Das Verschwinden der Erde - Julia Phillips - E-Book
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Das Verschwinden der Erde E-Book

Julia Phillips

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Beschreibung

Über Verlust, Überleben und die Kraft der Hoffnung An einem Sommertag an der Küste Kamtschatkas verschwinden die russischen Schwestern Sofija und Aljona. Das Verbrechen erinnert an einen Vorfall nur Monate zuvor in der indigenen Bevölkerung. Wie eine düstere Wolke hängt der ungelöste Fall fortan über Kamtschatka und beeinflusst das Leben ganz unterschiedlicher Frauen in einer gespaltenen, männerdominierten Gesellschaft. Während das Netz zwischen den Einzelschicksalen dichter wird, hält die Suche nach den Mädchen die ganze Stadt in Aufruhr. Brillant konstruiert und einfühlsam erzählt, entführt uns der Roman in eine extreme und faszinierende Welt am Rande der Welt: in die graue Stadt Petropawlowsk, die spektakulären Weiten der Tundra und die Schatten schneebedeckter Vulkane.

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Über das Buch

An einem sonnigen Nachmittag im August verschwinden an der Küste Kamtschatkas die beiden Schwestern Sofija und Aljona spurlos. Die Nachricht löst Entsetzen und Misstrauen in der eng verbundenen Gemeinschaft dieser entlegenen Region aus, doch noch nach Wochen tappt die Polizei im Dunkeln. Das Verschwinden der Mädchen erinnert an einen Vorfall nur Monate zuvor in der indigenen Bevölkerung, als die Studentin Lilja wie vom Erdboden verschluckt worden war. Wie eine düstere Wolke hängt der ungelöste Fall fortan über Kamtschatka und beeinflusst das Leben ganz unterschiedlicher Frauen in einer gespaltenen, männerdominierten Gesellschaft. Während das Netz zwischen den Einzelschicksalen dichter wird, hält die Suche nach den Mädchen die ganze Bevölkerung in Aufruhr. Brillant konstruiert und einfühlsam erzählt, entführt uns der Roman in eine extreme und faszinierende Welt am Rande der Welt: in die graue Stadt Petropawlowsk, die spektakulären Weiten der Tundra und die Schatten schneebedeckter Vulkane.

 

 

 

 

Für Alex, mein dar, mein дap

DIE HAUPTPERSONEN

Familie Golosowski

Marina Alexandrowna, Journalistin in Petropawlowsk-Kamtschatski

Aljona, ihre ältere Tochter

Sofija, ihre jüngere Tochter

Familie Solodikow

Alla Innokentjewna, Leiterin des Kulturzentrums von Esso

Natalija, genannt Natascha, ihre älteste Tochter

Denis, ihr zweites Kind und einziger Sohn

Lilja, ihre jüngste Tochter

Rewmira, ihre Cousine zweiten Grades, Krankenschwester

Lew und Julija, genannt Julka, Nataschas Kinder

Familie Adukanow

Ksenija, genannt Ksjuscha, Studentin

Sergei, genannt Tschegga, ihr Bruder, Fotograf

Ruslan, Ksjuschas Freund

Nadeschda, genannt Nadja, Tscheggas Freundin

Ljudmila, genannt Mila, Nadjas Tochter

Familie Rjachowski

Nikolai Danilowitsch, genannt Kolja, Polizeiinspektor

Soja, seine Frau, Mitarbeiterin einer Umweltbildungseinrichtung im Nationalpark, zurzeit im Mutterschaftsurlaub

Alexandra, genannt Sascha, ihr Baby

 

Oksana, Forscherin am Institut für Vulkanologie

Maxim, genannt Max, Forscher am Institut für Vulkanologie

Jekaterina, genannt Katja, Zollbeamtin im städtischen Containerhafen

Jewgeni Pawlowitsch Kulik, Polizeigeneral von Kamtschatka

Anfisa, Sachbearbeiterin in der Polizeibehörde

Walentina Nikolajewna, Schulsekretärin in einer Grundschule

Diana, Walentina Nikolajewnas Tochter

Lada, Rezeptionistin in einem Stadthotel

Olga, genannt Olja, Schülerin

AUGUST

Sofija stand barfuß, ohne Sandalen, am Ufer. Das Meer kroch näher, als wollte es ihre Zehen verschlucken. Graues Salzwasser auf heller Haut.

»Geh nicht weiter rein«, sagte Aljona.

Das Wasser zog sich zurück. Aljona sah, wie die angeschwemmten Kieselsteine unter den Füßen ihrer Schwester die Wölbung der Fußsohle ausfüllten. Sofija bückte sich, um die Hosenbeine hochzukrempeln, ihr Pferdeschwanz fiel nach vorn über den Kopf. Auf den Waden schorfige Spuren von aufgekratzten Mückenstichen. Die straffe Linie der Wirbelsäule zeigte Aljona, dass ihre Schwester nicht auf sie hören würde.

»Wehe …«, sagte sie.

Sofija richtete sich auf und blickte übers Wasser. Es lag ruhig in der Bucht, nur ein leichtes Kräuseln flog über die Wellen, sodass es aussah wie ein Stück gehämmertes Blech. Die Strömung wurde erst weiter draußen stärker, wo das Wasser in den Pazifik zog, Russland hinter sich ließ, um ins offene Meer überzugehen, doch hier war es noch zahm. Es gehörte ihnen. Sofija hatte die Hände in die schmalen Hüften gestemmt und betrachtete die weite Bucht, die Berge am Horizont und die weißen Lichter der Militäranlage am anderen Ufer.

Der Kies unter ihren Füßen bestand aus Splittern größerer Steine. Aljona lehnte an einem Felsbrocken, so groß wie ein Rucksack, vor der bröckelnden Klippenfassade des Sankt-Nikolaus-Hügels. Wasser auf der einen Seite, eine Steinwand auf der anderen, so waren sie heute Nachmittag an der Küste entlanggewandert, bis sie diesen Flecken gefunden hatten, frei von Flaschen oder Federn, wo sie sich niederlassen konnten. Wenn Möwen in der Nähe landeten, schwenkte Aljona den Arm, um sie zu verscheuchen. Den ganzen Sommer über war es kühl und regnerisch gewesen, doch dieser Augustnachmittag war so warm, dass man kurze Ärmel tragen konnte.

Sofija machte einen Schritt nach vorn, und ihre Ferse versank im Wasser.

Aljona setzte sich auf. »Ich habe Nein gesagt, Sof.« Ihre Schwester zog den Fuß zurück. Eine Möwe flog über sie hinweg. »Warum nervst du so?«

»Tu ich nicht.«

»Doch. Tust du immer.«

»Nein«, sagte Sofija und drehte sich um. Alles an ihr – die schräg stehenden Augen, die schmalen Lippen, der knochige Kiefer, selbst ihre Nasenspitze –, alles ärgerte Aljona. Sofija war acht und sah immer noch aus wie sechs. Aljona war drei Jahre älter und klein für ihr Alter, ihre Schwester aber war geradezu winzig, alles an ihr, vom Hüftumfang bis zu den Handgelenken, und manchmal benahm sie sich auch wie ein kleines Kind: Am Fußende ihres Bettes saß ein Haufen Stofftiere, beim Spielen tat sie so, als sei sie eine weltberühmte Ballerina, und wenn sie im Fernsehen auch nur eine Szene aus einem Horrorfilm mitbekam, konnte sie nicht einschlafen. Ihre Mutter verhätschelte sie. Weil sie die Zweitgeborene war, durfte Sofija ihr ganzes Leben lang ein Baby bleiben.

Jetzt konzentrierte sie sich auf eine Stelle hoch über Aljonas Kopf, nahm einen Fuß aus dem Wasser, stellte sich auf die nassen Zehenspitzen und hob die Arme in die fünfte Position. Sie schwankte und fing sich wieder. Aljona veränderte ihre Sitzhaltung auf den Steinen. Ihre Mutter wollte immer, dass Aljona ihre kleine Schwester mitnahm, wenn sie Schulfreundinnen zu Hause besuchte, doch genau wegen solcher Albernheiten ließ sie es lieber bleiben.

Stattdessen hatten sie die Sommerferien allein miteinander verbracht. Auf dem matschigen Parkplatz hinter dem Haus zeigte Aljona ihrer Schwester, wie man den Bogengang rückwärts macht. Im Juli waren sie mit dem Bus vierzig Minuten zum städtischen Zoo gefahren, wo sie eine gierige schwarze Ziege mit Bonbons fütterten. Die Ziege verdrehte ihre Schlitzpupillen. Am selben Nachmittag hatte Aljona ein Karamellbonbon durch den Maschendrahtzaun einem Luchs zugesteckt, der die Schwestern dermaßen anfauchte, dass sie zurückschreckten. Das Bonbon blieb auf dem Zementboden liegen. So viel zum Zoo. Wenn ihre Mutter ihnen morgens, bevor sie zur Arbeit fuhr, etwas Geld hinlegte, gingen sie ins Kino und teilten sich danach Blini mit Bananen und Schokolade im Café im zweiten Stock. Meistens aber trieben sie sich in der Stadt herum und sahen zu, wie sich die Regenwolken auftürmten oder die Sonne ausbreitete. Nach und nach wurden ihre Gesichter braun. Sie gingen spazieren, fuhren Fahrrad oder kamen hierher, ans Meer.

Während Sofija das Gleichgewicht zu halten versuchte, betrachtete Aljona das Ufer. Ein Mann bahnte sich einen Weg über die Felsen. »Da kommt jemand«, sagte Aljona. Das eine Bein ihrer Schwester platschte ins Wasser, und sie streckte das andere in die Luft. Sofija war es vielleicht egal, ob jemand sah, dass sie sich wie eine Idiotin benahm, aber Aljona, ihrer unfreiwilligen Begleiterin, nicht. »Hör auf damit«, sagte Aljona. Lauter. Ihre Stimme wurde schärfer. »HÖRAUF!«

Sofija hörte auf.

Unten am Ufer war der Mann jetzt verschwunden. Vermutlich hatte auch er eine saubere Stelle zum Sitzen gefunden. Der ganze Frust, der sich in Aljona aufgestaut hatte, floss ab wie Wasser aus einer Wanne, wenn man den Stöpsel zog.

»Mir ist langweilig«, sagte Sofija.

Aljona lehnte sich zurück. Der Fels war hart an den Schultern und kalt am Kopf. »Komm her«, sagte sie, und Sofija kam aus dem Wasser, stakste hinüber zu Aljona und kuschelte sich neben sie. Kleinste Steinchen knirschten unter ihr. Der leichte Wind hatte Sofijas Körper genauso abgekühlt wie den Boden. »Soll ich dir eine Geschichte erzählen?«, fragte Aljona.

»Ja.«

Aljona warf einen Blick auf ihr Handy. Sie mussten rechtzeitig zum Essen nach Hause, doch es war noch nicht mal vier Uhr. »Hast du schon mal von der Stadt gehört, die weggeschwemmt wurde?«

»Nein.« Dafür, dass sie nie gehorchte, konnte Sofija sehr aufmerksam sein. Jetzt hob sie das Kinn und presste konzentriert die Lippen aufeinander.

Aljona zeigte auf die Klippen in der Ferne. Rechts von den Mädchen lag das Stadtzentrum, von dort waren sie heute Nachmittag gekommen; links markierten die schwarzen Felsbrocken die Mündung der Bucht. »Da drüben war sie.«

»In Sawojko?«

»Noch hinter Sawojko.« Sie saßen unter dem Gipfel des Sankt-Nikolaus-Hügels. Wären sie noch weiter am Ufer entlanggegangen, hätten sie schließlich über den steinigen Hang hinweg die dicht gedrängt stehenden Klötze in dem dahinterliegenden Stadtteil sehen können. Vierstöckige Wohnblocks aus Sowjetzeiten, ein Flickenteppich aus Beton. Die Holzgerüste eingestürzter Häuser. Ein verspiegeltes Hochhaus, rosa und gelb, mit einem Schild, auf dem Geschäftsräume zur Miete angeboten wurden. Sawojko, noch mehrere Kilometer hinter dem Ganzen, war der letzte Stadtteil ihrer Stadt, Petropawlowsk-Kamtschatski, das letzte Stück Land vor dem Meer. »Sie lag am Fuß der Klippe, da, wo der Ozean auf die Bucht trifft.«

»War es eine große Stadt?«

»Eher so was wie eine Siedlung. Ein Dorf. Nur fünfzig Holzhäuser, voll von Soldaten, Frauen und Babys. Das ist schon Jahre her. Nach dem Großen Vaterländischen Krieg.«

Sofija dachte nach. »Gab es auch eine Schule?«

»Ja. Einen Markt, eine Apotheke. Alles. Ein Postamt.« Aljona beschrieb die Stadt: aufgestapelte Holzscheite, geschnitzte Fensterrahmen, türkis gestrichene Türen. »Es sah aus wie im Märchen. Und in der Stadtmitte gab es einen Fahnenmast und einen Platz, wo die Leute ihre altmodischen Wagen parkten.«

»Verstehe«, sagte Sofija.

»Gut. Und eines Morgens, die Leute sind gerade dabei, sich Frühstück zu machen, ihre Katzen zu füttern, sich für die Arbeit anzuziehen, da fängt die Klippe plötzlich an zu zittern. Ein Erdbeben. So stark wie noch nie. Wände wackeln, Tassen zerspringen, Möbel …«

An dieser Stelle musterte Aljona das Geröll ringsum, doch sie sah keinen angespülten Zweig, den sie hätte knicken können –

»… Möbel gehen kaputt. Babys schreien in ihren Wiegen, und ihre Mütter können nicht zu ihnen. Sie können nicht mal aufstehen. Es ist das stärkste Erdbeben, das die Halbinsel jemals erlebt hat.«

»Die Häuser stürzten über ihnen ein?«, tippte Sofija.

Aljona schüttelte den Kopf. Der Fels drückte gegen ihren Schädel. »Hör einfach zu. Nach fünf Minuten ist das Erdbeben vorbei. Für die Leute fühlt es sich an wie eine Ewigkeit. Die Babys schreien immer noch, aber die Menschen sind froh. Sie krabbeln zueinander und umarmen sich. Es gibt vielleicht Risse in den Straßen, vielleicht sind Stromleitungen kaputt, aber sie haben es geschafft – sie leben noch. Sie liegen da, halten sich fest, und dann sehen sie durch die Löcher, wo ihre Fenster waren, diesen Schatten.«

Sofija starrte sie an.

»Es ist eine Welle. Doppelt so hoch wie ihre Häuser.«

»Über Sawojko?«, gab Sofija zurück. »Unmöglich. Das ist viel zu hoch.«

»Hinter Sawojko, hab ich doch gesagt. So gewaltig war dieses Erdbeben. Selbst in Hawaii konnte man es spüren. Sogar weit weg, in Australien, fragten Leute ihre Freunde: ›Hast du mich gerade geschubst?‹ So heftig wackelte der Boden unter ihnen. So stark war das Erdbeben.«

Ihre Schwester sagte nichts.

»Der ganze Ozean schwankte«, fuhr Aljona fort. »Das Beben löste eine Welle aus, zweihundert Meter hoch. Und dann –« Sie streckte die Hand aus, brachte sie auf eine Linie mit dem Horizont und wischte darüber.

Die Luft strich kalt über ihre nackten Arme. Irgendwo in der Nähe sangen Vögel.

»Was ist aus ihnen geworden?«, fragte Sofija schließlich.

»Niemand weiß es. In der Stadt waren alle von dem Erdbeben abgelenkt. Nicht mal in Sawojko bekam man mit, wie der Himmel immer dunkler wurde; die Leute waren zu sehr damit beschäftigt, alles aufzuräumen, nach ihren Nachbarn zu sehen, Dinge zu reparieren. Als das Wasser durch die Straßen flutete, glaubten sie, irgendwelche Leitungen oben auf dem Hügel wären geplatzt. Aber später, als es wieder Strom gab, bemerkte jemand, dass drüben am Fuß der Klippen kein Licht brannte. Da, wo die Stadt gestanden hatte, war nichts mehr.«

Die kleinen Wellen in der Bucht machten einen leisen Rhythmus zu ihren Worten. Schsch, schsch. Schsch, schsch.

»Sie gingen hin und fanden nichts mehr vor. Keine Menschen, keine Gebäude, keine Ampeln, keine Straßen. Keine Bäume. Kein Gras. Es sah aus wie auf dem Mond.«

»Wo waren sie hin?«

»Weggeschwemmt. Die Welle hatte sie mitgerissen, einfach so.« Sie stützte sich auf einen Ellbogen und packte Sofija an der Schulter, sodass sich deren Knochen unter der Berührung leicht bewegten. »So. So fest hatte das Wasser sie im Griff. Es sperrte sie in ihren Häusern ein. Es hob die ganze Stadt hoch und riss sie mit in den Pazifik. Niemand hat sie je wieder zu Gesicht bekommen.«

Im Schatten des Hügels war Sofijas Gesicht dunkel. In dem halb geöffneten Mund war eine Reihe von unregelmäßig gezackten Schneidezähnen zu sehen. Aljona brachte ihre Schwester gerne so weit, dass sie vor Angst erstarrte.

»Das ist nicht wahr«, sagte Sofija.

»Ist es wohl. Ich weiß es aus der Schule.«

Das Wasser hielt seinen Rhythmus, undurchdringlich im Nachmittagslicht. Es sah aus wie Silber. Die Steine, auf denen Sofija eben gestanden hatte, tauchten auf und verschwanden wieder.

»Können wir jetzt nach Hause?«, fragte Sofija.

»Es ist noch früh.«

»Trotzdem.«

»Hab ich dir Angst gemacht?«

»Nein.«

In der Mitte der Bucht bewegte sich ein Trawler in Richtung Süden, was immer ihn da erwartete – Tschukotka, Alaska, Japan. Die Schwestern hatten die Halbinsel Kamtschatka nie verlassen. Eines Tages, sagte ihre Mutter, würden sie Moskau besuchen, aber das lag neun Flugstunden, einen ganzen Kontinent weit entfernt, und sie müssten alle Berge und Seen und Verwerfungslinien überqueren, die Kamtschatka isolierten. Sie selbst hatten nie ein größeres Erdbeben erlebt, aber ihre Mutter schon. Sie erzählte ihnen, wie es sich 1997 in ihrer Wohnung angefühlt hatte: Die Küchenlampe schaukelte an ihrer Aufhängung so heftig hin und her, dass sie gegen die Decke schlug, die Türen der Speisekammer sprangen auf, Dosen fielen heraus, Gas trat aus und stank so widerlich, dass sie Kopfschmerzen bekam. Später auf der Straße sah sie, dass sich Wagen ineinander verkeilt hatten und das Straßenpflaster aufgeplatzt war.

Bevor sie diesen Flecken hier zum Hinsetzen fanden, waren die Schwestern am Fuß des Berges so weit gegangen, dass sie fast alle Anzeichen von Zivilisation hinter sich gelassen hatten. Nur das Schiff und gelegentliche Abfälle – Zweiliter-Bierflaschen mit halb abgerissenen Etiketten, leere Heringsdosen mit aufgebogenen Deckeln, durchnässte Kuchenuntersetzer aus Pappe – trieben vorbei. Wenn jetzt ein Erdbeben kam, gäbe es weit und breit keinen Türsturz, unter dem sie Schutz suchen konnten. Von oben würden Felsbrocken auf sie herunterstürzen. Und dann würde eine Welle ihre Körper mit sich reißen.

Aljona stand auf. »Na gut. Gehen wir.«

Sofija schlüpfte wieder in ihre Sandalen. Die Hose war noch immer bis zu den Knien aufgekrempelt. Gemeinsam kletterten sie über die größten Felsen und gingen zurück in Richtung Stadtzentrum. Aljona verscheuchte unterwegs die Mücken. Obwohl sie zu Mittag gegessen hatten, bevor sie von zu Hause aufgebrochen waren, bekam sie schon wieder Hunger. »Du wächst«, hatte ihre Mutter warnend und staunend zugleich gesagt, als Aljona sich Anfang der Woche beim Abendessen ein zweites Fischpastetchen genommen hatte. Aber sie wurde nicht größer; sie war noch immer eins der kleinsten Mädchen in der Klasse, gefangen im aufnahmebereiten Körper eines Kindes mit grenzenlosem Appetit.

Neben dem Kreischen der Möwen waren das Geschrei von Menschen und gelegentlich Autohupen zu hören. Feuchte Kieselsteinchen gerieten unter ihren Füßen ins Rutschen. Aljona sprang auf einen kniehohen Felsen und sah, wie sich der Weg vor ihnen entlangschlängelte. Bald würde die Felswand an ihrer Seite sanft absinken und in einen steinigen Strand übergehen, bevölkert mit Sommerfrischlern. An einem Ende standen zahlreiche gut besuchte Imbissbuden, das andere wurde von einer Reparaturwerft eingenommen. Wenn sie den Strand erreichten und sich von der Bucht abwendeten, hätten sie das zertrampelte Gras des größten Fußgängerplatzes der Stadt vor sich. Dahinter und jenseits der Autoschlangen erhoben sich die Lenin-Statue, eine Werbung für Gazprom und ein breites, beflaggtes Regierungsgebäude. Dort würden Aljona und Sofija im Herzen von Petropawlowsk-Kamtschatski stehen und könnten die Hügel sehen, die sich wie lange Rippen zu beiden Seiten der Stadt ausbreiteten. Und dahinter den blauen Gipfel eines Vulkans.

Ein Bus würde sie aus der Stadtmitte nach Hause bringen. Fernsehen, eine Sommersuppe und die lustigsten Bürogeschichten ihrer Mutter. Sie würde fragen, was sie an diesem Tag gemacht hätten. »Hör mal, sag Mama nichts davon, was ich dir erzählt habe«, sagte Aljona. »Über die Stadt.«

»Warum nicht?«, fragte Sofija hinter ihr.

»Darum.« Aljona wollte nicht für irgendwelche Träume verantwortlich gemacht werden, die Sofija hatte, Albträume oder nicht.

»Aber wenn es doch wahr ist, warum soll ich sie dann nicht danach fragen?«

Aljona schnaubte durch die Nase. Sie stieg hinunter, ging geschickt um ein paar Steinhaufen herum und blieb stehen.

Zwei Meter entfernt saß der Mann, den sie zuvor am Ufer hatte entlanglaufen sehen, mit ausgestreckten Beinen mitten auf dem Weg. Sein Rücken war gekrümmt. Aus der Ferne hatte er wie ein Erwachsener ausgesehen, doch jetzt wirkte er eher wie ein übergroßer Teenager: aufgedunsene Wangen, sonnengebleichte Augenbrauen, strohblondes Haar, das abstand wie die Stacheln eines Igels.

Er hob das Kinn. »Hallo.«

»Hallo«, sagte Aljona und trat näher. »Tag.«

»Könnt ihr mir helfen? Ich hab mich verletzt.«

Sie starrte mit zusammengekniffenen Augen auf sein Hosenbein, als könnte sie durch den grünen Stoff bis auf die Knochen sehen. An den Knien war die Hose fleckig von Erde. Der Anblick eines erwachsenen Mannes, der aussah wie ein auf dem Schulhof hingefallener Junge, war irgendwie komisch.

Sofija holte sie ein und legte die Hand auf Aljonas Rücken. Aljona schüttelte sie ab. »Können Sie laufen?«, fragte sie.

»Ja, vielleicht.« Der Mann starrte auf seine Turnschuhe.

»Haben Sie sich den Knöchel verstaucht?«

»Wahrscheinlich. Diese verdammten Felsen.«

Sofija prustete, erfreut über den Fluch. »Wir könnten Hilfe holen«, bot Aljona an. Sie waren nur einen Katzensprung vom Stadtzentrum entfernt; man konnte das Bratöl der Imbissbuden beinahe riechen.

»Geht schon. Mein Wagen ist ganz in der Nähe.« Er streckte ihr den Arm entgegen, sie ergriff seine Hand und zog ihn hoch. Ihr Gewicht war keine große Hilfe, genügte aber, um ihm wieder auf die Beine zu helfen. »Jetzt kann ich allein weiter.«

»Sind Sie sicher?«

Er schwankte leicht. Trat unsicher und unter Schmerzen auf. »Wenn ihr zwei bei mir bleibt und aufpasst, dass ich nicht wieder falle.«

»Geh du vor, Sof«, sagte Aljona. Ihre Schwester ging voran, dann folgte der Mann, vorsichtig. Aljona ging hinter den beiden her und passte auf. Er hatte runde Schultern. Vor dem leisen Plätschern der Wellen hörte sie ihn langsam, angestrengt atmen.

Der Weg mündete in den steinbedeckten Strand, Familien saßen auf den Bänken, die Flügel grauer Vögel flatterten über Brötchen mit Würstchen, und Verladekräne reckten ihre langen nackten Hälse. Sofija war stehen geblieben und wartete auf sie. Der Hügel lag jetzt fast hinter ihnen. »Geht’s?«, fragte Aljona den Mann.

Er zeigte nach rechts. »Wir sind gleich da.«

»Zum Parkplatz?« Er nickte und humpelte hinter den Imbissbuden entlang, wo Generatoren auf Kniehöhe ihre Abgase ausstießen. Die Schwestern folgten ihm. Ein älterer Junge mit eng sitzender Kappe sauste auf seinem Skateboard vorn an den Buden vorbei, und Aljona starrte beschämt vor sich hin. Sie wollte nicht gesehen werden, wie sie mit ihrer kleinen Schwester im Schlepptau hinter einem behinderten Fremden hertrottete. Sie wünschte, sie wären schon zu Hause. Sie nahm Sofija an der Hand und schloss zu dem Mann auf.

»Wie heißt du?«, fragte er.

»Aljona.«

»Schließt du bitte mal die Wagentür auf, Aljona?« Damit zog er die Wagenschlüssel aus der Hosentasche.

»Das kann ich machen«, sagte Sofija. Sie hatten den sichelförmigen Parkplatz auf der anderen Seite des Hügels bereits erreicht.

Er gab dem kleineren Mädchen den Schlüsselbund. »Der schwarze dort. Der Surf.«

Sofija hüpfte voraus und schloss die Fahrertür auf. Der Mann stieg ein und stöhnte erleichtert. Sie hielt den Türgriff fest. Ihr Körper in lila Baumwolle und hochgekrempeltem Kaki spiegelte sich im makellosen Lack der Karosserie. »Wie fühlt es sich an?«, fragte sie.

Er schüttelte den Kopf. »Ihr zwei habt mir wirklich geholfen.«

»Können Sie fahren?«, fragte Aljona.

»Ja«, sagte er. »Wo wollt ihr hin?«

»Nach Hause.«

»Und wo ist das?«

»Gorizont.«

»Ich nehme euch mit«, sagte er. »Steigt ein.« Sofija ließ den Türgriff los. Aljona blickte über die Straße zur Bushaltestelle. Mit dem Bus würden sie mehr als eine halbe Stunde brauchen, mit dem Auto wären sie in zehn Minuten zu Hause.

Der Mann hatte den Motor angelassen. Er wartete auf ihre Antwort. Sofija schielte bereits auf den Rücksitz. Aljona nahm sich als ältere Schwester noch ein bisschen Zeit: Sie wog einige Sekunden den Stadtbus (das Anfahren und Anhalten, das Schnaufen, der Schweißgeruch der Leute) gegen das Angebot des Mannes ab. Seine Schwäche, seinen verstauchten Knöchel und sein jungenhaftes Gesicht. Wie einfach es wäre, sich mitnehmen zu lassen. Das Auto würde sie so schnell nach Hause bringen, dass vor dem Abendessen noch Zeit für einen kleinen Imbiss wäre. Ähnlich wie Tiere im Zoo füttern und gruselige Geschichten erzählen wäre es ein weiterer Nervenkitzel am helllichten Tag, ein Zeichen des Ungehorsams in den Sommerferien, ein Geheimnis zwischen Sofija und ihr.

»Danke«, sagte Aljona. Sie ging um den Wagen herum und setzte sich auf den sonnenwarmen Beifahrersitz. Das Leder fühlte sich weich an, wie ein Schoß. Auf dem Handschuhfach war eine kreuzförmige Ikone befestigt. Wenn der Skateboarder sie jetzt nur sehen könnte – vorn in dem großen Wagen. Sofija glitt auf den Rücksitz. Ein Stück weiter vorn ließ eine Frau ihren weißen Hund aus dem Heck eines geparkten Lieferwagens, um ihn auszuführen.

»Wohin?«, fragte er.

»Akademika Korolewa einunddreißig.«

Er blinkte und fuhr langsam aus der Parklücke. Eine Packung Zigaretten rutschte über das Armaturenbrett. Im Wagen roch es nach Seife, Tabak und schwach nach Benzin. Die Frau ging mit dem Hund zwischen den Imbissbuden hindurch. »Tut es noch weh?«, fragte Sofija.

»Geht schon viel besser, dank eurer Hilfe.« Er reihte sich in den Verkehr ein. Auf den Gehsteigen wimmelte es von einheimischen Teenagern in Neonklamotten und von asiatischen Kreuzfahrttouristen, die für Fotos posierten. Eine kurzhaarige Frau reckte ein Schild mit dem Namen einer Abenteuerreise-Agentur empor. Petropawlowsk-Kamtschatski, einzige Stadt auf der Halbinsel, war der erste Anlaufpunkt für Kamtschatkas Sommerurlauber. Sie wurden mit Schiffen oder Flugzeugen hierher gekarrt, um sich die Bucht anzusehen, und anschließend hinter die Stadtgrenzen gebracht, wo sie wandern, auf Flößen fahren oder in der menschenleeren Wildnis jagen konnten. Ein Lastwagen hupte. Immer weitere Scharen von Fußgängern überquerten den Zebrastreifen. Dann sprang die Ampel um, und sie konnten weiterfahren.

Vom Beifahrersitz aus betrachtete Aljona das Gesicht des Mannes. Breite Nase und ein dazu passender Mund. Kurze braune Wimpern. Rundes Kinn. Sein Körper sah aus wie aus frischer Butter geformt. Wahrscheinlich war er zu schwer. Deshalb hatte er sich am Ufer wohl so ungeschickt angestellt.

»Haben Sie eine Freundin?«, fragte Sofija.

Er lachte, legte einen anderen Gang ein und fuhr rasch den Hügel hinauf. Unter ihnen summte der Motor. Hinter ihnen zog sich die Bucht zurück. »Nein.«

»Und verheiratet sind Sie auch nicht.«

»Nein.« Er zeigte ihnen seine Hand mit gespreizten Fingern.

»Hab ich schon gesehen«, sagte Sofija.

»Schlaukopf«, sagte er. »Wie alt bist du?«

»Acht.«

Er sah sie im Rückspiegel an. »Und ebenfalls unverheiratet, stimmt’s?«

Sofija kicherte. Aljona wandte sich ab und sah auf die Straße. In seinem Wagen saß man höher als in dem ihrer Mutter. Sie konnte auf Dachgepäckträger und auf rosa Arme der anderen Autofahrer hinabschauen. Nach diesem einen sonnigen Tag hatten die Leute schon einen Sonnenbrand. »Darf ich das Fenster aufmachen?«, fragte sie.

»Mir ist die Klimaanlage lieber. An der Straßenkreuzung geradeaus?«

»Ja, bitte.« Die Bäume auf dem Gehsteig waren groß und grün nach dem verregneten Sommer. Sie fuhren an ramponierten Plakatwänden links und an Plattenbauten rechts vorbei. »Hier«, sagte Aljona. »Hier. Oh.« Sie drehte sich zu ihm. »Sie haben die Ausfahrt verpasst.«

»Sie haben die Ausfahrt verpasst«, sagte Sofija vom Rücksitz aus.

»Ich will euch zuerst mit zu mir nach Hause nehmen«, erklärte der Mann. »Ich brauche noch ein bisschen Hilfe.«

Die Straße zog sie vorwärts. Sie gelangten zum Kreisel, und er fuhr weiter in den Kreisverkehr hinein und auf der anderen Seite wieder heraus. »Hilfe für den Knöchel?«, fragte Aljona.

»Genau.«

Da fiel ihr ein, dass sie seinen Namen nicht kannte. Sie sah über die Schulter hinweg Sofija an, die aus dem Hinterfenster auf die Straße zurückblickte. »Ich sage nur eben meiner Mutter Bescheid«, sagte Aljona und zog ihr Handy aus der Tasche. Der Mann ließ den Schaltknüppel los, streckte die Hand aus und nahm es ihr weg. »He«, sagte sie. »Moment mal!« Er nahm das Handy in die andere Hand. Ließ es in das Fach in seiner Tür fallen. Das Geräusch des Aufpralls auf dem Plastik. »Geben Sie es mir zurück!«

»Du kannst sie anrufen, wenn wir da sind.«

Ihre leeren Hände machten sie panisch. »Bitte geben Sie es mir zurück.«

»Du kriegst es wieder, wenn wir da sind.«

Der Sicherheitsgurt war zu eng. Er fühlte sich an wie eine Fessel um ihre Lungen. Sie bekam nicht genügend Luft. Sie schwieg. Konzentrierte sich. Dann warf sie sich in seine Richtung und streckte den Arm nach der Tür aus. Der Gurt hielt sie zurück.

»Aljona!«, sagte Sofija.

Sie wollte den Gurt lösen, doch der Mann kam ihr zuvor, packte ihre Hände und drückte den Verschluss wieder in die Schnalle zurück. »Lass das.«

»Geben Sie es mir zurück!«

»Bleib sitzen und warte. Du kriegst es wieder. Ich verspreche es dir.« Sein Griff war so fest, dass er ihre Knöchel zu zerquetschen drohte. Wenn das passierte, würde sie sich übergeben müssen. Die Flüssigkeit sammelte sich bereits in ihrem Mund. Sofija beugte sich nach vorn, und der Mann sagte: »Bleib sitzen.«

Sofija lehnte sich wieder zurück. Sie atmete schnell.

Irgendwann würde er die Hand wegnehmen müssen. Nie im Leben hatte sich Aljona etwas so sehr gewünscht wie in diesem Augenblick ihr Handy. Seine schwarze Rückseite, das verschmierte Display, den Vogel aus Elfenbein, der als Talisman an der Ecke baumelte. Noch nie hatte sie jemanden so verabscheut wie diesen Mann. Ihr war übel. Sie schluckte.

»Ich habe eine Regel«, sagte der Mann. Sie hatten bereits die Kilometermarke zehn passiert und fuhren an der Busstation vorbei, die die nördliche Grenze von Petropawlowsk markierte. »Kein Handy, solange ich am Steuer sitze. Aber wenn wir da sind und ihr beide euch bis dahin benehmt, gebe ich es dir zurück. Ich fahre euch auch nach Hause, und ihr könnt heute Abend mit eurer Mutter zu Abend essen. Hast du verstanden?« Erneut quetschte er ihre Finger zusammen.

»Ja«, sagte Aljona.

»Dann sind wir uns ja einig.« Er ließ sie los.

Sie schob die Hände, eine taub vor Schmerz, unter die Schenkel und richtete sich auf. Sie atmete durch den offenen Mund, damit ihre Zunge trocknete. Kilometer zehn. Davor, am Kilometer acht, hielten die Busse vor der Stadtbibliothek, am Kilometer sechs vor dem Kino, am Kilometer vier vor der Kirche, am Kilometer zwei vor der Uni. Jenseits von Kilometer zehn gab es nur noch vereinzelte Siedlungen, verstreute Dörfer, Touristencamps, und dann nichts mehr. Nirgendwo. Ihre Mutter hatte für die Arbeit früher viel reisen müssen und ihnen erzählt, was man außerhalb der Stadt erwarten konnte: Pipelines, Kraftwerke, Landeplätze für Hubschrauber, heiße Quellen, Geysire, Berge und Tundra. Tausende von Kilometern offene Tundra. Sonst nichts. Norden.

»Wo wohnen Sie?«, fragte Aljona.

»Werdet ihr schon sehen.«

Hinter ihr hörte sie Sofija hecheln wie einen kleinen Hund. Aljona musterte den Mann. Sie würde ihn sich gut einprägen. Dann drehte sie sich zu ihrer Schwester um. »Das ist ein Abenteuer.«

Sofijas elfenhaftes Gesicht war in der Sonne überbelichtet. Ihre weit aufgerissenen Augen glänzten. »Ja?«

»Ja. Hast du Angst?« Sofija schüttelte den Kopf. Man sah ihre Zähne. »Gut.«

»Braves Mädchen«, sagte der Mann. Eine Hand löste sich vom Steuer und verschwand in der Seitenverkleidung der Tür. Aljona erkannte am abfallenden Klingelton, dass er das Handy ausschaltete.

Die ganze Zeit beobachtete er sie im Spiegel. Blaue Augen. Dunkle Wimpern. Keine Tattoos auf den Armen – also kein Krimineller. Wieso achtete Aljona erst jetzt auf seine Arme? Ihre Mutter würde sie umbringen, wenn sie nach Hause kamen.

Aljona drehte sich um und presste die Brust gegen die Rücklehne des Sitzes. Arbeitshandschuhe, deren Handflächen mit rotem Latex verstärkt waren, steckten in dem Getränkehalter der Mittelkonsole. Sie waren schmutzig. Aljona zwang sich, Sofija anzusehen. »Willst du noch eine Geschichte hören?«

»Nein«, sagte ihre Schwester.

Aljona wäre ohnehin nichts eingefallen. Sie drehte sich wieder nach vorn.

Schotter knirschte unter den Wagenreifen. Weite Flächen voll mit Grasklumpen zogen vorbei. Die Sonne warf kurze Schatten auf die Straße. An einem dunklen Metallschild, das die Abzweigung zum Flughafen anzeigte, fuhren sie vorbei und weiter geradeaus.

Als der Straßenbelag schlechter wurde, ruckelte der Wagen. Der Türgriff auf ihrer Seite bebte. Einen Augenblick stellte sie sich vor, wie sie hineinfasste, ihn herunterdrückte, sprang, doch dann – es war, als stellte man sich das eigene Sterben vor. Die Geschwindigkeit, die Schotterstraße, die Reifen. Und Sofija. Was würde Aljona tun – Sofija allein lassen?

Hätte Aljona heute nur allein bleiben dürfen! Ständig zwang ihre Mutter sie, Sofija mitzunehmen. Wenn jetzt etwas passierte –

Sofija käme nicht allein zurecht. Neulich hatte sie gefragt, ob es Elefanten tatsächlich gab – sie dachte, sie wären mit den Dinosauriern ausgestorben. Was für ein Baby.

Aljona presste die Fäuste gegen die Schenkel. Vergiss die Elefanten. Das Sitzleder war noch immer heiß, ihre Lunge verkrampfte sich, in ihrem Kopf flimmerte es, und die Luft roch nach frisch gewalztem Teer. Sie hatte ihrer Schwester diese blöde Geschichte von der Springflut erzählt. Von dem Stück Erde, das verschwunden war. Sie wünschte, ihr wäre etwas anderes eingefallen. Jetzt konnte sie es nicht mehr ungeschehen machen – sie musste sich konzentrieren. Sie saßen in seinem Wagen. Sie waren irgendwohin unterwegs. Bald wären sie wieder zu Hause. Sie musste stark sein für Sofija.

»Aljona?«, fragte ihre Schwester.

Sie machte ein fröhliches Gesicht und drehte sich um. Die Muskeln in ihren Wangen zuckten. »Hm?«

»Ja«, sagte Sofija. Aljona sah sie an. Erinnerte sich nicht. »Ja, erzähl mir eine Geschichte.«

»Gut«, sagte sie. Die Straße war staubig und leer, gesäumt von dünnen Bäumen. Sie waren nach vorn geneigt, trieben sie voran. Am Horizont waren die Gipfel der drei Vulkane sichtbar, die der Stadt am nächsten waren. Die Berge gezackt wie der Rand einer Säge. Jetzt standen ihnen keine Gebäude mehr im Weg. Aljona dachte wieder an den Tsunami. An seine plötzliche Wucht. »Eine Geschichte«, sagte sie. »Na gut.«

SEPTEMPER

Olja kam nach Hause in eine Wohnung, die roch wie immer, wenn ihre Mutter nicht da war: ein bisschen süßlich, ein bisschen faulig. Vielleicht leerte Olja den Mülleimer nicht oft genug. Sie öffnete die Fenster im Wohnzimmer, um zu lüften. Sie zog ihre Schuluniform aus und legte sich auf den Futon. Aus diesem Winkel sah sie nichts als Himmel.

Fließendes Blau, das in den Himmel verdampft. Vergiss die Nachrichten im Fernsehen, die verschärften Ausgangssperren, die Plakate mit den vermissten Mädchen – es war genau der richtige Tag, um mit jemandem draußen abzuhängen. Nach dem letzten Klingeln der Schulglocke am Nachmittag hatte Olja versucht, Diana zu überreden, mitzukommen ins Zentrum von Petropawlowsk, doch Diana sagte, sie könne nicht, ihre Eltern seien noch immer besorgt und wollten, dass sie sofort nach Hause kam. »Es ist nicht sicher«, sagte Diana, mit schriller, kalter Stimme die Erwachsenen nachäffend. Aus ihrem Mund kam die Stimme ihrer Mutter.

Außerdem müssten beste Freundinnen nicht andauernd zusammen sein, betonte Diana. Das war ihr Refrain seit der Entführung der beiden Schwestern vor einem Monat. Olja konnte Dianas Tonfall, der in diesen Tagen allem, was sie sagte, einen erwachsenen Dreh gab, nicht entnehmen, ob das ihre eigene Meinung war oder die ihrer Mutter, jedenfalls hielt sie sich daran. Seit die Mädchen verschwunden waren, sahen sich Olja und Diana so gut wie nie. Selbst jetzt, zu Beginn des neuen Schuljahrs, beharrte Diana darauf, dass beste Freundinnen ihre Treffen eben verschieben mussten, wenn plötzlich alberne neue Regeln galten, und dass sie sich lieber auf die Zunge beißen sollten, als ständig über irgendwelche Gefahren zu streiten.

Oljas eigene Mutter machte sich keine Sorgen. Sie vertraute darauf, dass Olja auf sich selbst aufpassen konnte. Im Augenblick begleitete sie als Dolmetscherin eine Touristengruppe aus Tokio durch den Norden des Landes und übersetzte die Erklärungen des offiziellen Reiseführers vom Russischen ins Japanische, damit die wohlhabenden Besucher der Halbinsel wussten, wie man Braunbären ausfindig machte, reife Beeren sammelte und in den Thermalquellen badete. Immer wenn Oljas Mutter weg war, gab es in der Wohnung weniger Musik, weniger Parfüm und keine Kaffeebecher mit Lippenstiftspuren. Vor dem Verschwinden der Schwestern war Diana in solchen Wochen vorbeigekommen, damit sie die Nachmittage zusammen vertrödelten, doch jetzt waren die Sommerferien vorbei und alle paranoid. Olja hatte niemanden, mit dem sie Lärm machen konnte, bis am Sonntag ihre Mutter wieder nach Hause kam, mit Geschenken aus zweiter Hand, ausländischen Süßigkeiten.

Ein paar Haarsträhnen fielen Olja ins Gesicht. Hier allein mit sich war es auch nicht schlecht. Vertraut, sonnenwarm. Im vergangenen Frühjahr hatte ihre Geschichtslehrerin aus der Oberstufe Oljas Haar vor der ganzen Klasse als Rattennest bezeichnet, und sie hatte gekocht vor Wut wegen der Demütigung. Doch in der Touristensaison in diesem Sommer, in dem Olja dreizehn geworden war, mit Diana zusammen die Stadt erkundet und das Kitzeln ihres wirren Haars im Nacken gespürt hatte, dachte sie plötzlich wieder daran, und plötzlich hatte ihr der Ausdruck gefallen: Rattennest. Sie war ein Biest. Und dies ihr Bau.

Sie schnüffelte – nicht mal der Gestank störte sie noch.

Draußen hupte ein Lastwagen, und ein anderer erwiderte das Hupen. Sie drehte sich auf die Seite und scrollte durch den Newsfeed auf ihrem Handy: Selfies, Skate-Parks, Mitschülerinnen in kurzen Röcken. Ein Mädchen hatte den Status ihres Freundes mit einem Herzen kommentiert. Olja sah sich das Profil des Mädchens an, ging durch all ihre Fotos und dann weiter, fand gemeinsame Freundinnen, scrollte, klickte, skippte. Kehrte zu ihrem Feed zurück und aktualisierte ihn. Dann hielt sie inne.

Ein Mädchen, das sie beide kannten, hatte gerade ein Foto von Diana gepostet. Dianas Lächeln schwebte zwischen ihren glänzenden Wangen. Diana in ihren üblichen Hausklamotten: das alberne rote T-Shirt mit einem von Glitzersteinen gesäumten Union Jack auf der Brust und die rosa Leggings, die sie am Knie abgeschnitten hatte. Diana im Schneidersitz auf dem Bett, eine ihrer Mitschülerinnen ausgestreckt neben ihr, eine andere beugte sich in ihrer Schuluniform vor und machte mit beiden Händen das Siegeszeichen.

Olja setzte sich auf. Sie schickte Diana eine SMS: Was machst du? Konnte nicht abwarten. Schickte noch eine hinterher. Kann ich rüberkommen?

Sie wälzte sich vom Futon hinunter, stieg in ihre Jeans, griff nach der Jacke und stopfte sich Portemonnaie, Lippenpflege, Kopfhörer und Schlüssel in die Taschen. Nach dem Unterricht hatte Diana zu Olja gesagt, sie müsse nach Hause, aber vielleicht hatte sie gemeint, Olja solle mitkommen. Vielleicht hatten sie sich missverstanden. Olja sah sich das Foto erneut an. Waren sie zu viert? Diejenige, die es gepostet hatte, wohnte nicht mal in Dianas Nachbarschaft. Olja checkte den Newsfeed. Nichts Neues. Sie vergewisserte sich, dass sie ihren Busausweis eingesteckt hatte, knallte die Wohnungstür hinter sich zu und rannte die Treppe hinab.

Draußen schien die Sonne so grell, dass sie die Augen zusammenkniff. Sie war kaum länger als eine Stunde in der Wohnung gewesen und schon zu einem echten Nagetier geworden, das ins Tageslicht blinzelte. Im Laufen strich sie sich durchs Haar, um es zu glätten. Ein paar Strähnen fielen zu Boden. Olja hatte vorgeschlagen, heute Nachmittag ins Stadtzentrum zu gehen – hatte Diana geglaubt, dass sie nur dahin wollte? Sonst nirgendwohin? Olja wäre mit allem einverstanden gewesen. Das wusste Diana. Und auch, dass Olja nicht allein sein wollte. Beste Freundinnen ließen einander nicht im Stich.

Der weitläufige Parkplatz ihres Wohnhauses war voller Schlaglöcher. Sie versuchte, die größten zu überspringen, um nicht aus dem Rhythmus zu kommen. Durch die Turnschuhe hindurch spürte sie den warmen Asphalt und die feinen Nadelstiche des bröckeligen Schotters. In der Sonne wurden die schlechten Straßen von Petropawlowsk-Kamtschatski weich, als wollten sie sich selbst heilen. Sogar die Reklametafel über dem Kreisverkehr sah aus wie neu; das grinsende Model in der Mitte hielt die Hände in ein Spülbecken voller Schaum. Die Wohnquadrate an der Kreuzung prahlten mit ihren bunten Farben, die von dunklen Betonfugen umrandet waren. Es gab abblätternde rosa oder pfirsichfarbene Fassaden an Gebäuden, deren Besitzer früher einmal wohlhabend gewesen waren, und dunkelblaue neu verkleidete Balkone an anderen Gebäuden, deren Besitzer heute wohlhabend waren. In den Lücken dazwischen leuchtete das goldene Laub auf den Hügeln von Petropawlowsk.

Oljas Mutter befand sich irgendwo weit nördlich dieser Pracht. Sie flog im Hubschrauber einer Touristenagentur über die Tundra und sagte immer wieder »arigato« in der Sonne.

Olja hörte sich selbst, das verzweifelte Geräusch ihrer Schuhe auf dem Pflaster, verlangsamte ihre Schritte und spürte, wie das Licht ihr ins Gesicht schlug. Als sie ihren Bus in den Kreisel einbiegen sah, machte sie einen Satz und rannte los, um ihn noch zu erwischen.

Der Bus schwankte hin und her, während sie durch den Mittelgang lief. Zu beiden Seiten saßen nur Menschen in Uniformen: Overalls, Kittel, blaue Polizeiuniformen, grüne Tarnkleidung von Militärangehörigen. Der Arbeitstag neigte sich bereits dem Ende zu. Die meisten Männer, an denen Olja vorbeikam, sahen aus wie potenzielle Entführer. Unbrauchbar nannte Oljas Mutter die Gerüchte, die im August in Petropawlowsk die Runde gemacht hatten und einen stämmigen Unbekannten beschrieben. Oljas Mutter meinte, dass die Zeugen, die sich bei der Polizei gemeldet hatten, wahrscheinlich überhaupt niemanden gesehen hätten. Die Beschreibung führe bloß dazu, dass die Hälfte der Stadtbevölkerung einem plötzlich unheimlich vorkäme. Olja fand einen freien Platz und sah aufs Handy.

Diana hatte nicht geantwortet. Olja tippte ??? und schickte es ab, sperrte das Display und hielt das Handy zwischen den Händen, als könnte sie so ihre Nachricht wieder zurückholen. Um sich von weiteren Aktionen abzuhalten, sah sie aus dem Fenster.

»Goldener Herbst«, nannte ihre Mutter diese Jahreszeit, kurz und schön wie ein Gemälde. Alle Bäume in Flammen. Und die Luft noch immer verlockend. Sommerlicher, als sie den ganzen Sommer über gewesen war. Auf dem Korjakski-Vulkan am Horizont lag bereits der erste Schnee. Die Kälte war im Anzug, aber noch nicht da.

Mittlerweile musste Diana dahintergekommen sein, dass Olja das Foto gesehen hatte. Olja presste das Handy zwischen den Handflächen zusammen. Machten die sich dort alle über sie lustig?

So war es nun mal: Je näher man sich jemandem fühlte, umso mehr log man. Bei Menschen, die sie kaum kannte, konnte Olja sagen, was sie wollte: »Das tut weh«, zu der Krankenschwester, die ihr eine Spritze setzte, oder: »Stellen Sie es zurück, ich habe nicht genug Geld dabei« zu der Kassiererin im Lebensmittelladen. Auf sich allein gestellt war Olja aufrichtig. Nicht mal entferntere Mitschüler hinderten sie daran – als der Junge hinter ihr prahlte, er würde die beste Note in der ersten Prüfung des Jahres bekommen, gab Olja ihrem Bedürfnis nach und wendete sich einfach ab. Eine kleine Drehung reichte, um die Erregung in ihrer Brust aufflammen zu lassen. Die Wahrheit zu sagen, war ein Nervenkitzel, den sie sich im Umgang mit ihrer Mutter nicht erlauben durfte, denn die brauchte eine fröhliche Olja, die ihr im Haushalt half, und auch mit Diana nicht, die Mäßigung von ihr verlangte.

Heute Morgen, bevor die Schulglocke zum ersten Mal läutete, hatte sie Olja gebeten, sanfter und leiser zu sein. »Wenn du so redest, kriege ich Kopfschmerzen«, erklärte sie und vergrub das Gesicht in den Armen auf dem Pult. Olja verkniff sich die Frage: Wie rede ich denn? Stattdessen hatte sie Diana kurz die Hand auf die Schulter gelegt und nur noch geflüstert, bis die Lehrerin das Klassenzimmer betrat. Olja war nett, selbst wenn ihr die Worte wie Kieselsteine im Hals stecken blieben.

Als sie in der Mittagspause ihre Matheaufgaben verglichen, nickte Olja zu Dianas Korrekturen, obgleich ihre Freundin in diesem Augenblick gemein war. Arrogant. Als kleines Mädchen war Diana atemberaubend hübsch gewesen; Olja, dunkler, rauer, hatte Dianas Hinterkopf bewundert, wenn sie in Reih und Glied von einem Klassenzimmer zum anderen geführt wurden. Jetzt, in der achten Klasse, hatte Diana noch immer blassblondes Haar und ein ovales Gesicht. Ihr Mund war rot, knallrot, aufregend wie der Lack eines neuen Wagens, aber ihre Wangen waren von Pickeln übersät und ihre Wimpern von verblüffend weiß zu durchsichtig verblasst. In einem Moment konnte sie hinreißend aussehen, im nächsten gespenstisch.

Olja klappte die Hände auseinander und warf einen Blick auf ihr Handy. Nichts.

Während der Sportstunde am Nachmittag waren sie wie immer zusammen gejoggt. Olja achtete darauf, dass sie im Gleichschritt liefen. Sie hätte schneller rennen können, doch Liebe bedeutete, Kompromisse zu machen. Bei Menschen, die ihr wichtig waren, wollte Olja nicht frei sein.

Unter ihrem Fenster stockte der Verkehr. Flammend rote und orangene Baumwipfel säumten die Straße, ausgebleichte Birkenstämme und rußige Fassaden von Gebäuden, die seit Jahrzehnten keinen neuen Anstrich gesehen hatten. Die Innenseiten des Busses waren mit fetten Sicherheitswarnungen des koreanischen Herstellers und mit bunten Filzstiftgraffitis der russischen Fahrgäste bedeckt. Er brachte Olja ruhig bergab.

Bei Kilometer sechs verlangsamte er die Fahrt am Markt, wo alte Frauen neben dem Kino Kinkerlitzchen und Süßigkeiten verkauften, dann bog er links in Richtung Gorizont ab. Olja versank tiefer in ihrem Sitz. Neben ihr klapperte das Plastikfenster in seinem Rahmen. Sie fand die Vorstellung, unaufgefordert in Dianas Wohnung zu platzen, schrecklich. Musste man denn nicht auch besten Freundinnen sagen, dass sie willkommen waren? Sie verschloss die Augen vor dem Tag, schlug sie wieder auf und rief Diana an, doch das Telefon läutete ins Leere.

Sie wählte die Nummer noch einmal. Und noch einmal. Sie waren jetzt kurz vor Dianas Haltestelle. Mit dem Handy an der Wange schlängelte sich Olja zwischen den Knien der Menschen hindurch, zeigte dem Fahrer ihren Ausweis und stieg an der Ecke aus, die sie so gut kannte. Das Handy läutete vergeblich an ihrem Ohr. Olja schaltete es aus.

In der Eile war ihr warm geworden. Sie blieb neben dem Wartehäuschen stehen, drei Blocks von Dianas Wohnung entfernt, und zog die Jacke ein Stück von den Schultern herunter, damit der leichte Wind sie streifte.

Die Gebäude in diesem Teil der Stadt wirkten sauberer. Das Viertel hieß Gorizont – Horizont –, weil es über einer golden bewaldeten Schlucht schwebte, als wollte es die Morgendämmerung begrüßen. Normalerweise kam Olja gerne hierher. Sie checkte ihren Newsfeed, nur Musikvideos, und tippte dann Dianas Namen in die Suchleiste ein. Als das Handy plötzlich klingelte, hätte sie es beinahe fallen lassen.

»Hallo!«

»Hier ist Walentina Nikolajewna«, meldete sich Dianas Mutter.

Olja zog die Jacke wieder hoch. »Hallo.«

»Hör zu, Olja. Du darfst nicht mehr herkommen«, sagte Walentina Nikolajewna. Keine Mädchenstimmen im Hintergrund. Die vier mussten in einem anderen Zimmer sein.

Olja sah kurz auf. »Ich bin zufällig ganz in der Nähe«, sagte sie. »Ich wollte bei Diana vorbeischauen.«

Walentina Nikolajewna seufzte. »Bitte fahr wieder nach Hause. Du solltest nicht zufällig in der Nähe sein. Kümmert sich denn niemand um dich? Ehrlich gesagt, wir möchten nicht mehr, dass ihr euch außerhalb der Schule trefft.«

»Was?«

»Diana wird sich außerhalb der Schule nicht mehr mit dir treffen können.«

Das war ihre typische Ausdrucksweise. So hatte Diana ihre Mutter vorhin nachgeahmt, scharf, eiskalt. Unmöglich konnte man das, was Walentina Nikolajewna sagte, mit der Art, wie sie es sagte, zusammenbringen. Ein Pärchen kam auf Olja zu, und sie trat beiseite zum Rand des Gehsteigs, wo der Belag in Gras überging. »Warum denn nicht?«

»Du bist kein guter Umgang für sie.«

Olja war kein guter Umgang. »Wieso nicht?«, fragte sie. »Was ist los?«

Eins der Mädchen auf dem Foto mit Diana trug keine Unterwäsche unter dem Schulrock und hatte bereits in der fünften einen Freund gehabt. Olja dagegen hatte noch nie eine Zigarette ganz zu Ende geraucht. Sie hatte sich immer nur um Diana gekümmert, ihr neue Musik auf den Player kopiert und unter ihrem Bett eine Kiste voller Übersetzungen von billigen Liebesromanen aufbewahrt, weil Walentina Nikolajewna ihrer Tochter verbot, sie zu lesen. Aus Spaß trat Olja Diana manchmal unter dem Küchentisch gegens Schienbein, wenn sie bei ihnen zum Essen eingeladen war. Sie schrieb sich Dianas Lösungen in Mathematikaufgaben ab. Das war’s – das war alles.

»Da gibt es nichts zu diskutieren«, erklärte Walentina Nikolajewna. »Dein Verhalten im letzten Monat war erschreckend. Und als mir Diana heute Nachmittag erzählte, dass du ins Stadtzentrum gehen wolltest, konnte ich es nicht fassen.«

»Aber … da ist doch nichts dabei. Es ist in Ordnung.«

»Nichts ist in Ordnung, das weißt du ganz genau. Und eure Familienverhältnisse. Dieser Mangel an Disziplin. Höchst beunruhigend.«

Olja fuhr sich mit der Hand über die Augen. Hinter einem der sauberen Häuser auf dem Hügel bellte ein Hund. »Familienverhältnisse … meinen Sie meine Mutter?«

»Wen sollte ich sonst meinen?«, gab Dianas Mutter zurück.

Olja hatte durchaus Disziplin. Mithilfe ihrer vorbildlichen Mutter, der Ansprüche ihrer besten Freundin und ihrer eigenen täglichen Anstrengung war sie dermaßen diszipliniert, dass sich ihr Mund weigerte, die einzig passende Antwort zu geben, nämlich, dass Walentina Nikolajewna eine anmaßende blöde Zicke war. Stattdessen sagte sie: »Reden Sie nicht so über meine Mutter.«

»Wir reden über meine Tochter und dich.«

»Denn es stimmt nicht. Das ist ungerecht.«

»Jedenfalls bleibt es dabei. Ihr könnt euch während der Schule sehen, unter Aufsicht, aber darüber hinaus bitte ich dich, sie nicht mehr zu belästigen. Verstanden?« Olja konnte nicht antworten. »Hast du verstanden?«

»Ja«, sagte Olja, denn es war die einzige Art, das Gespräch zu beenden.

»Na gut«, erklärte Dianas Mutter. »Danke. Das ist alles.«

Nachdem Walentina Nikolajewna aufgelegt hatte, wischte Olja das Handy an ihrem Hemd ab und starrte einen Moment auf das verschmierte dunkle Display. Dann entsperrte sie es, scrollte durch die Telefonliste bis zum Namen ihrer Mutter und zögerte.

Was sollte sie ihr sagen? Walentina Nikolajewna findet, wir sind ein schlechter Umgang für ihre Tochter. Und was würde die Antwort sein? Oljas Mutter konnte auch nicht kitten, was bereits schiefgelaufen war.

Oljas Familie war Walentina Nikolajewna schon immer ein Dorn im Auge gewesen. Seit der fünften Klasse, als die Freundschaft zwischen Olja und Diana mit abendlichen Telefongesprächen begann, hatte die Frau etwas auszusetzen gehabt. Sie war Schulsekretärin an einer städtischen Grundschule und benutzte Informationen aus den Akten der Schüler für ihre eigenen kleinen Strategien. Letztes Mal, als Olja zu Diana gekommen war, hatte Walentina Nikolajewna das Abendessen unterbrochen und mit der Fernbedienung auf die Abendnachrichten gezeigt, in denen gerade in Endlosschleife polizeiliche Kommentare, zivile Suchtrupps und Fotos der vermissten Schülerinnen gezeigt wurden. »So etwas wäre zu Sowjetzeiten niemals passiert«, sagte Walentina Nikolajewna. Diana schlürfte ihre Suppe. »Ihr Mädchen habt keine Vorstellung, wie sicher es damals war. Keine Ausländer. Keine Fremden. Die Halbinsel zu öffnen, war der größte Fehler, den die Behörden machen konnten.« Walentina Nikolajewna hatte die Fernbedienung weggelegt. »Jetzt wimmelt es hier nur so von Touristen und Migranten. Ureinwohnern. Alles Kriminelle.«

Olja hätte lieber den Mund halten sollen. Stattdessen hatte sie gefragt: »Waren die Ureinwohner denn nicht schon immer hier?«

Walentina Nikolajewnas Gesicht, ebenso oval wie das ihrer Tochter, deutete auf den Bildschirm. Sie tuschte sich immer die Wimpern, damit ihre Augen lebendiger wirkten. »Normalerweise sind sie in ihren Dörfern geblieben, wo sie hingehören.«

Man habe die Schwestern zuletzt im Stadtzentrum gesehen, wiederholte der Reporter, was nichts zu bedeuten hatte in einer Stadt mit zweihunderttausend Einwohnern auf einer Halbinsel von zwölfhundert Kilometern Länge. Die Warnungen waren bereits zu einem Hintergrundrauschen geworden. Als die Mutter der vermissten Mädchen auf dem Bildschirm erschien, erklärte Walentina Nikolajewna: »Da ist sie.« Sie platzierte eine manikürte Hand zwischen Oljas und Dianas Platzdeckchen, um sich ihre Aufmerksamkeit zu sichern. »Schrecklich, was? Eine Tragödie. Die arme Frau … sie ist allein, kein Ehemann, und sie muss die ganze Zeit arbeiten. Im Klassenbuch ihrer jüngeren Tochter habe ich gelesen, dass sie kein einziges Mal zu den Elternabenden gekommen ist.« Sie warf Olja einen Blick zu und hob dann das Kinn. »Vater nicht da, und auch die Mutter fast immer weg. Kein Wunder, dass es so endet.«

Und da hätte Olja am liebsten gesagt: Wie können Sie es wagen oder Halten Sie den Mund oder Ich weiß, dass Sie in Wirklichkeit mich meinen, doch sie tat es nicht. Diana hätte es nicht zugelassen. Stattdessen rührte Olja in ihrer Suppe. Walentina Nikolajewna verließ jeden Tag um drei Uhr ihr Büro und saß dann in ihrer renovierten Küche herum, während ihr dämlicher Mann sich am Institut für Vulkanologie auf dem Hügel mit seinen Forschungen herumschlug. So war sie zu dem Schluss gelangt, dass Olja in beunruhigenden Familienverhältnissen aufwuchs – weil Oljas Mutter was konnte, weil sie ständig unterwegs war, weil sie kein Geld hatten, herumzuhängen, sich die Wimpern zu tuschen, die Abendnachrichten einzuschalten und sich über zwei wildfremde kleine Mädchen aufzuregen.

Bei Olja zu Hause ging es anders zu. Oljas Mutter war lustig. Wenn sie da war, holte sie ihre schönsten Klamotten aus dem Schrank – eine Mütze der Roten Armee, ein Seidengewand, das sie während ihres Auslandsstudiums in Kyoto gekauft hatte, einen Bleistiftrock aus Leder –, und die Mädchen durften sie anprobieren. Wenn Olja und Diana eine neue Freundin mitbrachten, begrüßte Oljas Mutter alle drei auf Japanisch. Ihre Wangen hoben sich beim Sprechen, sie lächelte, versuchte aber zugleich, das Lächeln zu verbergen, daher brachte Olja den beschwingten Klang der japanischen Sprache immer mit der aufflackernden Fröhlichkeit ihrer Mutter in Verbindung. Vor ein paar Monaten hatte Diana mit ein paar Sätzen, die sie aus Animes gelernt hatte, antworten wollen, woraufhin Oljas Mutter eine Hand in die Hüfte gestemmt und drauflosgeplappert hatte. Zehn Sekunden gab Diana vor, sie zu verstehen, dann verzog sie frustriert den Mund. Oljas Mutter lächelte. »War nur ein Scherz, Kleines.«

Albern und klug, vertrauensvoll und lustig. Das durfte Olja nicht zerstören, indem sie ihre Mutter jetzt anrief.

Sie hockte sich hin und vergrub das Gesicht in ihrer Armbeuge. Auf der anderen Straßenseite raschelten die Bäume. Der Wind fegte durch die Schlucht. Autos fuhren achtlos vorbei.

Diana war Oljas Freundin. Ihre beste Freundin. Sie kannten sich seit ihrem ersten Schultag. Egal wie seltsam Diana sein konnte, in einem Augenblick distanziert und überschwänglich im nächsten, Olja liebte sie, und obwohl Olja während des Unterrichts nur herumzappelte, durchaus bissig sein und ihren Mitschülern brutale Dinge ins Gesicht sagen konnte, erwiderte Diana ihre Zuneigung. Diana übernachtete bei ihr, wenn Oljas Mutter verreist war. Sie kämmte Oljas Haare und flocht sie zu einem braunen Zopf, der am Ende so dünn war wie ein abgekauter Bleistift. Hin und wieder lieh sie sich eins von Oljas T-Shirts aus, um es in der Schule zu tragen, je ungewaschener, desto besser, denn sie mochte ihre vertraute Nähe auf der Haut – und Olja hatte sie nicht etwa dazu gedrängt. Diana strengte sich für Olja genauso an wie umgekehrt: aufgrund der Geschichte, einer Sehnsucht und Fürsorge.

Der Jackenärmel war warm von ihren Tränen. Als sie den Arm ausstreckte, entdeckte sie in der Falte des Ellbogens, dort wo der Stoff noch trocken war, das Muster eines Sternregens.

Sie stand wieder auf und schickte Diana eine weitere Nachricht. Kannst du sprechen? Beobachtete das Display. Keine Antwort.

Selbst wenn Diana jetzt hätte schreiben können, sie hätte nichts Neues zu sagen gehabt. Noch eine Ausrede. Die vermissten Mädchen, erklärte Olja ihr mindestens einmal die Woche, hatten nichts mit ihnen zu tun: Das waren Kinder, kleine Dummerchen, die Ältere gerade mal in der Mittelstufe.

Nach der letzten Stunde heute, als Olja vorschlug, ins Stadtzentrum zu gehen, hatte Diana die Mädchen erneut aufs Tapet gebracht. Als wäre das Stadtzentrum an ihrem Verschwinden schuld. »Kannst du nicht einfach zu Hause anrufen und fragen, ob du mitdarfst?«, hatte Olja gesagt. Und während andere Schüler auf die Straße hinausdrängten und die Lehrer ihnen noch irgendwas hinterherriefen, sagte Diana in ihr Handy: »In Ordnung, Mama. Ich weiß, dass sie so ist. Ja, mach ich.«

Diana beendete das Gespräch, und Olja sagte: »Du hast es nicht mal versucht.« Diana schüttelte den Kopf. »Hab ich wohl«, und Olja sagte: »Hast du nicht.« Diana senkte den Kopf, sodass ihre Augen unter den blonden Fransen verschwanden. In solchen Momenten sah sie aus wie ein Albino. »Sie hat gesagt, sie möchte nicht, dass wir ins Zentrum gehen. Ich höre zu, wenn jemand mir sagt, was ich tun soll«, sagte Diana. Das »ich« betonte sie so, dass es wie eine Anschuldigung klang.

Ich höre zu, das hatte Olja nicht gesagt. Olja war eine exzellente Zuhörerin.

Zum Beispiel hörte sie die Wahrheit hinter dem, was Walentina Nikolajewna sagte. Dass die vermissten Mädchen Fremde waren – und deshalb keine Rolle spielten. Oder dass Walentina Nikolajewna Olja hasste und ihre Mutter hasste, nur weil sie den Mumm hatten, sich allein durchzuschlagen.

Ein anderer Bus hielt schnaufend vor Olja. Auf dem Holzschild an der Windschutzscheibe war die Route angegeben: Er fuhr nicht zurück, in Oljas Viertel, sondern ans andere Ende der Stadt, zur Reparaturwerft und nach Sawojko. Sie berührte den Fahrausweis in ihrer Tasche. Sie konnte einsteigen. Sie konnte tun, was sie wollte. Sie war allein.

Also tat sie es. Der Bus fuhr sie am Polizeirevier, am Krankenhaus, an aufgereihten Blumenständen und Verkäufern von DVD-Raubkopien, an einem brandneuen Lebensmittelgeschäft mit Äpfeln aus Neuseeland und am unteren Campus der Pädagogischen Fakultät vorbei. Auf allen Seiten dicht von Erwachsenen umringt, klammerte sich Olja an eine Halteschlaufe. Sie konnte ihr Handy nicht herausholen, der Bus war zu voll. Deshalb stellte sie sich das Bild nur vor. Diana sah nicht besonders gut darauf aus. Hochgezogene Schultern und gut sichtbare Eiterpickel. Die eine Mitschülerin ins Bild gebeugt, sodass ihr Rock an einem Bein hochrutschte. Alle glänzten im Blitzlicht.

Eine alte Frau am Ende des Ganges starrte Olja an. Wahrscheinlich dachte sie ebenfalls über Oljas sogenanntes erschreckendes Verhalten nach. Olja schüttelte den Kopf, und die wirren Haarsträhnen fielen ihr wieder ins Gesicht.

An der nächsten Haltestelle drängelte sie sich zwischen den späten Pendlern hindurch und stieg aus. Sie entkam der Körpermasse und fand sich im noch belebten Stadtzentrum wieder. Da stand die Lenin-Statue mit dem geblähten Mantel. Ein paar Gymnasiasten fuhren auf ihren Fahrrädern um den Sockel herum. Das große Rathaus, die leuchtenden Hügel. Der Vulkan – von hier aus sah man nur den Gipfel. Rechts von ihr senkte sich ein Kiesstrand in die Bucht hinab. Daneben erhob sich der Sankt-Nikolaus-Hügel. Die Abgase der Autos vermischten sich mit dem Geruch von Bratfett und Salzwasser. Die vermissten Schwestern mussten wirklich strohdumm gewesen sein, um sich hier zu verlaufen.

Olja warf einen Blick in ihr Portemonnaie und ging auf die Imbissbuden zu.

»Ich habe sechsundachtzig Rubel«, sagte sie zu einer Verkäuferin, die mit dem Kopf auf die Preisliste zeigte. »Könnte ich trotzdem ein Würstchen kriegen?«

»Das macht hundertzehn.«

»Und nur ein Würstchen, ohne Brötchen?«

Die Verkäuferin verdrehte die Augen. »Sechsundachtzig, sagst du? Eine Cola und ein Tee machen fünfundachtzig.« Olja schob ihr Geld über den Tresen und bekam eine Münze zurück, dazu eine Handvoll Zuckerpäckchen und eine Cola-Dose. Nach ein paar Sekunden folgte auch noch ihr Tee in einem weichen Plastikbecher. Die Getränke balancierend, einmal heiß, einmal kalt, ging sie über das steinige Ufer zu einer Bank.

Hinter ihr fuhren die Autos vorbei. Kleine Wellen schwappten über die Steine. Olja trank zuerst die Cola und lauschte dem Meer, den Motoren und dem Geschrei der Teenager unter der Statue. Dann kippte sie drei Päckchen Zucker in den Tee und trank auch den, legte den Kopf in den Nacken, bis der Bodensatz auf ihre Zunge rutschte. Süßer Grieß im Hals.

Auf dem Gehsteig lichtete sich die Menge der Menschen. Vögel schossen in Richtung Hügel. Vor ihr funkelte das Wasser im Sonnenlicht. Die vielen Kräne weiter unten an der Küste standen reglos da. Die Kranführer waren längst zu Hause, bei ihren Familien, ihren Freunden.

Das Handy lag schwer in Oljas Jackentasche. Sie wollte nicht schon wieder nachsehen, ob es Neuigkeiten gab. Es könnten weitere Fotos von den vier Mädchen sein, wie sie die Köpfe zusammensteckten, eine mit der Hand das Gesicht der anderen umfassend, dazu die Unterschrift: Beste Freundinnen! Das war bedrohlicher als jeder Fremde.