Siri, Jewel und Ajeet - Siriji, Jewelji und Ajeetji. Seltsam ... Später fand ich heraus, dass dies die indische Art war, jemandem seinen Respekt kundzutun. Man sagte nicht „Herr“ oder „Frau“ und „Sie“ sondern hängte einfach ein -ji an den Vornamen. Gut, persönlich und respektvoll. Kaum hatte das Schweigen begonnen, fühlte ich mich mehr als unwohl. Es war, als ob ein kleines Männchen in meinem Kopf all meine Handlungen, Taten und Gedanken bewertete und mich fertigmachen wollte. Ein kleiner asozialer Freak war das. Es verglich mich ständig mit den anderen Retreatteilnehmern und erklärte mir geduldig, dass ich beispielsweise die Türe zu laut geschlossen, sehr oberflächig gekehrt, meine Schuhe unordentlich hingestellt, zu laut geschluckt, mein Essen zu schnell gegessen, zu viel geschlafen oder aber mich nicht elegant genug auf meine Matte gelegt hatte. Uff, war das anstrengend! Gleichzeitig war es scheinbar mein einziger „Freund“, der mit mir in Kontakt trat, denn ich fühlte mich so allein.
Es ist seltsam, wenn man mit 40 anderen Menschen schweigend Zeit verbringt. Augenscheinlich war ich nicht allein, doch dadurch, dass ich scheinbar von allen ignoriert wurde, war es doppelt schwer. Jetzt konnte ich auch ein bisschen verstehen, wie es wohl sein musste, wenn man zur Strafe für tot erklärt und nur noch wie ein Geist behandelt wurde. Dies ist bei bestimmten Urvölkern als Strafe noch immer üblich. Kein Wunder, dass diese von der Gemeinschaft ausgeschlossenen Menschen zumeist tatsächlich bald starben. Gut, hier im Retreat war das etwas anderes, denn ich hatte bestimmten Regeln zugestimmt und wusste, dass dies nur für die nächsten neun Tage so sein würde. Doch schon am ersten Schweigetag schrieb ich in mein Tagebuch: „Gerade würde ich gerne davonlaufen. Ich bin allein und unglaublich traurig“ Mein Blick war, wie ich es seit meiner Kindheit gewohnt war, auf das Außen gerichtet und suchte nach Stimulation. Ich las zum tausendsten Mal all die Informationen am Pinnbrett und wusste, wer wann ein Zettelchen bekommen hatte. Was schrieben die anderen nur dauernd den Organisatoren oder den Lehrern? Seltsame Namen hatten manche meiner Mitteilnehmer. Aus welchen Ländern die einzelnen wohl kamen? Mein Kopf hielt mich beschäftigt, selbst mit den minimalen Veränderungen in meiner Umgebung. In mein Tagebuch schrieb ich: „Ich suche etwas zum Ablenken, aber finde nichts."
Sehnsüchtig erwartete ich die Rede am Ende jedes Meditationstages. Meine tägliche „Fernsehserie“! Dabei stieg einer der Lehrer auf das erhöhte Podest und erzählte etwas. Oft eine Geschichte mit vielen Metaphern, die viele Weisheiten enthielt. Ajeet übersetzte zumeist aus alten hinduistischen Schriften. Hier hätte ich gerne den Sender gewechselt, denn ich verstand nichts. Es war mir ein Rätsel, wie ihm andere Teilnehmer folgen konnten und auch noch passende Fragen stellten. Dann fühlte ich mich doppelt klein, da ich offensichtlich zu dumm für diese Art des Vortrags war. Auch war ich enttäuscht, dass meine Sehnsucht nach äußeren Anreizen nicht erfüllt wurde. Zumeist legte ich mich leicht wütend hin und ließ Ajeets Worte durch mich hindurchrieseln, während ich meinen eigenen Gedanken nachhing.
Später erkannte ich, dass unter den Meditierenden fachspezifische Wörter verwendet wurden, die ich das erste Mal hörte. Somit wusste ich weder, was diese genau bedeuteten, noch in welchem Zusammenhang sie zu meinem eigenen Leben standen. Jeder Meditationsanfänger braucht Geduld sich dieser „Fremdsprache“ anzunähern.
Die Anfänger des Kurses bekamen Einführungen in alles Mögliche. Es gab verschiedene Techniken der Gehmeditation, bei der es im Grunde darum ging sich im Schneckentempo auf einer Strecke von vielleicht fünf Metern hin- und herzubewegen. Fuß anheben, nach vorne bewegen und absetzen. Den anderen Fuß anheben, nach vorne bewegen und absetzen. Da man kein Ziel hatte, konnte man es tatsächlich superlangsam machen. Interessant daran war, wie im Grunde bei allen Meditationsmöglichkeiten, was im Inneren passierte. Beispielsweise den Widerstand zu spüren, mit der Einheit zu beginnen, dann die innere Ungeduld, wann die Glocke ertönen würde, um einen von dem stupiden Hin- und Hergelaufe zu erlösen, oder der Blick zu anderen, die scheinbar die perfekten Gehmeditierenden waren. Es war spannend zu beobachten, was in meinem Körper geschah. Er wehrte sich vehement, die Übung auszuführen, wollte am liebsten sofort liegen und kreierte überall Schmerzen, so dass ich schon sicher war, mindestens einen Bandscheibenvorfall, wenn nicht sogar einen Tumor an der Wirbelsäule zu haben. Unglaublich, wie der Körper und der Kopf zusammenspielten, sich ergänzten und mir die spannendsten Geschichten erzählten. Doch dies lag wahrscheinlich auch daran, dass ich mich schlecht in einer dunklen Ecke verstecken konnte und sehr präsentativ hin und her lief. Ich wäre lieber unscheinbar bis unsichtbar gewesen. So aber konnte jeder sehen, was ich alles falsch machte. Dies erzählte mir zumindest mein kleines Männchen im Kopf.
Auch gab es unzählige Möglichkeiten bei der Meditation in der Halle zu sitzen: im Knien, im Lotussitz, auf einem Stuhl oder Hocker, auf dem Meditationskissen. Zudem wurde mir gezeigt, wie ich bestimmte Muskelstränge dehnen konnte, um unmenschliche Schmerzen zu vermeiden. Ich probierte alles aus und hielt dennoch keine Meditationsrunde im Sitzen aus. Zumeist legte ich mich wegen der Schmerzen in Beinen und Rücken hin oder änderte die Position während der Meditationseinheit. Es war mir ein Rätsel wie andere kerzengerade ohne jegliche Bewegung für Stunden auf ihrem Platz verharren konnten und nicht mal aufstanden, wenn das Glöckchen ertönte, das das Ende der Meditationseinheit anzeigte. Wahrscheinlich waren diese Meditierenden schon nicht mehr in ihren Körpern. Das erschien mir die einzige schlüssige Erklärung für ihre eiserne Sitzposition.
Es gab mehrere Vorschläge, die Liegemeditation zu gestalten. Ich konnte auf dem Rücken, der Seite oder auch auf dem Bauch liegen. Auch war es möglich, meine Matte aufzurollen und mit dem Bauch auf dieser Rolle zu liegen. Das mochte ich gerne. Es erinnerte mich an meine Kindheit im Wald. Damals lag ich öfters auf Baumstämmen herum. Aber es war wohl eher ungewöhnlich, denn ich sah niemanden, der versuchte so zu meditieren. Generell wurden wir gebeten unsere Position während der einstündigen Meditation nicht zu verändern. Dies wurde nur im äußersten Notfall geduldet, den ich für mich reklamierte.
Jeden Tag fand in der Halle eine Meditation statt, die angeleitet wurde. Das heißt einer der Lehrer sprach und begleitete uns in der Übung. Hier waren sie nun: die Rezepte, die Anweisungen und Techniken der Meditation. Erleichtert griff ich danach. Endlich konnte ich lernen, wie Meditieren vonstatten ging, wie man es richtig machte. Während Siri sprach, war mein Kopf mit dem, was sie uns auftrug, beschäftigt. Parallel wurden Erklärungen der entsprechenden Technik am Pinnbrett ausgehängt und ich versuchte, diese Technik für mich in den Meditationsrunden ohne Anleitungen zu wiederholen. Super! Endlich hatte ich einen Auftrag und etwas zu tun. Dies war ganz nach meinem damaligen Geschmack. Dennoch war es nicht so einfach, eine Methode selbstständig durchzuführen. Immer wieder kam der Kopf mit anderen Ideen oder Gedanken in die Quere. Er streute Zweifel, ob dies schon eine passende Methode wäre oder ob ich nicht besser zu einer anderen wechseln sollte. Er wollte lieber über die Rede des letzten Tages nachdenken oder einfach mal nichts tun. Wenn alles nichts half, holte er sich den Körper zu Hilfe, der wieder überall Schmerzen hatte oder dem es urplötzlich speiübel wurde. Nie schaffie ich es eine Methode für eine Einheit beizubehalten. Es war wie verhext. Aber hier half mir das Bild, das den Beginn der Meditation mit einem Kindergarten für schwer erziehbare Kinder verglich. Ein Meditationsanfänger schaffie es nicht, in dem Kindergarten des Seins eine Geschichte zu lesen, da ständig jemand aufsprang oder aufs Klo musste oder jemand anderen schlug, der dann weinte. Die Aufmerksamkeitsspanne der Kinder war kurz und bei allen waren sie in einem anderen Moment. Sehr anstrengend, aber wahr. In meinem Kopf und Körper saßen all diese Kinder, die nicht meiner Idee und Traumvorstellung des „ruhigen und vorbildhaften Meditierenden“ folgen wollten. Uff ...
Schließlich gab ich auf. Ich würde die zehn Tage irgendwie überstehen, aber ich hatte erkannt, dass ich nicht meditieren konnte und nicht jeder dafür geboren war. Schweigen und Meditieren waren scheinbar nicht mein Ding. Auch gut, ich hatte es jetzt ausprobiert und Schluss, aus, fertig, das war’s. Von wegen „Erlernen der wichtigsten Werkzeuge des Lebens“ oder „in Kontakt kommen mit seinem Selbst“ oder „neue Erkenntnisse erleben“. Mit einem Kindergarten im Kopf und einem Körper, der sich dermaßen manipulieren ließ, war einfach nichts anzufangen. Ein Fisch wird nicht durch die Wüste laufen. So einfach lag hier der Sachverhalt. Zehn Tage Schweigen, eine Erfahrung reicher, immerhin konnte ich in Zukunft mitreden, sollte es mal irgendwo um dieses Thema gehen. Aber freiwillig würde ich mich nicht nochmal zu so einer Tortur anmelden. Und da mich keiner zwingen konnte, war es das mit der Idee der „Erleuchtung“.
Ich fühlte mich das erste Mal, seit das Schweigeseminar begonnen hatte, erleichtert und frei. Jetzt hatte ich wirklich nichts mehr zu tun, denn selbst Meditieren hatte ich für mich gestrichen. In der offiziellen Gehmeditation lief ich durch die unbekannte Vegetation der Wälder oder saß versteckt irgendwo im Schatten und malte oder blickte einfach auf die Reisfelder. In den Meditationen in der Halle lag ich einfach da und ruhte mich aus. Lustigerweise tat mein Körper weniger weh und auch mein Kopf war nicht so beschäftigt. Ich hatte in meinem Kindergarten das Buch zugeklappt und weggelegt. Schon waren alle Kinder irgendwo fröhlich am Spielen, während ich auf meinem Stuhl saß und genoss, dass alles gut war.