Die zerbrochene Zitadelle - Joyce Ballou Gregorian - E-Book

Die zerbrochene Zitadelle E-Book

Joyce Ballou Gregorian

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Beschreibung

1. Teil der Tredana-Trilogie Im fernen Land Anderwelt stand vorzeiten die Stadt Treglad, in der die zweifache Göttin herrschte, verkörpert in Rianna, der Tochter der Sonne, und Simirimia, der Tochter des Mondes. Einst aber trennte sich die letztere gewaltsam von ihrer Schwester, um Alleininhaberin der Macht zu werden, und sie verbündete sich mit dem neuen Männergott Vazdz, der über Krieg, Blut und Feuer herrscht, unterwarf sich ihm und gründete eine neue, eigene Stadt mit dem Namen Treclere ... Richtig spannend wird es, als Sibby, ein Schulkind, in einem alten leeren Haus durch ein Fenster klettert und in die Anderwelt gelangt. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 611

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Joyce Ballou Gregorian

Die zerbrochene Zitadelle

Roman

Aus dem Amerikanischen von Waltraud Götting

FISCHER Digital

Inhalt

Bibliothek der phantastischen AbenteuerDie HauptpersonenFür Douglas, in LiebePrologDer DracheIIIIIIIVVVIVIIDer KarifIIIIIIIVVVIVIIDie mächtige KöniginIIIIIIIVVVIVIIDas RadIIIIIIIVVVIVIIDer KermyragDas ExilIIIIIIIVVVIVIIEpilog

Bibliothek der phantastischen Abenteuer

Herausgegeben von V.C. Harksen

Die Hauptpersonen

Sibyl (Sibby) Barron

ein frühreifes Kind, das in eine fremdartige Anderswelt versetzt wird

Rianna

Tochter der Sonne, Göttin der Stadt Treglad

Simirimia

Tochter des Mondes, ihre Zwillingsschwester, Herrin der Stadt Treclere

Vazdz

der grausame Gott des Krieges und des Feuers

Arbytis

Hohepriester der Zwillingsgöttinnen, ein Unsterblicher

Dastra

Simirimias Tochter, eine schöne, selbstsüchtige und böse Prinzessin

Leriel

Königin von Tredana

Armon

ihr Zwillingsbruder

Mathon

ihr Gatte, König von Tredana

Leron, Prinz von Tredana

Leriels und Mathons Sohn

Dansen

ein Gelehrter, Lerons Erzieher

Gannoc

Ratgeber am Hof von Tredana

Mara

seine Gattin

Ajjibawr

Karif (Fürst) der Karabdu, eines Wüstenvolkes

Herrard

sein Freund

Ddiskeard Bodrum

Lerons boshafter Vetter König von Vahn

Odric der Barde

sein verstoßener Sohn

Zenedrim

ein weiser und güter Magier

Für Douglas, in Liebe

 

Wenn die Jahre wie ein wundersames Karussell sich drehn,

Wollen wir das bunte Auf und Nieder der hölzernen Pferde sehn.

Steig auf zur nächsten Runde und aufgepaßt –

Dies Buch ist der Ring, den du zu fangen hast.

Prolog

Sibby ging nach der Schule stets allein nach Hause. Sie gab schon so viele Jahre vor, lieber allein zu sein, daß es mittlerweile schwer war, zu sagen, ob es stimmte oder nicht. Sie brauchte für den Heimweg zwischen fünfzehn Minuten und einer Stunde, je nachdem, wie eilig sie es hatte, nach Hause zu kommen. Denn die Straßen, die über die ehemals ausgedehnten viktorianischen Besitzungen führten und die Parks mit ihren riesigen Herrenhäusern in kleine Vorstadtparzellen teilten, verliefen in unvorhersehbaren Windungen; und Sibby kannte viele Wege.

Ein Haus übte eine ganz besondere Anziehung auf Sibby aus. Es stand mit seinen fünf Stockwerken auf einer eigenen Anhöhe, und das dunkle Dach überragte die mächtigen alten Eichen. Die Fenster des einen Flügels reichten mindestens drei Stockwerke hoch, und der geheimnisvolle Raum dahinter war immer dunkel. Vor langer Zeit hatte Sibby, damals noch in der zweiten Klasse, das Haus entdeckt, als sie eine Abkürzung durch seine Gärten genommen hatte.

Zwischen den verwilderten Büschen standen Statuen aus grauem Stein – Männer mit Ziegenhufen und halbnackte Frauengestalten. Im Jahr darauf, ihrem dritten Schuljahr, hatte Sibby gelernt zu erkennen, daß es sich um berühmte römische Kunstwerke handelte. Doch das Gefühl, das sie in diesem Garten beschlich, hatte sich nie verändert; ihr war darin unheimlich zumute.

Inzwischen war Sibby elf und in der fünften Klasse – alt genug, um vernünftig zu sein, wie ihre Mutter zu sagen pflegte. Es war an einem bewölkten Nachmittag im September, und die Luft war erfüllt vom Rauch der Laubfeuer, als sie vorsichtig um das große Haus herumging und nach einer Möglichkeit sann, hineinzugelangen. Sie versuchte es am vorderen Eingang, doch um die Klinke war ein bleiversiegelter Draht gewickelt, und die Tür war verschlossen. Vielleicht komme ich durch den Keller hinein, dachte sie, aber die zurückgesetzten Fenster waren geschwärzt, und sie malte sich in Gedanken ein düsteres, höhlenhaftes Gewölbe dahinter aus. Bestimmt ist die Hintertür auch verschlossen. In Romanen findet sich meistens eine Terrassentür, die offensteht, oder irgendeine andere Möglichkeit … Die Fenster waren alle geschlossen, doch am Gewächshaus hatte Sibby Glück. Hinter dem Rhododendrongebüsch waren ein paar Scheiben zerbrochen, und es gelang ihr, indem sie vorsichtig hineingriff, ein hohes Ausstellfenster von innen zu öffnen. Es schwang nach außen, und sie drückte es so weit wie möglich hoch und schlängelte sich mühsam unter diesem rostzerfressenen Überhang hinauf. Hoffentlich muß ich das Haus nicht in Eile verlassen, dachte sie. Zum Glück gibt es hier wenigstens einen Tisch. Als sie sich auf den grob gezimmerten Arbeitstisch schob, schlug ihr die säuerliche Schwüle des unbenutzten Treibhauses entgegen, doch sie nahm kaum Notiz davon. In ihrer Angst, von der Straße aus gesehen zu werden, lief sie eilig zur Innentür und drehte mit hämmerndem Herzen an dem Messingknauf. Gleich darauf stand sie im Haus.

Vor ihr dehnte sich ein dunkel getäfelter Gang, der mit einem verschlissenen roten Teppich ausgelegt war. In der Mitte des Ganges befand sich auf jeder Seite eine Tür. Die linke führte in einen Raum, der düster war wie ein Museum und von durchdringendem Laborgeruch erfüllt. Es wimmelte darin von Vitrinen und irgendwelchen Dingen in Glasgefäßen, aber es gab keinen einzigen Stuhl. Sibby zog sich hastig wieder zurück und versuchte vergeblich, sich die Menschen vorzustellen, denen ein so merkwürdiger Raum in ihrem Haus gefiel. Der gegenüberliegende Raum, ein Spielzimmer, war zwar besser, aber auch nicht eben freundlich. Neugierig betrachtete Sibby den Billardtisch aus massivem Eichenholz in der Mitte des Zimmers und bestaunte den ausgehöhlten Elefantenfuß, in dem sechs Queues und ein Regenschirm steckten. Am Kamin stand ein verschlissenes rotes Plüschsofa, und auf einem hölzernen Klapptisch davor lag ein aufgefächertes Kartenspiel. Die Bilder auf den Karten waren leuchtend bunt und überschrieben mit fremdartigen, runden Schriftzeichen, die Sibby nicht entziffern konnte. Das oberste Bild zeigte einen alten Mann mit einer Laterne in der Hand, darunter erkannte sie eine Turmruine, die verlassen auf einem Berggipfel stand, und auf dem dritten einen vom Speer durchbohrten Drachen. Die Karten waren staubbedeckt, und Sibby, die keine Fingerabdrücke hinterlassen wollte, rührte sie nicht an. Doch gleich darauf, als sie neugierig auf einen in die Wand eingelassenen Perlmutterknopf drückte, war der Gedanke an Fingerabdrücke vergessen. Ein gereiztes Dröhnen hallte aus den Tiefen des Hauses herüber, und Sibby schrak zusammen. Im Hause ihrer Eltern gab es keine Dienstbotenknöpfe. Sie eilte auf den Gang hinaus und zog die Tür lautlos hinter sich zu.

Am Ende des Korridors, wo die hohe Eingangshalle begann, ging der Teppich in schwarz-weiße Marmorfliesen über. Wie ein Schachbrett, dachte Sibby und übersprang zwei Felder. Und die herrlichen Fenster! Die würden mir auch in unserem Haus gefallen! Sie legte den Kopf in den Nacken und ließ den Blick über die dunkle, geschwungene Treppe und das Buntglasfenster dahinter, dessen unteren Scheiben gelb und die oberen purpurrot leuchteten, wandern. Die Eingangstür zierte ebenfalls ein Rahmen aus Buntglas, und in der Halle hing ein durchdringender Geruch nach Möbelpolitur. Sibby ging über die roten und gelben Lichtfelder und öffnete die Tür zu ihrer Rechten, die dem düsteren Bogengang zu dem unergründlichen Wohnraum gegenüberlag.

Sie befand sich in dem Raum mit den hohen Fenstern, den sie von draußen gesehen hatte, einer Bibliothek. In dieser Bibliothek verliefen zwei – nein drei – Galerien mit schmiedeeisernem Geländer um die über drei Stockwerke hinaufreichenden Bücherregale. Vor den hohen Fenstern waren die Galerien in jedem Stockwerk durch schmale Eisenbrücken verbunden. Es roch nach moderndem Leder und altem Papier, und überall waren Bücher, nichts als Bücher. Sibby blickte schuldbewußt zu den hohen Fenstern hinauf. Es war schon spät, und eigentlich wurde es höchste Zeit zu gehen. Doch von jeher hatten Bücher eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf sie gehabt. Sie strich an den unteren Regalen entlang und überflog die Titel, denn sie wollte sich nichts Interessantes entgehen lassen. Eine Dumas-Ausgabe, eine Fortsetzungsgeschichte von Lorna Doone – unter so vielen Büchern konnte sich alles Erdenkliche finden. Ihr Blick fiel auf eine Reisebeschreibung, ein kleinformatiges, dickes Buch, das, eingezwängt zwischen einer Reihe von Nachschlagewerken, fehl am Platze schien. Sie hatte eine Vorliebe für Geschichten über abenteuerliche Reisen in fremde Länder. Das Buch hatte einen braunen Ledereinband mit geripptem Rücken, und der Titel lautete:

REISEN NACH TREDANA

MIT EINER BESCHREIBUNG DER

SAGENUMWOBENEN STADT TRECLERE

Bericht über die bisher nicht überlieferten Abenteuer in einem

FERNEN LAND,

von dem berühmten Weltenbummler und Vortragsreisenden

V.Sigerson.

DEN HAAG, 1892.

Sibby war keiner der erwähnten Namen bekannt; sie wußte, wie sie sich zu ihrer Schande eingestehen mußte, nicht einmal genau, wo Den Haag lag. Noch mehr verwirrte sie die auf der gegenüberliegenden Seite abgebildete Landkarte. Sie zeigte eine ihr gänzlich unbekannte Insel, einen Kontinent, der, glaubte man der Zeichenerklärung, halb so groß wie Nordamerika sein mußte. Es waren lediglich zwei Städte verzeichnet, nämlich Tredana und Treclere. Sibby wußte, daß es auf der ganzen Erde keinen Winkel gab, an dem ein so großer Kontinent verborgen und ohne ihr Wissen existieren konnte: schließlich war sie in der fünften Klasse. Der große See ähnelte dem Oberen See ein wenig, stellte sie fest. Aber selbst wenn es fünf Seen gewesen wären, anstatt zwei, würde die Form doch ganz und gar nicht stimmen. Mit einem Seufzer stellte sie das Buch so in das Regal zurück, daß sie es leicht wiederfinden konnte. Es wurde allmählich dunkel, und sie mußte sich beeilen. Immerhin kann ich über Sigerson und Tredana im Lexikon nachlesen, dachte Sibby, während sie aus dem Raum eilte. Zu Hause hatten sie, abgesehen von den juristischen Werken ihres Vaters, nicht viele Bücher, doch im Wohnzimmer stand ein neues, in weißes Leder gebundenes Universallexikon.

Aus unerfindlichen Gründen trat sie auf dem Rückweg durch die Halle nur auf die schwarzen Quadrate und übersprang auch das gelbe Lichtrechteck, das sich immer noch auf dem Boden abzeichnete. Plötzlich stutzte sie. Sonnenlicht? Sie hob den Blick zur Treppe, über deren blankpolierte Stufen das Licht in breitem Strahl herunterströmte und sich funkelnd auf den dunklen Messinghaltern des Läufers fing. Um sie herum war es fast dunkel, und doch fiel strahlender Sonnenschein durch das Fenster am Treppenabsatz herein.

Das Herz schlug ihr bis zum Halse, als sie die Treppe hinaufsprang und sich auf die Fensterbank kniete. Das Fenster mußte vor nicht langer Zeit offengestanden haben, denn eine Efeuranke war im Mittelspalt eingeklemmt, und auf ihr nahm eine kleine Raupe unbekümmert ihr bedächtiges Mahl. »Tut mir leid, Würmchen«, sagte Sibby und öffnete den Verschluß. Das Fenster flog auf und streifte raschelndes Laub, und Sibby stockte der Atem vor Freude. Vor ihr lag kein baumbestandener Garten, kein Gehsteig und keine vertraute Straße, sondern, von der Nachmittagssonne beschienen und von einer kühlen Brise umschmeichelt, eine wildzerklüftete Felsenlandschaft. Ohne nachzudenken, schwang sich Sibby durch das Efeugestrüpp auf die schräg abfallenden Felsen hinunter. Meerluft schlug ihr entgegen, und als sie sich umdrehte, war das Fenster im Gebüsch hinter ihr verschwunden. Das Herz hämmerte ihr heftig in der Brust, erst vor Furcht und dann in seltsam freudiger Erregung. Lachend breitete sie die Arme im Wind aus und sog ihn mit weit geöffnetem Mund ein. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund kam es ihr vor, als sei sie endlich heimgekehrt.

Auszug aus Vasili Sigersons

 

REISEN NACH TREDANA

MIT EINER BESCHREIBUNG DER

SAGENUMWOBENEN STADT TRECLERE

 

VORWORT

 

Ein guter Freund hat mich oft darauf hingewiesen, wie einfach scheinbar komplizierte Zusammenhänge sind, hat man sie erst einmal aus dem Blickwinkel der Logik und des folgerichtigen Denkens betrachtet. Bedauerlicherweise ist eine so einfache Lösung da, wo es um verstandesmäßig nicht erfaßbare oder mystische Bereiche geht, nicht möglich; sie erweisen sich unter Umständen sogar als um so undurchschaubarer und verzwickter, je eingehender man sie untersucht. Genauso verhält es sich mit meinen Beobachtungen in Tredana.

Wenn auch Tredana nicht von unserer Welt ist, so konnte ich es doch ohne Schwierigkeiten betreten und wieder verlassen, und zwar aus dem einleuchtenden Grund, daß ich niemals wirklich dort gewesen bin. Nur im Geiste und unter der Führung des Dalai Lama besuchte ich, wie im vorangegangenen Kapitel kurz umrissen, diese rätselhafte Stadt und beobachtete ihre Bewohner. Und obwohl ihnen meine Anwesenheit verborgen blieb, hatten sie doch, wie ich feststellte, Kenntnis von unserer Welt, in ihren Augen die Anderwelt; und sie waren schon früher mit Reisenden in Berührung gekommen. Einmal machte sich sogar ein Grüppchen von Mystikern auf in unsere Welt und kehrte nie zurück. Zu welchem Zeitpunkt unserer Geschichte sich das zugetragen haben mag und an welchem geographischen Ort sie in unsere Welt eintraten, kann ich nicht sagen. Es ist jedoch eine wissenswerte Feststellung, daß das Tor – oder die Brücke – nicht nur in einer Richtung geöffnet ist.

Die nächste, für mich interessante Erkenntnis war die Parallele, die ich zwischen unserer und ihrer von uns unabhängigen Kultur feststellte. Beispielsweise gleicht ihre königliche Erbfolge der unserer alten Großfürsten von Kiew insofern, als sie nicht nur in einer Linie weitergegeben wird, sondern eine gesamte königliche Generation umfaßt und vom Vater auf den Neffen, von Cousin auf Cousin übergehen kann, ganz wie es sich nach dem Gesetz der Erstgeburt ergibt. Eigenartigerweise schließt dieses System auch die weiblichen Nachkommen ein, so daß Königinnen ebenso häufig regieren wie Könige, da sich die Geburtsrate in etwa die Waage hält. Man könnte annehmen, daß sich daraus chaotische Zustände ergeben, aber ganz offenkundig ist das in dieser Welt nicht der Fall.

Der Drache

I

Als Sibby endlich über die Felsen hinuntergeklettert war und den Strand erreicht hatte, war sie zerschunden und fühlte sich wie zerschlagen, und ihr Kleid hatte zwei lange Risse. Sie war trotz der kühlen Brise schweißgebadet, und der Staub der Bibliothek hatte sich von den Händen über das ganze Gesicht verteilt. Sie lief über den sauberen Sandstrand, überquerte die Flutlinie und tauchte die Hände in die plätschernden Wellen. Das Wasser war eiskalt und von hüpfenden Schaumkronen bedeckt. Der braune Sand, der mit Muscheln und Tang übersät war, wirkte so vertraut und beruhigend auf sie wie ein Strand auf Cape Cod; die Einsamkeit, die hier herrschte, war ihr dagegen fremd. In ihrer Welt hörte man selbst an den einsamsten Tagen zumindest das ferne Dröhnen eines Flugzeuges am Himmel; hier gab es nichts als die Felsen, das Meer und den Sand. Die Luft roch frisch, und es bereitete ihr Vergnügen, die Turnschuhe abzustreifen und barfuß an der schäumenden Wasserlinie entlang über den festen, feuchten Sand zu laufen.

Sibby war immer gern und ausgiebig spazierengegangen, wenn sie auch in den strengen Augen ihrer Mutter zu sehr trödelte. Nicht, daß ihre Mutter etwa gern zu Fuß gegangen wäre. Sie wollte nie laufen, nicht einmal, wenn sie zusammen in der Stadt einkaufen waren. Sie steuerte dann das nächste Taxi an und rief Sibby zu: »Sibby, kannst du dich nicht um Himmels willen ein bißchen beeilen? Er wird nicht den ganzen Tag auf uns warten!« Jetzt schritt Sibby schneller aus und fiel in einen ihr angenehmen Trott. Sie war erst einmal in ihrem Leben wirklich allein gewesen, als sie im vorangegangenen Sommer zu Besuch zu ihrer verheirateten Schwester nach London geflogen war. Jetzt bin ich wahrhaftig ein alleinreisendes Kind, dachte sie und kicherte in sich hinein.

Sibbys Freude an der Freiheit hielt ein paar Stunden an. Doch dann neigte sich die Sonne dem Horizont entgegen, es wurde kälter, und sie hatte nichts Eßbares in der Tasche, nicht einmal einen Schokoladenriegel. Ein erster Anflug von Besorgnis beschlich sie, als sie im feuchten Sand vor sich Unebenheiten gewahrte: die Hufabdrücke eines kleinen Pferdes oder Ponys. »Und die anderen Spuren könnten von einem Menschen stammen«, bemerkte sie laut aus Mangel an anderer Gesellschaft. »Sie müssen noch ganz frisch sein, sonst hätte die Flut sie verwischt.« Sie setzte sich nieder und zog ihre Schuhe an, nachdem sie sie mit einem Zipfel ihres Pullovers vom gröbsten Sand gereinigt hatte. Dann folgte sie eilig den Spuren. Als sie endlich in weiter Ferne vor sich einen Feuerschein zwischen den Felsen entdeckte, hatte sie Seitenstechen, und die Dunkelheit war fast vollkommen hereingebrochen.

Als sich der Wind für einen Augenblick drehte, stieg Sibby Essensduft in die Nase. Ihr zog sich der Magen zusammen. Noch nie hatte sie sich so müde und hungrig gefühlt. Erst als sie ganz nah heran war, wurde ihr das Problem bewußt, das auf der Hand lag. Was sollte sie demjenigen, auf den sie treffen würde, sagen? Sie hatte zögernd ihren Schritt verlangsamt und fuhr erschrocken zusammen, als plötzlich eine hochgewachsene Männergestalt hinter einem Felsen hervortrat. Er war in mittlerem Alter, hatte einen Bart, schwarze Haare und eine dunkle Hautfarbe und trug eine Tunika aus Schaffell über dem wollenen Hemd und Kilt. Mit seinen über Kreuz geschnürten Lederstiefeln sah er aus wie eine Gestalt aus einem von Sibbys alten Bilderbüchern, doch er stand leibhaftig vor ihr und begann mit einer ihr fremden Aussprache zu reden. Vielleicht sprach er aber auch gar nicht englisch. Jedenfalls konnte sie ihn verstehen.

»Nenn deinen Namen, Fremdling, und laß deine Hände unbewaffnet sehen.« Sibby hob die Hände wie ein Cowboy. Dann schluckte sie und sagte mit dünner Stimme: »Sibby Barron. Ich bin – ich bin nicht bewaffnet.« »Nun, mein Kind, falls du wahrhaftig ein Kind bist, sag mir, woher du kommst und was dich hierher führt.« »Das Problem ist, daß ich es nicht weiß. Ich hatte nicht die Absicht, hierher zu kommen – es ist einfach so passiert.« Sibby merkte, daß sie den Tränen nahe war, und es machte sie wütend und unsicher. Schließlich war das ihr Abenteuer. Ihre Stimme überschlug sich, und sie wußte, wenn sie weitersprach, würde sie wie ein kleines Mädchen piepsen, also biß sie die Zähne zusammen und schwieg. In diesem Augenblick löste sich eine zweite Gestalt aus der Dunkelheit, ein junger Mann mit einer Fackel. Er trug einen langen, dunklen Umhang, der über der Brust mit einer runden Silberbrosche festgesteckt war, und über seiner Schulter hing an einem Riemen ein dreieckiger Leinenbeutel. Im Schein der Fackel konnte Sibby dunkle Locken und freundliche Augen erkennen.

»Nun, Gannoc, hast du eines von Dansens langgesuchten Seewesen gefunden. Aber welch eine schäbige Wasserfee.« (Die Fackel kam näher heran.) »Und wie jung obendrein. Selbst die Unterwasserwesen können doch nicht ruhig dulden, daß ihre Kinder allein umherirren! Sag an, mein Kind, woher kommst du?« Sibby reckte das Kinn in die Höhe. »Ich habe bereits gesagt, daß ich nicht weiß, wie ich hierher geraten bin, und ich bin kein Kind mehr, ich bin schon fast zwölf (was nicht ganz stimmte), und meine Eltern lassen mich wohl allein aus dem Haus. Ich bin sogar alt genug, allein zu fliegen.« Sibby spielte damit auf ihre Reise nach London an, doch ihre Worte hatten eine unerwartete Wirkung auf die beiden Männer. Gannoc warf dem Jüngeren einen fragenden Blick zu, dann legte er ihr eine Hand auf die Schulter und drehte sie sacht um. »Und doch sehe ich keine Flügel«, murmelte er leise. »Sollten Dansens Wundermärchen am Ende doch wahr sein? Oder ist es eine List, mit der man uns in Vertrauen wiegen will?« »Kind«, sagte der andere freundlich, »wenn du allein fliegen kannst, warum bist du dann noch hier? Warum kehrst du nicht zu den Deinen zurück, die sich doch in diesem Augenblick ganz gewiß Sorgen um dich machen?«

Sibby blickte von einem zum anderen, und obwohl die Worte der Männer wie Spott in ihren Ohren klang, konnte sie in ihren Gesichtern nur Anteilnahme und Verwunderung erkennen. Sie wollte erklären, daß ihre Familie wahrscheinlich nicht einmal wußte, daß sie verschwunden war, doch die merkwürdigen Erlebnisse dieses Tages und die Fragen der beiden Männer waren zuviel für sie. Zu ihrer eigenen Überraschung brach sie in Tränen aus, und unter lautem Schluchzen wollte sie davonlaufen. Starke Hände umfaßten ihre Schultern und hoben sie mühelos hoch. Widerstandslos ließ sie sich von Gannoc, der dem jungen Mann mit der Fackel folgte, zum Feuer tragen.

Als sie in dem Lager ankamen, erhob sich eine große, stattliche Frau von der Feuerstelle und nahm Sibby in ihre Arme, die Gannocs an Kraft nicht nachstanden. Verlegen erstickte Sibby ihr Weinen an der mütterlichen Brust, und als sie sich beruhigt hatte, zog die Frau sie neben sich ans Feuer und hüllte sie in einen schweren, warmen Umhang. Sie reichte ihr eine Schüssel Suppe und sagte mit freundlichem Lächeln: »Hier, iß das. Ich bin Mara, Gannocs Frau, und ich vergifte keine Kinder.« Die Zähne blitzten in ihrem dunklen Gesicht, und Sibby fand, daß sie mit ihrem goldenen Ohrring fast wie eine Zigeunerin aussah.

»Danke«, sagte sie. »Es tut mir leid, daß ich so dumm war. Ich habe wirklich keine Angst vor Ihnen.« Mara lächelte ihr wieder zu. »Sehr gut«, sagte sie und fuhr, an ihren Mann gewandt, fort: »Und du tust gut daran, Gannoc, wenn du ihr heute abend keine Angst mehr einjagst! Sie ist noch ein Kind. Die Fragen haben Zeit bis morgen.« Während Mara ohne weitere Umstände ein Lager für Sibby richtete und dabei über alle möglichen belanglosen Dinge plauderte, wich die Spannung von Sibby, und sie wurde allmählich müde. Sie mußte meilenweit gewandert sein. Weiter noch, wenn man den Weg von Newton hierher mitrechnete. Wo immer das ›hier‹ auch sein mochte. Das würde sie am nächsten Morgen in Erfahrung bringen.

Als sie bei Sonnenaufgang erwachte, stellte sie fest, daß das Frühstück fast fertig war, und sah einige zum Aufbruch gesattelte Ponies, die sie in der Dunkelheit nicht bemerkt hatte. Sie war allein. Mara kochte, gemeinsam mit einem Fremden, etwas am Feuer. Schlaftrunken streckte und räkelte sie sich und lauschte dann ihrer Unterhaltung. »Er glaubt, daß sie vielleicht als Zeichen geschickt worden ist«, sagte Mara gerade, und der andere nickte darauf. »Denn wie sollte ein gewöhnliches Kind plötzlich in dieser endlosen Wildnis auftauchen? Wir sind nun schon über einen Monat unterwegs und haben nichts als Seevögel und Wildkaninchen gesehen.« »Wahrhaftig, wie sollte es?« murmelte der andere zustimmend, während er mit seinem Holzlöffel von dem Essen kostete und dann noch eifriger darin rührte. »Dennoch bezweifle ich, daß sie zu dem geflügelten Völkchen gehört, da ihr die entscheidenden Merkmale fehlen. Sie hat nicht einmal die Kiemen, über die die Wasserwesen nach Erlandus’ Beschreibung verfügen. Aber schau, sie wird wach. Komm, iß, meine Liebe, denn wir müssen aufbrechen, und du wirst Kraft brauchen. Selbst die Götter müssen essen, wie ein Sprichwort in unserer Stadt besagt.«

Sibby blickte in ein gütiges Gesicht mit ordentlich gestutztem Backenbart auf, das von einem enganliegenden, goldbesetzten Käppchen umrahmt war. Im Gegensatz zu Gannoc und den anderen trug er ein unauffälliges, an Ärmeln und Kragen besticktes Gewand aus braunem Samt. Sein Haar stand wie weicher Flaum unter dem Käppchen hervor, und er hatte Tintenflecke an den Fingern.

»Ich, meine Liebe, bin Dansen, ein Gelehrter ohne engstirniges Vorurteil gegen Fremde, wie ich hoffe. Und dein Name ist, soweit ich weiß, Sibbybarron?« »Sibby reicht.« »Es ist mir eine Ehre«, entgegnete er mit einer höflichen Verbeugung. An seinem Gürtel war eine offene Schreibmappe befestigt, in der sich Fläschchen und Federkiele befanden.

Da sie von niemandem weiter beachtet wurde, erhob sich Sibby und lief zum Strand hinunter. Dort tauchte sie die Hände in die kühle Gischt und benetzte ihr Gesicht. Ihr Versuch, die kurzen schwarzen Locken zu entwirren, erwies sich bald als zwecklos, und sie kehrte zum Feuer zurück, wo Gannoc und der junge Mann inzwischen beim Frühstück saßen. Der dreieckige Beutel, den er am Vorabend getragen hatte, lag offen neben ihm im Sand und gab den Blick auf die Spitze einer kleinen Harfe frei, die aus dunklem, mit Silberintarsien verziertem Holz gefertigt war. Ein alter Mann, der so in seinem Umhang zusammengekauert saß, daß Sibby ihn beinahe für einen Kleiderhaufen gehalten hätte, vervollständigte die Gruppe. Als er Sibbys Blick auf sich spürte, wandte er sich mit einem Lächeln um; sein gesundes Auge, dessen strahlendes Blau die eingefallene Höhle, die sich anstelle des anderen Auges befand, um so deutlicher hervorhob, umzog sich mit einem Netz von Fältchen.

»Einauge wird sich später mit dir unterhalten«, sagte Mara, indem sie Sibby ein Stück Brot und einen dampfenden Becher reichte. Sibby verschluckte sich an dem ungewohnten Glühwein, spürte aber augenblicklich seine Wärme in sich aufsteigen. »Bis zum Nachmittag wird ihn die Sonne geweckt haben.«

»Ich habe Fragen, die nicht so lange warten können«, wandte Gannoc ein. »Wenn Ihr erlaubt, Sir« – damit wandte er sich an den jungen Mann –, »habe ich dem Kind ein paar Fragen zu stellen. Sie hat gut geschlafen und zweimal Nahrung erhalten, und ich sehe keinen Grund, länger zu warten. Ich glaube, daß du nichts Böses im Schilde führst, aber als Führer unseres Unternehmens muß ich es genau wissen. Wer bist du, und woher kommst du?«

Sibbys Scheu war verflogen. »Ich heiße Sibby Barron, das habe ich euch schon gestern abend gesagt, und ich bin nicht fast zwölf, sondern gerade erst elf geworden. Ich nehme an, daß ich aus einer anderen Welt komme oder so. Ich wohne in der Lenox Street in West Newton. Das liegt in Massachusetts in Amerika.« Als sie die verständnislosen Blicke der anderen sah, sprach sie hastig weiter. »Ich war in einem unbewohnten Haus, und als ich aus dem Fenster kletterte, fand ich mich nicht im Garten hinter dem Haus wieder, sondern am Strand, Meilen von hier entfernt. Zuerst freute ich mich, weil ich mir schon immer ein Abenteuer gewünscht habe, aber dann bekam ich es mit der Angst zu tun, weil ich mutterseelenallein hier draußen war. Als ich eure Spuren entdeckte, ging ich ihnen nach, und den Rest kennt ihr ja. Ihr seid die ersten Leute, die mir begegnet sind. Wie heißt euer Land?«

Ohne Gannoc zu beachten, der ihm mit einer Geste bedeutete, zu schweigen, erklärte der junge Mann mit würdevoller Stimme:

»Du befindest dich an der nordöstlichen Küste der Gebiete, auf die die unabhängige Stadt Tredana Anspruch erhebt, den sie aber, da es sich um unfruchtbares und wertloses Land handelt, noch nicht geltend gemacht hat. Wir sind Bürger dieser großen Stadt und haben uns in einer privaten Angelegenheit auf die Reise in den trostlosen Norden begeben.«

»Tredana?« rief Sibby überrascht aus. »Aber darüber stand etwas in einem Buch in dem Haus, von dem ich euch erzählt habe. Tredana und … und Treclere?«

»Treclere?« wiederholte Gannoc mit plötzlichem Mißtrauen in der Stimme. »Und was weißt du von Treclere?«

»Nur, daß es sich auf derselben Karte befand wie Tredana. Ich war verwundert, weil ich von beiden Orten noch nie etwas gehört hatte, obwohl das Land doch sehr groß aussah. Einer der Seen kam mir bekannt vor, aber das war auch alles.« Jetzt schaltete sich Dansen in das Gespräch ein. Mit leuchtenden Augen und bebender Stimme fragte er: »Sagtest du, eine Karte? Eine Landkarte von unserem Land? Du hast eine solche Karte in Händen gehabt?«

»Ja«, entgegnete Sibby, »das habe ich doch gesagt.« Verständnislos fügte sie hinzu: »Haben Sie denn keine? Sie leben doch hier!«

»Liebes Kind, wenn ich eine solche Karte besäße, würde ich mein Lebenswerk für vollendet erachten. Du bist wahrhaftig ein gutes Omen für uns, und du wirst uns auf unserer Reise eine unschätzbare Hilfe sein.« »Du glaubst also ihre Geschichte?« wandte Gannoc ein. »Dieses Märchen von einer anderen Welt ist recht merkwürdig. Da ist es noch leichter, an Wasserwesen zu glauben.«

»Ich bin nicht deiner Meinung«, entgegnete Dansen. »In den Überlieferungen der Alten heißt es, wenn ich sie recht verstehe, daß solche Dinge geschehen können. Was ist mit diesem Prinzen von Vahn, der in einen Brunnen hinabstieg und sich in einem anderen Land wiederfand, in dem sich der von ihm gesuchte Riese versteckt hielt? Und mit der berühmten Geschichte von Arleons Irrfahrten nach dem Untergang von Treglad? Er streifte durch viel seltsamere Länder als Vahn. Dann gibt es noch die Tore, die sich vor dem Zenedrim in Tremyrag öffnen und ihm Besucher aus anderen Welten bringen, wie wir alle gehört haben. Ganz zu schweigen von den schwarzen Künsten der Unsterblichen Königin.«

»Aber«, gab der junge Mann zu bedenken, »hier gibt es keinen Prinzen von Vahn, keinen Zenedrim und, Vazdz sei Dank, auch keine Unsterbliche Königin. Es sei denn, Simirimia wäre arglistig genug, uns durch eine so unschuldig wirkende Fremde in Sicherheit wiegen zu wollen.«

»In diesem Fall wäre ein so rätselhaftes Erscheinen sehr töricht. Vielleicht kann Einauge uns später aufklären. Für den Augenblick schlage ich vor, da wir das Kind schwerlich in der Wildnis sich selbst überlassen können, daß wir es willkommen heißen, und zwar aufs herzlichste. Wie heißt es doch in den Maximen von Milecta: ›Das Unvorhergesehene ist der beste Lehrmeister.‹« Damit warf Dansen Sibby, die sich allmählich unbehaglich in ihrer Haut fühlte, ein wohlwollendes Lächeln zu. Sie erwiderte sein Lächeln und sagte: »Ich möchte ja gerne mit euch kommen. Aber wohin führt eure Reise?«

Der junge Mann, dessen mißtrauische Spannung nachgelassen hatte, lächelte jetzt auch, was ihm ein wesentlich angenehmeres Aussehen verlieh. »Da wir unsere Reise gemeinsam fortsetzen werden, solltest du ein bißchen mehr über uns erfahren. Gannoc und Mara kennst du bereits ein wenig. Dansen ist ein Gelehrter, der die Absicht hat, unsere Reise aufzuzeichnen, damit zukünftige Generationen Nutzen aus unseren Entdeckungen ziehen können. Einauge wird von nun an unser Führer sein, denn er ist in seinen jungen Jahren viel in der Welt herumgekommen. Als Prinz Armon von Tredana in der Schlacht gegen Simirimia von Treclere geschlagen wurde, war Einauge der einzige Überlebende, der uns Zeugnis geben konnte vom tragischen Untergang eines Heeres von zweitausend Mann zu Fuß und zu Pferde. Er kennt das Ödland, das vor uns liegt; er hat die Wüste durchquert und Blutsbrüderschaft mit einem großen Häuptling vom Wüstenvolk der Karabdu geschlossen; er ist im Westen bis nach Vahn vorgedrungen und im Norden gar bis nach Tremyrag.« Er hielt inne, und Sibby fragte unsicher: »Sind Sie Forschungsreisende? Oder sind Sie auf der Suche nach etwas, haben Sie eine – eine Mission?«

Der junge Mann nickte würdevoll. »Ja, Kind, wir haben so etwas wie eine Mission, obwohl ich nur ein Sänger bin, ein Lieder- und Geschichtenerfinder, kein großer Forscher.« Er lächelte Gannoc zu, der warnend die Augenbraue hochgezogen hatte. »Vor vielen Jahren, als ich noch ein Kind war, sprach Einauge die Prophezeiung aus, die uns hierher geführt hat. Später wurden mir seine Worte durch eine Frau bestätigt, die in die Zukunft sehen kann, eine berühmte Kartenlegerin. In ihren Karten sah sie, was Einauge in seinen Träumen erblickt hatte, und die Worte, die sie sprach, waren so überzeugend, daß ich glaubte, mich meiner Bestimmung nicht länger entziehen zu können.« Er hielt wieder inne, dann lächelte er Sibby, die ihn erwartungsvoll ansah, zu. »Die Worte werden dir vielleicht nicht allzuviel sagen.

Wenn du dein sicheres Heim nicht verläßt, so erwartet dich

ein Leben in Müßiggang, ein schimpfliches Los.

Wenn du kühn hinausziehst, so wird aus deinem Schmerz

die Wiedergutmachung eines großen Unrechts sich erweisen,

und du wirst alles aufs Spiel setzen, was du besitzt.

Gannoc hält es für Torheit, dennoch hat er sich, ebenso wie meine anderen Freunde, liebenswürdigerweise bereit erklärt, mich zu begleiten; zum einen, um des Abenteuers willen, zum anderen in der Hoffnung, die unglückliche Gefangene von der Gläsernen Insel zu befreien, was, wenn es uns gelingt, tatsächlich bedeuten würde, daß ein großes Unrecht wiedergutgemacht wird.«

»Wer ist diese Gefangene?« erkundigte sich Sibby mit wachsendem Interesse.

»Dastra, die Tochter der Unsterblichen Königin Simirimia von Treclere. Simirimia soll in einem Traum erfahren haben, daß ihre Tochter ihr den Tod bringen würde, und sie aus diesem Grund in einen Turm gesperrt haben, der auf einer Insel aus Glas, so schwarz wie die Nacht und so schlüpfrig wie Eis, steht. Außerdem heißt es, die ganze Insel sei umgeben von einem Zauberring aus mächtigen Dämonen und schrecklichen Drachen, so daß kein Mensch sich ihr nähern kann. Dem möchte ich auf den Grund gehen, wenn wir den Ort überhaupt finden.«

»Wenn«, ließ Einauge vernehmen, und Sibby, die ihn in tiefem Schlaf gewähnt hatte, fuhr erschrocken zusammen. Sein Auge war noch immer geschlossen, und da er offensichtlich nicht die Absicht hatte, weiterzusprechen, ergriff Sibby wieder das Wort. »Sie sagten, daß Sie ein Sänger sind. Bitte, haben Sie auch einen Namen?«

Er lächelte. »Ja, ich heiße Leron.« Unvermittelt schaltete sich Gannoc mit einem Lächeln ein. »Ich glaube, für den Augenblick haben wir genug Informationen ausgetauscht, und wir sollten uns auf den Weg machen, bevor die Sonne den Zenit überschritten hat.« Leron wandte sich an Mara. »Sorg dafür, daß das Kind eine warme Tunika und einen Umhang aus unserer Ausrüstung erhält. Ich gehe die Ziegen holen.«

Als Mara ihr das warme Schaffell über den Kopf gezogen hatte (es reichte ihr bis zu den Knien), sah Sibby Leron, der von einer höher zwischen den Felsen gelegenen kleinen Weide zurückkam und zwei schwarze Mutterziegen und zwei gescheckte Zicklein vor sich hertrieb. Das schien ihr eine ungewöhnliche Begleitung für eine so abenteuerliche Reise, doch dann fiel ihr ein, daß die Tiere wahrscheinlich wegen der Milch mitgeführt wurden. Sibby stellte zu ihrer Erleichterung fest, daß die Ponies tiefe Sättel trugen, die aus dick mit Leder gepolstertem Holz gefertigt waren. Sie würden ein allzu leichtes Herunterfallen verhindern. Anstelle von Zaumzeug und Trense hatte jedes der Tiere um die Nüstern eine Lederschlaufe, von der aus ein langer Zügel über die linke Schulter nach hinten führte. Sibby folgte Maras Beispiel und wand den Zügel um die linke Hand, die auf dem Knie ruhte. Als Leron die Ziegen an dem letzten der drei Packpferde festgebunden hatte, setzte sich der Zug in Bewegung.

DIE GEFANGENE PRINZESSIN: EIN LIED
von Leron, Sohn von Mathon Brotgeber, Prinz des Hauses Tredana und Statthalter von Villavac. (In seinem sechzehnten Lebensjahr)

Ich erwache im Rauschen des kalten Regens

und sie, meine Geliebte, weint laut;

Ihr Haar schimmert silbern im Mondenschein

Den Schlaf ihr Seufzen mir raubt.

Einsam auf ihrer gläsernen Insel,

Glaubt ihr Weinen sie ungehört;

Doch ihr Kummer ist in mein Herz geflogen

wie ein Vogel, der in sein Nest heimkehrt.

Oh Dastra, deine Fesseln zu sprengen,

eil ich zu dir beizeiten;

und frei wirst du dann wandeln

in meines Herzens Weiten.

II

Bald fielen sie in eine gemächliche Gangart, und Sibby döste halb vor sich hin, während sie eine von mehreren steinigen Wegstrecken in ruhigem Trott hinter sich legten. Von Zeit zu Zeit hielt Dansen an, peilte mit einem kleinen Messinginstrument, das er Ddimry nannte, die Sonne an und machte ein paar hastige Notizen. Dann spornte er sein Pferd zu einem kurzen Galopp an und gesellte sich wieder zu den anderen.

Die folgenden Tage verliefen in gleichförmigem Rhythmus. Nach ein paar Tagen fühlte sich Sibby am Abend weniger steif, und schon bald paßte sich ihr Körper mühelos den Bewegungen des Ponys an. Die Abende waren am schönsten. Wenn das Seegrasfeuer knisternd herunterbrannte, holte Leron seine Harfe hervor und polierte das Holz mit einem weichen Lederläppchen. Die dreizehn Saiten wurden gestimmt, und dann begann er zu singen. Er hatte eine schöne Stimme, tiefer als man hätte annehmen können. Auf diese Weise wurde Sibby mit dem Ruhm der Stadt Tredana und ihrer großen Helden vertraut und hörte von dem kühnen Wüstenstamm der Karabdu; und durch alle Lieder zog sich, wie eine dunkle Wolke am Horizont, die leise gemurmelte Kunde vom Bösen in Treclere. Sie erfuhr, daß Prinz Armon von Simirimia in die verhängnisvolle Schlacht getrieben worden war und daß man seinen Leichnam, entgegen allen Sitten und Gebräuchen, niemals zum Begräbnis heimgeführt hatte. Und oftmals war von Dastra, der silbernen Gefangenen auf der Gläsernen Insel, die Rede, denn bei diesem Thema war Lerons Kunst unerschöpflich. Er schilderte ihr Schmachten in den langen trübseligen Jahren ihrer Gefangenschaft in einer Vielzahl eindrucksvoller und herzergreifender Lieder.

Sibby merkte mit der Zeit immer deutlicher, daß die Menschen in dieser Welt ihre Träume ernst nahmen. Wenn einer beim Frühstück darüber sprach, so wurde er niemals aufgefordert, den Mund zu halten und zu essen. Einauges Prophezeiung und die Karten der Wahrsagerin waren nicht der einzige Anlaß für Lerons Reise. Den letzten Anstoß hatte ein Traum gegeben, den er selbst am Vorabend seines einundzwanzigsten Geburtstages gehabt hatte. Darin war ihm verkündet worden, daß er die Tochter der Unsterblichen Königin auf einer Reise in den Norden finden und dadurch einen alten Zauber brechen konnte, wenn er das Wagnis auf sich nehmen würde. Und wenn ihn seine Freunde auch töricht nannten, so ging es ihnen dabei doch nur um die damit verbundene Gefahr. Niemandem wäre es in den Sinn gekommen, die Begründung für die Reise anzuzweifeln. Jedermann glaubte an Träume.

Sibby ihrerseits versuchte, den anderen einen Eindruck von ihrem eigenen Alltagsleben zu vermitteln. Sie konnte zwar so wichtige Dinge wie Autos und Fernseher beschreiben, nicht aber wirklich erklären, da sie selbst nicht wußte, wie sie funktionierten. Sibbys Geschichten klangen für ihre Zuhörer wie Dansens Wundermärchen und wurden von ihnen mit demselben höflichen Interesse aufgenommen. Dansen mußte sie enttäuschen. Ihr Blick auf die Karte war so flüchtig gewesen, daß sie nicht in der Lage war, sie ihm zu beschreiben. Allerdings erinnerte sie sich an die Ausdehnung des Landes, und seine Größe versetzte Dansen in Erstaunen. »Ich muß meine Theorien revidieren, Kind«, sagte er, indem er ihr geistesabwesend die Hand tätschelte. Dann kritzelte er wieder etwas in sein Notizbuch.

In der zweiten Woche nahm Sibby all ihren Mut zusammen und fragte Leron nach seiner Harfe aus. Es war ein besonderes Instrument und hatte einen Namen, nämlich Telyon. Sie wünschte sich sehnlichst, die Harfe einmal berühren zu dürfen, und war hocherfreut, als Leron sie ihr erklärte und ihr beibrachte, eine einfache Melodie darauf zu spielen. In der darauffolgenden Zeit übte sie allabendlich, und die anderen bestätigten ihr lächelnd ein beachtliches Talent.

Auf diese Weise gingen die Wochen dahin, und die Tage wurden merklich kürzer. Die Nächte waren tiefschwarz und frisch, und manchmal war der Boden am Morgen mit Frost überzogen. Sibbys Schuhe, die in ihrer eigenen Welt als derb galten, lösten sich allmählich auf, und Gannoc fertigte ihr hohe Ledermokassins, wie die anderen sie trugen. Der Wind, der vom Meer her wehte, wurde mit jedem Tag schneidender, und im Westen begann sich in weiter Ferne ein Gebirge abzuzeichnen, das sich mit seinen weiß schimmernden Gipfeln zerklüftet und dunkelblau vom Himmel abhob.

Die ganze Zeit über hörte Sibby nicht auf, ihre neuen Freunde genau zu beobachten. Sie sprach wenig, hielt aber Augen und Ohren stets offen. In ihrer Familie hatte sie sich längst angewöhnt, die Erwachsenen nicht mit Fragen zu behelligen. Es machte sie nur ungehalten. Doch die Gesprächsfetzen, die sie auffing, begannen sich in ihrem Kopf zu einem Ganzen zu formen, und sie begriff, ohne Fragen stellen zu müssen, daß ihre Freunde auf der Suche waren nach einer Einöde, den Ruinen einer ehemaligen Stadt, wo sie auf einen Wegführer stoßen sollten. Sibby war besonders daran gelegen, ihnen nicht zur Last zu fallen, weil ihr klar geworden war, daß man sie offenbar zurückzulassen beabsichtigte, sobald ein besiedeltes Gebiet erreicht war. Und sie wollte nicht zurückbleiben. Sie wollte dabeisein, wenn Leron sein Ziel erreichte. Sie stellte es sich aufregend vor. Also hörte sie zu und versuchte, sich nützlich zu machen. Und so lagen nun die Dinge. Bis sie auf den Hund trafen.

Es war ein großer, dunkelbrauner Hund, dessen Gestalt an einen Bären erinnerte, und eines Morgens tauchte er ohne Vorwarnung auf. Einauge wurde mit einem Schlag hellwach und streckte die Hand aus. »Willkommen, Calab. Wir hatten gehofft, daß wir rechtzeitig kommen.« Calab ließ den Blick langsam über die Gruppe schweifen und sah jeden einzelnen eindringlich an, dann lief er zu Einauge und berührte seine ausgestreckte Hand kurz mit der Schnauze. Einauge wandte sich zu den anderen um. »Das ist der Führer, von dem ich euch in Tredana erzählt habe. Calab kann uns zu Rianna von Treglad, dem Felsenorakel, führen. In seiner Begleitung sind unsere Schritte sicher gelenkt. Er hat mich stets unfehlbar durch Felsen und Ruinen zum Orakel geleitet; und wenn er es will, wird er jetzt uns alle führen.« Bei diesen Worten legte Calab den Kopf schief wie ein gewöhnlicher Hund, dann ging er langsam von einem zum anderen und schnupperte kurz. Bei Sibby blieb er stehen und sog tief die Luft ein. Mit einem Schwanzwedeln rieb er den Kopf an ihr, bevor es sich wieder abwandte. Dann setzte er sich, mit dem Rücken zu dem Grüppchen, ein wenig abseits nieder und wartete. »Das ist ein gutes Zeichen«, verkündete Einauge. »Er wird uns führen. Wir müssen uns bereit machen, ihm zu folgen.«

Bald hatten sie ihre Habe zusammengepackt und das Feuer mit Erde bedeckt. Als sie auf die Pferde gestiegen waren, trabte Calab, ohne sich noch einmal umzusehen, in nördlicher Richtung davon. Sie folgten ihm in einer Reihe. Dansen machte, wie gewöhnlich, seine Notizen und murmelte erbost vor sich hin, wenn das Gerüttel im Sattel ihm das Schreiben erschwerte. Leron blickte sich über die Schulter nach Sibby um. »Calab war offensichtlich erfreut, dich zu sehen. Dein Auftauchen hat vielleicht irgendeine Bedeutung, die uns in Kürze offenbart werden wird.« »Einauge sagte, er hätte euch Calab angekündigt. Hattet ihr wirklich erwartet, einen Hund anzutreffen?« »Das schon, aber einige hatten, bei allem Respekt vor Einauge, insgeheim ihre Zweifel. Wir hielten es für das beste, abzuwarten und zu sehen, ob sich seine Ankündigung erfüllen würde. Und jetzt müßten wir uns, wenn alles seinen rechten Gang geht, bald beim Felsenorakel befinden. Da Calab dich willkommen geheißen hat, wirst du offenbar ebenfalls erwartet. Sie ist von außerordentlicher Weisheit, und es steht mir nicht zu, sie zu beschreiben. Du wirst sie bald mit eigenen Augen sehen.« Sibby nickte schweigend.

Um sie her hatte es aufgeklart, und die Luft schien, mit vorrückendem Morgen, dünner zu werden. Calabs Weg führte sie allmählich ins Landesinnere, und gegen elf Uhr hatten sie das Meer hinter sich gelassen und eine ausgedehnte Ebene erreicht. Der Boden war rissig und uneben und mit Steinbrocken und Gesteinsaufwerfungen übersät, in denen Sibby Vulkanformationen ausmachte. Unter den Hufen der Pferde knirschte und bröckelte es. In einigen der komplizierteren Felsengebilde glaubte Sibby die undeutlichen Umrisse von Gebäuden und Türmen zu erkennen. Sie wandte sich zu Dansen um. »Dansen, was ist das für ein Ort? Warum sehen die Felsen so merkwürdig aus? Manche von ihnen sehen fast aus wie Häuser.« Dansen blickte geistesabwesend von seinen Notizen auf, dann überflog ein Lächeln der Erkenntnis seine Züge, und er verstaute die Papiere an seiner Brust.

»In den alten Schriften heißt es, daß hier einst Treglad, die größte aller Städte, stand«, erklärte er in seiner gewohnten bedachten Art. »Ihresgleichen werden die Menschen der heutigen Zeit niemals schauen. Brydeni gibt ein, wie ich finde, glaubwürdiges Zeugnis dafür, daß sich hier die ersten Stämme nomadisierender Jäger niederließen, Heime errichteten und zu Wohlstand kamen. Die Stadt Treglad wurde so mächtig, daß sie schließlich keiner Mauern mehr bedurfte und, da sie keinen Angriff zu fürchten hatte, sich friedlich zwischen Gärten und Kanälen ausbreitete. In den Herzen ihrer Bewohner aber begann eine große Verderbtheit zu gären, bis schließlich Vazdz die Erde dazu brachte, zu speien, und die Guten wie die Bösen wurden ohne Unterschied unter Strömen von kochendem Gestein und rauchender Asche begraben. Reisende aus Treglad (denn ihre Bewohner waren ein gelehrtes Volk, das die Entdeckungsreisen liebte) fanden bei ihrer Rückkehr an der Stelle ihrer Heimatstadt nur noch rauchende Trümmer vor. Ihre Klagelieder sind uns überliefert, werden aber ob ihrer tiefen Traurigkeit nicht gesungen. Viele starben aus Kummer; andere schlossen sich zusammen und machten sich auf zu den entlegenen Orten Tredana und Treclere und bauten sie nach ihren unterschiedlichen Vorstellungen auf. Das alles liegt nun mehr als dreißig Generationen zurück.«

»Dann ist es also keine bloße Phantasie … hier standen Gebäude. Sind wirklich alle fortgezogen? Hat niemand den Versuch gemacht, die Häuser wiederaufzubauen?« »Ich habe Gerüchte über ein kleines Völkchen gehört, das sich heimlich hier zwischen den Ruinen niedergelassen haben soll. Einauge hat auf seinen Reisen nichts davon bemerkt, aber zur Zeit meines Großvaters gab es einige Berichte über sie. Skotla nimmt an, daß vielleicht ein paar Kinder der Zerstörung entkommen und zu wildlebenden Kreaturen herangewachsen sind. Aber es ist auch möglich, daß die gelegentlich hier vorüberziehenden Reisenden, von den alten Geschichten und Legenden verwirrt, im flackernden Schein ihres Lagerfeuers Dinge gesehen haben, die gar nicht vorhanden waren.«

Sibby blickte mit wachsender Aufmerksamkeit um sich. Aber inzwischen stand die Sonne fast im Zenit, und die Schatten hatten sich dicht um die bizarren Ruinenhügel zusammengezogen. Die Gedanken erfüllt von Treglad, wie es einst ausgesehen haben mochte, und von dem kümmerlichen Häuflein, das jetzt angeblich in den Ruinen hausen sollte, wußte sie, daß ihre Augen mehr sehen würden, als da war. Sie war froh, als Calab still anhielt und sie absattelten, um die Pferde ausruhen zu lassen und selbst etwas zu essen.

Wie zuvor, saß Calab mit dem Rücken zu der Gruppe und blickte ausdruckslos nach Norden. Gannoc und Leron molken die Ziegen, während Dansen Mara half, den Mais für die Suppe zuzubereiten. Einauge döste, warm eingehüllt, um sich vor dem Wind zu schützen, in der Sonne, und Sibby entfernte sich unbemerkt, um eine langgezogene gerippte Felsformation zu untersuchen. Sie entdeckte, daß es sich um eine Reihe von merkwürdig miteinander verschmolzenen Hausruinen ohne Dächer handelte. Mit einem tiefen Atemzug trat sie durch den ersten schiefen Eingang und blieb einen Augenblick lang stehen. Eigenartige Bilder wirbelten ihr durch den Kopf, und plötzlich fiel ihr das Haus in West Newton ein, in dem all ihre Abenteuer begonnen hatten. In dem düsteren Herrenhaus hatte sie ein ähnliches Gefühl gehabt wie hier in dem kleinen dachlosen Raum, in dem ihre Füße dunkle Asche aufwirbelten. Verwirrt schüttelte sie den Kopf und ging weiter.

Als sie zurückkehrte, war das Mittagessen fertig. »Hast du etwas Interessantes entdeckt da drüben?« erkundigte sich Mara. »Ich weiß nicht. Die Felsen dort sind in Wirklichkeit alte Häuser oder zumindest Räume.« »Na ja«, entgegnete Mara sachlich, »am besten forscht man hier nicht allzu eifrig.« »Ja«, fügte Leron hinzu, »schließlich sind wir hier zu Gast und haben nichts weiter zu suchen, als dem Orakel unsere Ehrerbietung zu erweisen und sie um ihren Rat zu bitten. Und im übrigen würde uns allen deine Gesellschaft fehlen, solltest du unverhofft wieder auf einen Durchgang stoßen und uns ebenso plötzlich verlassen, wie du gekommen bist.« Er warf ihr ein überaus freundliches Lächeln zu, und Sibby schlug verwirrt und geschmeichelt die Augen nieder. In mancher Hinsicht waren ihr diese neuen Freunde mehr zur Familie geworden, als sie es je zuvor erfahren hatte, aber sie fand keine Worte, ihnen das mitzuteilen. »Wenn ich heute ein Fenster fände, würde ich vielleicht nicht so eilig hinausspringen«, sagte sie schließlich, indem sie Lerons Lächeln erwiderte. Während sie zusammenpackten, um ihren Weg fortzusetzen, umschlang Sibby plötzlich überschwenglich Maras Taille, wie sie es immer gern bei ihrer Mutter getan hätte, und Mara schloß sie lächelnd in die Arme.

Der Nachmittag verlief wie der Morgen; in Einerreihe trabten sie über die harte, rissige Erde, und Calab trottete unermüdlich vor ihnen her. Die Hufe ihrer Pferde wirbelten dunkelrote Staubwölkchen auf, und nach etwa einer Stunde wurde die Luft so drückend, daß sie sich Tücher vor Mund und Nase banden. Leron hustete und rief Gannoc mit belegter Stimme zu: »Schlechte Gegend für einen Hinterhalt, finde ich.« »Wahrhaftig, Sir«, gab Gannoc mit erhobener Stimme zurück. »Mir ist allerdings gerade durch den Kopf gegangen, was für ein hübsches Ziel wir doch abgeben müssen.« »Ich möchte wetten, daß sich kein Feind nähern kann, ohne uns ein ebensolches zu bieten.«

Eine Antwort Gannocs blieb aus, denn gerade, als Lerons Worte verhallt waren, erhoben sich plötzlich die Schatten am Fuße eines verwitterten Felsblocks und bildeten einen schweigenden Halbkreis um Calab. Es waren kleinwüchsige Männer, kleiner als Sibby und noch dunkelhäutiger als die Tredaner. Ihre kräftigen Körper waren mit Streifen aus rotem, schwarzem und weißem Lehm bemalt, und sie trugen Federn und Steinschmuck um den Hals. Zwar war ihr Auftauchen vollkommen überraschend, doch waren ihre Absichten keineswegs feindselig, denn sie hatten ihre kurzen Speere in einem Stapel am Felsen zurückgelassen. Calab begrüßte sie mit freundlicher Würde. Als sie die Pferde zügelten, hatte sich Einauge gestrafft, und nun zog er mit bebenden Händen sein Tuch unter das Kinn herunter und ritt vorwärts. Einer der Fremden trat vor und legte die linke Hand an die Kehle; dann berührte er Einauges Hals auf dieselbe Weise leicht mit den Fingern. Einauge erwiderte die Geste, dann lächelten beide und wechselten leise ein paar Worte in einer fremden Sprache. Sibby war hin- und hergerissen zwischen ihrem Interesse an den beiden und dem Wunsch, den beständig wechselnden Ausdruck auf Dansens Gesicht zu betrachten, der in seiner Verblüffung komisch anzusehen war.

Der alte Mann wandte sich seinen Begleitern zu. »Meddock überbringt uns den Friedensgruß des Orakels und sagt, daß wir zur rechten Zeit gekommen sind. Er und seine Stammesbrüder werden Calab ablösen, damit er seinen anderen Verpflichtungen nachkommen kann, und uns selbst zu der Kammer führen.« Seine Worte kamen deutlich, aber schwerfällig, und Sibby wurde bewußt, daß er seine Kraft für diesen Augenblick aufgespart hatte. Als Einauge verstummt war, trieb Leron sein Pferd vor, stieg ab und berührte seinen Hals mit der Hand, wie er es beobachtet hatte. Einauge nickte beifällig, und Meddock begrüßte den jungen Mann in derselben Weise wie zuvor seinen alten Freund. Die anderen Krieger nahmen ihre Speere auf und stellten sich schützend um die Reisenden auf. Daraufhin erhob sich Calab, schüttelte sich und ließ einen letzten Blick über das Grüppchen schweifen. Dann wandte er sich ab, lief mit erstaunlicher Geschwindigkeit in westlicher Richtung davon und war schon bald nur noch ein kleiner Punkt in der Ferne.

Sibby wandte sich an Dansen, der ihr am nächsten war. »Weißt du, warum er uns verlassen hat? Ich dachte, er wäre unser persönlicher Führer.« Einauge antwortete an seiner Statt, ohne sie anzusehen. »Calab ist Führer für viele, ob sie es wollen oder nicht. Viele warten ungeduldig darauf, ihre Reise antreten zu können, weil er sich unseretwegen verspätet hat. Andere atmen auf über den scheinbaren Aufschub. Ihr hier gehört zu den wenigen, die Calab zweimal folgen werden, jetzt und am Ende aller Zeit. Ich wünschte, er würde ernsthaft bei mir vorbeikommen.«

Sibby blickte Calabs verblassender Gestalt nach, und eine Gänsehaut lief ihr über den Rücken, doch so vieles ereignete sich hier, daß ihr keine Zeit blieb, sich zu wundern. Sechs der abenteuerlichen Männer auf jeder Seite und Meddock an der Spitze, ritt die Gruppe in zügigem Trab auf einen kleinen Geröllhügel zu, der aussah wie das Fundament eines eingestürzten Turmes, von dem zwei Mauern sich nach den Seiten ausdehnten und bröckelnd im Sand verliefen wie ein zerrupftes Flügelpaar. Der Eingang, dessen Öffnung dunkel gähnte wie ein Mund, gefiel Sibby nicht, doch sie hatte nicht die Führung inne und mußte den anderen wohl oder übel folgen, als Meddock sie in diesen geöffneten Schlund führte.

Im Innern des Bogenganges war es geräumiger, als Sibby vermutet hatte; vor sich erkannte sie schemenhaft die verwitterten Stufen einer Wendeltreppe, die nach oben zu einem teilweise eingestürzten Flachdach führte und nach unten ins Ungewisse. Meddock gab ihnen durch Zeichen zu verstehen, daß sie absteigen und von hier an allein weitergehen mußten; in ernstem Schweigen wurden die Ponies angebunden, und die dunklen Krieger hockten sich um sie herum, um zu warten und Wache zu halten. Sibby hatte erwartet, daß Einauge oder vielleicht Gannoc vorangehen würde, aber es war Leron, der die Führung übernahm. Er stand an der Treppe und blickte hinunter. Als sich alle um ihn versammelt hatten, stieg er in die Dunkelheit hinunter.

Warme, dumpfe Luft umschloß sie auf ihrem Weg nach unten. Sibby, die sich in der undurchdringlichen Dunkelheit vorsichtig zwischen Gannoc und Mara die bröckeligen Stufen hinuntertastete, mochte den fremdartigen Geruch nicht allzu tief einatmen. Vor sich hörte sie Dansen, der Einauge half, das Gleichgewicht zu bewahren, leise in sich hineinmurmeln. Die Treppe war so schmal, daß sie nicht zu zweit nebeneinander gehen konnten, so daß Dansen eine Stufe vorausgehen und Einauge sich an seiner Schulter festhalten mußte. Viele Minuten lang schien ihr Abstieg zu dauern, bis Sibbys Fuß endlich unsanft auf ebenen Grund stieß. Sie befanden sich offenkundig in einem schmalen Gang, von dessen Ende ein ganz schwacher Lichtschimmer zu ihnen herüberdrang. Sibby stockte der Atem, als sie eine leise Berührung am Knöchel spürte, doch dann erkannte sie, daß es lediglich der Staub war, den sie aufgewirbelt hatte. Er lag mehrere Zentimeter hoch auf dem Boden des Ganges und dämpfte ihre Schritte vollkommen.

Das diffuse Licht am Ende des Ganges kam aus einer wabenförmigen kleinen Kammer, die, abgesehen von einem rechteckigen, grabartigen Marmorblock, vor dem auf einem dreibeinigen Gestell ein Messingleuchter stand, leer war. Von der hohen bläulichen Flamme dieses Leuchters ging der Lichtschein aus. Als Leron sich auf ein Knie niederließ, folgten die anderen seinem Beispiel, und auch Sibby tat es ihnen zögernd nach. Dann hörten sie im Geist eine ruhige Stimme sprechen, so unerreichbar wie das Sternenlicht.

»Ihr seid willkommen in meinem Haus. Ich weiß, welche Frage ein jeder von euch stellen will, und ich werde euch, um der Liebe willen, die einer von euch für mich hegt, antworten.« Vor Sibbys staunenden Augen entstand ein flimmerndes Bild hinter der Flamme, eine schemenhafte Frauengestalt, deren Umrisse zu fließen schienen wie Öl auf einer Wasserfläche. Ihre bloßen Arme hoben sich schimmernd vom unbestimmbaren Stoff ihres Gewandes ab, und das dunkel gelockte Haar verschmolz mit den Schatten.

»Gannoc«, fuhr sie fort, »du brauchst nicht zu fürchten, daß eure Reise eine Torheit sei, denn sie wird einen guten Ausgang nehmen, wenn auch lange Zeit darüber vergeht. Deine und Maras Besonnenheit ist eine schätzenswerte Eigenschaft, doch in einer Angelegenheit läßt du möglicherweise deine Vorsicht außer acht. In eurer Gesellschaft kann sich der Prinz offenbaren, und es wird ihm kein Unheil daraus erwachsen.« Gannoc und Mara knieten Hand in Hand nebeneinander; als das Orakel geendet hatte, hoben sie den Blick zu ihrem unsteten Abbild.

Die Frau wandte sich nun Dansen zu, und ihre Gestalt nahm plötzlich Farbe an und schien sich merklich zu verdichten. Sie lächelte auf ihn herunter, und auf ihrem jetzt deutlich erkennbaren Gesicht lag ein ruhiger, lieblicher Ausdruck. »Mir scheint, daß deine Gedanken erfüllt sind von meiner Stadt«, begann sie. »Du bewahrst meine Erinnerung wie kaum einer. In eurer gegenwärtigen Unternehmung hast du den Weg des Lernens eingeschlagen, und die Weisheit, die deine höchste Freude ist, wird dich am Ende erwarten. Scheue dich nicht, deine Meinung zu ändern. Die Wahrheit findest du nicht in Büchern, sondern in deinem Herzen. Und denk immer daran, sie mit anderen zu teilen, denn Wissen, das man bei sich behält, ist von keinem Nutzen und daher verabscheuungswürdig. Und vergiß nie die Stadt Treglad.« Wie ein Gesichtsausdruck, der sich verflüchtigt, wurden ihre Umrisse undeutlich und verschwommen. »Nun geht in Frieden und mit meinem Segen, ihr drei, denn ich habe Dinge zu sagen, die nicht für eure Ohren bestimmt sind.«

Schweigend erhoben sie sich und gingen hinaus, ohne sich auch nur die Zeit zu nehmen, den Staub von den Knien zu wischen. Jetzt flammte das Bild des Orakels auf und zog sich dann zusammen wie eine verlöschende Kerze, dehnte sich weit aus und wurde dann flackernd kleiner. »Steh auf, Prinz«, sagte sie, und ihre Worte waren unmißverständlich an Leron gerichtet. »Du mußt nicht vor mir knien.« Widerstrebend erhob sich Leron, den Kopf noch immer ehrerbietig gesenkt. »Macht besitze ich wohl, doch ich habe keine Herrschaft über die Dinge, und so, wie meine Stadt in Vergessenheit gerät, verblasse auch ich und schwinde dahin.« Leron erwiderte: »Meine Achtung gilt nicht der bloßen Macht, und so soll es auch nicht sein, denn sonst könnte ich alles Erdenkliche anbeten; meine Achtung gilt dem Felsenorakel, das in jedem Fall die höchste Ehre verdient.« »Die Antwort ehrt den Sprecher gleichermaßen. Drei Dinge habe ich dir zu sagen. Erstens, daß du einen Führer finden wirst, wenn du wieder zur Welt hinaufsteigst. Er wird dich einen weiten Weg geleiten, bis zur Gläsernen Insel und darüber hinaus, weiter bis an das Ziel deines schicksalhaften Unterfangens. Zweitens will ich dich warnen, denn eure Unternehmung wird eine Schlange entfesseln, die furchtbarer ist als jedes Wesen von Fleisch und Blut, das du bisher gesehen hast, und du wirst glücklicher sein, wenn dieses Ungeheuer nicht mehr ist. Drittens, und das ist das wichtigste, wirst du bei drei Gelegenheiten gut daran tun, auf dieses Kind zu hören, wenn es spricht. Selbst der mächtigste aller Prinzen sollte es nicht für eine Schande halten, von einem Kind eine Lehre anzunehmen.« Bei diesen Worten hob Sibby erstaunt die Augen und sah, daß der Blick der Wächterin auf ihr ruhte. Eine weiße Hand streckte sich ihr hell aus den Schatten entgegen.

»Mein Kind, du weißt nicht viel davon, wie bitter notwendig dein Erscheinen war. Wie der Name besagt, den du trägst, wirst du die Wahrheit sprechen, wenn ihrer am nötigsten bedurft wird, und durch deinen Namen werden verborgene Dinge ans Licht gebracht werden. Du bist Sibylle, und deinesgleichen wirst du finden, und ich verspreche dir große Erleuchtung, Erleuchtung und Verwirklichung, doch ich kann dir kein Glück versprechen. Hiermit besiegele ich meine Worte.« Sie beugte sich über Sibby und berührte mit ihrer weißen Hand leicht die Kehle des Mädchens. »Sei tapfer und hab Vertrauen in die Wahrheit, wie du sie siehst.« Sibby hatte das Gefühl, daß sich die Luft in ihrer Lunge entflammte und die Hitze durch alle Adern nach außen strömte, und sie mußte einen Aufschrei unterdrücken. Gleich darauf überkam sie jedoch eine tiefe Ruhe, und als das Orakel sich Einauge zuwandte, war sie nahe daran, einzunicken.

Einauge hatte die ganze Zeit unbeweglich mit gesenktem Kopf und in den Händen verborgenem Gesicht auf den Knien verharrt; sein weißes Haar hing fast bis zum Boden. Jetzt hob er den Kopf, und in seinem einen strahlenden Auge spiegelte sich der blaue Schein der Lampe; in seiner Miene drückten sich tiefe Trauer und Freude zugleich aus. Als das Orakel sprach, war ihre Stimme leise und voller Liebe. »O Arbytis, Arbytis, selbst jetzt noch treu. Ich hatte nicht geglaubt, daß ich noch einmal mit dir sprechen würde.« Sie streckte ihm beide Hände entgegen, und Sibby zuckte, in Erinnerung an die schmerzhafte Berührung, zusammen. Doch Einauge ergriff sie freudig und drückte sie an Gesicht und Brust, während ihm Tränen über die Wangen liefen. »Um deinetwillen wünschte ich, Calab hätte dich zu deiner letzten Reise geholt, aber um meinetwillen bin ich froh, daß es nicht so ist. Doch ich sehe wohl, wie schwer die Jahre auf dir lasten. Du hättest nicht kommen sollen, jetzt, da deine Schwäche dir nur weiteren Schmerz bereiten und dir keine Erleichterung mehr bringen kann.« Ihre Hände noch immer in den seinen, entgegnete er: »Rianna, meine Herrin, sollte mir morgen der Friede des Todes geboten werden, so würde ich ihn nicht annehmen, es sei denn, zu deiner Ehre. Wohl ist es wahr, daß ich mich um Lerons willen, den ich liebe, und um Simirimia zu vernichten, auf diese Reise begeben habe, aber es ist ebenso wahr, daß ich aus keinem anderen Grund, als um meinen Schwur zu erfüllen, gekommen wäre. Seine Stimme zitterte vor Bewegung und Schwäche, und er beugte wieder den Kopf über ihre Hände. »Du hast das Versprechen, das du mir gegeben hast, über dreißig Generationen hinweg treu gehalten, Arbytis. Doch wenn ich den Preis bedenke, den du dafür gezahlt hast und immer noch zahlst, dann wünschte ich fast, es wäre anders.« Einauges Entgegnung verlor sich in einem plötzlichen Windstoß, der wie Flügelschlagen klang und die Hände des Orakels aus seinem Griff riß. Sie schrie laut auf, und einen Augenblick lang klang ihre Stimme wie die einer Sterblichen. »Ach, Arbytis, du bist zu lange geblieben. Wieder ist Vazdz zwischen uns getreten.« Das Licht verblaßte, und ihre Stimme wurde leiser. »Auch wenn ich vergessen bin und mich in Luft auflöse, wirst du dich meiner doch immer erinnern. Mögest du bald Frieden finden. Geht jetzt alle hin mit meinem Segen.«

Irgendwie gelang es Sibby, auf ihre gefühllosen Füße zu kommen, und schweigend half sie Leron, den alten Mann von den Knien aufzurichten. Er straffte sich ohne ihre Hilfe und trat zu der Lampe vor, deren klarer Schein jetzt die Kammer erhellte, die das Orakel verlassen hatte. Er berührte die Flamme mit den Fingern, dann legte er die Hand an die Kehle, und während er unverständliche Worte murmelte, trockneten die Tränen auf seinem Gesicht. Gleich darauf wandten sie sich schweigend ab und traten in den dunklen Gang hinaus.

KLAGELIED FÜR TREGLAD
überliefert und aus der Originalsprache übersetzt von Brydeni

Der Himmel wird nie wieder blau sein

Die Sonne wird nie wieder warm sein

Das Wasser wird nie wieder klar sein

Hier stand Treglad:

Und nun ist hier nichts mehr

Kalt ist der Nordwind auf ewig

Dunkel die sternlose Nacht auf ewig

Hart die dürre Erde auf ewig

Hier stand Treglad:

Und nun ist hier nichts mehr

Treglad: in unseren Gedanken wachst du

Treglad: in unseren Herzen schläfst du

Treglad: auf unseren Lippen stirbst du

Treglad auf ewig:

Und doch ist hier nichts mehr

III