Das verbotene Haus - Annette Dutton - E-Book
SONDERANGEBOT

Das verbotene Haus E-Book

Annette Dutton

0,0
9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

In ihrem neuen, ebenso spannenden wie gefühlvollen Roman über ein Familien-Geheimnis verbindet die SPIEGEL-Bestseller-Autorin und DELIA-Preisträgerin Annette Dutton die fesselnde Geschichte zweier realhistorischer Frauen aus dem 19. Jahrhundert mit einer bewegenden Liebes- und Familien-Geschichte der Gegenwart. Eingebettet in die Suche einer jungen deutschen Journalistin nach den Geheimnissen ihrer Familie lässt die erfolgreiche Autorin zwei faszinierende historische Frauen wieder lebendig werden: eine Bordell-Besitzerin aus Deutschland und eine heilig gesprochene Ordensschwester, Heilige und Hure. Melbourne, 19.Jh.: Als ihr adliger Ehemann sie verlässt, scheint es für die mittellose deutsche Auswanderin Caroline nur einen Ausweg zu geben, um nicht zu verhungern – die Prostitution. Doch mit Geschäftssinn und Mut gelingt ihr stattdessen, was keine deutsche Frau vor ihr bisher gewagt hat: Sie wird zu Madame Brussels, der wohlhabendsten Bordellbesitzerin der Stadt, die die Moral ihrer Zeit herausfordert. Erst durch die Begegnung mit Mary MacKillop, die die erste Heilige Australiens werden wird, stellt Caroline ihren Lebensweg infrage. München 2016: Die junge Journalistin Nina stößt auf ein merkwürdiges Detail ihrer Familiengeschichte: Eine ihrer Vorfahrinnen, eine in Australien geborene Waise, erhielt Anfang des 20. Jahrhunderts eine kostspielige Ausbildung in Deutschland. Doch wer hat dafür bezahlt? Nina steht schon bald ganz im Bann dieser geheimnisvollen Geschichte ...

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 462

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Annette Dutton

Das verbotene Haus

Roman

Knaur e-books

Über dieses Buch

S

Inhaltsübersicht

Melbourne, 24. Juni 1871Berlin, Juni 2014Melbourne, 1871Mainz, Januar 1994Melbourne, 1871Mainz, März 2014Melbourne, 1871Frankfurt am Main, Flughafen, Juni 2014Melbourne, 1872Melbourne, Juni 2014Melbourne, 1871Melbourne, Juni 2014Melbourne, 1873Melbourne, November 1874Melbourne, 1875Anonymer Brief an Christine Wertheim, Juni 2014Melbourne, 1880Rom, Juni 2014Melbourne, 1884 – zehn Jahre nach Eröffnung des Madame BrusselsRom, 2014Melbourne, 1884Rom, 2014Melbourne, 1884Rom, 2014Melbourne, 1884Mainz, 2014Melbourne, 1884Melbourne, Juli 2014Melbourne, 2014Melbourne, 2014Berlin, August 2014Melbourne, 1884Mainz, Juni 2014Melbourne, 1884Melbourne, Juli 2014Melbourne, 1886Brief von Mary MacKillop an Caroline HodgsonMelbourne, 2014Melbourne, Dezember 1886London, im Herbst 1884Kapunda, Südaustralien, 2014Melbourne, 1886Melbourne, 2014Melbourne, 1907Melbourne, 1. Advent 2016NachwortLiteraturhinweiseDankQuellenangabe
[home]

Melbourne, 24. Juni 1871

Mit einem knappen Kopfschütteln lehnte Caroline Hodgson die dargebotene Hand ihres Mannes ab. Stattdessen raffte sie ihren schmutzigen Rock und verließ das Schiff ohne Hilfe über die gefährlich schwankenden Planken. Auf dem Railway Pier angekommen, vermochte sich das Paar nur unter Einsatz seiner Ellbogen einen Weg durch das wirre Getümmel aus Mitreisenden, Dockarbeitern und Lastkränen zu bahnen, während ein heftiger Regensturm ihre Kleidung durchnässte und ein eisiger Wind ihnen das Haar ins Gesicht peitschte. Sie folgten den Trägern, die das Gepäck am Rand des Piers abstellten. Mit zitternder Hand fasste Caroline ihr Cape enger, während Stud ihre Koffer holte. Der Boden unter ihren Füßen schien noch immer zu schwanken, als sie endlich ein halbwegs trockenes Plätzchen unter dem Vordach eines Lagerschuppens gefunden hatten. Stud legte schützend einen Arm um die Schultern seiner vor Kälte schlotternden Frau. Caroline ließ es geschehen, doch ihr Oberkörper versteifte sich unter seiner Berührung. Schweigend stand sie am Rande des Hafentrubels und sah sich um: Am anderen Ende des Piers, nahe den Schienenwegen, kämpften sich Lasttiere durch knöcheltiefen Schlamm. Passanten bewegten sich mit äußerster Vorsicht über schmale Fußgängerbrücken, unter deren wackligen Bohlen ein Strom übelriechenden Abwassers hindurchfloss. Etwas oberhalb, halb versteckt zwischen dichten Wäldern, reihte sich Villa an Villa. Auf den Hügeln erhoben sich zahlreiche Kirchtürme, hohe Dächer zeugten von einem Reichtum an öffentlichen Gebäuden.

Das also ist Melbourne, dachte Caroline und stieß einen leisen Seufzer aus.

»Na, was sagst du, Liebes?«, fragte Stud, und die Begeisterung in seiner Stimme war nicht zu überhören. Er drückte seine Frau fester an sich. »Australia felix, ein Land wie gesponnen aus Gold und Wolle. Freust du dich auf unser neues Leben?«

Caroline nickte kaum merklich und bemühte sich um ein Lächeln. Während sie auf Studs Bruder John warteten, fragte sie sich im Stillen, wie dieses neue Leben am anderen Ende der Welt wohl aussehen mochte.

Ein verlockender Duft nach frischem Gebäck, der von der Keksfabrik Swallow & Ariel aus der nahe gelegenen Rouse Street herüberwehte, ließ die junge Frau für einen Moment genießerisch die Augen schließen. Das musste einfach ein verheißungsvolles Zeichen sein.

Ein halbzerlumpter Kerl stieß Stud an und ließ sie aufschrecken.

»Suchen Sie eine Unterkunft? Sechzig Schilling die Woche im herrlichen St. Kilda. Oder vierzig Schilling in East Melbourne, South Fitzroy und Carlton, wenn’s etwas günstiger, aber sauber sein soll.«

Studholme schüttelte den Kopf. »Kein Interesse.«

Der Schlepper musterte das Paar von Kopf bis Fuß. Caroline sah beschämt zu Boden.

»Ah, ich verstehe. Wie wär’s mit einer Unterkunft für Neuankömmlinge mit begrenzten Mitteln? In Collingwood, South Melbourne oder West Melbourne für nicht mehr als zwanzig Schilling. Ein besseres Angebot kriegen Sie nicht.« Unaufgefordert griff er nach einem der Koffer, die zwischen Caroline und Stud standen. »Kommen Sie, ich bringe Sie gleich hin.« Stud schlug ihm ungehalten auf die Hand.

»Was unterstehen Sie sich? Lassen Sie sofort mein Gepäck los, und machen Sie, dass Sie wegkommen! Wir werden abgeholt.«

Der junge Mann sah sich betont auffällig um. Ein breites Grinsen zeichnete sich auf seinem schmutzigen Gesicht ab. »Abgeholt? Soso. Wenn ich Sie wäre, würde ich nicht warten, bis meine Lady zum Eiszapfen gefroren ist.«

»Unverschämter Lümmel!«, rief Stud erbost aus und hob drohend die Faust, doch da war der junge Mann schon lachend davongelaufen.

»Ihr Pech, wenn Sie zu lange warten. Die billigen Häuser sind schnell weg«, rief er ihnen über die Schulter hinweg zu.

»Was bildet dieser Rüpel sich ein? Sehen wir etwa aus, als könnten wir uns kein ordentliches Gasthaus leisten?« Eine steile Zornesfalte bildete sich auf Studs Stirn.

»Ach, lass ihn doch reden, wie er will«, versuchte Caroline, ihn zu beschwichtigen. »Er ist doch nur ein armer Lump.« Unwillkürlich blickte sie erneut an sich hinunter. Hässliche Salzflecken und öliger Schmutz vom Schiff hatten ihre teuren Reisekleider vollkommen verdorben. In der feuchten Luft waren sie nie richtig trocken geworden, und nun rochen sie streng nach Moder und Essig, mit dem sie auf dem Schiff versucht hatte, die gröbsten Flecken zu entfernen. Der abschätzende Blick des armen Teufels und sein abwertendes Urteil über ihr Äußeres hatten sie tief getroffen. Aber sie sah tatsächlich kaum aus wie die Tochter eines Ehrenmannes aus Potsdam und schon gar nicht wie die Ehefrau eines englischen Landadligen.

 

Studholme George Hodgson war zweiunddreißig Jahre alt, elf Jahre älter als Caroline. Von mittelgroßer, schlanker Statur, mit hellem Teint, dunklem Haar und blassgrauen Augen, stammte er aus einer geachteten Soldatenfamilie; er war der älteste Sohn eines adligen Landbesitzers aus Hampshire. Seine schöne deutsche Frau mit ihrem hellblonden Haar und den wasserblauen Augen hatte er erst im Februar in London geheiratet. Keine drei Wochen später waren sie nach Melbourne aufgebrochen. In London und Hampshire grassierte seither das Gerücht, Studholme würde in den Kolonien von Geldsendungen aus der Heimat leben, er sei ein schwarzes Schaf, von seiner Familie zu einem neuen Leben überredet, indem man ihm für die Unannehmlichkeit der Übersiedlung einen moderaten Obolus in Aussicht stellte.

 

Mittlerweile hatten sie eine geschlagene Stunde im eisigen Wind ausgeharrt, doch John war nicht erschienen.

»Es muss ihm etwas dazwischengekommen sein«, verteidigte Stud seinen Bruder schwach.

Caroline zitterte am ganzen Leib, ihre Zähne klapperten. »Du hast doch seine Adresse. Lass uns eine Droschke nehmen und zu ihm fahren«, bat sie und warf ihrem Mann einen flehentlichen Blick zu. »Ich ertrage diese Kälte nicht länger.«

»Du hast recht, Liebes«, antwortete Stud und winkte einen der Jungen heran, die am Pier herumlümmelten. »Geh und hol uns einen Wagen!« Stud klimperte mit ein paar Münzen in seiner Hosentasche. Der Junge sprang auf und tat, wie ihm geheißen, kam dann gleich wieder zurück, um seine Belohnung in Empfang zu nehmen. Der Kutscher machte ein unzufriedenes Gesicht. Die Fahrt zur angegebenen Adresse war kurz, dafür gab es reichlich Gepäck zu verstauen. Missmutig lud er die Habseligkeiten der beiden auf, zurrte die Ladung fest und fuhr seine Fahrgäste auf einem längeren Umweg durch die Innenstadt zu Johns Haus, das zwischen Pier und Keksfabrik lag.

 

Haus und Garten war noch vage anzusehen, wie gepflegt sie einst gewesen sein mussten. Das schmiedeeiserne Tor stand offen und quietschte in den Angeln, als der starke Südwind es erfasste. Der Kies schien seit längerer Zeit nicht mehr gerecht worden zu sein. Unkraut wuchs auf dem schmalen Pfad, der zum Hauseingang führte. Die heruntergelassenen Jalousien verwandelten die Fenster des eigentlich schmucken Häuschens in leblose Augen.

Studs Klopfen blieb ohne Antwort. Er versuchte es ein zweites Mal, und endlich öffnete eine zierliche Frau die Tür. Stud erkannte seine Schwägerin kaum wieder. Die elegante und lebhafte junge Dame aus London war nur noch ein Schatten ihrer selbst. Ihr Haarknoten löste sich auf, das Kleid war schmutzig und zerknittert.

»Stud! Dich schickt der Himmel!«, rief sie aus und fiel ihm schluchzend um den Hals. Erschrocken von diesem unerwarteten Gefühlsausbruch trat Caroline einen Schritt zurück. Nach einer Weile befreite sich Stud aus der merkwürdigen Umarmung.

»Ja, habt ihr uns denn nicht erwartet? Ich dachte, du und John, ihr wolltet uns am Pier …« Weiter kam er nicht.

»Ach, John«, unterbrach ihn Liz, schlug sich die Hände vors Gesicht und fing an, hemmungslos zu weinen. Stud warf seiner Frau einen entschuldigenden Blick zu.

»Liz, das ist Caroline.« Er legte den Arm um seine Frau. Peinlich berührt standen sie da, bis Liz endlich die Hände senkte, um Caroline zu begrüßen.

»Caroline, ja. Ich habe schon so viel von dir gehört. Entschuldigt, ich …« Wieder fing sie an, erbärmlich zu schluchzen. Da fasste Stud seine Schwägerin bei den Schultern und drängte sie sacht in den Flur zurück.

»Gehen wir doch erst einmal hinein, und dann erzählst du uns in Ruhe, was los ist.« Liz ließ sich willig führen, noch im Flur brach aus ihr heraus, was sie in solchen Aufruhr versetzte. Ein hysterischer Unterton schwang in ihrer Stimme mit. Ihr Mann John, Studs Bruder, hatte sich seit gestern mit einem geladenen Revolver in seinem Büro eingeschlossen und drohte, sich oder jemand anderen zu erschießen, sollte man sich gewaltsam Zugang zu ihm verschaffen. Die Diener waren daraufhin in Panik aus dem Haus geflohen. Das Kindermädchen, das Liz vor einigen Stunden zum Einkaufen in die Stadt geschickt hatte, war seither nicht mehr zurückgekehrt.

Im gleichen Moment hörten sie die Kleinen schreien. Stud zögerte keine Sekunde. Er schob seine Schwägerin zur Seite.

»Mach uns etwas zu essen!«, befahl er brüsk.

»Ich sehe so lange nach Suzanne und Blair«, sagte Caroline sanft zu Liz und legte ihr beruhigend die Hand auf den Arm.

»Danke«, antwortete Liz gepresst.

Stud schritt den Flur entlang, bis er vor Johns Tür stand, und klopfte dreimal an, jedes Mal ein wenig lauter. Als sich drinnen noch immer nichts regte, hämmerte er mit der Faust gegen die Tür.

»John, ich bin’s! Dein Bruder! Mach auf! Sofort!«

Ein Moment spannungsgeladener Stille folgte. Dann hörte er schwere Schritte, und die Tür flog auf. Studs Augen nahmen ein eingefallenes Gesicht wahr, das sich gegen den düsteren Raum fast weiß abzeichnete.

»Du!«, brummte John erstaunt und blinzelte benommen gegen das Licht. Doch schon im nächsten Atemzug platzte es aus ihm heraus: »Wo ist meine Frau, dieses törichte Frauenzimmer? Ich will sie nicht sehen! Ich will sie nicht in meiner Nähe haben!«

»Falls du Liz meinst, sie ist gerade nicht im Haus«, behauptete Stud, während er gleichzeitig über die Schwelle trat und die Tür hinter sich schloss.

Die beiden Männer sahen einander an.

»Was willst du?«, fragte John mit heiserer Stimme. »Bist du gekommen, um mir eine Predigt zu halten wie all die anderen? Falls dem so ist, kannst du gleich wieder gehen.«

»Nein, nein. Ich weiß doch gar nicht, was los ist. Caroline und ich – wir sind soeben erst aus England angekommen. Erinnerst du dich nicht?«

»Ach, ja. Herrgott, das auch noch!« John fuhr sich hastig durch das wild zerzauste Haar.

Stud zog eine der Jalousien hoch und öffnete das Fenster. Die frische Luft roch nach Meer. Er drehte sich um, und der Muff des Zimmers umfing ihn wieder wie eine Gruft.

John ließ sich auf den Stuhl vor seinem Sekretär fallen. Auf dem Tisch lag neben einer heruntergebrannten Kerze die Pistole, daneben waren ein Dutzend oder mehr Daguerreotypien verschiedener Größen aufgereiht: alles Bilder von seiner Frau und den Kindern. Stud legte seine Hand auf die Schulter seines Bruders, um ihn zu beruhigen. Doch John sprang auf. Sein lautes Lamentieren füllte den Raum.

»Zum Teufel mit den Kindern«, schrie er, »zum Teufel, sag ich! Ich hab nie Kinder gewollt. Sie haben sich zwischen uns gedrängt, und jetzt kann ich es mir nicht mehr leisten, sie zu füttern. Schaff sie mir vom Hals, Stud!« Seine Schultern hoben und senkten sich unter verzweifelten Schluchzern.

»Sag doch so etwas nicht. Und erzähle mir endlich, was passiert ist. Du bist ja nicht mehr du selbst! Aber zuerst gibst du mir die Pistole.«

»Nimm sie, nimm sie, und erschieß mich! Ach, was hab ich nur getan? All meine Ersparnisse – weg! Nur wegen dieses verdammten Geredes von Gold und Reichtum, den man nur vom Boden aufheben müsse.« Er vergrub das Gesicht in den Händen, während ein stilles Beben durch seinen Körper lief.

Stud nutzte die Gelegenheit und nahm die Waffe an sich. Er ließ sich nicht anmerken, wie sehr ihn der Gefühlsausbruch seines Bruders bestürzte. Nicht zuletzt, weil all seine eigenen Hoffnungen auf ein unabhängiges Leben in den Kolonien einzig und allein auf Johns enthusiastischen Berichten gründeten. In seinen Briefen hatte sich der Bruder als glücklichen Mann dargestellt, der es in Melbourne zu Wohlstand und Ansehen gebracht hatte. Und nun sollte nichts davon der Wahrheit entsprechen?

»Welches Gold?«, fragte Stud nach. »Ich dachte, mit dem Goldrausch in Victoria wäre es längst schon aus und vorbei.«

»Richtig, in den Goldfeldern um Ballarat ist seit Jahren nichts mehr zu holen. Trotzdem hab ich mich von Liz breitschlagen lassen, dort mein Glück zu versuchen.« John schüttelte den Kopf, als könne er selbst nicht fassen, zu welchem Trottel er sich hatte machen lassen. »Das kommt davon, wenn Frauen ihre Nasen in die Zeitung stecken, anstatt den Haushalt zu führen.«

Stud hörte seinem Bruder schweigend zu, der offenbar ein drängendes Bedürfnis verspürte, seinem Herzen Luft zu machen.

»Goldfund bei Bendigo. Ein Nugget so groß wie ein Kinderkopf! Eine ganze Woche lang hat sie mir täglich die Schlagzeile hingehalten. John, hat sie gesagt, willst du nicht auch dein Glück versuchen? Denk doch nur, wie reich wir sein könnten. Wir könnten mit den Kindern nach London reisen. Was für eine Genugtuung!«

Stud erblasste. Vor gut zwei Jahren war John – ein Marineinfanterist – mit seiner Familie nach Melbourne ausgewandert, weil er sich mit dem Vater zerstritten hatte. Wie sehr hatte John ihm anschließend von den unendlichen Möglichkeiten der jungen Stadt vorgeschwärmt. Davon, wie sich Melbourne in weniger als vierzig Jahren von einem primitiven Dorf aus Lehmhütten zu einer geschäftigen Stadt mit mehr als zweihunderttausend Einwohnern gemausert hatte. Wiederholt hatte er vorgeschlagen, Stud solle doch nachkommen. Mit etwas Mumm in den Knochen könne es an diesem Ort jeder zu etwas bringen.

Und jetzt?

Nur mit halbem Ohr hörte Stud dem fortwährenden Lamentieren seines Bruders noch zu, das derart durcheinanderging, dass es kaum Sinn ergab. Viel zu sehr war er mit seiner eigenen Lage beschäftigt, die sich von einem Moment auf den anderen völlig verkehrt hatte. Aus Hoffnung war Verzweiflung geworden. Studs Hände begannen zu zittern. Um sie unter Kontrolle zu halten, umschloss er fest den kalten Lauf der Pistole. Mit einem Mal hatte er nicht übel Lust, der Aufforderung seines Bruders nachzukommen und ihm eine Kugel mitten in seine schweißtriefende Stirn zu jagen.

Für all die falschen Hoffnungen, die er in den letzten Monaten in ihm geweckt hatte.

Für all die Pläne, die er für sich und Caroline geschmiedet hatte und die innerhalb kürzester Zeit zum Teufel gegangen waren.

Plötzlich fühlte er Hass in sich aufsteigen. Er hasste John. Hasste Liz. Doch am meisten hasste er sich selbst.

Stud versank so tief in seinen düsteren Gedanken, dass er fast vergessen hätte, wo er war.

»… und Liz so lange an mir herumnörgelte, bis ich schließlich …« John hielt inne. »Hörst du mir überhaupt zu?«

Stud hob das Kinn. Er nickte und sah seinem Bruder ins vom Weinen verquollene Gesicht. »Natürlich, red nur weiter!« Was für ein Narr er gewesen war zu glauben, sein kleiner Bruder könnte ihm aus der Patsche helfen! Er musste Zeit gewinnen, um seine Gedanken neu zu ordnen, um einen Plan zu schmieden.

John räusperte sich und holte tief Luft. »Also gut. Ich bin schließlich nach Bendigo aufgebrochen. Natürlich war ich nicht der Einzige. Dieser unselige Artikel hat halb Melbourne Beine gemacht. O Gott, hätte ich nur nicht dieses unverschämte Anfängerglück gehabt! Ein winziges Klümpchen nur, aber ich war vom eigenen Erfolg so berauscht, dass ich gleich drei Arbeiter anheuerte, um die Stelle zu beackern, bevor es andere taten. Ich blieb zwei Monate, und als mir das Geld ausging, nahm ich eine Hypothek aufs Haus auf. Am Ende konnte ich meine Leute nicht mehr bezahlen. Gefunden habe ich nichts mehr, nicht ein einziges Körnchen. Ich bin ruiniert.« Mit einer kräftigen Bewegung stieß er seinen Stuhl zurück, stand auf, schritt im Raum auf und ab und sprach weiter vom Goldrausch, der die Phantasie der Menschen allzu übermäßig genährt hatte.

Stud erwiderte darauf nichts. Was hätte er auch sagen sollen? Immerhin schien es ihm, als wäre John etwas ruhiger geworden. Daher stand er auf und schlug vor: »Du kennst meine Caroline ja noch gar nicht. Komm, Bruder, gehen wir in die Küche. Liz wollte uns etwas zu essen machen.« Er legte den Arm um Johns Schulter, und gemeinsam gingen sie zu den Frauen.

 

Liz stand hustend am Herd, eingehüllt in eine Wolke aus schwarzem Qualm. Am Tisch saß Caroline und spielte mit den beiden Kindern.

»Caroline, darf ich dir meinen Bruder vorstellen?«

Sie stand auf, als die beiden Männer herantraten, wischte sich die Hände an ihrem schmutzigen Kleid ab und reichte John verschämt die Hand.

»Ich muss mich entschuldigen. Ich hatte noch keine Gelegenheit, mich frisch zu machen.«

John ergriff ihre Hand und gab ihr einen angedeuteten Kuss auf die Wange. »Setz dich doch, liebe Schwägerin.« Alle drei nahmen am Tisch Platz und wechselten ein paar höfliche Floskeln, bis Liz das Mahl auftrug. Das Kochen hatte sie sichtlich überfordert. Ihre Wangen hatten sich vor Anstrengung blutrot verfärbt, Schweiß war auf ihre Stirn getreten. Sie setzte sich zu den anderen und atmete hörbar aus. Das Mahl bestand nur aus ein paar mageren Koteletts. Kein Kohl, keine Kartoffeln. Das Fleisch war außen verbrannt, innen roh, doch Stud und Caroline sagten kein Wort. John bemerkte es gar nicht erst. Er stürzte sich darauf wie ein Verhungernder und spülte das ungenießbare Essen mit zwei oder drei Gläsern Portwein hinunter. Die Farbe kehrte in sein Gesicht zurück.

Die Kinder rannten um den Tisch und spielten Fangen; niemand hielt sie zur Ruhe an. Liz schien sichtlich erleichtert. Ihr Mann sprach zwar nicht, doch er aß und trank und tobte nicht. Nach dem Essen räumte Caroline die Teller ab und machte den Abwasch, während Liz die Kinder zu Bett brachte. Stud warf seiner Frau einen bewundernden Blick zu. Zu Hause in London hatten sie Personal gehabt, das diese Aufgaben übernahm. Er wunderte sich, mit welcher Geschicklichkeit sie die Aufgaben eines Küchenmädchens versah. Als sie fertig war, entschuldigte sie sich und zog sich zurück, um sich frisch zu machen und ihre Kleider zu wechseln. Später, als die Kinder schliefen, saßen die Erwachsenen im Wohnzimmer vor dem brennenden Kamin bei Portwein und Käse. Die Stimmung zwischen John und seiner Frau blieb spürbar angespannt, doch Erschöpfung und Wein sorgten dafür, dass dennoch ein Gespräch in Gang kam. John entschuldigte sich mehrfach bei Stud und Caroline für seinen Auftritt und dafür, dass er es versäumt hatte, sie am Pier abzuholen. Stud winkte ab, als wäre es nicht der Rede wert. Er hegte zwar noch immer einen tiefen Groll gegen den Bruder, doch um Carolines willen riss er sich zusammen. Schlimm genug, wie sie ihre Ankunft in Melbourne erlebt hatte, da wollte er ihr nicht auch noch den Mut nehmen, was ihre gemeinsame Zukunft betraf. So schlug er einen unverbindlichen, versöhnlichen Ton an.

»John, magst du Caroline und mir etwas über Melbourne erzählen?«

Caroline beugte sich interessiert nach vorn. »Ach bitte, das würd’ ich gern hören!«

John kratzte sich im Nacken. »Nun ja, es ist wahrlich kein schlechter Ort, wenn jemand Ehrgeiz und die entsprechenden Fähigkeiten mitbringt.« Er schlug die Beine übereinander und bemühte sich um eine Haltung, die Selbstbewusstsein ausstrahlte. »Wer eine unternehmerische Ader hat, der findet hier, in der neuen Welt, immer irgendeine Gelegenheit, sich auf eigene Füße zu stellen.«

»Ach, ja? Welcher Art denn?«, fragte Caroline, die Johns Ausführungen gespannt gelauscht hatte. John hob die Schultern.

»Alles Mögliche. Die Stadt ist in einem regelrechten Bauwahn. Jeder, der einen Stein heben kann, wird gebraucht. Dann ist da der Handel, von edlem Schmuck für die Dame bis zu Bratwürsten, die in einem Wägelchen auf dem Bürgersteig angeboten werden. Nichts ist undenkbar.« An dieser Stelle warf ihm seine Frau Liz einen verächtlichen Blick zu, den John nicht zu bemerken schien oder den er bewusst ignorierte. Caroline lehnte sich in ihrem Sessel zurück. Die Vorstellung, Studholme würde in Hemdsärmeln Ziegelsteine schleppen oder sie selbst ihr Glück mit dem Verkauf von Würsten versuchen, war einfach lächerlich. Ihre Mittel waren zwar begrenzt, und Studs Eltern hatten sich nicht allzu großzügig darin gezeigt, den Sohn zu unterstützen. Doch sie beide waren vernünftig; Caroline mehr als ihr Mann – dies war ihr bewusst. Sie war diejenige gewesen, die gegen Studs Widerspruch auf eine Passage in der zweiten Klasse bestanden hatte, um Geld zu sparen. Sie setzte auf John. Er hatte seinem Bruder versprochen, ihn in Kreise einzuführen, die Stud über kurz oder lang zu einem hübschen Auskommen verhelfen würden. Zusammen mit dem Obolus der Eltern sollte das ihnen beiden einen guten Start in der neuen Welt ermöglichen.

Der Empfang, den ihr die Schwägerin bereitet hatte, weckte allerdings Zweifel in ihr. Was hatte es zu bedeuten, dass die Dienstboten das Paar verlassen hatten? Konnten sie ihre Leute nicht mehr bezahlen?

Trotz der Fragen, die sich ihr aufdrängten, war Caroline entschlossen, sich keine allzu großen Sorgen zu machen. Sagte John nicht, dass es nur auf den eigenen Ehrgeiz und die persönlichen Fähigkeiten ankam, um einen Platz in den Kolonien zu finden? Nun, Ehrgeiz hatte sie genug für sie beide, und sicherlich verfügte sie über eine Reihe von Kenntnissen, die sie im Geschäft ihres Vaters erlernt hatte. Seit ihrem sechzehnten Geburtstag durfte sie ihren Vater nach Brüssel begleiten, um dort nicht nur die berühmte Spitze, sondern auch andere wertvolle Materialien einzukaufen. Im elterlichen Großhandel hatte sie Buchhaltung und Verkauf gelernt, weil ihr Vater sich immer erhofft hatte, dass sie einmal das Geschäft übernehmen würde. Schon ihre Mutter hatte hin und wieder im Laden ausgeholfen. Was Studs Fähigkeiten anbelangte – ach, darüber wollte sie sich nicht den Kopf zerbrechen. Sie liebte ihn, bewunderte seine weltgewandte und gewinnende Art. Wenn er in der rechten Stimmung war, unterhielt er mit seinem Witz und Charme eine ganze Abendgesellschaft. Stets fand er schmeichelnde Komplimente für die Damen und anregende Worte für die Konversation unter den Herren. Wie sehr hatte sich ihr gesellschaftliches Leben verändert, seit sie mit Stud zusammen war. Anders als in Potsdam, wo ihre Familie ein eher zurückgezogenes Leben führte, war in London keine einzige Woche ohne Einladung zu einem Ball oder einem hochrangigen Dinner vergangen. Stud war allseits beliebt, ein Garant für unterhaltsame Stunden. Wo er auftauchte, verbreitete er eine heitere Atmosphäre. Wen wunderte es da, dass sich kein Gastgeber der oberen Kreise Studs Anwesenheit entgehen lassen wollte? Wie stolz sie gewesen war, die Frau an seiner Seite zu sein.

Das Knistern des Kaminfeuers, Johns lange Erzählung und der Wein ließen Caroline schläfrig werden. Sie sah Stud an. Auch ihm fielen fast die Augen zu.

»Seid ihr müde?«, unterbrach Liz, die Carolines Blick bemerkt hatte, den endlosen Monolog ihres Mannes. Die beiden nickten. »Oh, dann muss ich sehen, wie ich ohne Hilfe der Dienstboten ein Lager für euch zaubere.«

Caroline stand auf. »Zeig mir nur, wo alles ist. Wir kommen dann schon zurecht.«

 

Am nächsten Morgen bot Caroline an, sich um den Haushalt zu kümmern. Liz erhob keine Einwände und zog sich nach einem kargen Frühstück, das aus Tee, einem Stück alten Brot und etwas Käse bestanden hatte, für den Rest des Vormittags mit Kopfschmerzen auf ihr Zimmer zurück. Die Männer fuhren in die Stadt, wo Stud sich einen Eindruck vom Geschäftsleben verschaffen wollte. Da Caroline die Kinder nicht sich selbst überlassen konnte, nahm sie die Kleinen mit zum Markt, um für das Abendessen einzukaufen. Sie hatte alle Hände voll zu tun, sich in der neuen Umgebung zu orientieren und gleichzeitig darauf zu achten, dass ihr die Kleinen, die sich recht wild gebärdeten, im Markttrubel nicht verloren gingen. Wieder zurück, bereitete sie das Mittagessen zu. Anschließend wusch sie ihre Reisegarderobe und legte sie zum Trocknen über zwei Stühle vor dem Kamin, den sie mit einiger Mühe in Gang gebracht hatte. Am frühen Nachmittag erschien ihre Schwägerin im Türrahmen. Caroline servierte ihr ein Sandwich, bevor Liz zurück auf ihr Zimmer ging, weil sie sich immer noch nicht besser fühlte. Caroline machte die Betten und fegte den Flur. Gerne hätte sie einen Brief an ihre Eltern geschrieben, doch die Kinder sprangen so laut um sie herum, dass sie stattdessen mit ihnen Kreisel spielte. Sobald die beiden mit vom Toben erhitzten Gesichtern friedlich auf dem Sofa saßen, kochte Caroline das Abendessen. Als dann das Rindfleisch und die Kartoffeln auf dem Herd standen, wischte sie mit dem Handrücken den Schweiß von ihrer Stirn, nahm die Küchenschürze ab und setzte sich erschöpft an den Ecktisch neben der Spüle. Wie sollte es mit ihnen allen bloß weitergehen?

 

Als die Kinder nach dem Abendessen endlich eingeschlafen waren und Liz und John sich zurückgezogen hatten, saß Caroline neben Stud in der Küche. Er wartete darauf, dass sein Badewasser zu kochen begann. Sie warf einen besorgten Blick auf ihren Gatten, der sich unablässig die Hände rieb. Ein sicheres Zeichen, dass er über etwas nachgrübelte.

»Was ist?«

Er gestand ihr, dass seine ursprüngliche Idee, fürs Erste bei Liz und John Unterschlupf zu finden, nicht so sehr auf der Geschwisterliebe gründete, die ihn mit dem Bruder verband, sondern vielmehr mit seinen monetären Kalamitäten zusammenhing. Doch angesichts der desolaten Lage bereute er seinen impulsiv gefassten Plan. Er schaute sie von der Seite an.

»Und nun, da ich sehe, wie gut du dich in dieser unerträglichen Situation zurechtfindest … Du bist so eine liebe, kluge Frau!«

Caroline schloss für einen Moment die Augen. Also doch! Ihre düsteren Ahnungen hatten sie nicht getrogen. Verzweiflung wallte in ihr auf, aber sie riss sich zusammen. Unter der gesenkten Stirn warf sie ihrem Mann einen Blick zu. »Was hättest du sonst tun sollen?«

»Das ist wohl wahr! Ich wusste, dass Liz keine Verwandten in Melbourne hat. Und mit wem John dieser Tage Umgang pflegt, darüber weiß wahrscheinlich der Mann im Mond besser Bescheid als ich. Wie es aussieht, hat er keine Freunde.«

»Was Liz anbelangt …«, sagte Caroline, die sich heimlich eine Träne aus den Augen wischte, »… verzeih mir meine Offenheit, aber ich halte sie für die dümmste Gans, die mir jemals über den Weg gelaufen ist. Die armen Kinder!«

»Ach, du kennst sie doch noch gar nicht«, erwiderte Stud und lächelte halb amüsiert über das Urteil seiner Frau. Was er nicht erwähnte, war, dass er bereits in London gezwungen gewesen war, Geld für ihre Reise zu leihen. Zwar ahnte seine Frau wahrscheinlich, mit wie wenig Geld sie sich auf den Weg gemacht hatten – schließlich waren sie auf ihr Drängen hin zweiter Klasse gereist –, doch wie prekär ihre Lage wirklich war, das hatte er ihr bis jetzt verschwiegen. Sie stellte keine Fragen – noch nicht. Doch Caroline war schlau, sie würde bald eins und eins zusammenzählen. Was für eine Schande! Immerhin konnte er Johns Verfassung zum Teil als Ausrede heranziehen, bis er sich eine bessere ausgedacht hatte.

Caroline ließ ihre Hand in seine gleiten, und für eine Weile saßen sie schweigend nebeneinander.

 

Die kommenden Tage brachten keine Klarheit. Weder John noch Stud äußerten sich darüber, wie es mit ihnen allen weitergehen sollte. Ihre gute Stimmung schien verflogen, doch niemand wagte eine reinigende Aussprache. Die Kinder, Suzanne und Blair, waren dickköpfig und schlecht erzogen. Wenn sie für jemanden zärtliche Gefühle hegten, dann für Caroline, Herrscherin über einen Schatz von Zuckerstangen, die sie aus England mitgebracht hatte. Überhaupt schien sich nur noch Caroline um die beiden zu kümmern. Sie wusch und kleidete sie, bereitete ihnen die Mahlzeiten zu und spielte mit ihnen. Liz zog sich nach den Mahlzeiten wegen ihrer Migräne meist aufs Zimmer zurück. Sie schalt ihre Kinder oft, wenn sie ihrer Meinung nach nicht genug Rücksicht auf das Leiden ihrer Mutter nahmen, und manchmal schlug sie die beiden auch. Caroline musste dann an sich halten, um nicht dazwischenzugehen, denn dazu hatte sie kein Recht. In gewisser Weise erwies sich Liz als schwieriger als die Kinder. Immer wieder fing sie damit an, wie übel ihr das Leben mitgespielt hätte. Nie versäumte sie dabei, sich über Stud zu beschweren; sein despektierliches Auftreten während ihrer ersten Begegnung in Melbourne konnte sie ihm einfach nicht verzeihen.

»Wie er mit mir geredet hat! Als wäre ich eine unserer Dienstmägde!«

Caroline verteidigte ihren Mann, obwohl sie wusste, dass es falsch war, wie er Liz behandelt hatte. Schließlich waren sie Gäste unter ihrem Dach. Insgeheim hegte Caroline selbst Zweifel an Stud. Kam er nicht aus einer viel besseren Familie als sie selbst? Wieso benahm er sich mitunter so gewöhnlich? Als ältestem Sohn hätte Studholme vermutlich der Großteil des väterlichen Vermögens als Erbe zugestanden; ans andere Ende der Welt zu ziehen kam der Verbannung gleich. Caroline fragte sich, was zum Teufel Stud angestellt haben mochte, dass seine Familie ihn unbedingt loswerden wollte.

 

Es war deutlich zu spüren, dass Liz sie nicht im Haus haben wollte, und es überraschte Caroline nur wenig, dass die Schwägerin Stud in der zweiten Woche nach ihrer Ankunft bat zu gehen. Caroline wurde schwer ums Herz. Wie würde Liz nur ohne sie mit den Kindern zurechtkommen? Diese Frau konnte weder kochen noch einen Haushalt führen.

Kurze Zeit später erfuhr sie, welche Lösung Liz gefunden hatte: Sie wollte Suzanne und Blair in ein Waisenhaus geben, ihr eigen Fleisch und Blut!

[home]

Berlin, Juni 2014

Florian Wertheim trommelte mit den Handflächen auf den Tisch, um das Ende der Redaktionskonferenz zu signalisieren.

»Okay, also: Jan bleibt, wie gehabt, an der Flughafen-Geschichte dran. Wenn das so weiterläuft, kannst du mit Berlin-Brandenburg in Rente gehen.« Der Chefredakteur blickte in die Runde. Die meisten der rund dreißig Journalisten lachten kurz auf.

»Meike, Holger – ihr kümmert euch um das Verschwinden dieser Dreizehnjährigen. Ich will wissen, über welche Quellen die russischen Medien erfahren haben, dass sie von Arabern missbraucht wurde. Und verfolgt unbedingt, was auf den Social-Media-Kanälen abgeht.«

Meike und Holger nickten, machten sich Notizen.

»Die Berlin Fashion Week steht an. Rochelle?«

Eine schlanke Frau mit langen braunen Locken und auffallend blauen Augen lächelte ihm zu. »Promis, Locations, Trends, das Mode-Ressort ist schon dran«, bestätigte sie mit ihrer tiefen, rauchigen Stimme, die nicht wenige Kollegen äußerst sexy fanden.

»Gut«, sagte Wertheim. »Dann steht die morgige Ausgabe.«

Die Anwesenden begannen, miteinander zu plaudern, während sie ihre Papiere zusammenschoben. Einige waren schon aufgestanden, um an ihren Arbeitsplatz zurückzukehren.

Florian Wertheim hob die Hand.

»Einen Moment noch.« Er kratzte sich unterhalb des Kinns, wo ein Dreitagebart spross. Die Kollegen hielten inne. »Es gibt noch eine Personalie. Die meisten wissen es ja bereits, aber hiermit ist es nun offiziell: Nina Neubacher wird nächste Woche für ein halbes Jahr nach Melbourne gehen, um von dort aus unsere Online-Nachtschicht zu unterstützen.« Murmeln erhob sich im Raum, einige der Anwesenden klopften mit den Knöcheln anerkennend auf die Tischplatte und sahen dabei Nina an, die am kurzen Tischende neben dem Fenster saß und sich ein Lächeln auf die Lippen zwang.

»Woohoo, Australien!«, rief Jan Körber. »Würde mir auch gefallen. Gibt es in Down Under auch eine Besucher-Couch für besonders liebe Kollegen?«

Lachen erhob sich. Nina zuckte die Schultern. »Da musst du diejenigen fragen, die schon dort waren.« Sie stand auf, und mehrere Redakteurskollegen kamen auf sie zu, um ihr für die neue Aufgabe alles Gute zu wünschen. Verlegen wuschelte sie sich durch ihr raspelkurzes dunkles Haar. »Danke«, sagte sie, während sie Körbers Hand ergriff.

»Ich wünsche viel Erfolg und werde aus der Ferne neidvoll beobachten, was du so treibst.« Der Leiter des Ressorts Innenpolitik seufzte und fügte hinzu: »Ah, noch einmal so jung sein … Aber mit Frau und Kindern – was will man machen? Wobei eine Familie ja noch lange nicht jeden hemmt, wenn es darum geht, sich auszuleben.« Er schlug ihr jovial auf die Schulter und wandte sich ab. Nina schluckte und nahm Notizbuch und Kuli vom Tisch, als Rochelle hinter sie trat. In ihren High Heels war sie einen halben Kopf größer als Nina.

»Freut mich für dich. Mach was draus!«

Nina drehte sich zu ihr um.

»Ich versuch’s. Ich hoffe, du bist nicht sauer auf mich.«

In gespieltem Erstaunen hob Rochelle die Brauen.

»Ich und sauer? Jetzt bist du es, und das nächste Mal bin ich dran. Ich hab sowieso noch ein paar Dinge auf dem Zettel, die ich erledigen muss, bevor ich in Berlin die Segel streichen kann. Mach dir um mich mal keine Gedanken.« Sie zwinkerte Nina zu und stolzierte davon.

Nina atmete laut aus. Der Konferenzraum hatte sich geleert, nur der Chef saß noch am Tisch und telefonierte. Als sie an ihm vorbeiging, hielt er sie mit einer Handbewegung zurück. »Hast du zwei Minuten?« Nina blieb stehen. »In meinem Büro, bin sofort bei dir.« Sie nickte und ging zunächst in die Küche, um sich einen Kaffee zu holen. Melanie, Rechercheurin in der Dokumentation und Ninas Freundin, beugte sich über den Vollautomaten und entnahm ihm unter leisem Fluchen den leeren Wassertank.

»Warum immer ich? Dabei trinke ich nur eine einzige Tasse an meinem Arbeitsplatz, und jeden Tag bin ich es, die von diesem verdammten Ding rumgescheucht wird.«

Nina lachte und nahm ihr den Behälter ab. »Lass gut sein, ich mach das.«

Seufzend richtete sich Melanie auf. »Danke. Ohne dich wird dieser Ort noch ein wenig unmenschlicher.« Sie lehnte sich gegen die Küchenbar und nippte an ihrem Espresso.

Nina hielt den Tank unter den Wasserhahn. »Wie kannst du so etwas sagen! Wir haben uns doch alle ganz furchtbar lieb beim Morgen.« Sie setzte den gefüllten Tank wieder ein und machte sich einen Macchiato. Melanie kicherte.

»Wenn du es sagst. Ach, Nina. In ein paar Tagen bist du weg. Ich bin schon jetzt todtraurig.«

Nina schenkte der quirligen Blondine ein warmes Lächeln. »Zeit für einen Drink nach der Arbeit?«

»Liebend gern!«

 

Florian Wertheim saß bereits hinter seinem Schreibtisch, als Nina das Büro des Chefredakteurs betrat. Sie schloss die Tür hinter sich und nahm auf einem der Besucherstühle Platz. »Jetzt ist es also offiziell, nicht wahr?« Wertheim kratzte sich nervös mit der Hand im Nacken und verzog das Gesicht zu einem gequälten Lächeln.

»Ja, am Freitag fliege ich.«

Eine angespannte Stille breitete sich zwischen ihnen aus.

»Was gibt’s, Florian?« Wie ertappt, zog er seine Hand zurück und legte sie auf die Tischkante. Sein Blick wanderte zur Tür, um sicherzugehen, dass sie unter sich waren.

»Nina, es tut mir so leid. Ich … Wenn es nach mir ginge, sähe das nächste halbe Jahr ganz anders aus. Ich hasse es, dass du gehst. Willst du es dir nicht noch mal überlegen?«

»Bitte, hör auf, Florian. Wir haben doch alles gründlich besprochen. Fang jetzt nicht wieder von vorne an.«

»Du hast diese Entscheidung getroffen. Mich hast du gar nicht erst gefragt.« Er klang verletzt.

Nina schüttelte resigniert den Kopf und stand auf. »Es war längst an der Zeit, einen Schlussstrich zu ziehen. Bekommst du denn die Anspielungen der Kollegen nicht mit? Wie lange würde es noch dauern, bis jemand seine Vermutung, dass wir eine Affäre haben, offen ausspricht?«

»Affäre? Mag sein, dass es zwischen uns so begonnen hat, aber du und ich, das ist doch viel mehr.« Angespannt fuhr er sich mit beiden Händen durch sein dunkelblondes Haar. Dann setzte er die Brille ab und rieb sich mit den Mittelfingern die Nasenwurzel. Seine grünen Augen sahen Nina durchdringend an. »Wie kannst du nur so kalt sein? Nach allem, was wir …« Er schüttelte resigniert den Kopf: »Ich verstehe dich nicht.«

Nina wich seinem Blick aus und versuchte, den Knoten in ihrem Bauch zu ignorieren. »Ich will wirklich nicht mehr darüber reden. Punkt, aus. Es gibt auch so schon genug Misstrauen in der Redaktion. Meine Güte! Hast du die Gesichter von Rochelle und Färber gesehen? Färber sägt an deinem Stuhl, und Rochelle hat alle Antennen ausgefahren. Du solltest dich in Acht nehmen.«

Das Telefon klingelte, und Wertheim ging widerwillig ran. Er warf Nina einen kurzen, schuldbewussten Blick zu. »Ja, ist schon gut, Schatz. Ich kann sie aber nicht vor halb sechs abholen. Okay, mach ich. Bis dann.« Nina stand auf und ging zur Tür. Wertheim legte auf. »Geh noch nicht. Können wir uns heute Abend sehen? Bitte!«

Nina verließ wortlos das Büro und zog leise die Tür hinter sich zu.

 

Nina und Melanie saßen an der Thekenecke der Gastrokneipe »Gottlob« und tranken Riesling.

»Ich kann es noch gar nicht glauben, dass du bald weg bist. Ich werd dich schrecklich vermissen.« Ninas Augen schimmerten feucht, doch dann verzog sie den Mund in gespieltem Mitleid.

»Oh, du Arme! Meine Recherche-Anfragen werden dir natürlich wahnsinnig fehlen. All die Dossiers, die du für mich unter Zeitdruck zusammenstellen durftest … für immer vorbei!« Sie legte den Arm um Melanie und drückte die Freundin an sich. Doch Melanie rückte von ihr ab und sah Nina erschrocken an.

»Für immer vorbei? Soll das etwa heißen, du kündigst nach dem halben Jahr in Australien? Das ist nicht dein Ernst, oder?«

Nina ließ den Arm von Melanies Schulter sinken, presste die Lippen zusammen und drehte nachdenklich den Stiel ihres Glases zwischen den Fingern.

»Ist das so?«, setzte Melanie nach. »Du willst aufhören?«

Nina sah sie ernst an. »Bitte behalte das für dich, ja? Ich will nicht, dass man mich in Melbourne kaltstellt.«

Melanie schnalzte mit der Zunge. »Oh mein Gott, das schreit nach einer Krisen-Zigarette.«

Nina lachte auf. »So viele Krisen wie du kann doch gar kein Mensch haben.« Melanie fischte in ihrer Handtasche nach Schachtel und Feuerzeug.

»Willst du auch eine?«

Nina schüttelte den Kopf. Melanie steckte sich eine Zigarette an, inhalierte tief und blies den Rauch wie einen Stoßseufzer zur Decke.

»Ich weiß, was du denkst«, sagte Nina. »Aber es geht nicht anders. Ich muss einen Schnitt machen.«

Melanie hob aufgebracht die Hände. »Sag mal, wie blöd bist du eigentlich? Du bist seit drei Jahren Redakteurin in leitender Funktion mit glänzenden Aufstiegschancen, und nun willst du das Handtuch werfen, weil du eine Affäre mit dem Chef hattest? Glaubst du, ein Mann würde deshalb einfach so abhauen und seine Karriere aufs Spiel setzen? Ich bitte dich!« Melanie klang ehrlich entrüstet und beruhigte sich mit einem weiteren tiefen Zug aus ihrem Glimmstengel.

»Dazu müsste dein Phantasie-Mann erst einmal in meiner Situation sein. Wie viele Chefredakteurinnen überregionaler Zeitungen fallen dir denn auf Anhieb so ein?«

Melanie verdrehte die Augen und schüttelte den Kopf. »Null natürlich, aber das spielt doch jetzt gar keine Rolle. Es geht um dein Selbstverständnis als Frau. Du machst dich zum Opfer, ziehst den nicht vorhandenen Schwanz ein und alles nur, um für den lieben Florian bloß nicht zum Problem zu werden. Fünfziger Jahre pur!«

»Stimmt alles, was du sagst. Aber Florian und ich haben nicht einfach nur mal so gebumst, sondern führen seit einem Jahr eine heimliche Beziehung. Alle Klischees inklusive, von der täglichen Schauspielerei am Arbeitsplatz mal ganz zu schweigen. Ich habe es so satt. Deswegen ist jetzt Schluss. Ich kann einfach nicht mehr. Diese Schuldgefühle bringen mich um.«

»Du hast Schuldgefühle? Florian hat dich doch permanent angebaggert, bis du in einem schwachen Moment nachgegeben hast.«

»Er ist verheiratet und hat zwei kleine Kinder.«

»Ja, alles richtig, und außerdem ist er ein verdammt attraktiver Mann. Da kann frau schon mal schwach werden. Sei nicht so hart mit dir selbst.«

Nina zog die Nase hoch und schob ihr Glas neben das von Melanie. »Hier, nimm! Ich mag nicht mehr.«

Melanie zog die Brauen zusammen. »Du hast doch nur dran genippt.« Nina sah auf die Uhr.

»Bist du böse, wenn ich gehe? Ich bin müde und hab noch eine Menge zu erledigen.« Sie deutete mit dem Kinn über ihre Schulter. »In der Ecke steht das halbe Feuilleton, kulturell wertvoller Anschluss garantiert.« Sie stand auf, zog ihre Jacke an und drückte der Freundin einen Kuss auf die Wange. Als sie sich zum Gehen wandte, fasste Melanie sie am Arm. »Du liebst ihn immer noch, oder?«

Nina senkte den Blick. »Schönen Abend. Ich seh dich morgen.«

Melanie blickte Nina nachdenklich hinterher, bis die Tür hinter ihr zugefallen war.

 

Nina fuhr mit der U7 bis zum Bayerischen Platz. Um sich gegen den Luftzug im U-Bahn-Schacht zu schützen, hielt sie ihr Notebook, das in einer schwarzen Schutzhülle steckte, fest gegen den Oberkörper gepresst. Auf der Hauptstraße bemerkte sie ein Grummeln in der Magengegend, und weil sie sich an die gähnende Leere in ihrem Kühlschrank erinnerte, beschloss sie, bei ihrem Stammitaliener eine Pizza zu essen.

Sie setzte sich in ihre Lieblingsecke, bestellte eine Calzone und ein Mineralwasser, packte das Notebook aus und fuhr es hoch. Aus Gewohnheit überflog sie zunächst die neuen Schlagzeilen der Konkurrenzblätter, bevor sie sich in ihren Facebook-Account einloggte.

»Prego, Signora!« Der Kellner servierte ihr mit einer angedeuteten Verbeugung die Calzone. »Wie immer mit einer Extraportion Büffelmozzarella für Sie!«

Nina blickte auf und lächelte.

»Danke, Gianni.« Sie klappte das Notebook zu, griff nach dem Besteck, teilte die Calzone in zwei Hälften und schob sich wenig später genussvoll den ersten Bissen in den Mund. Ihr Handy summte, und sie angelte in ihrer Jackentasche, die über der Stuhllehne hing, nach dem Smartphone.

Florian.

Sie stöhnte leise auf. Ihr erster Impuls war, ihn wegzudrücken, doch dann besann sie sich eines Besseren und nahm den Anruf an.

»Ich steh vor deiner Haustür. Wo bist du?« Sie zögerte einen Moment lang, fuhr sich mit der Hand nervös über die Stirn. »Beim Italiener um die Ecke.«

»Bin gleich da.« Bevor sie widersprechen konnte, hatte er aufgelegt.

Erschöpft legte sie das Handy auf den Tisch. Wieso konnte er sie nicht einfach gehen lassen? Was versprach er sich davon? Die Sache zwischen ihnen war beendet. Sie hatten es mehrfach besprochen, und am Ende schien er es auch eingesehen zu haben. Er setzte seine Familie und seine Karriere aufs Spiel. Jedes weitere Treffen war nichts als Quälerei. Für ihn, für sie. Zumindest konnte er ihr beim Italiener schlecht eine Szene machen.

Sie zog den Teller zu sich heran und säbelte lustlos an der Calzone herum; wenige Minuten später stand Florian außer Atem vor ihr.

»Gott sei Dank! Du bist noch da.« Er ließ sich auf der anderen Seite des Tisches auf den Stuhl fallen. Sofort tauchte Gianni auf. Florian bestellte einen Pinot Grigio, ohne die Speisekarte in die Hand zu nehmen. Nina schob ihren Teller von sich. Er griff nach ihrer Hand, doch sie entzog sie ihm.

»Nina, bitte gib uns eine Chance!«

»Du hast eine Familie, und es war nie unsere Absicht, sie auseinanderzureißen.«

»Natürlich nicht, aber es ist eben passiert. Ich habe mich in dich verliebt. Diese Dinge passieren. Mit Christine und mir ist es schon lange nicht mehr so, wie es sein sollte. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis wir uns trennen. Es wird passieren, hörst du? «

»Dann ohne mich. Wenn du deine Familie zerstören willst, ist das deine Entscheidung. Ich kann das nicht.«

Der Kellner brachte den Wein, und Florian nahm einen tüchtigen Schluck. In seine Stirn hatten sich tiefe Furchen eingegraben. Unvermittelt richtete er seinen Blick auf sie. »Ich trenne mich von Christine.«

»Nicht wegen mir«, entgegnete sie mit scharfer Stimme.

»Nein, nicht wegen dir. Wegen uns.«

Nina sah ihn besorgt an. Die grässliche Stille, die sich zwischen sie legte, lastete bleischwer auf ihr.

»Du bist schwanger, stimmt’s?«, fragte Florian endlich.

Nina wurde es mit einem Mal heiß und kalt zugleich. Ihre Hände begannen zu zittern, und sie legte sie, zu Fäusten geballt, in den Schoß, damit Florian es nicht bemerkte. Er lächelte, seine Augen strahlten. »Hab ich also richtig vermutet.« Völlig überrumpelt, wusste Nina nicht, was sie erwidern sollte. Wie zum Teufel hatte er das erraten? Sah man es ihr an? Unwillkürlich öffnete sie eine Faust und strich mit der flachen Hand über ihren Bauch. Wenn überhaupt, war er nur leicht gewölbt. Ihre Jeans passten noch einwandfrei. Florian schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Ha! Ich wusste es, ich wusste es!«, wiederholte er triumphierend und schnellte von seinem Platz hoch, um sich neben sie zu setzen. »Ein Kind. Unser Kind. Das ist so wunderbar! Warum hast du es mir nicht schon eher gesagt? Wie weit bist du? Dritter Monat, vierter?«

Damit hatte sie nicht gerechnet. Dass er sie nur ansehen musste, um es zu wissen. Dass er dieses Kind wollte.

Als er den Arm um sie legte, schüttelte sie ihn ab und stand auf. »Ich muss gehen.« Florian zog sie am Arm zu sich.

»Nein, bleib. Bleib bei mir. Bei mir und unserem Kind.« Nina ertrug die Situation nicht länger. Sie machte sich los, schnappte Jacke und Laptop und stürzte zum Ausgang. Florian lief ihr hinterher, holte sie beim Ausgang ein.

»Wovor läufst du davon? Alles ist gut. Ich will dieses Kind. Ich will dich.«

»Aber ich will das alles nicht. Weder dich noch das Kind. Lass mich in Ruhe.« Nina liefen die Tränen über die Wangen.

»Warum kapierst du es nicht, Nina? Ich werde Christine verlassen. Wenn nicht jetzt wegen dir und unserem Kind, dann irgendwann später wegen einer anderen.«

Sein letzter Satz fuhr ihr wie eine Faust in die Magengrube.

»Dann nimm dir in Gottes Namen eine andere. Ich will nicht diejenige sein, die dir einen Vorwand liefert, um deine Familie hinter dir zu lassen. Ich will dieses Kind nicht. Ich will dich nicht. Und übermorgen wird es dieses Kind auch gar nicht mehr geben.«

Florian stand wie unter Schock neben ihr. Seine Arme hingen schlaff herunter. Sie wusste nicht, weshalb sie das gesagt hatte. Es war ganz sicher nicht ihre Absicht gewesen, aber nun war es zu spät, und sie konnte die Worte, die ihr im Affekt herausgerutscht waren, nicht mehr zurücknehmen.

Bevor Florian reagieren konnte, stürzte Nina aus der Tür und lief über den Platz, über die Kreuzung und die rote Ampel. Nur weg von Florian, weg von allem!

[home]

Melbourne, 1871

Früh am Morgen packte Liz ein paar Sachen für ihre Kinder zusammen, drückte ihnen zur Bestechung etwas Malzzucker in die Händchen und hob sie auf den Karren, der sie wegbringen sollte. Caroline sah vom Fenster aus zu, wie der Gaul anzog und sich die kostbare Ladung langsam entfernte. Die Kinder begannen zu weinen, als ihnen dämmerte, dass sie ohne Begleitung der Eltern unterwegs waren, und riefen nach ihrer Mutter. Der kleine Blair stand auf und versuchte, aus dem Wagen zu klettern, doch seine Schwester hielt ihn in letzter Sekunde fest, damit er nicht herausfiel.

Stud legte seiner Frau den Arm um die Schultern.

»Für uns wird es auch Zeit«, meinte er, zog den Vorhang zu und wischte ihr mit dem Daumen die Tränen vom Gesicht. Caroline nickte. Sie hatte vor zwei Tagen mit dem Packen begonnen und war bereit.

»Alles Gute, Stud«, sagte John kühl.

»Dir auch«, antwortete Stud und klopfte dem Bruder auf die Schulter. »Ein rollender Stein setzt kein Moos an«, scherzte er. Dann machten er und Caroline sich auf den Weg.

Sie entschieden sich gegen ein Hotel in einer guten Gegend und wählten eine günstige Pension am abgelegenen Ende der Victoria Parade, die für Handwerker, Büroangestellte und Verkäufer gedacht war. Nicht wenige, die sich dort einquartiert hatten, erschienen dem Paar zwielichtig. Da war zum Beispiel ein junger Mann, der bei der Eisenbahn arbeitete. Er behauptete, demnächst ein Vermögen mit dem Patent auf eine Medizin zu machen, die er erst noch zusammenbrauen wollte. Oder die ältliche Buchhändlerin mit Brille, die vorgab, ihr Mann könne nicht bei ihr sein, weil ihm das Klima in der Stadt nicht zuträglich sei. Die Handwerksburschen waren allesamt unangenehm laut, wenn sie von ihrer Arbeit in die Pension zurückkehrten. Meist hatten sie unterwegs in einem Pub haltgemacht, um sich die trockenen Kehlen zu befeuchten.

Das Haus lag inmitten einer zweistöckigen Häuserzeile; es war nur ein Zimmer und einen Gang breit, an dessen Ende sich die Küche befand, wo die Inhaberin Mrs. Kelly schlief – falls sie überhaupt jemals schlief. Mrs. Kelly war eine kleine, nicht mehr ganz junge Irin. Man sah sie stets in ihrem abgetragenen schwarzen Kleid und mit einer Haube, die aussah wie ein verstaubtes Spinnennetz. Ihr runzliges Gesicht glich einem winzigen Apfel, der zu lange auf einem sonnigen Fensterbrett gelegen hatte.

Studs außergewöhnlich feine Kleidung entging seiner Vermieterin nicht, und bei jedem Frühstück machte sie eine Bemerkung, die Stud nach einigen Tagen nicht länger kommentierte. Sie sprach mit durchdringender Stimme, einer Grille nicht unähnlich.

»Mr. Studholme, was für ein feiner Stoff, so fein, so fein!«, zirpte sie, während sie den Stoff an seinem Ellbogen zwischen Daumen und Zeigefinger rieb.

 

Stud machte Pläne. Seine Tage glichen einem verschwommenen Alptraum, in dem er von einem schäbigen Büro zum nächsten hastete, wo er sich durch Bewerbungsgespräche mit Bankiers und Anwälten quälte – erniedrigende Gespräche, in deren Verlauf seine Unfähigkeit für beide Geschäfte gnadenlos ans Licht gezerrt wurde.

Jeder Tag verschlang Geld, ohne dass neues hereinkam. Alles in allem blieb ihnen nur eine erbärmliche Summe für ihren Neubeginn in Australien. Sie benötigten ein Haus, mussten ihren Lebensunterhalt bestreiten. Caroline machte ihm Vorschläge, doch Stud verbat sich jede Einmischung. Er hatte sie in diese Krise hineinmanövriert, und er würde sie auch wieder herausführen. Er durchstreifte die City und die Vororte, lief sich die Hacken ab, bis er nur noch ein Schatten seiner selbst war, um ein Haus zu finden, das sie sich leisten konnten.

Voller Wehmut kehrte er den gepflegten Seeorten St. Kilda und Elsternwick den Rücken zu. Um die grünen Gärten von Toorak machte er einen weiten Bogen – viel zu kostspielig! Seinen Widerwillen erstickend, erkundete er stattdessen die dunklen Vororte Footscray, Essendon und Moonee Ponds. Am Ende seiner Geduld und seiner Kräfte, fand er, was er suchte. In Hawthorn nahe der Stadtmitte mietete er ein winziges Häuschen. Von außen betrachtet, sah das schmale Backsteingebäude mit Balkon und Veranda sogar recht behaglich und geräumig aus. Von innen jedoch …

Insgeheim fürchtete Stud, Caroline würde ihm den gesellschaftlichen Abstieg niemals verzeihen. Und aus ebendiesem Grund würde er ihr nicht erzählen, wie schlecht es wirklich um ihre Finanzen stand. Er war überzeugt, dass er das Richtige tat.

 

Sobald der Mietvertrag unterzeichnet war, zogen sie in ihr neues Heim. Stud hatte es ihr in den rosigsten Farben beschrieben, so dass Caroline es kaum abwarten konnte, ihren Fuß über die Schwelle zu setzen. Und dann diese Enttäuschung.

Insgeheim hatte sie gehofft, das Haus wäre groß genug, um die Kinder zu sich holen zu können. Seit dem Abschied von ihrem Schwager und seiner Frau war kein Tag vergangen, an dem sie nicht über Suzanne und Blair nachdachte; darüber wurde sie jedes Mal so traurig, dass sie sogar in Tränen ausbrach. Sie konnte noch immer nicht fassen, was Liz ihren Kindern angetan hatte. Und alles nur deshalb, weil sie als Mutter unfähig war, sich in ein Leben ohne Dienstboten zu fügen. Warum bemühte diese Frau sich erst gar nicht, die Dinge zu lernen, an denen es ihr mangelte? Liebte sie ihre Kinder denn nicht? Carolines Angebot, ihr einige Grundregeln des Kochens zu zeigen, hatte sie beleidigt abgelehnt.

Caroline vermied es, mit Stud über seine Nichte und seinen Neffen zu sprechen, seit er ihr zuletzt rüde über den Mund gefahren war.

»Zum letzten Mal: Es ist nicht unsere Verantwortung. Abgesehen davon, verfügen wir gar nicht über die Mittel, um auch nur darüber nachzudenken. Also Schluss mit dieser Diskussion.« Sein Ton hatte keinen Widerspruch geduldet, deshalb schluckte sie ihren Unmut hinunter. So war Stud nun einmal, wenn er mit sich und der Welt uneins war. Empfindlich und reizbar, verletzt von der kleinsten Bagatelle. Doch meistens wusste sie ihn zu nehmen. In solchen Momenten erinnerte sie sich ganz bewusst an seine guten Seiten; seine mitunter überbordende Lebensfreude, die sie mitriss; seine überschwengliche Liebe zu ihr, die er ihr stets auf überraschende, originelle Weise zu zeigen wusste. Sie musste schmunzeln, als sie daran dachte, wie er sie in London eines schönen Mittwochmorgens ohne Ankündigung mit der Kutsche in den Park entführt hatte, wo ein Picknick für sie vorbereitet war. Die Decke war übersät mit Rosenblättern, und ein Geiger, den Stud für diese Gelegenheit engagiert hatte, spielte romantische Weisen, während sie unter der Bewunderung der vorbeispazierenden Paare Champagner tranken und Entenleberpastete aßen. Als sie Stud gefragt hatte, was denn der Anlass für dieses besondere Ereignis sei, hatte er sie bei den Schultern gefasst und ihr tief in die Augen gesehen. »Schönheit, Liebe und Lebensfreude. Mit einem Wort, du.«

 

Niemals sah ihr kleines Häuschen in Hawthorn trostloser aus als am frühen Morgen, bevor die Jalousien hochgezogen wurden und das erste Tageslicht weiche, versöhnliche Schatten auf die kahlen Wände werfen konnte. Die Aufgabe, diesen trostlosen Ort in ein gemütliches Heim zu verwandeln, stellte selbst Caroline vor eine unlösbare Aufgabe. Bis hin zum Besteck hätte sie jedes einzelne Stück der Einrichtung neu kaufen müssen, was sie sich nicht leisten konnten. Caroline behalf sich mit dem Notwendigsten; viel mehr als Bett, Tisch und Stühle lag jenseits ihrer Möglichkeiten.

Sie lebten seit fast vier Wochen in Hawthorn, ohne dass sich an ihrer Situation etwas Wesentliches geändert hätte. Stud war noch immer ohne Einkommen, und diese fürchterliche Unsicherheit nagte hässlicher an ihrer beider Nerven als Rattenzähne an einem stinkenden Kadaver. Mehr noch als ums Geld sorgte sich Caroline jedoch um ihren Mann. Die Ungeselligkeit, die er seit Wochen an den Tag legte, schien dieses Mal einen tieferen Grund zu haben als die gelegentliche Unlust, sich unter Menschen zu begeben, die Stud schon in London hin und wieder befallen hatte. Jetzt war es anders. Stud vegetierte in seiner selbstgewählten Einsamkeit dahin wie ein Tier, das seinen Käfig nicht verlassen wollte. Seit sie in dieser Stadt lebten, war er nicht mehr derselbe.

Caroline sprach sich Mut zu. Es war nicht das erste Mal, dass sie Stud in diesem Zustand sah. Früher oder später würde er aus seinem Loch herauskriechen und wieder der charmante Mann sein, in den sie sich verliebt hatte.

Doch dieses Mal beschlichen sie Zweifel. Er verharrte schon so lange in diesem merkwürdigen Zustand. Stud musste sich in Melbourne einen Namen machen, Verbindungen knüpfen, wenn sie überleben wollten. Doch statt jede Hand zu schütteln, die man ihm darbot, wies er die wenigen Einladungen, die sie erhielten, auch noch zurück. Caroline gab ihr Bestes, um ihn aufzumuntern, und ermutigte ihn in immer resoluterem Ton, endlich am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Doch ebenso gut hätte sie mit der Wand reden können. Sie lebten wie die Einsiedlerkrebse. Ihre Verzweiflung wuchs, denn sie ahnte, dass der überschaubaren besseren Gesellschaft Melbournes nichts verborgen blieb, was selbst dem geringsten ihrer Mitglieder widerfuhr.