Das Verschwinden der Nacht - Johan Eklöf - E-Book

Das Verschwinden der Nacht E-Book

Johan Eklöf

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Beschreibung

Ein mitreißendes Plädoyer für mehr natürliche Dunkelheit und gegen Lichtverschmutzung – in bester Tradition des Nature Writing geschrieben vom schwedischen Zoologen und Fledermaus-Experten Johan Eklöf. Natur- und Artenschutz sind in aller Munde, aber ein Aspekt, der unsere Natur massiv bedroht, wird dabei meist außer Acht gelassen: Das künstliche Licht, das unsere Städte und Dörfer erhellt. Alle Rhythmen der Natur sind in irgendeiner Weise abhängig vom Wechsel zwischen Tag und Nacht. Fällt dieser Wechsel weg, weil die Nacht verschwindet, dann hat das gravierende Folgen. Vögel singen in allzu heller Umgebung mitten in der Nacht. Und Nachtfalter umschwirren Straßenlaternen, statt ihrer nächtlichen Bestimmung, der Suche nach Nektar und der Befruchtung nachblühender Gewächse, nachzugehen. Und auch der Mensch leidet unter zu viel Licht, weil Störungen seines Schlaf-Wach-Rhythmus ihn körperlich und psychisch krank machen. Der schwedische Zoologe Johan Eklöf vermittelt in seinem Buch eindrücklich, welche Bedeutung die Dunkelheit für die Natur hat – und welche Faszination von der Nacht ausgeht. - Ein mitreißender Appell zum Schutz der Dunkelheit – aus Gründen des Naturschutzes - Ein kaum beachteter, aber wichtiger Aspekt: Wie zu viel künstliches Licht zum Artensterben beiträgt - Persönlich erzählt, wissenschaftlich fundiert, erkenntnisreich

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Johan Eklöf

Das Verschwinden der Nacht

Wie künstliches Licht die uralten Rhythmen unserer Umwelt zerstört

Aus dem Schwedischen von Ulrike Strerath-Bolz

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Natur- und Artenschutz sind in aller Munde, aber ein Aspekt, der unsere Natur massiv bedroht, wird dabei meist außer Acht gelassen: die Lichtverschmutzung – das künstliche Licht, das unsere Städte und Dörfer erhellt. Alle Rhythmen der Natur sind letztlich abhängig vom Wechsel zwischen Tag und Nacht. Fällt dieser Wechsel weg, weil die Nacht verschwindet, dann hat das gravierende Folgen. Vögel singen in allzu heller Umgebung mitten in der Nacht. Und Nachtfalter umschwirren Straßenlaternen, statt ihrer nächtlichen Bestimmung, der Befruchtung nachtblühender Gewächse, nachzugehen. Und auch der Mensch leidet unter zu viel Licht, weil Störungen seines Schlaf-wach-Rhythmus ihn krank machen.

Der schwedische Zoologe Johan Eklöf vermittelt in seinem Buch eindrücklich, welche Bedeutung die Dunkelheit für die Natur hat – und welche Faszination von der Nacht ausgeht.

Inhaltsübersicht

Einleitung

Schmutziges Licht

Zyklen der Dunkelheit

Erlebnisse im Dunkeln

Der beleuchtete Planet

Der Staubsaugereffekt

Wenn der Paarungstrieb nachlässt

Massensterben

Die Nacht als ökologische Nische

Im Dunkeln sehen

Unsere Augen – und die der anderen

Nächtliche Sinne

Tiere der Dämmerung

Gesang bei falscher Beleuchtung

Die Natur hat ihre eigenen Lichter

Lampen, Leuchten und Laternen

Der Sternenkompass

Blendend helle Städte

Der falsche Sommer

Fruchtlose Nacht

Feuerwerk in den Wellen

Wo das Meer wartet

Romanze im Mondschein

Bleiche Korallen

In der Dämmerungszone

Das Ökosystem in der Schieflage

Bedrohte Fledermäuse

Segen der Nacht

Der Mensch und das kosmische Licht

Drei Dämmerungen

Dunkle Materie

Die Kraft des nächtlichen Himmels

Laurentiustränen

Ist unser Mond allein?

Blaue Stunde

Gelbgrauer Himmel

Lichter der Industrie

Verstellte Uhren

Zu viel Licht macht krank

Im Reich der Schatten

Balsam für die Seele

Lob des Schattens

LED – das neue Licht

Dunkeltourismus

Die Nacht des Königs

Gedämpfte Gespräche

Im Tunnel

Manifest für die Dunkelheit

Dank

Quellen

Einleitung

Der Lichtkegel der Taschenlampe erfasst einen schwarzen Dämon mit Schlangenschwanz und Fledermausflügeln. Das Wesen sieht aus, als würde es sich mit ausgebreiteten Schwingen nach hinten werfen, und aus seinem Maul erstrahlt ein Lichtschein, als hätte es versucht, das Licht selbst zu verschlingen, könne jetzt aber dessen Kraft nicht widerstehen. Es liegt im Sterben, dieses Wesen der Finsternis. Der Kirchenmaler Johan Christoffer Weisstern hat die Kirche in Mossebo, die im 18. Jahrhundert erbaut wurde, mit biblischen Motiven ausgemalt. Ganz im hinteren Bereich findet man die weniger angenehmen Gestalten: Teufel und Dämonen, die die Menschen an die Höllenqualen erinnern sollen. Doch vielleicht wollte Weisstern auch vermitteln, dass wir in der Lage sind, die Gefahren der Dunkelheit zu überwinden. In der kirchlichen Bilderwelt gehören Fledermäuse zu den Begleitern des Teufels: unreine Tiere und Symbole der Finsternis sowohl im unmittelbaren als auch im übertragenen Sinne, der Gegensatz des göttlichen Lichtes. Umso ironischer, dass ausgerechnet Kirchen so oft zu Wohnplätzen von Fledermäusen wurden.

Ich erforsche die Kirche weiter, gehe die Treppe hinauf und schlüpfe durch eine kleine Tür auf den Dachboden. Auf den alten Bodendielen liegen Kot und ausgerissene Mottenflügel, ein deutliches Zeichen, dass hier Fledermäuse leben, genauer gesagt, die mittelgroße Art des Braunen Langohres. Das Licht, das durch die Dachluken hereinsickert, wird schwächer, der Himmel draußen färbt sich tiefblau. Feuchte Abendluft dringt herein, angenehm duftend nach frisch gemähtem Gras, Teer und sonnengewärmtem Holz. Die Fledermäuse jedoch lassen sich an diesem Abend nicht unter den Dachbalken blicken, und so gehe ich hinaus, um sie auf dem Friedhof zu treffen, wenn sie in die Sommernacht hinausfliegen.

Und tatsächlich, wenig später stürzen sie sich kopfüber eine nach der anderen vom Dach und fliegen zu den nächsten Bäumen und ihrem schützenden Schatten. In einem ruckartigen Tanz gleiten sie an der rot gestrichenen Holzverkleidung der Kirche entlang, hin zu den Hecken und um die Baumkronen, immer auf der Jagd nach Insekten. Für das menschliche Ohr ist ihr Flug lautlos. Bald sind sie fort, als hätte die Nacht sie verschluckt.

Kirchengebäude und ihre nähere Umgebung waren jahrhundertelang geschützte Orte und wichtige Oasen für Tiere und Pflanzen in einer ansonsten schnell veränderlichen Welt. Jahr für Jahr zogen die Fledermäuse im Frühsommer in die Kirchtürme und Dachböden ein, um dort eine neue Generation von Langohren zur Welt zu bringen. So war es in den meisten schwedischen Kirchen.

Noch in den Achtzigerjahren hatten zwei Drittel der Kirchen in der Provinz Västergötland eine eigene Fledermauskolonie. Heute, 40 Jahre später, zeigen meine Forschungen und die meiner Kollegen, dass die Zahl um ein Drittel gesunken ist. Und wenn man sich von der Kirche in Mossebo wegbewegt Richtung Borås und Ulricehamn, bekommt man eine Ahnung, woher das kommt. Die Kirchen von Nittorp, Dannike, Marbäck, Vist, Hössna … die Liste ließe sich beliebig verlängern. Sie alle leuchten in der Nacht wie ein Vergnügungspark. Überall wurden moderne Scheinwerfer installiert, um die architektonischen Perlen in Szene zu setzen. Mit der Folge, dass die Tiere, die seit Jahrhunderten in der Dunkelheit der Kirchtürme eine sichere Zuflucht fanden – und die seit 70 Millionen Jahren in der Nacht zu Hause sind –, still und leise aus der Umgebung verschwinden. Oder vielleicht auch ganz.

Als ich in dieser Julinacht auf dem Friedhof sitze, leisten mir nicht nur die Fledermäuse Gesellschaft. Zum ersten Mal seit langer Zeit sehe ich einen Igel, Maulwürfe wühlen sich aus dem Gras, und am Sternenhimmel über den Grabsteinen tanzen geisterhafte Köcherfliegen. Ich selbst entspanne mich in der Dunkelheit, wenn all die grellen Eindrücke des Tages von subtileren Erlebnissen abgelöst werden. Die langsamere Bewegung derer, die im Dunkeln sehen können, setzt das Tempo. Selbst der Kaffee duftet anders. Ich bin in eine Dimension eingetreten, für die sich nur wenige Menschen die Zeit nehmen.

Nicht nur die Fledermäuse und ich genießen die Dunkelheit. Die meisten Säugetiere sind eigentlich dämmerungsaktiv, darunter auch der Igel, der mir zu später Stunde begegnet. Die Hälfte aller Insekten auf der Erde ist nachtaktiv, und seit einigen Jahren werden wir geradezu überschwemmt von alarmierenden Nachrichten über ihr Verschwinden. Forstwirtschaft, Umweltgifte, industrielle Landwirtschaft und Klimawandel – viele Ursachen werden genannt, aber nur wenige sprechen über das Licht, obwohl die lichtempfindlichen Nachtfalter zu den am stärksten bedrohten Arten gehören. Nachtfalter auf der Suche nach Nektar lassen sich von den vielen Lampen und Laternen verwirren. Entweder fliegen sie gar nicht mehr los, weil sie glauben, es würde schon Tag, oder sie werden von den Lichtkegeln angezogen, weil sie sich natürlicherweise am Mond orientieren. Erschöpft sterben sie dort, oder sie fallen Räubern zum Opfer, ohne ihre nächtliche Arbeit verrichtet zu haben. Darunter leiden auch die nachtblühenden Gewächse, die weniger oft befruchtet werden. Viele von uns haben das Phänomen schon an einer Außenleuchte oder Straßenlaterne beobachtet: Je stärker das Licht, desto größer seine Anziehungskraft. Es lockt die Insekten sogar aus dem Wald ins Dorf, aus dem Dorf in die Stadt, und lässt das gesamte Ökosystem verarmen.

Die Kirche von Mossebo hat (noch) keine Fassadenbeleuchtung, aber Licht ist trotzdem da. Auf den Gehwegen in der Nähe gibt es Laternen, und am Himmel zeichnet sich ein schwacher feuerroter Schein ab, der von den Nachbarorten stammt. Der Begriff »Lichtverschmutzung«, die Sammelbezeichnung für überflüssiges Licht, das starke Auswirkungen auf unser Leben und die Ökosysteme hat, wurde zunächst von den Astronomen geprägt, wird heute aber ebenso von Ökologen, Physiologen und Neurologen benutzt. Sie alle untersuchen die Auswirkungen, die das Verschwinden der Nacht hat. Es geht nämlich nicht mehr nur um Sterne und Insekten, es geht um alle Lebewesen einschließlich des Menschen. Seit den Kindertagen der Erde gibt es den Wechsel von Tag und Nacht, und jede Zelle im Organismus sämtlicher Lebewesen besitzt einen eingebauten Mechanismus, der in Harmonie mit dem Rhythmus von hell und dunkel arbeitet. Das natürliche Licht stellt die innere Uhr und steuert die Hormone und viele Vorgänge im Körper.

Bis vor etwa 150 Jahren die Glühbirne erfunden wurde, entwickelten sich diese Vorgänge langsam und ungestört. Heute jedoch sehen wir alarmierende Zeichen dafür, wie Straßenlaternen und Fassadenbeleuchtung das natürliche Abendlicht verdrängen und die uralten Rhythmen des Lebens in Unordnung bringen. Das künstliche Licht, das verschmutzende Licht, übernimmt die Führung: Licht, das die Vögel mitten in der Nacht zum Singen bringt, das junge Schildkröten in die falsche Richtung schickt und die Paarungsrituale in mondbeschienenen Korallenriffen stört.

Die Neigung des Menschen, seine Welt zu beleuchten, hat dazu geführt, dass die Erde heute geradezu glüht, wenn man sie in der Nacht vom Weltraum aus betrachtet. Jede Stadt und jede Straße schickt langfrequente Wellen in die kosmische Finsternis hinaus. Vielleicht ist dies das offensichtlichste Zeichen dafür, dass wir in eine neue Epoche eingetreten sind: das Anthropozän, das Zeitalter des Menschen. Unter dem hellen Himmel unserer erleuchteten Städte sehen wir keine Sterne mehr, und viele von uns erinnern sich nicht, wie die Milchstraße aussieht. Damit verlieren wir eines der großen Erlebnisse in der Natur: das Schauspiel am Himmelsgewölbe mit seinen atemberaubenden Perspektiven, seinen Sternschnuppen und – wenn man besonders viel Glück hat – dem erschütternd schönen Nordlicht.

Lichtverschmutzung ist für viele Menschen noch ein unbekannter Begriff, doch gleichzeitig wächst die Forschung in diesem Bereich rasant an. Es wird wohl nicht mehr lange dauern, bis die Beleuchtung genauso stark reglementiert sein wird wie der Lärm. LED-Lampen, die modernen Leuchtdioden, die die Lichtexplosion in Eigenheimgärten und auf Industrieparkplätzen erst möglich gemacht haben, könnten zur Lösung des Problems sogar beitragen.

Denn beim Thema Licht und Dunkelheit geht es nicht um schwarz oder weiß. Wir können das künstliche Licht heute programmieren und dämpfen, wir können es den natürlichen Voraussetzungen besser anpassen. Wir müssen es nur wollen.

In diesem Buch möchte ich den Schleier der Dunkelheit lüften und von der Bedeutung der Nacht für uns alle erzählen. In einigen kürzeren Episoden erzähle ich von Erlebnissen und Gedanken aus gut 20 Jahren Dienst an der Dunkelheit – als Fledermausforscher, Reisender und Freund der Finsternis.

Ich hoffe, dieses Buch kann eine Inspiration sein und daran erinnern, dass wir der Dunkelheit einen Platz in unserem Leben einräumen sollten. Ich will aber auch davon berichten, welchen Schaden ein Zuviel an künstlichem Licht anrichten kann. Es soll nachdenklich machen und ein Plädoyer für die natürliche Dunkelheit sein.

Schmutziges Licht

Zyklen der Dunkelheit

Die Mimosa sensitiva hat eine besondere Eigenschaft: Diese Pflanze reagiert auf Berührungen. Stupst man eines ihrer Blätter an, so faltet es sich zusammen wie ein Schirm, fast als würde es vor den Augen des Betrachters welken. Dasselbe passiert in der Nacht. Jeden Morgen öffnen sich die Blätter und richten sich wie Parabolspiegel nach der Sonne aus; in der Nacht nehmen sie wieder ihre Schlafstellung ein. Der französische Wissenschaftler Jean-Jacques d’Ortous de Mairan (1678–1771) setzte eine dieser Pflanzen ständiger Dunkelheit aus und stellte bald fest, dass sie sich öffnete, wenn es draußen Tag wurde, obwohl sie kein Sonnenlicht abbekam. Er ging davon aus, dass die Pflanze auf irgendeine Weise die Sonne spürte. Wie das jedoch gehen sollte, konnte er sich nie erklären.

Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, als die Genetik ihren großen Durchbruch erlebte, wurde das Rätsel gelöst.

Der Biologe und Genetiker Michael W. Young hatte in den Sechzigerjahren angefangen, über das Verhalten von Mimosen und anderen Pflanzen zu bestimmten Tages- und Nachtzeiten nachzudenken. Daraus ergab sich bei ihm ein lebenslanges Interesse an der biologischen Uhr. Im Jahr 2017 erhielt Young zusammen mit Jeffrey C. Hall und Michael Rosbash den Nobelpreis für Physiologie/Medizin. Den drei Forschern war es gelungen, das Gen zu isolieren, das bei allen Lebewesen – von den Bakterien bis hin zu den Menschen – den Rhythmus steuert. Der zirkadiane Rhythmus, unsere innere Ernährungs- und Schlafuhr, ist seit Anbeginn der Zeit unser Begleiter. Er folgt der natürlichen Atmung zwischen hell und dunkel.

Über Milliarden von Jahren hinweg – unsere Erde ist ja viereinhalb Milliarden Jahre alt – verändert der Planet seine Gestalt, ganz langsam und allmählich, manchmal auch durch plötzliche Ereignisse. Gebirge und Meere wachsen und tun sich auf, Flüsse verlegen ihren Lauf, Arten entstehen und sterben aus. Nicht einmal die Pole sind feste Punkte. Im Moment bewegt sich der magnetische Nordpol in Richtung Osten, vom nördlichen Kanada nach Sibirien, und dies mit einer Geschwindigkeit von zehn Kilometern pro Jahr. Doch eine Sache ist mehr oder weniger konstant geblieben: der Wechsel von Tag und Nacht, hell und dunkel. Die Sonne ist immer schon im Westen unter- und im Osten aufgegangen. Und zwischen Sonnenuntergang und Sonnenaufgang liegt die Nacht.

Die Länge eines Sonnenzyklus war aber nicht immer die gleiche. Moderne Atomuhren zeigen, dass die Rotation der Erde sich verlangsamt, sodass der Zyklus sich verlängert. Sowohl der Tag als auch die Nacht dauern zunehmend länger. Die Veränderung ist nicht so dramatisch, wir sprechen von knapp zwei Millisekunden in hundert Jahren. Aber wenn das immer schon so war, seit vor mehr als drei Milliarden Jahren das erste Leben auf der Erde entstand, dann dauerte der Zyklus damals nur halb so lange wie heute.

Es gibt viele Theorien darüber, wo dieses erste Leben entstand, das nicht viel mehr war als sich selbst kopierende Moleküle: in der Tiefsee, unter dicken Eisschichten, in Bergspalten, Lehmschichten oder womöglich an einem ganz anderen Ort im Universum. Doch wo auch immer die ersten Lebewesen entstanden, diese einzelligen Organismen entwickelten sich schnell und fanden in der weiten, unerforschten Welt neue Möglichkeiten.

Bald verbreiteten sich Cyanobakterien in den Weltmeeren: Organismen mit der Fähigkeit, Sonnenlicht aufzunehmen und daraus Sauerstoff herzustellen. Jeden Morgen, wenn die ersten Sonnenstrahlen die Wasseroberfläche erwärmten, nahmen die Cyanobakterien, die wir auch als blaugrüne Algen kennen, die Energie des Lichts auf und entließen Sauerstoff in die Atmosphäre. Damit beeinflussten sie ganz entscheidend die chemische Zusammensetzung der Atmosphäre und schufen die Voraussetzungen für die spätere Entwicklung von Tieren und Menschen. Der innere Mechanismus der Cyanobakterien legte die Basis für die Entstehung von Pflanzen und die Fotosynthese. Ihr Rhythmus hat sich von den ersten Anfängen über alle Generationen hinweg fortgesetzt.

Die ersten Mehrzeller auf der Erde erblickten das Tageslicht vor 620 Millionen Jahren. Zu dieser Zeit war der Sonnenzyklus etwa 22 Stunden lang. Wobei sie natürlich noch gar nichts wirklich erblickten, denn es sollte noch Millionen Jahre dauern, bis sich die Augen und andere komplexere Sinnesorgane entwickelten. Zu dieser Zeit existierten ganz einzigartige Lebensformen, die vor mehr als einer halben Milliarde Jahren ausgestorben sind. Millionen von Jahren lebten sie in aller Ruhe unter den üppigen Algenteppichen, ohne dass sie von Raubtieren bedroht wurden oder sich auch nur einen Millimeter weit bewegen mussten. Jeden Tag sickerte das Sonnenlicht durch die Wasseroberfläche und veränderte sich auf dem Weg in die Tiefe. Und jeden Abend endete der Einfluss des Lichts, sodass die natürliche Nacht ihren Lauf nehmen konnte. Diesem Wechsel passte sich das Leben an.

Die biologische Uhr, unser zirkadianer Rhythmus, ist uralt, grundlegend und eine Gemeinsamkeit aller Lebewesen. Alles, was heute lebt, hat sich in einer Welt entwickelt, die sich sowohl im Laufe des Tages als auch des Jahres verändert. Unsere Körper erwarten Licht und Dunkelheit in sich wiederholenden kürzeren und längeren Rhythmen. Jeder Organismus nutzt die vorprogrammierte Uhr auf seine eigene Weise. Wenn die Mimose ihre Blätter zusammenfaltet, erwacht die Nachtviole (das Nachtveilchen) zum Leben und verstärkt seinen Duft, um die Nachtfalter anzulocken. Bienen und andere Taginsekten machen Feierabend, während die Nachtbestäuber die Arbeit aufnehmen. Sie alle nutzen denselben grundlegenden Mechanismus, welcher Art und welchem Lebensraum sie auch immer angehören und wie ihr Lebenslauf auch aussehen mag. Das gilt für die zweieinhalb Milliarden Jahre alten Cyanobakterien ebenso wie für die Fledermäuse und den Menschen.

Licht und Dunkelheit stellen die biologische Uhr. Ohne Informationen über Veränderungen in der Umgebung läuft sie im gleichmäßigen Rhythmus von ungefähr 24 Stunden weiter. Das Morgenlicht sagt ihr, dass der Zyklus wieder bei null beginnen kann, dass gerade ein neuer Tag beginnt. Und so tickt die Uhr weiter bis zur Dämmerung und der Nacht entgegen, immer wieder korrigiert vom wechselnden Sonnenlicht. Das künstliche Licht von Lampen, Scheinwerfern und sonstigen Beleuchtungen passt natürlich nicht zu dieser Gleichung. Es bringt Unordnung ins System, um es einmal vorsichtig auszudrücken.

Erlebnisse im Dunkeln

Meine nächtlichen Erkundungstouren beginne ich oft, indem ich mich an einem ruhigen Ort niederlasse, gern irgendwo am Wasser. Dort schenke ich mir einen Becher Kaffee aus der Thermoskanne ein und nehme ganz passiv die Eindrücke der Dämmerung auf. Der Kaffeedampf schließt sich den Nebelfetzen an, die übers Wasser tanzen, wenn die Dunkelheit Kaltluft mitbringt. Das Vogelgezwitscher wird spärlicher, das Zirpen der Grillen deutlicher hörbar, und der Wald liefert die dunkelgrüne Kulisse dazu. Zur Sommerzeit hier bei uns im Norden kann der Wechsel vom Tag zur Nacht lange dauern – eine subtile Verschiebung von Licht und Aktivität, während sich die Tiere des Tages und der Nacht kurz begegnen und der Gesang der Vögel kaum abnimmt, bis irgendwann die Waldschnepfe mit ihrem raschen Vorbeiflug doch zeigt, dass es Abend wird. In tropischen Gegenden vollzieht sich der Wechsel viel schneller, es ist, als würde man eine Theaterkulisse gegen die andere austauschen oder einen Scheinwerfer ausschalten. Das Publikum und die Bühne verändern sich nicht, aber plötzlich treten ganz andere Schauspieler auf.

Manchmal dauert es eine Weile, bis die Fledermäuse kommen. Und da ich ja eigentlich da bin, um zu arbeiten, könnte ich die Zeit gut mit dem mitgebrachten Tablet verbringen, etwas lesen, schreiben oder den nächsten Tag vorbereiten. Ein Unternehmensberater würde vielleicht dafür sorgen, dass ich etwas profitabler arbeiten könnte. Doch das nicht Messbare überwiegt. Ich möchte gern glauben, dass ich auf die Dauer effektiver arbeite, wenn ich mich auf die natürliche Pause und die Dunkelheit einlasse. Das Naturerlebnis macht mich nicht notwendigerweise zu einem besseren Beobachter, aber es fördert ganz eindeutig meine natürliche Harmonie. Würde ich mich von dem Licht und von den äußeren Einwirkungen stören lassen, die Tablet und Handy liefern, würde ich zum einen den Fokus verlieren und zum anderen meine Fähigkeit, im Dunkeln zu sehen.

Tatsache ist nämlich, dass ich nur selten die Stirnlampe verwende, jedenfalls außerhalb des Hauses. Ich will mir die Nachtsicht erhalten. Sonst würde ich die Käfer übersehen, die kleine Insekten jagen, oder das Spinnennetz, das im Mondlicht glitzert.

So vieles würde mir entgehen: die Bewegung der Schnecken, die selbstleuchtenden Pilze. Denn ja, einige Pilze verfügen, ähnlich wie Glühwürmchen, über eine sogenannte Biolumineszenz, wie sie auch für das Meeresleuchten verantwortlich ist. Mit dem Licht locken sie Fliegen, Käfer und Ameisen an, die dann die Pilzsporen weiterverbreiten. Das Phänomen ist in den Tropen häufiger, doch auch in Schweden gibt es einen selbstleuchtenden Pilz, den honiggelben Hallimasch, dessen Myzel, also das fadenförmige Netz im Boden, ganz leicht grün schimmert. Es heißt, die Menschen hätten früher das Holz von Eichen, die von diesem Myzel befallen waren, als Wegweiser genutzt. Und vielleicht betrachten Tiere mit einem besseren Nachtsehvermögen als wir die Pilze ja als lichtstarke Lampen.

Es ist ja überhaupt sehr faszinierend, sich zu überlegen, wie die Nachttiere ihr Dasein im Dunkeln erleben und wie ihre Gehirne die Sinneseindrücke verarbeiten. In meiner Nähe leuchten Hunderte normalerweise unsichtbare weiße Blüten auf, wenn das Mondlicht darauffällt. Das ist auf eine subtile Art schön, aber für Tiere, deren Sehvermögen in den ultravioletten Bereich hineinreicht, leuchtet der Boden wahrscheinlich wie der fluoreszierende Fußboden in einem Klub.

Als Menschen mit den artspezifischen Beschränkungen unserer Sinne werden wir wohl nie verstehen, wie Tiere ihre Umwelt erleben – selbst wenn wir relativ viel über ihr Sehvermögen wissen. Filter in Kameras und maschinelle Verzerrungen geben uns eine gewisse Ahnung davon, aber wir werden nie mit den Augen einer Katze oder eines Insekts sehen. Der Philosoph Thomas Nagel hat 1974 in seinem berühmten Aufsatz »What is it like to be a bat?« erklärt, dass die menschliche Sprache nicht ausreicht, um zu beschreiben, wie es ist, eine Fledermaus zu sein. Ebenso wenig, wie wenn sie ein Außerirdischer wäre. Nur Individuen derselben Art können die gemeinsamen Erlebnisse verstehen. Und wenn wir Nagels Überlegungen auf die Spitze treiben, wissen wir eigentlich auch nicht, wie es ist, ein anderer Mensch zu sein. Wir verfügen nun mal nur über unsere eigenen Sinnesorgane, Filter und Interpretationen.

Doch wenn man einmal von den ausgetretenen Pfaden abbiegt, sich als Betrachter hinsetzt und auf die Dunkelheit einlässt, wird die Nähe zum nächtlichen Leben schnell spürbar. Die anderen Sinne gleichen das Sehen aus, langsam und fast unmerklich verändern sich die Geräusche und Gerüche, die Luft auf der Haut fühlt sich feuchter an. Ein Ziegenmelker, Vogel der Dämmerung, fliegt mit seinem unverkennbaren Surren vorbei. Frösche quaken, in der Ferne singt ein Prachttaucher sein melancholisches Lied, und irgendwo plätschert Wasser. Allmählich sehen wir auch mehr und können ahnen, wie die nachtaktiven Blüten zum Leben erwachen: weiße Lichtnelke, Ackerlichtnelke, Nachtviole. Sie verströmen ihre Duftmoleküle und legen Spuren in der Windrichtung, um die Nachtbestäuber herbeizulocken. In der langen Dämmerung der Frühsommernächte kommt der Flieder am besten zur Geltung, und es heißt, wer um Mitternacht herum geboren ist, kann in Sonntagnächten Geister im Umriss der Fliederbüsche erkennen. Im August übernimmt dann der Duft des Geißblatts die Sommernächte, und der Eulenfalter lässt sich von den charakteristisch geformten Blüten anziehen. Mit seinem langen Saugrüssel trinkt der Nachtfalter durstig von dem Nektar und bestäubt die Pflanze. Nachtfalter haben einen im Tierreich einzigartig empfindsamen Geruchssinn. Sie können sogar einzelne Duftmoleküle mit ihren Fühlern auffangen und so über Kilometer hinweg eine Blüte oder einen Partner, eine Partnerin finden.

Wer sich einfach mal in der Dämmerung nach draußen setzt, ahnt sehr bald die unsichtbaren Duftstraßen, auf denen die Nachtfalter zielstrebig unterwegs sind. Sie sind für die Bestäubung von Pflanzen mindestens so wichtig wie die tagaktiven Bienen und besuchen tatsächlich mehr Blumen. So halten sie unser Ökosystem intakt und am Leben und sind von unschätzbarem Wert für uns alle.

Einer der Nachtfalter, die ich beobachte, geht plötzlich im Sturzflug auf den Boden hinunter, schlägt einen akrobatischen Salto und begibt sich dann eilig wieder auf die Duftspur. Falter haben ein ausgezeichnetes Hörvermögen und nehmen die Fledermäuse wahr, die ich hier zählen will. Der plötzliche Absturz war also ein Ausweichen, um nicht gefressen zu werden. Mein Ultraschalldetektor, der die Laute der Fledermäuse für das menschliche Ohr hörbar macht, knattert wie eine Popcornmaschine. Je näher der Falter ist, desto schneller die Suchimpulse der Fledermaus, die versucht, ihre Beute zu lokalisieren. Der Falter weicht aus und schlägt förmlich Haken – so entsteht ein regelrechter Zweikampf unter dem nächtlichen Himmel, begleitet von einem taktfesten Rhythmus. Es raschelt ein wenig in den Blättern: zwei Maikäfer beim Paarungstanz. Ihr brummender Flügelschlag übertönt für kurze Zeit sogar den Ultraschalldetektor.

Nicht weniger als ein Drittel aller Wirbeltiere und zwei Drittel aller Wirbellosen sind nachtaktiv. Während wir Menschen schlafen, vollzieht sich ein Großteil des Lebens in der Natur: Paarung, Jagd, Verarbeitung und Bestäubung. Als Fledermausforscher werde ich ständig daran erinnert, wie wenig wir eigentlich über die Nacht und ihre Geheimnisse wissen. Über den wilden Flug der Fledermäuse zwischen den Baumkronen, über ihre Fähigkeit, innerhalb einer Mikrosekunde die Umgebung wahrzunehmen, nur mithilfe von Tönen und Echos. In der Dunkelheit sind wir Menschen nicht zu Hause, sondern nur zu Besuch.

Der beleuchtete Planet

Fledermäuse, Ziegenmelker und Maikäfer sind Wesen der Dämmerung, während der Mensch ein ausgesprochen tagaktives Tier ist. In vielerlei Hinsicht sind wir abhängig von unserem Sehsinn, deshalb brauchen wir das Licht, um uns sicher zu fühlen. Kein Wunder also, dass wir dazu neigen, unsere Umgebung heller zu machen. Und seit die Elektrizität und die Glühbirne vor 150 Jahren ihren weltweiten Siegeszug angetreten haben – noch mehr, seit die LED-Lampen das Beleuchtungswesen revolutionieren –, vollzieht sich die »Erleuchtung« in immer schnellerem Tempo. Wir beleuchten unsere Hausgärten, Straßen, Industrieanlagen und Parkplätze mit Laternen, Scheinwerfern und Lichterketten.

Oft geht es dabei um Sicherheit. Auf dem Schulparkplatz ein paar Hundert Meter von meinem Haus entfernt wurden um die 50 Lichtsäulen aufgestellt, mehr als eine pro zehn Quadratmeter Asphalt, sehr zur Freude der motorisierten Jugendlichen, die jetzt wissen, wo sie abends abhängen können. Ähnliches erlebt man an vielen Stellen. Licht in leeren Büros, auf verlassenen Parkplätzen und auf den Mauern von Lagerhallen an der Autobahn. Der Mensch verlängert den Tag und verdrängt die Bewohner der Nacht.

Betrachtet man Nachtaufnahmen der Erde, die von Satelliten aus gemacht wurden, glüht unser Planet. Sämtliche Ballungsgebiete der Erde sind selbst vom Weltraum aus als leuchtende Flecken auszumachen. Beleuchtete Straßen verbinden Städte wie ein helles Netz, und in den am dichtesten besiedelten Bereichen fließen die Lichter zu großen Flecken zusammen. Auf eine sehr konkrete Weise zeigen diese Satellitenbilder, wie stark sich urbane Strukturen ausbreiten.

Vielleicht sind sie das stärkste Symbol für das Zeitalter des Menschen, in dem wir uns befinden: das Anthropozän. Der Begriff wurde in den Achtzigerjahren geprägt und später von dem niederländischen Chemiker und Nobelpreisträger Paul Crutzen als Name für unser Zeitalter vorgeschlagen. Doch die Idee, eine neue geologische Epoche nach dem Einfluss des Menschen auf die Erde zu benennen, war nicht neu. Sie geht auf die Sechzigerjahre des 19. Jahrhunderts zurück, konkret auf George Perkins Marsh (1801–1882), einen amerikanischen Politiker, Diplomaten und Sprachwissenschaftler, der zum Sprecher einer frühen Umweltschutzbewegung wurde. Inspiriert von seinem Hauptwerk Man and Nature, Or Physical Geography as Modified by Human Action (1864), entstanden in den nächsten zwei Jahrzehnten mehrere Versuche, den schädlichen Einfluss des Menschen auf die Umwelt festzumachen und die gegenwärtige Epoche entsprechend zu benennen. Doch erst heute hat die Vorstellung vom Anthropozän wirklich Fuß gefasst.

Die nächtlichen Satellitenbilder zeigen recht deutlich, wie sich die Aktivität des modernen Menschen in Zeit und Raum ausbreitet. Und selbst wenn man viel Gutes über die technische Entwicklung und die Moderne sagen kann, die sowohl im wörtlichen als auch im übertragenen Sinne für Erleuchtung gesorgt haben, wird doch auch klar, dass sie Energieverschwendung, Konsumterror und ökologischen Verfall mit sich bringen. Was wir heute als Lichtverschmutzung bezeichnen, also ein Übermaß an künstlichem Licht, das sogar die uralten natürlichen Verhältnisse verändert, ist ein bisher unterschätzter Aspekt. Doch er wird immer sichtbarer und spürbarer. Künstliches Licht ist heute für ein Zehntel unseres Energieverbrauchs verantwortlich. Dabei kommt uns nur ein sehr kleiner Teil davon wirklich zugute, das meiste wird nach oben abgestrahlt, statt Gehwege und Haustüren zu beleuchten. Forschungsergebnisse aus Europa und den USA zeigen, dass schlecht ausgerichtete und unnötig starke Lampen für einen Kohlendioxidausstoß verantwortlich sind, der dem von fast 20 Millionen Autos entspricht. Und im Jahr 2017 stellte man fest, dass die weltweite Lichtverschmutzung um zwei Prozent pro Jahr steigt.

Eine der Ursachen dafür, dass wir so eifrig damit beschäftigt sind, unseren Planeten heller zu machen, ist sicher die sogenannte Nyktophobie, also die Angst vor der Dunkelheit. Sie ist sowohl genetisch als auch kulturell weitervererbt und hat genau wie viele andere Ängste und Reaktionen einen Wert für unser Überleben. Natürlich können wir unseren Sehsinn so weit anpassen, dass wir auch im Dunkeln einigermaßen sehen, aber das ist ein langsamer Prozess. Nachdem das Photonenbombardement des Tageslichts abgenommen hat, dauert es mindestens eine halbe Stunde, bis sich so viel Pigment in unseren Augen aufbaut, dass eine gewisse Sehfähigkeit eintritt, und dann brauchen wir immer noch eine Weile, bis unsere maximale Lichtempfindlichkeit erreicht ist. Erst dann können wir uns auch in der Dunkelheit orientieren. Und die gesteigerte Lichtempfindlichkeit ist auch sofort wieder verloren, sobald es hell wird. Ein Blick in eine Straßenlaterne, ein Blinken des Handys oder der vorbeigleitende Lichtkegel eines Autoscheinwerfers – und schon wird das Rhodopsin, das lichtempfindliche Pigment, rasch wieder abgebaut. Tatsächlich fällt es in sich zusammen wie ein Kartenhaus, und das Auge muss wieder von vorn anfangen.

In unseren heutigen Städten ist es fast unmöglich, echtes Nachtsehen zu etablieren. Zu viele Lichtpunkte hindern das Rhodopsin daran, sich richtig aufzubauen. In Hongkong und Singapur, die zu den hellsten oder, besser gesagt, lichtschmutzigsten Städten der Welt gehören, gibt es kaum noch eine Ecke, in der man Dunkelheit findet und das natürliche Nachtsehen des Auges anregen kann. Wer in Hongkong lebt, schläft unter einem Nachthimmel, der 1200-mal so hell ist wie der natürliche. Und wer in Singapur aufwächst, weiß wahrscheinlich gar nicht, wie sich ein voll entwickeltes Nachtsehen anfühlt. Das gilt für eine zunehmende Zahl von Stadtbewohnern auf der ganzen Welt.

Den Erlebnisverlust kann man vielleicht noch als nostalgisch und nebensächlich abtun. Aber es gibt zahlreiche Forschungsergebnisse, die darauf hindeuten, dass der Mensch im Anthropozän durch ein Übermaß an künstlichem Licht negativ beeinflusst wird. Das Licht stört unsere biologische Uhr, sorgt für Schlafstörungen, Depressionen und Fettleibigkeit. Es gibt auch Studien, die zeigen, dass sogar bestimmte Arten von Krebs indirekt durch zu viel Licht in der Nacht gefördert werden können. Doch damit beschäftigen wir uns später noch.

Der Staubsaugereffekt

Ein Nachtfalter fliegt auf einen glitzernden Wasserfall zu und verschwindet in den Wassermassen. Bald folgt ein zweiter, und es dauert nicht lange, dann taucht eine ganze Reihe von Faltern auf. Ohne zu zögern oder anzuhalten, fliegen sie direkt in das rauschende Wasser hinein.

Diese Beobachtung wurde im 19. Jahrhundert an dem isländischen Wasserfall Skjálfandafljót gemacht. Nichts konnte die Falter an diesem Abend aufhalten, nicht einmal der unvermeidliche Tod im strömenden Wasser. Das Blinken und Glitzern der Tropfen zog sie hypnotisch an. Der Philosoph, Psychologe und Biologe George John Romanes (1848–1894) studierte die Instinkte von Mensch und Tier und war fasziniert davon, wie selbst das kleinste bisschen Licht – der schwache Schein eines Streichholzes oder ein glitzernder Wassertropfen – Insekten vom Kurs abbringen konnte.

Romanes arbeitete an der Universität Oxford. Er war ein guter Freund von Charles Darwin und ein eifriger Fürsprecher von dessen Theorien, sodass man davon ausging, er würde seine Nachfolge auf dem Thron der Evolutionstheorie antreten.

Doch leider starb George John Romanes im Alter von gerade 46 Jahren, und seine Arbeit geriet immer mehr in den Schatten der Forschung anderer Biologen, die die Wissenschaft des 20. Jahrhunderts dominierten. Doch seine Gedanken zum Thema Instinkt, die er in seinen Werken Mental Evolution in Animals und Mental Evolution in Man niedergelegt hatte, entfalteten großen Einfluss sowohl in der Zoologie als auch in der Psychologie. Und so wie Romanes beobachtete, dass die Nachtfalter von den glitzernden Wassermassen des Skjálfandafljót angezogen wurden, so haben wohl die meisten von uns irgendwann schon mal gesehen, dass Insekten um eine Lampe kreisen, immer enger, bis sie irgendwann direkt in die Lichtquelle hineinfliegen.

Im Jahr 2001 nahm ich an einem Fledermaus-Workshop im Naturreservat Krau teil, das im Inlandsregenwald von Malaysia liegt. Ich war ein junger Doktorand auf dem Weg zur Disputation und wollte mir diese Gelegenheit natürlich nicht entgehen lassen. Unter den Teilnehmern befand sich auch ein lokales Fernsehteam, das einen der einheimischen Forscher bei seiner Arbeit mit den Fledermäusen begleitete. Eines Abends während des Essens schalteten die Fernsehleute eine ihrer starken Lampen ein und richteten sie senkrecht in den Himmel. So entstand eine kompakte Lichtsäule in der dunklen, feuchten Luft des Regenwaldes, und wir konnten ungemein deutlich sehen, wie sich eine solche Lichtquelle auf die Insektenwelt auswirkt. Ein stetiger Strom von Nachtfaltern, Köcherfliegen, Mücken, Käfern, Heuschrecken und anderen Insekten wurde von der Lichtsäule eingefangen. Sie alle tanzten in einer Spirale um das Licht. Alle? Nein, nicht alle. Eine Gottesanbeterin saß auf dem Rand der Lampe und machte Beute. Sie nutzte die Lampe als ihre ganz persönliche Falle. Lange saß ich da und beobachtete ihr allem Anschein nach bewusstes und zielgerichtetes Handeln.

Am südlichen Ende des Strip, der berühmtesten Straße von Las Vegas, thront eine Lichtinstallation, die ähnlich funktioniert. Auf einem Hotel und Casino namens Luxor steht das wohl stärkste Leuchtobjekt Amerikas und womöglich der ganzen Welt: der Luxor Sky Beam. Gewölbte Spiegel und 39 Xenonlampen mit einer Lichtstärke von jeweils 7000 Watt schaffen einen Lichtstrahl, der senkrecht in den Weltraum aufsteigt und fast 70 Kilometer weit zu sehen ist, zumindest, wenn man sich auf Flugzeughöhe befindet. Die Lichtstärke entspricht der von 42 Milliarden Kerzen. Wenn man sich in einer der hellsten Städte der Welt von der Masse abheben will, muss man schon klotzen, statt zu kleckern.

Nach einem ungewöhnlich feuchten Jahr 2019