Das verleugnete Kreuz - Uwe Wolff - E-Book

Das verleugnete Kreuz E-Book

Uwe Wolff

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Beschreibung

Es ist ein Kreuz mit dem Kreuz. Sogar manchen Christen ist es ein Ärgernis. Sie sehen darin ein Symbol der Gewalt, des Missbrauchs und eines überholten Sünden- und Opferdenkens. Es wird Zeit, das Kreuz wieder in den Blick zu nehmen. Nichts ist dem Menschen so auf den Leib geschrieben wie das Kreuz. Wenn wir aufrecht stehen und die Arme ausbreiten, so wird es durch unseren Körper gebildet. Wenn wir die Arme kreuzen, ist es da. Das Kreuz ist die Mitte des Lebens. Im Kreuz stoßen die Gegensätze aufeinander: Krankheit und Heilung, Bann und Erlösung, Himmel und Erde, Leben und Tod. Uwe Wolff erzählt die Alltagsgeschichte des Kreuz-Symbols. So entsteht das Bild eines universellen Sinnbilds, das allen Menschen etwas zu sagen hat.

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„Here is your cross,

Your nails and your hill;

And here is your love,

that lists where it will.“

Leonard Cohen. Here it is

In Erinnerung

an meinen Freund und Lehrer

Hans Blumenberg,

Autor der Matthäuspassion

INHALT

Cover

Titel

Impressum

Vorwort: Kreuz, Klima, Katastrophen

1. Anstoß:Der Mensch

2. Anstoß:Die Erde

3. Anstoß:Das Opfer

4. Anstoß:Die Mitte

5. Anstoß:Der Baum des Lebens

6. Anstoß:Das Zeichen des Sieges

7. Anstoß:Die Wundmale

8. Anstoß:Die Ritter

9. Anstoß:Das Ende der Welt

Quellenverzeichnis

Vorwort:Kreuz, Klima, Katastrophen

„Was sollen wir denn tun?“

Lukas 3.10

„I don’t want you to be hopeful. I want you to panic. I want you to feel the fear I feel every day. I want you to act. I want you to act as you would in a crisis. I want you to act as if the house is on fire, because it is.“

Greta Thunberg in Davos

Kloster Mariaberg ist ein beliebtes Ausflugsziel. Hier gibt es eine Schenke, in der ein echter Mönch das Bier zapft. Das Wirtshaus ist immer rappelvoll. Die Kirche dagegen leer. Doch auf dem Glockenturm tut sich etwas.

Kirchtürme gelten als ideale Standorte für die neuen 5G-Mobilfunkanlagen. Deshalb läuft unter dem Kreuz ein Testverfahren – zum Ärger von Pater Guardian. Das Kloster brauche Geld zur Renovierung des Kirchendaches, meint der Bruder am Zapfhahn. Das Bier strömt auch an diesem Freitag. Früher war der Freitag ein Fastentag. Am Karfreitag durfte nicht getanzt werden. Denn an einem Freitag starb Jesus am Kreuz.

In Frankfurt haben Schüler an diesem Freitag eine Demonstration gegen die drohende Klimakatastrophe angekündigt. Schon am Vormittag ist es schwül. Pater Guardian führt mich durch die angenehm kühle Kirche und lädt mich ein, in einer Zelle des Klosters zu übernachten. Das finde ich spannend und nehme die Gastfreundschaft gerne an.

Seit vielen Wochen herrscht in Deutschland ein Klima wie in Andalusien und Nordafrika. Die Blumen und Bäume in meinem Garten habe ich lange mit Regenwasser versorgen können. Nun ist die Zisterne leer.

In der Nacht zieht ein gewaltiges Gewitter auf. Endlich Regen! Ich genieße das Spektakel der Entladungen. Plötzlich schlägt der Blitz irgendwo im Kloster ein. Vielleicht in die neuen Antennen neben dem Kreuz. Ich sehe es an den Funken, die aus dem Heizkörper springen. Eigentlich kann das nicht sein, denke ich. Jäh kippt meine Stimmung um. Mir wird mulmig. Ich blicke auf das Kreuz an der Wand mit dem Leib des Gemarterten. Warum kann ich den Anblick nicht ertragen? Ich schaue weg. Draußen zucken die Blitze. Ich drehe mich um. Die Nachttischlampe funktioniert nicht mehr. Ich bekomme es mit der Angst zu tun. Zugleich sind mir meine Gefühle peinlich. Kreuze schützen vor Unheil, denke ich. Der Böse weicht dem Kreuz. Was kann mir denn passieren? Ich komme nicht zur Ruhe. Mir wird das Kreuz unheimlich. Ich nehme das Kreuz von der Wand und lege es auf den Kleiderschrank.

Eine merkwürdige Geschichte. Ich gebe es zu. Vielleicht hätte ich diese Anstöße zu einer Debatte über das Kreuz mit Statistiken über die Zahl der Kirchenaustritte und ihre möglichen Gründe eröffnen sollen. Ich hätte von der Universität Wien erzählen können, wo die Kreuze aus den Hörsälen entfernt worden sind. Vielleicht hätte ich von dem Kreuz schreiben sollen, das die Kirche mit der AfD hat. Gewiss hätte ich von den Missbrauchsopfern unter dem Symbol des Kreuzes berichten können.

Aber ich will nicht wiederholen, was alle wissen. Ich will auch nicht wissen, wo der Hausmeister die von den Wänden entfernten Kreuze „entsorgt“ hat. Viele Debatten werden noch immer geführt, als hätte es Friedrich Nietzsches (1844–1900) Aufschrei nie gegeben: „Was sind denn diese Kirchen noch, wenn sie nicht die Grüfte und Grabmäler Gottes sind?“

Ich will mit diesen Meditationen in den Kern der Dinge vorstoßen. Wir brauchen keine Debatten von Besserwissern und jenen, die um den heißen Brei herumreden.

Das Wesen des Kreuzes ist seine Widerständigkeit. Es passt einfach nicht zu der Wunschvorstellung von einem Leben ohne Leid und Schmerz mit bedingungslosem Grundeinkommen ohne die Mühen eigener Anstrengung.

Das Kreuz erregt Anstoß. Dazu braucht es nicht ein Sommergewitter und überspannte Nerven. Auf dem Flughafen von Genf sehe ich eine Nonne. Sie trägt gut sichtbar ein Kreuz über ihrem Gewand und auf dem Kopf einen Schleier. Eine Muslima kommt vorbei, deutet mit dem Finger auf das Kreuz, schüttelt das Haupt und zeigt der Ordensschwester einen Vogel: Das Kreuz ist für sie ein Irrsinn, ja Gotteslästerung! Der Islam ehrt den Propheten Jesus. Den sterbenden Sohn Gottes verachtet er zutiefst. Gott kann nicht leiden, sagt der Islam. Gott kennt nicht den Schmerz. Gott litt am Kreuz, weiß das Christentum. Das Wesen des Christentums ist das Kreuz. Ein Kreuz, das nicht mehr anstößig ist, gleicht schal gewordenem Salz.

Auf den Spuren muslimischer Heiliger bereise ich den Norden Pakistans. Ich werde in den Kreis der Sufis am Schrein von Rahman Baba eingeladen. Der Sonntag kommt. Ein normaler Arbeitstag in diesem Land. Mit einem Freund besuchte ich eine Kirche in Peshawar. Weder Kreuz noch Glockenläuten machen auf diesen Ort des Gebets aufmerksam. Wer hier überleben will, muss ein Leben im Verborgenen führen. Im Herbst des Jahres 2013 sprengen sich zwei Attentäter vor dieser Kirche in die Luft. Sie reißen über 70 Menschen mit sich in den Tod.

Ich kann verstehen, dass Menschen das Kreuz abhängen wollen: in Schulen und anderen öffentlichen Gebäuden. Sie spüren die Ungeheuerlichkeit dieses Symbols und fühlen sich bedrängt, bevormundet oder vereinnahmt. Doch darf die Rücksichtnahme auf Menschen mit anderen Empfindungen, Werten und einem anderen Glauben oder Unglauben so weit gehen, dass das Eigene keinen Ort mehr in der Öffentlichkeit hat? Eine falsch verstandene Toleranz hat zur Selbstaufgabe und zu einer an Erstickung grenzenden Spracharmut geführt. Damit ist niemandem gedient.

Würden sämtliche Kruzifixe aus der Öffentlichkeit entfernt, so wäre das Kreuz dennoch überall sichtbar. Wie kein anderes Symbol ist es dem Menschen auf den Leib geschrieben. Wenn wir beide Arme ausbreiten, so wird das Kreuz sichtbar. Das Kreuz ist das Symbol des Menschen. Das Kreuz ist sperrig und widersprüchlich wie das Leben.

Zum Kreuz gehören Grenzerfahrungen wie Schuld und Sühne. Niemand kann ihnen entfliehen. Sie holen uns ein wie die Folgen der Umweltsünden. Wir Menschen des 21. Jahrhunderts fühlen uns schuldig, vielleicht schuldiger als jede Generation vor uns. Haben wir doch die Folgen unseres Tuns unmittelbar vor Augen. Deshalb zahlen wir gerne eine Buße zur Kompensation unseres CO2-Fußabdrucks und haben bis zur nächsten Flugreise wieder ein gutes Gewissen. Doch diese Ausgleichszahlungen für Aufforstungsprogramme und effiziente Kocher in Entwicklungsländern bleiben ein moderner Ablasshandel.

Es herrscht Endzeitstimmung in allen Lagern. Zwischen denen, die den Klimawandel als einen vom Menschen gemachten Prozess sehen, und jenen, die hier vom Menschen nicht beeinflussbare Veränderungen behaupten, klafft ein tiefer Graben. Was vom Menschen verursacht ist, kann durch Menschen wieder bis zum Ziel der Klimaneutralität zurückgenommen werten, wissen die einen. Andere verweisen auf die Geschichte der Erde. Sie sei voller Beispiele für extreme nicht vom Menschen gemachte Klimaveränderungen mit dramatischen Folgen für das Leben.

In diesen Kontroversen bildet sich das Kreuz der Meinungen. Das Kreuz hat eine horizontale und zugleich vertikale Ausrichtung. Der Horizont steht für den Menschen und seine Verantwortung für die Erde. Über diesem Horizont strebt die Vertikale in eine andere Dimension. Sie ist unendlich viel größer als alle Macht und aller guter Wille. Im Spannungsfeld dieser Möglichkeiten und Begrenzungen bewegen sich alle Fragen der Ökologie.

Umwelt und Ernährung haben im 21. Jahrhundert eine geradezu religiöse Dimension gewonnen. Zu Recht. Denn in ihnen lebt das Bewusstsein für das Ganze, in das wir eingebunden sind. Das Ganze wird auch „Ökumene“ genannt. Der Mensch ist verantwortlich für die Erde. Zugleich macht er immer wieder die Erfahrung, dass das Ganze zu groß ist, um bewältigt zu werden. Handeln zu müssen und nicht handeln zu können – aus diesem Zwiespalt von Macht und Ohnmacht besteht das Leben. Die Betrachtung des Kreuzes führt hinein in dieses Geheimnis. Schnelle Ergebnisse und praktische Anwendungen sind hier nicht zu erwarten. Das Kreuz des Lebens will ausgehalten sein. Dann öffnen sich neue Horizonte.

Das Kreuz ist ein Geheimnis. Geheimnisse kann man nicht rasch und nebenbei erklären. Man muss sich auf sie einlassen, sie bedenken, betrachten, meditieren. Zu einer ruhigen Betrachtung will dieses Buch neun Anstöße geben. Sie führen schrittweise in das Geheimnis des Kreuzes. Im letzten Kapitel richte ich den Blick auf die Apokalypse. Ihr Motto erklang in Davos, als Greta Thunberg sagte: „I want you to panic!“

Der Freitag ist der Tag ihres Protestes gegen die drohende Katastrophe. Dass diese jungen Menschen am Tag der Kreuzigung Jesu demonstrieren, wissen sie nicht, und es muss sie auch kein Besserwisser darüber belehren. Sie werden kein Buch über das Symbol des Kreuzes lesen, um die Erfahrung zu teilen: Das Kreuz ist da. Die junge Generation spürt auf ihre Weise ein tiefes Eintauchen in die Passion. Sie sehen die Nägel und die Dornenkrone und ahnen, dass der bittere Kelch an ihnen nicht vorübergehen wird. Die Stunde ihrer Bewährung hat begonnen. Seien wir also zuversichtlich!

Haus Sonnenschein

Bad Salzdetfurth im Oktober 2019

Uwe Wolff

1. Anstoß:Der Mensch

„Dies ist ein großer Augenblick in der Geschichte des Menschen, wo zum ersten Mal der Mensch seine Arme betend zum eigenen Schicksal erhebt.“

Franz Rosenzweig. Der Stern der Erlösung

Lebenslinien

Jeder Mensch trägt das Kreuz des Lebens auf seine Weise: Geheimnisvolle Wege und Straßen durchziehen die Landschaften der Erde wie Adern unseren Körper. Blutbahnen, Verkehrsadern – manchmal laufen sie parallel, dann verzweigen sie sich wie Äste an einem Baum. Zuweilen berühren sie sich. Manchmal kreuzen sich Wege wie Linien auf der Innenfläche der Hand.

Ob wir einen Straßenatlas aufschlagen oder eine beliebige Verkehrsverbindung im Internet aufrufen, ob wir eine Radkarte oder einen Wanderführer studieren – überall leuchtet das Bild des Kreuzes hervor. Selbst die vom Menschen unberührte Natur in den großen Wäldern dieses Planeten zeigt das Bild des Kreuzes: Elch und Reh suchen sich auf festen Pfaden den Weg durch das Dickicht. Ein Netz von Wegen und Wegkreuzungen durchzieht Birkenwälder und die mit Flechten und Moosen bewachsenen Hochebenen der hohen Breitengrade.

Der Weg ist eines der großen Symbole für den Lebenslauf. Jeder Mensch geht seinen Weg. Jeder hat seinen eigenen Auftrag, seine eigene Berufung, sein eigenes Ziel. Doch niemand geht allein. Noch auf den einsamen Pfaden und Pilgerwegen des Herzens finden Begegnungen statt. Wo sich zwei Wege berühren, da entsteht das Bild des Kreuzes. Das Kreuz markiert den Ort einer Begegnung. Sie wird nicht ohne Folgen bleiben.

Das Kreuz markiert eine Unterbrechung des Alltages. Wir machen Pläne. Wir haben ein Ziel vor Augen. Wir wollen etwas erreichen. Doch jederzeit kann das Unerwartete eintreten. Unser Lebensweg wird durchkreuzt. Jemand macht uns einen Strich durch die Rechnung. Wir werden zum Innehalten gezwungen. Jetzt öffnet sich der Raum. Die Mitte leuchtet auf. Eine Chance bietet sich. Etwas Neues kann sich ereignen. Doch vielleicht müssen wir auch das Alte loslassen. Etwas stirbt in uns, damit wir neu geboren werden können. Das Kreuz kennzeichnet die Mitte. Die Begegnung mit ihr ist immer ein Wagnis.

Ein Hase kreuzt Alexander Puschkins Weg

Das Bild der belebten Straßenkreuzung gehört zu unserem Alltag. In den Großstädten brandet der Verkehr mehrspurig auf die Kreuzung zu. Straßenschilder und Ampeln regeln den Verkehr. Sie steuern den raschen Verkehrsfluss, der selbst nach Mitternacht nicht erliegt. Nirgendwo treffen so viele Menschen aufeinander wie an einer Straßenkreuzung oder einem Autobahnkreuz. Zugleich findet nirgendwo so wenig Begegnung statt. Die Kreuzung ist ein Ort, der zügig durchfahren werden muss. Wer zögert oder gar verweilt, der behindert den Verkehr und gefährdet Leben. Straßenkreuzungen sind keine spirituellen Orte.

In den Märchen und Mythen gelten Kreuzweg und Weggabelung als magische Orte der Begegnung. Hier treffen Reisende aufeinander, verweilen, tauschen Informationen und Waren aus. Doch auch die Geisterwelt liebt diese entlegenen Stätten weit draußen auf den Feldern oder in den Wäldern. Hier blühen die bunten Blumen des Volksglaubens.

Den Weg, den eine schwarze Katze gekreuzt hat, soll man meiden. Das gilt auch für die Begegnung mit dunklen Gestalten auf den nächtlichen Straßen. In seinem humorvollen Versroman „Eugen Onegin“ (1833) lästert Alexander Puschkin über den Aberglauben der schönen Tatjana:

„Sprang unvermutet aus der Saat

Ein Häschen über ihren Pfad,

Dann schlug ihr Herz mit stärkren Schlägen,

Und sorgend eilte sie zurück:

Ihr ahnte künft’ges Missgeschick.“

Was der russische Nationaldichter an dieser Stelle verschweigt, ist der sehr persönliche Hintergrund der Hasengeschichte. Als man Alexander Puschkin zur Zeit des Dekabristenaufstandes nach Moskau rief, kehrte er sofort um, nachdem ein Hase seinen Weg gekreuzt hatte. So entging er der Hinrichtung, nicht aber der tödlichen Kugel bei einem Duell. Er hatte seinen Schwager herausgefordert, weil dieser Puschkins Frau öffentlich Komplimente machte. Ein Bauchschuss durchkreuzte alle weiteren Pläne.

Kreuzwege sind Orte der weißen und schwarzen Magie. Die sichtbare und die unsichtbare Welt geben sich am Kreuzweg ihr Stelldichein. Wo viele Menschen und Geister vorbeigehen, da kann man leicht etwas loswerden. Wer die rechte Zauberformel kennt, weiß der Volksglaube, befreit sich von einem Gebrechen und hext es einem Fremden an. Auch springt ein Fluch an dieser Stätte rasch auf einen Reisenden über und verschwindet in den fernen Weiten des Landes. So ist der Kreuzweg ein Ort der Beschwörung. Nirgendwo lässt sich unkomplizierter ein Bund mit dem Teufel schließen. Hier werden auch die Geister der Toten gerufen. Sie müssen Auskunft geben über Verborgenes und einen Blick in die Zukunft gewähren.

Die Wahl des Herakles

In den Schlüsselsituationen des Lebens erscheint das Bild des Scheideweges. Herakles am Scheideweg – das ist nicht nur eine Geschichte aus griechischer Vorzeit, wie sie der Philosoph Prodikos von Keos berichtet.

Was Herakles einst erlebte, wiederholt sich in jedem jungen Menschen, der vor dem Tor des Lebens steht. Als sich Herakles darüber Gedanken macht, welchen Lebensweg er wählen soll, tauchen plötzlich zwei Frauen auf. Die eine bietet ihm lockere Versprechungen eines glückseligen Lebens:

„Herakles, ich sehe, dass du unschlüssig bist, welchen Weg durch das Leben du wählen sollst. Willst du nun mich zur Freundin wählen, so werde ich dich die angenehmste und bequemste Straße führen. Keine Lust soll dir versagt bleiben, jede Unannehmlichkeit bleibt dir erspart. Um Kriege und Geschäfte brauchst du dich nicht zu bekümmern. Du wirst dich mit den köstlichsten Speisen und Getränken laben, deine Sinne durch die angenehmsten Empfindungen ergötzen, auf einem weichen Lager schlafen und den Genuss aller dieser Dinge dir ohne Mühe und Arbeit verschaffen. Fürchte keine körperlichen oder geistigen Anstrengungen.“

Dann spricht die zweite Frau vom Pfad der Tugend:

„Auch ich komme zu dir, lieber Herakles, denn ich kenne deine Eltern, deine Anlagen und deine Erziehung. Dies alles gibt mir die Hoffnung, dass du, wenn du mir folgst, ein Meister in allem Guten und Großen wirst. Doch will ich dir keine Genüsse vorspiegeln, will dir die Sache darstellen, wie die Götter sie gewollt haben. Von allem, was gut und wünschenswert ist, gewähren sie den Menschen nichts ohne Arbeit und Mühe. Wünschest du, dass die Götter dir gnädig seien, so musst du die Götter verehren. Willst du, dass deine Freunde dich lieben, so musst du deinen Freunden nützlich werden. Soll der Staat dich ehren, so musst du ihm Dienste leisten. Willst du ernten, so musst du auch säen. Willst du deinen Körper in der Gewalt haben, so musst du ihn durch Arbeit und Schweiß abhärten. Zu solchem Leben, Herakles, entschließe dich, und vor dir liegt das seligste Los.“

Kreuz und Körper

Das Kreuz ist in unsere Hände geschrieben. Es leuchtet aus den Falten im Gesicht der lächelnden Greisin. Die zarte Haut des Neugeborenen schenkt Durchblicke in das blau leuchtende Gewirr der Adern. Das Kreuzbein („Os sacrum“) bildet die hintere Wand des Beckens. Dieser Knochen entstand durch die Verschmelzung von fünf Wirbeln. Mit der Kreuzgegend („Regio sacralis“) wird die Rückenfläche bezeichnet. Die dumpfen, drückenden oder ziehenden Kreuzschmerzen treten in der Gegend der Lendenwirbelsäule oder des Kreuzbeines auf. Sie können durch Witterung, Ermüdung oder eine Fehlhaltung bedingt sein. Kreuzschmerzen bei Frauen beruhen oft auf krankhaften Vorgängen in den inneren weiblichen Geschlechtsorganen oder sind Begleitumstände der Menstruation. Akute Kreuzschmerzen treten auch bei Ischias und Bandscheibenschäden auf. Im Volksmund werden sie Hexenschuss genannt.

Wie in der Baukunst und im Handwerk, so verleiht das Kreuz auch in der Anatomie vor allen Dingen Stabilität an den Gelenkstellen des Körpers. Hier sind wir einer erhöhten Belastung ausgesetzt. So sichern die Kreuzbänder jede Bewegung des Knies ab.

Wenn Unterkiefer und vorderer Teil des Oberkiefers sich kreuzen, sodass sich die Schneidezähne nur noch unvollständig oder gar nicht mehr decken, wird von einem Kreuzbiss gesprochen. Ob sich Spender- und Empfängerblut bei einer Bluttransfusion vertragen, wird durch die Kreuzprobe ermittelt. Durch sie werden Fehler in der Bestimmung der Blutgruppen und des Rhesusfaktors ausgeschlossen. Verwundungen des Leibes werden mit einem kreuzförmig gewickelten Verband versorgt. Die Kreuzbinde ist eine Verbandtechnik. Sie wird auch Achtergang genannt. Verbände dienen dem Schutz von Wunden oder Hauterkrankungen und der Ruhigstellung verletzter Gliedmaßen. Das Anlegen von Verbänden ist eine besondere Kunst. Beim Verbinden von Gelenken wird der Achtergang verwendet. Die Bindengänge kreuzen sich dabei über dem Gelenk. Wenn die Kreuzungsstelle in die Länge gezogen wird und sich die Bindengänge im Spiralgang teilweise decken, spricht man von einem Kornährenverband. Brust und Rücken werden mit der Kreuzbinde verbunden. Auch hier werden Kreuzgänge gelegt.

Thomas von Kempen

Begegnungen bereichern das Leben. Begegnungen können aber auch gefährlich werden. Kleine Holzkreuze an den Straßenrändern kennzeichnen den Ort einer tödlichen Begegnung.

Wer unterwegs ist, der setzt sich Gefahren aus. Das gilt schon für den ersten Weg des Kindes vom Elternhaus zum Kindergarten. Wenn es die Straße überquert, so entsteht das Bild des Kreuzes. Wer über die Straße geht, so lernt das Kind in der Verkehrserziehung, soll zuerst nach links, dann nach rechts schauen. Doch wie kann es sich schützen vor den gefährlichen Begegnungen auf den Pfaden der inneren Welt?

Thomas von Kempen war ein Mystiker. Sein Buch über die „Nachfolge Christi“ spricht von den Kreuzwegen des Herzens. Es gehört zu den ewigen Bestsellern spiritueller Literatur. Hier schreibt der Mönch:

„Solange wir in dieser Welt leben, können wir nicht ohne Anfechtung und Versuchung sein. Viele suchen den Versuchungen aus dem Wege zu gehen und laufen nur noch gefährlicher hinein. Der Anfang aller bösen Versuchungen ist die Unbeständigkeit des Herzens und der Mangel an Gottvertrauen. Denn wie ein Schiff ohne Steuerruder von den Wellen hin und her getrieben wird, so wird ein Mensch, der seinen Vorsätzen untreu wird und sein Ziel aus dem Auge verloren hat, auf alle mögliche Art und Weise versucht. Oft wissen wir gar nicht, was wir vermögen. Aber die Versuchung macht es uns offenbar, was wir sind.“

Carpe diem

Alles Lebendige lebt aus Momenten der Begegnung. Doch wie selten finden sie statt! Wir treffen eine Verabredung, wir begegnen Menschen und führen Gespräche, wir gehen ins Theater oder ins Kino, wir besuchen eine Ausstellung – doch was bleibt? Welches Bild nehmen wir mit? Welches Wort hallt in uns nach? Welche Berührung wärmt noch im Nachklang unser Gemüt?

Wir leben in einer vernetzten Welt: Die Satellitenschüssel auf dem Dach und das Laserkabel der Telekom versorgen den Haushalt mit Programmen; Mailbox, Anrufbeantworter und Handy sind auf Empfang geschaltet und warten auf Mitteilungen, im Auto läuft das Radio – doch wie selten werden wir erreicht!

Der russische Filmemacher Andrej Tarkowskij schreibt an einem Wendepunkt seines Lebens:

„Ich weiß, dass ich sehr weit von der Vollkommenheit entfernt bin, dass ich mich mit Sünden und Unvollkommenheiten beschmutzt habe. Ich weiß auch nicht, wie ich gegen meine Armseligkeit ankämpfen soll, bemühe mich nur verzweifelt, meinem weiteren Leben Richtung zu geben. Allzu sehr habe ich mich in meinem heutigen Leben verirrt. Ich weiß nur eines: So zu leben, wie ich es bis jetzt getan habe, lächerlich wenig zu arbeiten, ständig negative Emotionen empfindend, die einem nicht helfen, sondern im Gegenteil das Gefühl der Ganzheitlichkeit zerstören, das zumindest zeitweise für die Arbeit wichtig ist – so will ich auf keinen Fall weitermachen. Ich habe Angst davor, mir ist nicht so viel Zeit vergönnt, um sie auf diese Weise zu vergeuden.“

X-Chromosom

Wenn zwei Wege sich kreuzen, dann findet eine Begegnung statt. Etwas Unerwartetes ist geschehen. Jemand fand den Schlüssel und öffnete die Tür unseres Herzens. Freundschaft wird geschenkt. Liebe vielleicht.

Das Kreuz liegt dem Bauplan des Lebens zugrunde. Das genetische Material besteht aus X- und Y-Chromosomen. Aus Kreuzungen entstehen neue Pflanzenarten. „Die Beine kreuzen“ ist eine uralte Umschreibung für den Liebesakt.

Wir sind so sehr gefangen in uns selbst. In unseren Zeitplänen, unseren Terminen. In unserem Willen. Wir wollen unser Leben im Griff haben. Wir lassen keine Ablenkung zu. Und doch ist in uns die tiefe Sehnsucht nach dem ganz Anderen. Die Sehnsucht nach Begegnung. Die Sehnsucht nach tiefer innerer Berührung. Die Sehnsucht nach Erneuerung. Die Sehnsucht, dass einer alle unsere Pläne durchkreuzt. Dass wir durch diese Berührung eine Mitte bekommen.

Wir sind voller Sehnsucht nach echter Begegnung, nach einem Gespräch, nach Freundschaft. Wir sehnen uns nach den Momenten der Wandlung und Verwandlung, der Verzauberung und des Durchblicks, nach einem Moment, der uns befruchtet.

Himmel und Erde

Im Kreuz vereinigen sich zwei Bewegungsrichtungen – die Horizontale und die Vertikale. Die eine beschreibt das Irdische, die andere weist auf den Himmel. Die Horizontale, das ist der Weg. Die Vertikale, das sind die Schlüsselerlebnisse auf dem Lebensweg. Momente der angehaltenen Zeit. In ihnen verdichtet sich das Leben, gewinnt an Tiefe und weist über sich hinaus. Die Horizontale ist die materielle Welt, die Vertikale die spirituelle Welt. Die Erdgebundenheit und der Himmelsblick. Das Fallen und das Aufstehen. Der Tod und die Auferstehung.

Im Wodu-Kult auf der Insel Haiti steht die Horizontale für den Weg der Götter, die Vertikale für den Weg der Menschen. Wenn sich ihre Wege kreuzen, dann entsteht eine heilige Mitte. Ihr Hüter ist Legba oder Papa Legba. Er gilt als Mittler zwischen Himmel und Erde, Gott und Mensch. Nach ihm wird das Kreuz der Begegnung auch Legba-Kreuz genannt.