Das verschollene Schloß - Joyce Ballou Gregorian - E-Book

Das verschollene Schloß E-Book

Joyce Ballou Gregorian

0,0
4,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

2. Teil der Tredana-Trilogie Acht Jahre nach den Ereignissen des ersten Buchs ist Sybil Baron im zweiten Band der »Tredana«-Trilogie auf dem College und mit dem Studenten Michael Arleon befreundet. Von Tredana weiß sie fast nichts mehr. Aber dort hat man sie nicht vergessen. In Anderwelt breitet sich, ausgehend von der Insel Paradon, immer mehr der blutige Kult des Gottes Vazdz aus, der mit Hilfe seiner Anhänger, unterstützt von Ungeheuern und Zauberern, die Königreiche und Herrschaften des Landes in seine Gewalt bringen will. In dieser angespannten Situation kehrt Sybil Baron nach Tredana zurück, denn das Schicksal verlangt, daß sich eine alte Weissagung erfüllt ... (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 636

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Joyce Ballou Gregorian

Das verschollene Schloß

Roman

Aus dem Amerikanischen von Waltraud Götting

FISCHER Digital

Inhalt

Bibliothek der phantastischen AbenteuerDie HauptpersonenÜber das Spiel ›Das verschollene Schloß‹PrologIIIDer AngriffIIIIIIIVVDie GefangennahmeIIIIIIIVVDas Offene SpielIIIIIIIVVDie BelagerungIIIIIIIVVDas verschollene SchloßIIIIIIIVVEpilog

Bibliothek der phantastischen Abenteuer

Herausgegeben von V.C. Harksen

Die Hauptpersonen

Sibyl (Sibby) Barron

eine Studentin, durch einen Unfall in die Anderswelt Tredana versetzt

Michael Arleon

ihr hartnäckiger Verehrer, später Söldnerführer in Tredana

Mathon

vertriebener und todkranker König von Tredana, jetzt im Exil von Rym Treglad

Leron

sein Sohn, der für ihn regiert

König Ddiskeard

Usurpator von Tredana

Königin Dastra

seine verbrecherische Gemahlin

Dzildzil

selbsternannter Anführer des Wüstenvolks des Karabdu

Ajjibawr

der echte Fürst der Karabdu

Odric

Herrscher in der Stadt Treclere

Bodrum

König von Vahn, Odrics Vater

Liniris

Sibbys Freundin

Tamaris

Sibbys Tochter von Ajjibawr

Vazdz

der grausame Gott des Krieges und des Feuers

ÜBER DAS SPIEL ›Das verschollene Schloß‹

(aus Milectas ARTEN DES ZEITVERTREIBS, MEISTERWERKE DER GESCHICKLICHKEIT UND GLÜCKSSPIELE)

Das althergebrachte, beliebte Spiel »Das verschollene Schloß« verbindet Geschick und Glück. Zwei Parteien, bestehend aus achtzehn Mann, begegnen sich auf einem in einundachtzig Felder eingeteilten Spielbrett. In ihrem Versuch, Das verschollene Schloß zu erreichen, folgen die Spieler einer jahrhundertealten Ordnung. Erstens, der Angriff: bei dem jeder Spieler, in der Hoffnung auf den Vorteil der Überrumpelung, seine Männer so gut wie möglich verteilt. Zweitens, die Gefangennahme: bei der Männer verloren werden und durch Geschicklichkeit und Klugheit Boden gewonnen werden kann. Drittens, das Offene Spiel: eine Zeit der Gefahr, die vom Fall der Würfel bestimmt wird (was man Schicksalswür feln nennt), und in der viele Männer auf dem Außenbrett verloren werden können (was man Naqrafüttern nennt). Viertens, die Belagerung: eine Zeit der Ermattung, die schließlich zum verfallenen Schloß führt. Es sind bestimmte alte Spiele aus dem Besitz von Königen und Prinzen bekannt, die reiche Verzierungen aufweisen. Einige zeigen den Großen Naqra selbst, der sich über das Spielbrett ringelt, während die Kunstfertigkeit, mit der die Figuren aus Schildpatt und Stein geschnitzt sind, auch das wählerischste Auge entzückt. Daß das Spiel aus uralter Zeit stammt, sehen wir bei frühen Geschichtsschreibern wie Skotla, der in seinen Ausführungen das Spiel häufig als Sinnbild für die verschlungenen und verborgenen Wege des Schicksals heranzieht.

Prolog

I

Sibby ging am Fluß spazieren. Sie hatte die Schuhe in der Hand und freute sich über das kurze, abgenutzte Septembergras, das noch fast grün war unter ihren Sohlen. Den ganzen Tag über war es sehr heiß gewesen in Cambridge, aber jetzt in der Dunkelheit, da eine kühle Brise vom Wasser herwehte, fand sie es fast angenehm. Am Himmel stand ein voller, orangefarbener Mond, dessen Spiegelbild im stillen Charles von der sanften Rundung der Weeks-Brücke umrahmt war; Sibby hob die Arme in die Luft, die Schuhe baumelten in ihrer Hand, und sie begann zu singen.

»Ich bat meinen Liebsten, mit mir spazierenzugehn …«

Mike, dessen schwere Stiefel den Boden aufrissen, kam die Böschung heruntergeklettert. »He, Sib, mach schon, sonst kommen wir zu spät.«

»Ein Stückchen spazieren, nur ein Stückchen spazieren …« Sie wies mit ihren Schuhen zum Fluß hin. »Unten am Fluß, wo die Fluten …« Als sie die Zeile beendete, faßte er sie bei der Hand. »Komm schon, Sib, fang nicht an, herumzualbern. Du weißt doch, daß es um acht anfängt. Zieh die Schuhe an.«

Sibby setzte sich gehorsam nieder und band umständlich einen Schuh. Sie hatte die Gelegenheit zu sprechen versäumt. »Sie sprach, ach Liebster, töte mich nicht, ich bin nicht bereit für der Ewigkeit Licht …«

II

Im Innengarten seines Backsteinpalasts wanderte Leron, unfähig, die kühle, blaue Stille des frühen Morgens zu genießen, ruhelos auf und ab. Es war das achte Jahr des Exils im Norden und das zweite Jahr der Trockenheit. In wenigen Stunden würde die Hitze wieder einsetzen, und in der sengenden Sonne würde sich zeigen, wie rissig der Boden und wie verdorrt das Gras war; der sonnige Tag würde sich mit Staub zuziehen und verdüstern. Leron ließ sich schwer auf eine Steinbank fallen und starrte auf den trockenen Grund eines kleinen, verschnörkelten Brunnens. Bald nach dem Morgengrauen würden die Menschen mit ihren Problemen im Palast vorsprechen, und dann mußte er bereit sein.

Das Gesicht in die Hände gestützt, sank er noch tiefer in sich zusammen, und als er gedankenverloren durch die Finger blickte, sah er den Brunnen wieder gefüllt, tief und braun in der Farbe des Spätsommers. Und während er im zunehmenden Licht der aufgehenden Sonne vor sich hin döste, veränderten sich unmerklich Umrisse und Schatten. Er sah im Wasser sein eigenes dunkles Spiegelbild und über seinem Kopf von Lichtstreifen durchzogene kleine Wellen. Der Mond stand noch tiefer, groß und voll, und die Reflexion seines Lichts auf dem Wasser war vom gleichmäßigen Rund eines Brückenbogens durchbrochen. Leron, der jetzt fast eingeschlafen war, beobachtete das Mädchen, das singend am Flußufer spazierenging. Der Mann, der sie unterbrach, war ein Eindringling, und Leron hob erzürnt den Kopf, um ihn fortzuschicken. Diese Bewegung weckte ihn, und als er sich streckte und erhob, zerfiel der Traum in Stücke und zog sich in seine Erinnerung zurück. Er ging ins Haus, um mit seinem Vater, dem alten König, und Dansen, dem Gelehrten, zu frühstücken.

DANSEN DER GELEHRTE

 

Die Geschichte der Könige von Tredana: Mathon Brotgeber

 

Auszug

 

… Prinz Leron und seine Begleiter gelangten sicher zu der Insel im gefrorenen See, wo Dastra von ihrer widernatürlichen Mutter gefangengehalten wurde. Von dort wurde sie durch günstige Fügung gerettet und zu einer der unseren erklärt, und keinem von uns kam es damals in den Sinn, daß die Zeit uns zu erbitterten Feinden machen würde. Doch kurze Zeit später trieben Simirimias Macht und die Gewalten der Natur unser Grüppchen auseinander, Prinz Leron wurde von uns gerissen, und das Kind Sibby und ich blieben in der Wüste zurück. Hauptsächlich dank der überaus großzügigen Hilfe von Ajjibawr, dem Karifen aller Karabdu, gelangten wir in Dastras Begleitung sicher nach Tredana zurück, wo wir Gannoc und Mara, die auf getrenntem Wege unversehrt heimgekehrt waren, freudig begrüßten. Doch der Verlust des Prinzen und unserer anderen Kameraden lastete schwer auf uns. Und hier kann man sehen, wie sorgfältig Ddiskeards Pläne vorbereitet waren, denn er war es, der als erster darauf drängte, Leron für tot zu erklären, um so (wie er sagte) jeden Grund für einen Kampf zwischen Tredana und Treclere aus der Welt zu schaffen. Dem stimmten wir, wenn auch schweren Herzens, zu; doch das Kind Sibby war nicht einverstanden und zog aus, den Prinzen auf eigene Faust zu retten. Sie verließ, glücklichen Umständen zufolge, die Stadt just an dem Tage, als Ddiskeard den ersten Schritt zum Thron hin machte, indem er den König durch Drogen um den Verstand bringen ließ und so die Regentschaft an sich brachte.

Als das Kind im darauffolgenden Herbst zurückkehrte, befand sich der Prinz in seiner Begleitung, und sie brachten die Nachricht von der Vernichtung Simirimias und aller ihrer Werke in Treclere, sowie von der Begründung einer neuen Ordnung durch Odric, den verstoßenen Sohn Bodrums, Herr über Vahn und einstmals treuer Vasall der Mächtigen Königin. Überdies brachten sie die Wahrheit über Sibbys Herkunft mit und enthüllten, daß sie eine Cousine des Prinzen, die Tochter seines Onkels Armon, ist. Der König wurde, wenn auch in beklagenswertem Zustand, aus seiner qualvollen Lage befreit, und wir brachen auf, um neu zu beginnen, wie die folgenden Aufzeichnungen zeigen werden. Auf dieser zweiten Reise in den Norden geschah es, daß das Kind Sibby uns, ebenso plötzlich wie sie gesandt worden war, wieder genommen wurde, unweit der Stelle, an der sie ursprünglich aufgetaucht war.

Der Angriff

I

Die Audienzen hatten den ganzen Vormittag in Anspruch genommen, und als Leron nun mit Mariti durch den Garten ging, fühlte er sich zum erstenmal an diesem Tag entspannt. Er setzte sich auf eine Bank unter einen von der anhaltenden Dürre gezeichneten Baum und spielte gedankenverloren mit den Figuren auf einem Das verschollene Schloß-Brett, das in seinem Schatten aufgestellt war. Die kleine Mariti war den Weg hinuntergelaufen; jetzt kehrte sie, drei blaue Walistas mit hängenden Köpfen in der Hand, zu ihm zurück. »Für dich«, sagte sie stolz. »Von Mariti.« Leron hob sie auf die Knie und begutachtete die welkenden Blüten. »Vielen Dank, mein Liebling. Nie hat ein Herr oder ein Prinz ein wohlgemeinteres Geschenk bekommen.«

Er legte die Blumen zur Seite und nahm einen aus Schildpatt geschnitzten Springer zur Hand. »Wie nennt man das?« fragte er, und Mariti verbarg ihr Gesicht an seinem Arm. »Pferd«, kam undeutlich die Antwort, und Leron drückte sie beifällig an sich. »Fast«, sagte er. »Und das?« Sie lugte zu dem Quarzkönig hin, und ein breites Lächeln überzog ihre Miene. »Mathon!« »Nein, Mathon ist der richtige König. Der hier ist nur aus Stein.« Er stellte die Figuren auf das bemalte Spielbrett zurück, und Mariti benannte fehlerfrei die Türme in den vier Ecken und die Felder, auf die er nacheinander deutete. In dem Ozean, der das Spielfeld umgab, wand sich ein phantasievoll gemaltes Seeungeheuer, dessen Namen zu nennen Mariti sich weigerte. Sie drückte statt dessen das Gesicht wieder fest an Lerons Arm und blickte nicht mehr auf, bis sie die Schritte ihres Vaters auf dem Weg hörte, worauf sie auf die Füße sprang und ihm entgegenlief. Gannoc beugte sich hinunter und hob sie hoch, dann trat er zu Leron und nickte ehrerbietig.

»Ich habe das Mädchen geschickt, Euch zu holen, und als Ihr nicht kamt, war ich sicher, daß Mariti Euch statt dessen in den Garten gelockt hat. Ein Schiff nähert sich dem Hafen und müßte bei Anbruch der Nacht da sein. Es ist ein merkwürdiges Schiff und nicht aus Vahn. Dansen glaubt, daß es vielleicht aus Melismala kommt. Das wäre wahrhaftig ein Schiff, auf das er schon lange wartet.«

»Und auch noch länger warten wird, fürchte ich. Der gute Dansen; ich glaube, er erwartet, daß uns das Seevolk und die geflügelte Gesellschaft ihre Botschafter schicken.« Gannoc strich sich lächelnd über seinen zerzausten Bart.

»Bis wir wissen, ob das Schiff in freundlicher Absicht kommt oder nicht, habe ich Bogenschützen postiert, die im Namen Eures Vaters die Hafeneinfahrt überwachen. Außerdem habe ich Befehl gegeben, daß sich Boote bereithalten sollen, das Schiff in den Hafen zu eskortieren.«

»Gut gemacht. Gannoc, du regelst alles so vorzüglich, daß ich mir ganz überflüssig vorkomme.«

»Herr!«

»Achte nicht auf meine Worte. Ich bin in niedergeschlagener Stimmung. Es wird vorübergehen.«

»Darf ich offen sprechen? Die Niedergeschlagenheit würde vielleicht schneller vergehen, wäret Ihr weniger streng mit Euch selbst. Gibt es hier so viel zu tun, daß Ihr Euch nicht die Zeit nehmen könnt, auszureiten, zu jagen oder des Abends einmal zu tanzen? Wollt Ihr so Eure Jugend vertun?«

»Was soll ich denn machen?« Lerons Stimme war so laut, daß Mariti erschrocken aufblickte. »Wenn die Leute den Weg hierher auf sich nehmen, um sich im Exil niederzulassen, verdienen sie dann nicht ein besseres Los, als es ihnen in Tredana zuteil war? Was würde das für einen Eindruck machen, wenn ich zur Jagd ritte, während die Bauern der Trockenheit ihren Lebensunterhalt abtrotzen?«

»Die Trockenheit ist nicht Eure Schuld.«

»In Tredana herrscht keine Trockenheit: Und daß die Menschen hier sind, ist in gewissem Sinne meine Schuld.«

»Herr, wir sind aus eigenen Stücken hierhergekommen, wie Ihr wohl wißt. Und da wir nun einmal allein im Exil sind, warum haltet Ihr Euch von denen fern, die gern Eure Freunde sein würden?«

»Es sieht dir nicht ähnlich, so ausweichende Reden zu führen. Freunde? Ich nehme an, du meinst eins dieser jungen Mädchen, auf die du und Mara so wenig feinfühlig mein Augenmerk gelenkt habt.«

Gannoc rückte Mariti auf seinem Arm bequemer zurecht und erhob sich. »Vielleicht habt Ihr lange genug gewartet. Ihr müßt Euch doch darüber klar sein, daß sie nicht wiederkommt.« Er räusperte sich. »Dansen hat einen Plan zur Bewässerung entwickelt, schwierig und kostspielig durchzuführen, wie er sagt, aber der Erfolg ist sicher. Er würde Euch gern seine Aufwartung machen, wenn es Euch paßt.«

Leron erhob sich ebenfalls und strich Mariti über die Wange. »Ich werde zu ihm gehen. Er ist in der Bibliothek? Sehr gut – ich sehe dich heute abend im Hafen.« Er schritt rasch zum Palast zurück, und Gannoc folgte ihm, Mariti auf den Schultern, mit einem Kopfschütteln.

In der Bibliothek füllte Dansen die Ränder einer Handschrift sorgsam mit Notizen. Trotz des warmen Wetters trug er sein gewohntes Gewand aus braunem Samt, dessen weite, bestickte Ärmel er zurückgeschoben hatte, um das Pergament nicht zu verschmieren. Ein Windhauch zauste den Haarkranz, der aus seiner kleinen, enganliegenden Kappe hervorschaute. Leron schloß die Tür leise hinter sich und sah Dansen eine Weile zu, bevor er sprach. Dansen sprang erschrocken auf.

»Mein Herr, verzeiht mir. Ich habe Euch nicht hereinkommen gehört.« Leron winkte ab und setzte sich. »Fahr bitte fort. Gannoc hat mir deine Nachricht überbracht. Ist dir etwas Neues eingefallen in bezug auf unseren Wassermangel?«

»Ich habe in diesem Papier, der Abschrift eines Dokuments aus der Regierungsepoche Arleons, die zur Zeit Eures Großvaters entstanden ist, etwas gefunden. Ja, Arleon, mein Herr, ich habe keinen Zweifel am Alter des Dokuments. Wie Ihr wißt, versammelte er in Tredana viele gelehrte Personen, die nach dem Fall Treglads heimatlos waren.«

Leron sah Dansen über die Schulter und betrachtete die Zeichnungen und Beschreibungen vor ihm. »Ich sehe den Tunnel, der von den Bergen herunterführt, aber wie soll er gebaut werden?«

»Es ist schwierig, aber nicht unmöglich. Seht Ihr, hier sind in regelmäßigen Abständen Gruben eingelassen …« Während Dansen auf die Skizze deutete, fiel Lerons Blick auf ein anderes Papier, das in Dansens Handschrift beschrieben und mit geheimnisvollen Kreisen und Linien bemalt war. Er hörte Dansens Bewässerungsplänen mit halbem Ohr zu, dann tippte er auf das andere Blatt. »Ist das ein Teil des Systems?« Dansen zuckte nervös zusammen. »Nein, nein, mein Prinz, bloß ein Experiment. Im Augenblick noch ein Spielzeug, aber später vielleicht einmal eine Waffe.«

»Eine Waffe? Ich sehe weder eine Schneide, noch irgendeinen Mechanismus.«

»Aber das ist ja das Schöne daran! So einfach! Vielleicht funktioniert es allerdings nicht!« Dansen lächelte und deckte das Papier mit seinen anderen Aufzeichnungen zu. »Wenn ich meine Experimente beendet habe, zeige ich es Euch, aber nicht früher. Ich will nicht, daß Ihr mich auslacht. Aber wenn es funktioniert, zeige ich Euch, wie eine Handvoll Sand, mit Hilfe von Feuer zu einem runden Glas geformt, wiederum Feuer erzeugen kann und zwar mit nichts weiter als der Sonne. Sand zu Feuer.«

»Sehr gut, ich werde warten, bis du den Beweis erbringst. Aber du weißt, daß ich dich nicht auslachen würde, Dansen. Ich vertraue deinem Urteil.«

Dansen nahm seine Worte lächelnd und mit einem Nicken auf, doch gleich darauf schüttelte er den Kopf. »Nein, mein Prinz, das tut Ihr nicht. Ihr würdet nicht hier in der Bibliothek sitzen und Euch unterhalten, wenn Ihr daran glauben würdet, daß das Schiff aus Melismala kommt.« »Dansen, ich vertraue deinem Urteil, aber Träumereien sind etwas anderes.«

»Träumereien, mein Prinz? Ich bin ein Mann der Wissenschaft, der Vernunft. Ihr wißt, daß selbst Arbytis Achtung hatte vor Ginas’ Fähigkeiten. Als die Spieler das letzte Mal hier waren, las sie mir die Zukunft, und ich sah ein wahres Bild dessen, was sein wird. Das sind keine Träumereien.«

»Dansen, wie viele Jahre hältst du nun schon Ausschau, um Erlandus’ Geschichten von den Menschen, die am Meeresgrund leben oder sich mit Flügeln in die Lüfte schwingen, zu bestätigen? Ist es nicht möglich, daß das Bild nicht gezeigt hat, was sein wird, sondern was nach deinem Wunsch sein soll? Als wir vor neun Jahren unsere Reise antraten, hattest du Gannoc und mir den Kopf so mit Geschichten gefüllt, daß wir die kleine Sibby für eine Art Fremdwesen hielten, als wir sie am Strand fanden.« Er lachte wehmütig. »Vielleicht hast du recht. Erhalte dir deinen Glauben. Ich werde nicht mehr lachen. Vielleicht kommt das Schiff aus dem fernen Land wirklich zuletzt zu uns gesegelt.« Leron erhob sich. »Wie dem auch sei, wir sehen uns heute abend am Hafen. Solltest du mich vorher brauchen, ich bin bei meinem Vater.«

 

Am Abend stand Leron mit Gannoc und ein paar bewaffneten Männern auf einer kleinen Landzunge, die den Hafen überblickte. Wenige Minuten später trat Dansen zu ihnen, gefolgt von einem jungen Schreiber, für den Fall, daß sich etwas Bemerkenswertes ereignen würde.

Leron hatte seinen Vater überredet, im Palast zu bleiben, denn Mathon hatte sich nie richtig von den Qualen erholt, die ihm der Usurpator Ddiskeard mit Hilfe seiner Ärzte angetan hatte, und die Jahre des Exils waren gekennzeichnet von einem zunehmenden Kräfteverfall.

Sie beobachteten das Schiff, das im blauen Zwielicht des Sommers klar funkelte. Meer und Himmel bildeten einen makellosen Hintergrund für sein großes weißes Segel. Es war ein langes, tief im Wasser liegendes Schiff, das rundum mit flackernden Laternen behängt war. Wie Gannoc gesagt hatte, unterschied es sich deutlich von den Schiffen aus Vahn mit ihrem hochgezogenen Heck und fuhr in flacherem Gewässer. Es kam nah ans Ufer heran, bevor der Anker geworfen wurde. Die Begleitboote näherten sich ohne Zwischenfälle, und schon bald kehrten die ersten mit den Besuchern an Bord zurück.

Gannoc ging langsam zum Wasser hinunter, kehrte aber gleich darauf eilends und außer Atem zurück. Bevor er Leron Bericht erstattete, wandte er sich mit einer tiefen Verneigung und einer Miene, in der sich die gutgelaunte Bitte um Verzeihung ausdrückte, an Dansen. »Dansen, nimm mich als Narren in deine Geschichte auf. Dieses Schiff kommt geradewegs aus Apadan, der Hauptstadt von Melismala, und es bringt uns eine Friedensbotschaft vom dortigen Rat.«

Leron zog eine Augenbraue hoch und warf Dansen einen Blick zu. »Mein Lieber, ich werde mich ein anderes Mal bei dir entschuldigen. Im Augenblick scheint es dienlicher, die Gäste zu begrüßen.«

Auf der kleinen Hafenmole stand das erste Grüppchen, das an Land gegangen war, mit stolz erhobenen Köpfen. In der zunehmenden Dunkelheit waren sie nur undeutlich zu sehen, doch Leron konnte Gesichter mit ausgeprägten Zügen, dunklen Haaren und heller Haut erkennen. Ihr Anführer war ein Mann in mittleren Jahren namens Talyas, der seine Begleiter sogleich in korrekter, aber von einem leichten Akzent gefärbter Sprache vorstellte. Leron begrüßte die Ankömmlinge im Namen des Friedens und führte sie in die Stadt zurück.

Im hohen Audienzsaal des Palastes bot Leron seinen Gästen Platz, und Gannoc entfernte sich, um Erfrischungen zu besorgen. Dansen setzte sich an seinen eigenen Tisch bei Lerons Stuhl, Feder und Pergament bereit, den Kopf aufmerksam schiefgelegt. Talyas trat vor und deutete auf seinen Begleiter, den ein Kapuzenumhang fast vollständig verhüllte. »Hier«, sagte er, »sicher vor den Blicken der Unwissenden und Neugierigen, stelle ich Euch eine Abgesandte des alten Volkes der Dylalyr, vor. Zwischen unseren Rassen herrscht seit jeher Freundschaft, und unser Blut hat sich über zahllose Generationen hinweg vermischt. Arrod wird für ihr Volk sprechen, so wie ich für das meine.«

Arrod warf mit einer unwilligen Bewegung den Umhang zurück, so daß er zu Boden glitt und in Falten um ihre schmalen Füße lag; Dansen sog hörbar die Luft ein und erhob sich halb vom Tisch: denn die Dylalyr waren das Seevolk, über das der große Gelehrte Erlandus vor vielen Jahren geschrieben hatte. Arrods hochmütige Augen waren direkt auf Leron gerichtet, während sie so vollkommen nackt da stand, ihr Körper weißer als Milch oder Marmor und unverkennbar der einer Frau, wenn auch weniger entwickelt als der eines zwölfjährigen Menschenkindes. Das Haar, das ihr auf die Schultern herabfiel, war von so tiefdunklem Grün, daß es fast schwarz wirkte, ebenso wie die Augen: die einzigen Male auf ihrer makellos glatten Haut waren eine grüne Linie auf den Schultern, wo der Saum ihres Leinenumhangs zu schwer aufgelegen hatte, und die dünnen Schlitze am Halsansatz, die mit jedem Atemzug bebten. Leron nickte ehrerbietig, sein Puls raste.

»Prinzessin, Ihr seid willkommen. Ich habe nicht geglaubt, daß ich je einen Vertreter Eures edlen, alten Volkes mit eigenen Augen sehen würde.«

Arrod erwiderte sein Nicken mit anmutiger Würde, und ihre farblosen Lippen verzogen sich zu einem leisen, lieblichen Lächeln. »Wir sind froh, daß wir angekommen sind, obwohl wir den Grund, der uns hierhergetrieben hat, bedauern.« Sie warf Talyas einen Blick zu. »Aber darüber reden wir später.« Talyas nickte.

Während sie noch sprach, kam Gannoc, von Küchendienern gefolgt, herein, und der Tisch wurde mit den verschiedensten Köstlichkeiten überhäuft. Gannoc zuckte bei Arrods Anblick zusammen, beherrschte aber seine Züge und sagte einem der Diener etwas ins Ohr. Im Nu kehrte der Mann mit einer Platte frischgefangener Fische zurück, die so geschickt angeordnet waren, als sei roher Fisch die gewohnte Speise in Treglad. Die Platte wurde zu den anderen gestellt, und Arrod lächelte, als sie es sah, und machte eine kleine erfreute Handbewegung. Leron konnte Dansens flehender Miene nicht mehr widerstehen und führte ihn, indem er ihn am Ärmel faßte, zu Arrod hinüber, die die kleinen Fische anmutig und mit augenscheinlichem Genuß ganz verzehrte.

»Herrin«, sagte er, »erlaubt mir, daß ich Euch den gelehrtesten Mann unseres Reiches vorstelle, einen Mann, der meinem Herzen nahesteht. Er hat sich lange Zeit eingehend mit Eurem Volk beschäftigt, und ich weiß, daß er sich nichts sehnlicher wünscht, als mit Euch zu sprechen.« Arrods Blick wanderte von Leron zu Dansen, den sie mit kühler Freundlichkeit betrachtete. »Es ist mir ein Vergnügen, mit Euch zu sprechen«, sagte sie. »Was wollt Ihr von uns wissen?« Dansen öffnete den Mund, um zu sprechen, aber er brachte keinen Ton heraus: wahrscheinlich zum erstenmal in seinem Leben hatte es ihm vollkommen die Sprache verschlagen.

Die Neuigkeiten, die die Abordnung brachte, gaben Leron einiges zu denken. Jenseits des Meeres hatten Vazdz’ Anhänger, ebenso wie auf dem Kontinent, an Macht gewonnen, und zahlreiche Länder hatten einen Umsturz der alten Herrschaftsformen erlebt. Zuerst berichtete Leron den Gesandten aus Melismala von der Errichtung der Ränkeherrschaft in seiner eigenen Stadt Tredana und in der Wüste unter den Karabdu und darüber, daß sein Freund Odric in Treclere durch die Entfernung und eine feindliche Streitmacht von jedem vernünftigen Bündnis abgeschnitten war. Die Melismalaner hörten ihn mit ernster Miene an, und schließlich ergriff Talyas für sie das Wort und erklärte, daß ihre eigene Geschichte in engerer Verbindung mit dem Festland stand, als sie angenommen hatten.

Während Talyas sprach, machte sich Dansen eifrig Notizen. »Unsere Heimat ist eine Gruppe dicht beieinanderliegender Inseln mit zahlreichen hübschen Häfen und kleinen Buchten, und das Klima ist das ganze Jahr über mild. Das Leben entwickelte sich bei uns mit unbeschwerter Freude, und seit altersher haben sich die Seewesen nicht gefürchtet, aus dem Wasser zu uns heraufzusteigen und sich von Zeit zu Zeit mit den schwerfälligen Menschen an Land zu vermischen. Einige von uns, vielleicht die Unternehmungslustigeren, bauten vor langer Zeit Boote und machten sich damit auf die Suche nach Abenteuern. Viele von ihnen gingen auf der großen Insel Paradon, fünfhundert oder mehr Meilen genau nördlich von uns, an Land. Auf Paradon fanden sie weniger freundliche Bedingungen vor, es war dort rauher und unwirtlicher, und sie bauten Städte, und die Gruppen bekämpften sich untereinander. Einen Teil der Insel konnten sie nie für sich urbar machen, einen Landstrich, der unter Nebelschleiern und Rätselhaftigkeit verborgen war, und an diesen Ort kam Vazdz vor nunmehr etwa dreitausend Jahren, als er feststellte, daß das Festland seinen Absichten nicht wohlgesonnen war. Er brachte das Gebiet, das wir Inivin nennen, in seine Gewalt, seine Macht wuchs, und von Zeit zu Zeit sandte er seine Diener, die Moraganas, aus, die Menschen in Angst und Schrecken zu versetzen und sie zu unterwerfen. Damals begannen die Bewohner von Paradon, ihn anzubeten, anfangs aus Furcht, später, weil sie Gefallen daran fanden. Und so gedieh Vazdz in seinem Königreich Inivin bis zu jenem Tag vor tausend Jahren, als die Zweifaltige Göttin gespalten wurde und die Göttin Simirimia Vazdz anrief, die Macht wieder zu ergreifen und gemeinsam mit ihr die Göttin Rianna und alle, die im Tempel Ornat ihre Gebetsstätte hatten, zu vernichten. Seit jener Zeit ist er Jahr um Jahr ein wenig mächtiger geworden, und heute beten ihn nicht nur die drei tyrannischen Herrscher des Festlandes an, wie Ihr berichtet habt, sondern auch die sieben grausamen Kriegsfürsten von Paradon. Was er hier anrichtet, habt Ihr uns gesagt, was er uns antut, werden wir gleich erzählen.

Wir Melismalaner waren berühmt für unseren Honig: Vazdz hat die Bienen fortgelockt, und sie kehren nicht mehr wieder und umschwärmen unsere Insel. Wir Melismalaner waren berühmt für unseren Wein: Vazdz hat die Trauben vertrocknen lassen, so daß sie hart und grün und zu nichts mehr zu gebrauchen sind. Wir Melismalaner waren berühmt für unser Öl: aber jetzt trägt der zählebige Olivenbaum keine Blüten mehr. Jedes Jahr kommen sie von Paradon herüber, brandschatzen unsere Dörfer und verwüsten unsere Felder. Und wenn sie uns ausgeplündert haben, schicken sie Gesandte mit der Botschaft: ›Erkennt Vazdz an, schließt euch uns an, dann erobern wir die ganze Welt.‹ Aber wir wollen die Welt nicht erobern; wir wollen nichts weiter, als in Frieden zu leben.«

Als Talyas geendet hatte, erhob sich Arrod und stellte sich neben ihn. Ihre leicht gewölbten Brüste hoben und senkten sich vor Erregung, und die schmalen Schlitze an ihrer Kehle bebten vor Zorn und Verzweiflung. »Es ist so, wie Talyas berichtet, denn ich habe mit eigenen Augen gesehen, was in jedem Frühjahr geschieht: sie kommen von Paradon gesegelt, um die Küsten von Melismala zu zerstören. In Vazdz’ Namen führen sie auch gegen uns, die Dylalyr, und gegen unsere Diener und Freunde, die Mahiva, die Fische, die atmen, Krieg. Von ihren Schiffen aus werfen sie mit Speeren nach den Mahiva, wenn sie spielen, und kein Mitleid gebietet ihnen Einhalt: wenn es das Unglück will, daß ihnen einer der unseren in die Hände fällt, dann peinigen sie ihn aufs grausamste, bis ihn der gnädige Tod ereilt, denn Vazdz hat ihnen, wie sie sagen, erklärt, die Dylalyr seien keine Menschen und müßten wie Tiere behandelt werden. Das hat er ihnen gesagt, weil er weiß, daß ein so altes Volk wie wir nie dazu verführt werden kann, ihn anzubeten. Ich habe selbst gesehen, was sie mit uns tun, denn mein eigener Bruder ist ein Opfer ihrer Grausamkeiten geworden. Sie überwältigten ihn, als er im Mondschein am Strand lag und schlief. Sie stachen ihn mit ihren Dolchen, um zu sehen, welche Farbe sein Blut hat, und peinigten ihn mit Feuer, um herauszufinden, ob er schreien würde; und als er schließlich starb, lachten sie und rätselten herum, ob er schnell verfaulen würde wie ein Fisch.«

Während sie sprach, zitterten ihre Lippen, und sie preßte die Hand auf ihren pulsierenden Hals. »Darum haben wir allen, die Vazdz anhängen, unerbittliche Feindschaft geschworen, und wir werden uns ihm und seinen Anhängern widersetzen, sei es allein oder gemeinsam mit Euren Leuten, wenn Ihr Euch dazu entschließt.« Sie war nicht allein mit ihrer Gefühlsregung, als sie diese Worte sprach: Leron sah, daß Dansens Hand beim Schreiben stockte und sein Mund voller Entrüstung zusammengepreßt war.

 

Noch in derselben Nacht rief Leron Dansen und Gannoc zu sich und bat sie, freiheraus zu sagen, was sie von der Sache hielten. Dansen hielt seinen Becher locker in der Hand und starrte in die blutrote Flüssigkeit darin; Gannoc stellte seinen beiseite und sagte mit lebhafter Stimme: »Herr, es kann keine Frage sein, daß den Melismalanern unser uneingeschränktes Wohlwollen gehört. Ihre Ziele und unsere Ziele, sowie die unserer Verbündeten, stehen allesamt den Plänen Vazdz’ und seiner Anhänger im Wege. Es geht hier nicht um die Beweggründe. Das Geheimnis liegt im Wie, nicht im Warum, und da sind wir ratlos. Wie können Menschen, selbst Könige, ja, ein ganzes Bündnis von Königen, einen Gott vernichten?«

Leron seufzte. »Dieser Krieg, wenn es zum Krieg kommen sollte, wird keiner sein, den man mit Flaggen und Markierungen abstecken kann. Ein günstig gefallener Würfel kann uns den Sieg ebensogut bringen wie irgendeine Streitmacht.«

Dansen sah die beiden nachdenklich an. »Denkt noch einmal nach, mein Prinz. Es sind Vazdz’ Waffen, vielmehr die seiner Verbündeten, die uns Sorgen bereiten. Seine größte Macht liegt in den Menschen, nicht in Dämonenwesen. Wir dürfen die Moraganas oder auch den Naqra nicht außer acht lassen, aber wir sollten uns durch sie auch nicht allzusehr beunruhigen lassen.«

Gannoc blickte auf. »Was weißt du von den Moraganas? Ich habe ihren Namen heute zum erstenmal gehört.«

Leron nickte. »Ich ebenfalls.«

Dansen lächelte. »Ich hatte Angst, ihr würdet alle meine Ratschläge als Phantastereien in den Wind schlagen, wenn ich sie erwähnen würde. Welche Aussichten hatte ich, euch die Moraganas zu erklären, da ihr nicht einmal an die Dylalyr glaubtet?«

»Friede, Dansen.« Leron hob verzeihungheischend die Hände. »Vergib uns. Wir werden nie wieder zweifeln.«

»Ich werde Euch beim Wort nehmen. Also gut. In meinen Schriften ist tatsächlich die Rede von den Moraganas, und ohne allzu leichtgläubig oder kleinherzig scheinen zu wollen, muß ich sagen, daß sich in mir immer stärker die Befürchtung regt, daß die Trockenheit, unter der wir gegenwärtig leiden, ihr Werk ist. Die Hitze ist ihre schärfste Waffe. Sie gehören zu den ältesten Dienern Vazdz’, gewaltige Vogelwesen mit bronzenen Leibern und kupfernen Flügeln. Sie stoßen nur zu, um anzugreifen, und sie greifen nur an, um zu töten. Wo sie sind, ist die Erde verdorrt, es wächst nichts mehr, und kein Wasser fließt: Sie bringen Hitze, Fäulnis und entsetzliche Verheerung, und sie streifen so frei durch die Lüfte, wie der Große Naqra das Meer beherrscht.«

Leron schüttelte den Kopf. »Heute ist ein Tag, der an den Grenzen unserer Glaubensbereitschaft gerüttelt hat. Die Dylalyr kommen aus Melismala, die Luft ist erfüllt von Bronze- und Kupferungeheuern, und jetzt kommt auch noch der Naqra aus unseren Kindheitsängsten geschwommen, um uns zu bedrohen. Ich habe beim Spiel Das verschollene Schloß oftmals die Würfel gerollt und einen Mann an den Naqra verloren, aber es wäre mir nie in den Sinn gekommen, daß er sein Opfer einmal leibhaftig fordern könnte. Vielleicht kommen unsere nächsten Besucher aus Zanida, wo es keine Sonne geben soll und wo die Menschen angeblich schwarz sind und nichts als Eis und Schnee essen.«

Gannoc lachte, aber Dansen schüttelte den Kopf. »In den meisten dieser alten Legenden steckt ein Quentchen Wahrheit; wenn man nur wüßte, wo man danach suchen sollte. Ich hoffe nur, daß die Legende die monströsen Diener Vazdz’ schlimmer gemacht hat, als sie es in Wirklichkeit sind.« Mit leiser Stimme deklamierte er:

»Wasserjäger, Panzerträger,

Läufer auf dem Meeressand, heimlicher Wanderer an Land,

Kiemen und Füße, Zähne, Schwingen,

Nenn mir den einen, der alles hat von diesen Dingen.«

Leron unterbrach ihn lebhaft. »Laßt uns also die Ungeheuer den Spielen und Kinderliedern überlassen und hoffen, daß sie uns nicht behelligen. Wie sieht es mit dem militärischen Gesichtspunkt aus? Ich liebe Odric wie einen Bruder und könnte mich mit ihm verbünden, wenn nicht das kleine Hindernis der Entfernung und der feindlichen Streitkräfte zwischen uns wäre. Wir können uns gegenseitig keine Hilfe bieten.«

»Im Augenblick vielleicht nicht, aber wenn Ihr eine Seeflotte hättet, und er könnte eine Hafenstadt nördlich von Vahanavat erobern, sähe es schon viel günstiger aus.«

»Das ist wahr. Aber ich glaube nicht, daß wir mit unseren Schiffen so weit segeln können, und wir haben nicht das nötige Holz, um größere zu bauen.« »Mein Prinz, Ihr setzt mich in Erstaunen!« Dansen stieß die Worte ungeduldig hervor, und Leron fühlte sich um zehn Jahre zurückversetzt in seine Jahre als Dansens Schüler. »Die Schiffe gibt es bereits, nämlich die der Kaufleute und Sklavenhändler von Vahn. Sie müssen nur in unseren Besitz gebracht werden. Ein solches Unternehmen müßte meiner Meinung nach ganz nach Clerowans Geschmack und Können sein. Laßt Euch durch ihn und seine Bande die Flotte besorgen. Durch Herrard sendet Ihr, wenn er das nächste Mal kommt, eine Nachricht an Odric und erklärt ihm Euren Plan. Dann könnt Ihr Bodrum in seiner Stadt besiegen, heimlich Männer im großen Wüstenhafen an Land gehen lassen und sogar bis nach Melismala segeln und den guten Leuten dort helfen. Ich hatte nicht gedacht, daß Ihr so einfallslos sein könntet.«

Leron grübelte eine Weile nach und schwenkte den Wein in seinem Becher, bis er überschwappte und auf den Rand seines Ärmels floß. Er betrachtete den mattroten Fleck, der in das grobe Leinengewebe einsickerte, und begann endlich zu sprechen. »Dansen beschämt mich mit der Breite seiner Vorstellungskraft. In den vergangenen Monaten haben sich meine Sorgen zu sehr auf diese Stadt allein beschränkt. Dennoch halte ich es im Augenblick für das beste, den Melismalanern und dem Seevolk keine Hilfe zu versprechen. Ruhig, Dansen. Aber wir werden ihnen zusagen, daß wir ihnen, wenn wir über Schiffe verfügen, eines zu Hilfe schicken werden. Denn ohne Schiffe können wir wahrhaftig die Welt versprechen und sind nicht einmal in der Lage, eine Handvoll Staub zu geben. Das Kapern von Schiffen müßte sicherlich in Clerowans Macht stehen und ihm Vergnügen bereiten.« Die beiden anderen erklärten sich einverstanden und zogen sich bald darauf in ihre Gemächer zurück.

Am nächsten Morgen frühstückte Leron mit seinem Vater und Dansen, der es sich zur Gewohnheit gemacht hatte, dem alten König, während er aß, Geschichten und Gedichte aus den frühen Zeiten von Tredana oder den letzten Tagen des alten Treglad vorzulesen. Als Dansen las, belebten die Bilder einen Traum in Lerons Erinnerung, und sein Blick wanderte über die gebeugten Schultern seines Vaters hinweg zur Fensterbrüstung, die von der Sonne beschienen war.

Er hatte im Traum einen Fluß im Mondlicht gesehen. Zu beiden Seiten schwarze Bauwerke von phantastischer Höhe und Gedrängtheit, von tausend winzigen Lichtern erleuchtet. Sibby hatte, ihre Schuhe in der Hand, am Flußufer gestanden und gesungen, und er hatte sie beobachtet und sich ihr so nah gefühlt, daß er sie berühren zu können glaubte. Aber sie hatte sich abgewandt, und er konnte ihr nicht folgen; der Wunsch, sie aufzuhalten und zum Reden zu bringen, war von so verzweifelter Dringlichkeit, daß Leron erschrak.

 

»Verflucht schön!« rief Mathon aus. Der alte König wischte sich lebhaft den Mund und den weißen Bart ab und schlug auf den Tisch, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. »Verflucht schönes Gedicht. Fast wie in alten Zeiten, was? Dansen, ich will verdammt sein, wenn ich je einen Menschen gesehen habe, der so viel aus diesen alten Geschichten machen kann. Lies uns den Kehrreim noch einmal vor. Du weißt schon, ›Korallenmauern, di-dum, di-dum‹.«

Dansen kehrte pflichtschuldig zu der genannten Stelle zurück, und Mathon lauschte mit zur Seite geneigtem Kopf. Sein Bart hob und senkte sich auf seiner massigen Brust, die sich, gemeinsam mit seinen Händen, im Rhythmus der Verse bewegte. Leron betrachtete seinen Vater liebevoll, und als Dansen am Ende angelangt war, erkundigte er sich arglos: »Gibt es nicht Verse, die von den Dylalyr handeln? Du solltest uns einen davon vorlesen, denn mein Vater trifft heute mit den Abgesandten zusammen, so daß es überaus passend wäre.«

Dansen errötete. »Es gibt tatsächlich Verse, deren Richtigkeit sich durch die jüngsten Ereignisse aufs glücklichste bestätigt haben. Hier ist ein von Brydeni übersetzter, auf den ich heute nacht gestoßen bin, ein Heldengedicht über die Kriegskunst in den alten Tagen, als die Dylalyr noch hitziger waren als heutzutage.«

Während Dansen las, betrachtete Leron ihn eingehend und bemerkte die wechselnden Gefühle in seiner Miene. Er hatte sich nie Gedanken darüber gemacht, in welchem Alter Dansen sein mochte, aber jetzt fiel ihm auf, daß er gerade erst in die mittleren Jahre gekommen und in Herzensangelegenheiten noch überaus empfänglich war. Als Dansen geendet hatte, erhob sich Leron, ergriff die Hand seines Vaters und drückte sie kurz an die Lippen. »Ihr müßt mich jetzt entschuldigen. Ich habe Mariti eine Stunde im Garten versprochen. Ich sehe euch beide zur vereinbarten Stunde im Ratssaal.« Während er die Tür hinter sich schloß, hörte er Dansen, der erneut ›Korallenmauern …‹ deklamierte. Mathons tiefere Stimme fiel in das Gedicht ein.

 

Aus den PROPHEZEIUNGEN DER ZANIDAIausgesprochen von Shirkah, König von Zanida, in dem Jahr, in dem er von seinem Bruder Gorga hinterhältig gefangengenommen und in Ketten nach Vahn geschickt wurde.

Der Falsche König am Östlichen Meer

wird finden den Wahren König an seiner Tür

Der Falsche König im Süden wird sicher sein

bis er vom Wahren König umworben wird zum Schein

Der Falsche König im Norden sich Herrscher heißt

bis der Wahre König seine Ketten zerreißt

Der Falsche König im Westen befiehlt

bis der Wahre König den Narren spielt

Mit dem Falschen König der Vogelfrei’n

wird die Lüge wieder Wahrheit sein.

II

Vier Tage, bevor es Zeit für die Gesandten aus Melismala wurde, in ihre Heimat zurückzukehren, wanderte Leron, unfähig zu schlafen, auf den Hügel vor der Stadt und blickte auf die kleine, von Dansen so wunderbar geplante Ansiedlung hinunter. So früh am Morgen war alles still. Doch dann fiel sein Blick auf eine Gestalt, die vom Hafen heraufkam, und als sich der Mann näherte, erkannte er, daß es Dansen war. Das Gesicht des Gelehrten war vom Schlafmangel blaß, und er hatte dunkle Schatten unter den Augen, aber seine Miene war von träumerischem Entzücken gezeichnet, und der Saum seines Gewandes naß vom Meerwasser. Hinter ihm im Hafen sah Leron etwas Weißes in den bewegten grünen Wellen aufblitzen. Er betrachtete die langsam voranschreitende Gestalt Dansens, der ihn bereits dauerte wegen der bevorstehenden Trennung.

Doch bald darauf wurden diese Überlegungen in den Hintergrund gedrängt. Als Leron in den Palast zurückkehrte, trat Gannoc zu ihm und berichtete, daß Herrard in großer Eile mit Nachrichten eingetroffen war. »Er war zu hungrig, um Eure Rückkehr abzuwarten, und steht Euch jetzt im kleinen Speisesaal zur Verfügung.«

Herrard machte Anstalten, sich zu erheben, als sie den Raum betraten, doch Leron winkte ihm, sitzenzubleiben. Der Neuankömmling war ein großer, kräftiger Mann, und das Mahl, das Gannoc ihm vorgesetzt hatte, wäre für zwei Menschen von weniger ungewöhnlichen Ausmaßen zu reichlich gewesen. Wenn auch seine Kleidung Spuren der Reise und ihrer Strapazen aufwies, so sah er selbst doch wie gewöhnlich munter und ausgeruht aus; Dansen leistete ihm bereits beim Frühstücken Gesellschaft.

Während sie ihr Mahl beendeten, überflog Leron die offiziellen Botschaften von Odric in Treclere. Dann bat Leron Herrard, der seine vom langen Reiten steif gewordenen Beine ausstreckte und es sich im Sessel bequemer machte, um weitere Einzelheiten. »Wie geht es in Treclere? Sind die Leute noch zufrieden mit dem von ihnen gewählten Herrn?«

»Im großen und ganzen ja. Die Stadt ist stark, und es herrscht fröhliche Stimmung. Dann und wann werden Spitzel entdeckt, die zweifellos in Bodrums Sold stehen, und mit ihnen verfährt Odric stets zu gütig, indem er sie mit barschen Botschaften nach Vahn zurückschickt. Ihr wißt ja, daß Bodrum sich strikt weigert, Odric als seinen Sohn anzuerkennen; nun, in dieser Hinsicht gibt es eine interessante neue Entwicklung, die in dem Brief nicht erwähnt ist.« Er lächelte spöttisch und machte eine wirkungsvolle Pause. »Wie Ihr wißt, führt Odric ein wenig das Leben eines Gesetzlosen; und wenn ich ihn besuche, reiten wir hin und wieder zum Vergnügen zu den unterschiedlichsten Unternehmungen aus. Vor etwa sechs Monaten überfielen wir eine Handelskarawane, nahmen die Männer gefangen und konfiszierten die Waren. Stellt Euch unser Erstaunen vor, als wir merkten, daß es sich bei zwei jungen Männern in Gesellenkleidern um Kerys und Varys, die beiden Prinzen von Vahn, handelte. Ihr seid ihnen, glaube ich, in Mindo’ila begegnet, als sie noch Kinder waren. Sie waren im Begriff, auf den Befehl ihres Vaters hin nach Vahanavat zurückzukehren. Odric hätte sie weiterziehen lassen, aber nein, sie hatten Gefallen gefunden an dem Abenteuer, und der Gedanke, das Hofleben wieder aufzunehmen, erschien ihnen trostlos. Also drohten sie Odric, gewisse Geheimnisse auszuplaudern, sollte er sie zurückschicken. Sie wußten natürlich ganz genau, daß er sie zu sehr liebt, um ihnen Kummer zu bereiten, und so weilen sie immer noch in Treclere. Es geht das Gerücht, daß Bodrum sie aus Angst vor Verrat bereits für tot erklärt hat.«

Leron senkte den Blick wieder auf Odrics Brief. »Er erwähnt nur Getreide. Ich wünschte, wir könnten Handel treiben. Wir werden hier eine kümmerliche Ernte haben: ich fürchte, noch ein Winter nur mit Kaninchen und Fischen, und wir haben noch mehr Krankheiten und Kräfteverlust als im letzten Jahr.«

Herrard nickte. »Als ich heute morgen in die Stadt kam, wurde ich von einem Strolch begrüßt, der mir riet, nur im Norden zu bleiben, wenn ich mir das Essen abgewöhnt hätte, andernfalls wäre es besser, ich würde zu Hause bleiben. Er sprach wie ein Landstreicher.«

»Das müßte Alwyn gewesen sein. In Sundrat wurden ihm wegen Aufwiegelei die Ohren abgeschnitten, und er sagt, als nächstes wäre seine Hand drangewesen. Da ihm das sein Gewerbe im Süden, nämlich die Taschenräuberei, unmöglich gemacht hätte, geht er lieber hier einer ehrlichen Arbeit nach. Was lese ich da von einer Flotte?«

»Odric hat vor ein paar Monaten ein Schiff erobert, das jetzt in einem leicht zu verteidigenden Hafen im Norden liegt. Es war ein Sklavenschiff, das angelegt hatte, um Wasser aufzunehmen, und wie es der Zufall wollte, befand sich Odric mit einigen Männern ganz in der Nähe in den Bergen. Einem seiner Männer gelang es, sich zu den Gefangenen zu schleichen, und mit ihrer Hilfe brachten sie das Schiff in ihre Gewalt. Es ist von ansehnlicher Breite und fast dreißig Meter lang.«

»Dann hat Treclere also das erste Schiff. Das fügt sich gut in unsere Hoffnungen und Pläne. Was ist mit den Sklaven?«

»Sie sind froh über die gewonnene Freiheit und haben sich in Treclere niedergelassen. Drei von ihnen stammen aus Zanida und gerieten dort in Bürgerkriegszeiten in Gefangenschaft: ihre Haut ist von so dunklem Braun, daß sie schwarz wirkt.«

Dansen blickte neugierig auf. »Sind sie wirklich so dunkel? Erlandus ist sehr unbestimmt in seinen Beschreibungen.«

»Sie unterscheiden sich von uns wie ein Rappe vom Rotfuchs, und sie bringen es fertig, in einem eisbedeckten Land zu leben, in dem jede weniger geschickte Rasse dem Untergang geweiht wäre. Es gibt dort kein Holz, sondern sie bauen riesige Hallen aus Eis und kleiden sich in Tierfelle; die Kälte ist so groß, daß die Wände der Hallen gefroren bleiben, auch wenn sie darin ein Feuer entfachen. Trotz der Unwirtlichkeit ihres Landes sind sie ein gebildetes Volk und berühmt für ihre Fertigkeiten und Zauberkräfte; ich hoffe, daß ich mehr über ihre Geschichte erfahre, wenn ich nach Treclere zurückkehre. Ihr Land hat kürzlich ein ähnliches Schicksal erlitten wie das unsere, denn der rechtmäßige König ist von seinem Bruder hintergangen und in Ketten, die durch Zauberkraft unzerreißbar gemacht wurden, nach Vahn in die Gefangenschaft geschickt worden. Die drei Männer aus Zanida wagen es nicht, zurückzukehren, solange Gorga anstelle ihres wahren Königs Shirkah an der Macht ist. Und nun berichtet mir von Euren Seefahrerplänen.«

»Wir hatten die Absicht, Odric zu raten, sich um einen Hafen und, wenn möglich, ein Schiff zu bemühen. Außerdem wollten wir Clerowan nahelegen, für uns zum Piraten zu werden und einige ausgewählte Schiffe aus der Flotte von Vahn in seine Gewalt zu bringen, so daß wir eine Seemacht wären.«

»Ich glaube, in diesem Punkt ist Euch Clerowan ebenso zuvorgekommen wie Odric. Ich habe von den Spielern gehört, daß er auf dem Wasserwege nach Rym Treglad zu kommen gedenkt und daß er sich gegenwärtig in Sundrat ein Schiff besorgt, das seinen Anforderungen genügt.«

»Wahrhaftig? Dann hat er unsere Gedanken gelesen. Als er das letzte Mal hier auftauchte, brachte er uns zwanzig Pferde aus den Stallungen bei Sundrat, die einst meinem Vater gehörten, mit. Er sprach lediglich von Überfällen zu Pferde und unbedeutenden Scharmützeln mit Ddiskeards Männern, die er der Lächerlichkeit preisgab.«

Herrard lachte. »Er hat sich offenbar nicht sehr verändert. Ich habe eine Botschaft für ihn, die ich Euch hierlassen werde, für den Fall, daß er bald, wie beabsichtigt, mit dem Schiff eintrifft. Adaba Tayyib, ein mächtiger Häuptling der Karabdu, der sich in einer Aufwallung von Leidenschaft vom früheren Karifen lossagte, hat nunmehr dem Heiligen Vorleser Dzildzil den Rücken gekehrt. Er hat sich wegen seiner Raubzüge mit Dzildzil überworfen, denn ihm wurde der Befehl übermittelt, den Vertrag zwischen Vahn und den Wüstengebieten einzuhalten und Bodrums Untertanen höflich zu behandeln. Der Tayyib war der Meinung, daß er Dzildzils Befehl befolgte, wenn er auf höfliche Weise Zoll einforderte, statt die Leute unumwunden auszurauben. Der Heilige Vorleser war anderer Meinung. Der Tayyib war natürlich schon immer ein Halunke, aber der frühere Karif wußte mit ihm umzugehen.«

»Und dieser Tayyib schickt Clerowan eine Botschaft?«

»Ja, er bietet ihm eine Erneuerung der Freundschaft an. Ich werde sie Euch, wie gesagt, hierlassen.«

»Ich frage mich, wie er es aufnehmen wird.«

Herrard zuckte die Achseln. »Dazu kann ich nichts sagen. Ich bin nur der Überbringer. Und ich überbringe auch eine weitere Botschaft für Euch, mein Prinz, eine Botschaft, die dringlich und nur für Eure Ohren bestimmt ist.« Er warf Gannoc und Dansen einen Blick zu, und die beiden Männer entfernten sich. »Sie kommt von Ginas.« Leron sah ihn fragend an. »Vor ein paar Wochen«, begann Herrard, »begegnete ich auf meinem Weg von Treclere hierher zufällig den Spielern, die unterwegs waren nach Sundrat und Tredana, wo sie eine Saison lang auftreten wollen. Ginas war höchst erfreut, mich zu sehen, denn sie war im Begriff gewesen, einen Boten zu Euch zu schicken, und wußte, daß ich schneller und zuverlässiger hierhergelangen würde als einer ihrer Leute.«

»Warum so eilig? Die Spieler waren vor kaum zwei Monaten hier in Rym Treglad.«

Herrard senkte den Blick auf seinen Krug und sagte bedächtig: »Es ist eine heikle Angelegenheit. Ginas weissagt jetzt, da sich die wahren Karten in ihren Händen befinden, öfter aus dem Buch Ornat. Oftmals fragt sie nach Neuigkeiten über Euch und Euer Schicksal oder danach, wie die Dinge in Tredana liegen. Insbesondere hat sie sich mit der Frage der Thronfolge beschäftigt.«

»Ddiskeard ist kinderlos.«

»Was auch ein Glück ist, denn nach Euren eigenen Gesetzen würde sein Kind die Thronfolge antreten, wenn es vor dem Eurigen geboren wird.«

»Ich kann immer noch mit gutem Gewissen den Usurpator stürzen und seinem Kind ein besseres Reich bereiten.«

»Wohl wahr, dennoch war die Kälte, die zwischen Dastra und Ddiskeard herrscht, von großem Nutzen für Euch. Nur geht jetzt das Gerücht, daß sie Euch nicht vergessen kann und daß Ihr Euch aus Sehnsucht nach ihr nicht verheiratet.«

Leron blickte erzürnt auf und war erleichtert beim Anblick der spöttischen Fältchen um Herrards Augen. »Mein Vetter und Dastra passen vorzüglich zusammen.« Herrard nickte. »Wie ich schon sagte, war die Kälte zwischen dem Paar ein Glück und von großem Vorteil für Euch. Aber das wird nicht länger so sein. Ginas sieht in den Karten, daß Dastra in diesem Jahr ein Kind gebären wird. Und sie hat außerdem gesehen, daß manche Euch für den Vater halten werden.«

»Durch welche Zauberei? Wir sind glücklicherweise weit voneinander entfernt.«

»Ich weiß es nicht. Aber Ginas, die darauf bedacht ist, Euch in dieser und in anderen Angelegenheiten zu helfen, hat noch mehr gesehen. Eure andere Verwandte, die so lange für uns verloren war, ist jetzt ganz nah.«

»Sibby?« Leron spürte, wie ihm das Blut in die Wangen stieg. »Nah? Das mußt du mir erklären.«

»Ich kann nicht. Ginas sagt nur, daß sie nah ist und gerufen werden kann. Das zu tun, hat sie bereits alle Vorbereitungen getroffen. Ihr habt die Weisung, Euch auf einer bestimmten Lichtung in den Wäldern nördlich von Sundrat, die Euch bekannt, den meisten Augen aber verborgen ist, mit den Spielern zu treffen. Dort wird Sibby wieder auftauchen, und Wenn Euch Euer zukünftiges Glück und das Eures Reiches am Herzen liegt, sollt Ihr sie dort in der Nacht des nächsten Vollmondes treffen.«

»Herrard, du weißt, daß mich nichts glücklicher machen könnte als die Rückkehr meiner süßen Cousine. Aber warum zeigt ein solches Glück eine so ernste Miene? Und wie soll ich Sundrat in so kurzer Zeit erreichen?«

»Ginas sagte, Ihr würdet auf dem Wasserwege kommen, erklärte sich mir aber nicht näher.«

»Herrard, wie konnte sie das wissen? Es befindet sich eine unerwartete Gesandtschaft aus Melismala hier. Zum erstenmal seit der Gründung von Rym Treglad liegt ein großes Schiff im Hafen. Gerade zur rechten Zeit, um mich zu meinem Treffen in Sundrat zu bringen.« Herrard war verblüfft, doch er schüttelte warnend den Kopf. »Mein Prinz, ich möchte hier eine Mahnung zur Vorsicht einbringen, die nicht von einem Herrscher, Häuptling oder Seher kommt, sondern von einem, der weitgereist ist, viel gesehen hat und Euer ergebener Freund ist – kurz gesagt, von mir selbst. Es ist offensichtlich, daß Ginas ein Bündnis zwischen Euch und Eurer Cousine Sibby erwartet. Nein, laßt mich aussprechen. Ihr habt, durchaus verständlich, eine tiefe Zuneigung genährt und scheint wie die Spieler zu glauben, daß es sich im Leben so schön fügt wie in einem Bühnendrama. Aber wenn Sibby zurückkehrt, wird sie kein Kind mehr sein. Eine Frau, und mehr noch, die Tochter sowohl von Simirimia als auch von Eurem Onkel Armon. Ich habe die Kräfte gesehen, die sich in ihr regten, als sie noch ein Kind war. Ich glaube nicht, daß sie sich fügsam Ginas’ Plänen unterwerfen wird, gleichgültig, wie sehr sie Euch mag. Die Spieler beschäftigen sich zu gern mit dem Schicksal, glaube ich.« Leron nickte zwar, war aber mit den Gedanken anderswo.

Am nächsten Tag sprach Leron mit Gannoc, der höchst erstaunt war darüber, daß der Prinz, nur um des geplanten Zaubers einer Spielerin willen, nach Sundrat zu reisen gedachte. Lerons eigene Zweifel machten ihn um so verschlossener gegen Gannocs Einwände. Der Haushofmeister hatte sich eben entfernt, als Dansen den Raum betrat und Leron aufgeregt am Arm faßte.

»Prinzessin Arrod hat mir erzählt, daß Ihr die Absicht habt, sie die Küste hinunter zu begleiten. Kann das wahr sein?«

Leron runzelte die Stirn. »Werden meine Pläne schon in der ganzen Stadt herumposaunt?« Dansen errötete. »Nein, nein, mein Prinz. Sie hat nur mit mir darüber gesprochen. Aber wenn es wahr ist – sehe ich, daß es Zeit ist, Euch etwas zu enthüllen, was ich in den vergangenen Monaten für mich behalten habe.«

»Und das wäre?«

»Ein paar Worte, die Ginas mir sagte, als die Spieler das letzte Mal in Rym Treglad waren.« Er wandte den Blick ab und strich umständlich einen seiner Samtärmel glatt. »Sie sprach, wenn auch sehr zurückhaltend, von den Dylalyr zu mir; und dann sagte sie etwas, das mir so unwahrscheinlich vorkam, daß ich jeden Gedanken daran verwarf. Sie hielt mir eine Seite aus dem Buch Ornat vor die Augen und sprach folgende Worte …« Seine Stimme zitterte kaum merklich.

»Dansen, der Gelehrte, lernt doch am Schluß,

worin die größte Stärke liegen muß,

Dansen, der Gelehrte, aus bittrem Erleben

lernt, was dem Vergessen anheimgegeben,

nicht eine Lektion aus eigenem Geleit,

denn jenseits ihrer Grenzen liegt die Weisheit:

zu brennen wie Feuer, wie Wasser rinnen,

eine Reise zur fernsten Insel beginnen.

Und das Bild, das das Blatt zeigte, war ein blauer Kreis auf gelbem Grund, das Sinnbild für die Weisheit des geschlossenen Kreises, des Tempels Ornat.«

»Und sie hat es nicht weiter erklärt?«

»Sie sagte nur, es würde alles klar sein, sobald der Prinz die Stadt verlassen hätte. Und nun fahrt Ihr fort, und wir haben die Menschen von den Inseln kennengelernt und ihnen versprochen, zu helfen, wenn es in unserer Macht steht. Erinnert Ihr Euch an meine Zeichnungen, die Ihr neulich gesehen habt? Ich glaube, jetzt wird meine Waffe funktionieren. Von einem Schiff aus benutzt, könnte sie eine ganze Hafenstadt zerstören; von Land aus benutzt, könnte sie Schiffe auf dem Meer in Flammen setzen. Sie könnte die Rettung bedeuten für Melismala, ebenso wie für unser Tredana.«

»Es klingt furchterregend. Wann wirst du sicher sein, ob sie funktioniert?«

»Ganz bestimmt, wenn Ihr aus Sundrat zurückkehrt.«

Leron hob mit einem Ruck den Kopf. »Du weißt also, warum ich fahre?«

»Nein, nein. Nur, daß Ihr aufgrund einer Botschaft, die Ihr erhalten habt, nach Sundrat reisen müßt.«

»Die Botschaft stammt von Ginas. Sie besagt, daß meine Cousine Sibby beim nächsten Vollmond in Sundrat sein wird. Ginas hat die Absicht, sie hierher zurückzurufen.«

Dansen lächelte erfreut. »Wenn sie es sagt, dann glaube ich ihr, denn mir hat sie höchst zutreffend geweissagt. Mein Prinz, ich freue mich sehr für Euch. Und es wird schön sein, das Kind wiederzusehen – nicht länger ein Kind allerdings! –, bevor ich fortgehe.«

»Bevor du fortgehst? Ich verstehe dich nicht.«

»Mein Herr – wenn die Waffe fertiggestellt ist, werde ich sie, wie mir von Ginas geweissagt wurde, selbst zu den Inseln im Osten bringen. Wir haben dem Inselvolk versprochen, ein Schiff zu schicken.«

»Ja, aber Dansen! Du bist doch kein törichter Jüngling, der aus reinem Vergnügen den Tod herausfordert. Du wirst hier zutiefst geliebt und gebraucht.«

Dansen sah ihn an und zwinkerte mit den Augen. »Darf ich vermuten, Herr, daß Ihr Worte wiederholt, die Ihr erst kürzlich von Gannoc zu hören bekamt?«

Leron lachte. »Dem Sinn nach, ja.«

»Mein Prinz, Milecta hat es in seinen Maximen sehr treffend ausgedrückt: ›Der kluge Mann sammelt Wissen, der Weise forscht danach.‹ Es gibt vieles im Leben, das zu wissen mir bis vor kurzem nichts bedeutet hat.«

»Und jetzt?«

»Jetzt brenne ich geradezu darauf, es zu lernen.« Dansen blickte auf, und Leron legte ihm lächelnd den Arm um die Schultern. »Dansen, mein Lieber, du mußt natürlich tun, was du für richtig hältst. Ich bitte dich jedoch inständig, von diesen ›fernsten Inseln‹ glücklich zu uns zurückzukehren.«

»Mein lieber Prinz, ich werde mich darum bemühen.«

Die folgenden drei Tage waren ein Durcheinander überstürzter Reisevorbereitungen. Auf Gannocs Anraten hin entschloß sich Leron, seinem Vater nichts von seiner Reise zu erzählen, denn Mathon neigte in seinem geschwächten Zustand dazu, sich Sorgen zu machen. Gannoc war überzeugt, daß sie ihn mit irgendeiner Geschichte von einem Jagdausflug ablenken konnten. Wie Leron zurückkehren würde, war eine andere Frage, und Gannoc war ganz und gar nicht erfreut über das in seinen Augen unverantwortliche Vertrauen in das Schicksal, daß sich irgendein Beförderungsmittel schon finden würde.

»Clerowan befindet sich zur Zeit in Sundrat. Wenn alles andere fehlschlägt, kann ich gefahrlos mit seiner Bande zurückkehren.«

»Oder mit ihnen gefangen und aufgehängt werden«, entgegnete Gannoc verdrießlich.

Aber später am Kai war Gannoc ruhig und gefaßt und nahm den Amtsring mit vollendeter Haltung von Leron entgegen. Er küßte dem Prinzen die Hand, umarmte ihn dann herzlich und bat ihn, bald in die Heimat zurückzukehren. Lerons Abschied fiel ebenso herzlich aus, doch seine Aufmerksamkeit richtete sich immer gespannter auf den eindringlichen Salzgeruch in der Luft und das Meer, das sich so einladend flach bis zum Horizont erstreckte. Die Abschiedszeremonien und Ermahnungen waren schließlich beendet, und es kam zu guter Letzt der Augenblick, in dem Leron vom Meer aus auf seine Stadt zurückblicken konnte. Sie war klein und wirkte unbedeutend, aber er verspürte eine tiefe Liebe, jetzt, da er sie verließ.

Erst als Leron einige Meilen nördlich von Sundrat allein am Ufer stand und dem sich entfernenden Schiff nachschaute, wurde ihm klar, wie töricht dieses Unternehmen war. Aber eine halbherzige Verwegenheit ergab keinen Sinn; Sundrat lag weniger als eine Stunde entfernt. Er schulterte sein kleines Bündel und machte sich auf den Weg.

 

Der nächste Tag war der Zeitpunkt, den Ginas für ihr Treffen in den Wäldern genannt hatte. Um sich die Zeit des Wartens zu vertreiben, machte sich Leron zu dem alten Gasthof vor den Stadtmauern auf, wo er sich, wie er annahm, unter den zahlreichen Gästen sicher fühlen konnte und von wo aus man einen guten Überblick über den Hafen hatte. Er war neugierig, zu erfahren, wie viele Schiffe aus Vahn im Hafen lagen. Auf dem Weg den Hügel hinauf hielt er inne und blickte hinunter zu den Fischern, die mit ihren Netzen, dunkel abgehoben vom Blau des Wassers, hantierten. Die kleinen Fische blitzten silbern in der Sonne. Drei große Schiffe, Sklavenhändler und Kaufleute, lagen weit draußen in der Hafeneinfahrt vor Anker. Eins davon gefiel ihm besonders gut, ein hochbordiges Schiff mit leuchtend roten Segeln und grünem Schnitzwerk, das er nicht genau erkennen konnte. Es war ein schönes Schiff, bestens geeignet, von Clerowan gekapert zu werden. Er würde es in Rianna umbenennen, und es würde das Flaggschiff seiner Flotte werden. Er mußte über seine eigene Großspurigkeit lachen und setzte seinen Weg hügelaufwärts fort. Der Gasthof war, trotz der harten Zeiten, so gut besucht wie immer. Drei Bretter des Spiels Das verschollene Schloß waren im Hof aufgebaut; Zuschauer wie Spieler wetteten lärmend um kleine Summen, und das Bier aus den großen Eichenfässern floß in Strömen. Niemand beachtete Leron, als er ruhig einen Krug bestellte und sich an der Mauer, die den Hafen überblickte, niederließ. Die Spieler an dem Brett, das ihm am nächsten war, waren in abenteuerliche Lumpen gekleidet, ein Gemisch aus zerfetztem Samt und schmutzigen Leinenflicken. Einer der beiden war ein junger, hellhäutiger Mann, dessen eine Hand bandagiert war; der andere hatte eine verwegen aussehende schwarze Augenklappe. Er war dunkelhäutiger als der junge Mann, hatte einen kräftigen Körperbau und breite Schultern und ein volles, humorvolles Gesicht. Seine Tunika war auf groteske Weise mit Samtflicken ausgebessert, und die Risse in seinem Umhang waren mit Blumen bestickt. Ein Freund mit bandagiertem Fuß blickte ihm, auf eine knorrige Krücke gestützt, über die Schulter und beobachtete das Spielbrett mit undurchdringlichem Ausdruck. Leron hörte, das Gesicht über seinen Krug gesenkt, ihrer Unterhaltung zu. Abgesehen von Alwyn waren das die ersten Landstreicher, denen er begegnete.

 

»Noch fünf Dunyas auf Dick. Er wird Das verschollene Schloß erreichen, und zwar bald, ihr werdet sehen.« Zwei weitere Landstreicher hatten sich zu den dreien gesellt und musterten das Spielbrett. »Oho, der Tag muß noch kommen. Dann werden Dornen zu Butter, und der König kommt auch noch zurück: Landstreicher reiten auf Pferden und jagen die Königsknechte zur Tür hinaus. Fünf Dunyas auf den Mogler.«

Der Mann mit der Augenklappe, offensichtlich Dick, blickte in gespieltem Zorn auf. »Ich werde dafür sorgen, daß du für diese Treulosigkeit eine Windgondel von Vahn herruderst. ›Der Tag muß noch kommen‹, sagt er. Wann hättest du je Geld verloren, wenn du auf Großmaul Dick gesetzt hast?«

»Gestern erst«, gab der andere zurück.

»Ich bin das Risiko zu früh eingegangen, das war alles. Achtet auf Großmaul Dick, Freunde, gebt euer Geld mit vollen Händen, dann braucht ihr kein Seil um eure Hälse, keine Kette an euren Klauern, kein Eisen an euren Hüpfern und keine Leere in euren Taschen zu befürchten.« Der lahme Bettler hinter ihm lachte auf. »Ich bin ein so wahrheitsbesessener Ganove wie jeder hier, aber ich vertraue dir eher mein Schwert an, als daß ich Silber opfere.« Großmaul Dick lachte, doch in diesem Augenblick fiel der Blick des lahmen Bettlers über das Spielbrett hinweg auf den Eingang des Gasthofs, und er erstarrte.

Zwei gepanzerte, helmbewehrte Königsknechte standen dort. Sie ließen die Blicke über die Menge schweifen, dann stolzierten sie herein und riefen lauthals nach Bier. Als zwei weitere Königsknechte auftauchten und sich zu den ersten an einen benachbarten Tisch setzten, senkte sich Schweigen über die zuvor lärmende Gruppe der Landstreicher. Das Schankmädchen eilte, zwei Krüge in jeder ihrer kräftigen Hände, herbei, sie zu bedienen, und sie nahmen das Bier entgegen ohne ein Wort des Dankes und ohne Anstalten zum Bezahlen zu machen.

Großmaul Dick winkte das Mädchen herbei, als sie den Tisch der Königsknechte verließ, und brach das Schweigen.

»Streck das Faß, Mädchen, füll unsere Humpen mit süßem, braunem Bier, daß es schäumt. Hier am Tisch gibt es gutes Geld.« Sie brachte die Getränke, und er bezahlte sie von den Münzen, die auf dem Tisch lagen. Dann hob er eine weitere auf und fügte sie zu der Handvoll hinzu. »Ich zahle auch für den König, da seine Diener heute knapp bei Kasse zu sein scheinen.«

Sie lächelte nervös und eilte ins Innere des Hauses zurück. Die Königsknechte blickten langsam von ihren Krügen auf und sahen sich dann an. Der lahme Bettler versuchte, seinen Freund zum Schweigen zu bewegen, aber Großmaul Dick schüttelte seine Hand von der Schulter ab und nahm einen tiefen Schluck. Dann stellte er den Krug ab und hob eine der Figuren vom Spielbrett auf. Es war der König. »Kennt ihr schon meine neuesten Verse?« erkundigte er sich in beiläufigem Plauderton. »Es fehlt ihnen an Feinheit, aber so passen sie bestens zum Thema.

Nach Tredana ging ich ein Faß zu trinken, und nicht zu wenig,

da sah ich in seiner verflucht schwarzen Maske den König.«

Er bedachte seine Freunde mit einem liebenswürdigen Lächeln, und Leron erkannte erst jetzt, daß er ziemlich betrunken war. Am Tisch der Königsknechte entstand eine leichte Unruhe, als Großmaul Dick fortfuhr:

»Nach Tredana kam ich abzusahnen in der Menschen Fülle,

da sah ich den schwarzen König in seiner verflucht schwarzen Hülle.«