Das wahre Leben der Dandelia Dorca - Marlies Lüer - E-Book

Das wahre Leben der Dandelia Dorca E-Book

Marlies Lüer

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Beschreibung

Daniela liebt es, in „Oliveros Zauberladen“ die Kunden zu bedienen. Sie darf im alten Haus neben dem Laden wohnen, mit ihrem Schulterdrachen zusammen. Haustiere erlaubt! Warum sollte sie es bekümmern, dass sie sich nicht auf die Straße traut, die Leute ihren Drachen für einen Papagei halten und dass ihre Gedanken manchmal in dichtem Nebel untergehen. Es geht ihr doch gut!

Aber was, beim Barte Merlins, bedeutet diese seltsame Erzählung über eine verhexte Hexe namens Dandelia, die viel zu große Ähnlichkeit mit Daniela aufweist?

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Die wahre Geschichte der Dandelia Dorca

 

 

Urban Fantasy

 

Ich widme diese Geschichte Regina Schmiedlechner,

die mich auf die Idee brachte,

über eine nette Hexe und ihren Schulterdrachen zu schreiben.

Danke, liebe Regina!

 

 

Autor: Marlies Lüer ©2019

www.Silberworte.de

Esslinger Str. 22, 70736 Fellbach

Cover und Buchsatz/Innenillustration:

Eva Baumann Design

Unter Verwendung von Shutterstockbildern

 

 

 

Anmerkung:

In der Geschichte wird euch ein walisischer Name begegnen

Glewlwyd

(Aussprache: Gleu-lu-id)

 

 

Sorry, aber der Name muss sein wegen seiner Bedeutung.

„Der kühne Graue mit dem kräftigen Zugriff“ ist der Name eines Torwächters

in der Walisischen Mythologie

Inhaltsverzeichnis

 

Die wahre Geschichte der Dandelia Dorca

Inhaltsverzeichnis

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Epilog

 

 

-1-

 

Andere Leute hatten Kuckucksuhren. Oder programmierbare Kaffeemaschinen und werden vom Duft frisch gemahlener und mit kochend heißem Wasser übergossener Arabica-Kaffeebohnen geweckt. Nicht so Daniela. Sie wurde täglich Punkt 7 Uhr von ihrem Schulterdrachen aus dem süßen Schlaf gerissen. Ob sie nun zur Arbeit musste oder nicht. Und wenn sie sich unwillig auf die andere Seite drehte, um noch ein Viertelstündchen im Bett zu bleiben, das so weich und bequem war, dann büßte sie das mit der Aktion „Drachenzunge in Ohrmuschel“. Und wenn auch das sie nicht aus den Federn lockte, dann spuckte ihr Drache eben ein klein wenig Feuer. Ihre Haare sahen häufig etwas angesengt aus, was Daniela ihrem Chef mit Unachtsamkeit beim Haare föhnen erklärte. Daraufhin hatte er ihr einen Fön von hoher Qualität geschenkt und einen Tiegel mit bio-zertifizierter Haarbutter. Daniela hatte sich wirklich gefreut, aber ihre Haare sahen dennoch keinen Deut besser aus. Sie war nun mal eine begnadete Schläferin. Heute aber eskalierte die Situation im Schlafzimmer nur bis zur „Zunge-im-Ohr“-Stufe. Daniela schaffte es, gleichzeitig mürrisch auszuschauen und doch zu lächeln. Sie liebte ihren kleinen Schatz nun mal und wäre ohne ihn verloren.

„Schon gut, schon gut. Du hast gewonnen.“

Mit freundlicher Strenge schob sie den moosgrünen Drachen von ihrer Schulter auf die Bettdecke und setzte sich auf, ungeniert gähnend – schließlich war sie, abgesehen vom lebendigen Wecker, ganz allein in der Wohnung und konnte sich gute Manieren sparen. Daniela befreite sich von der Zudecke, die mit Alpakawolle gefüllt war, und begrub ohne es zu merken den Schulterdrachen darunter. Als sie ins Bad schlurfte, flog das Deckbett unter der Zimmerdecke im Kreis umher, bis er es geschafft hatte, diese abzustreifen. Sie plumpste fast lautlos auf die Matratze und bildete nun ein malerisches Versprechen von Ruhe und Gemütlichkeit in Form eines Nestes. Ungeniert ließ sich der Drache dort nieder, drehte sich wie ein kleiner Hund einige Male im Kreis und schloss seine goldfarbenen Augen für ein Nickerchen, solange, bis die junge Frau das Bad verließ und nunmehr deutlich munterer in die Küche ging, um ein Frühstück für Zwei zuzubereiten. Bald darauf ertönte ihre rauchige, dunkle Stimme, die so gar nicht zu ihren Sommersprossen passen wollte.

„Waldi! Frühstück ist fertig. Heute gibt es Avocaadoooo!“

Ein grünes Lid hob sich zur Gänze und das zweite öffnete sich halb. War das etwa ihr Ernst? Für Grünzeug stand er nicht auf. Wenigstens ein Ei sollte es schon sein. Aus seinen rosigen Nüstern quoll ein wenig Rauch der Empörung.

„Nein, war nur ein Scherz! Nun komm schon, sonst esse ich deine Frikadelle auf.“

Waldi straffte seine Flügel. In Null Komma Nichts saß er auf dem Küchentisch und machte sich über die erste Mahlzeit des Tages her. Daniela aß tatsächlich eine Avocado, die sie mit Kakaopulver bestäubt hatte und offensichtlich genussvoll löffelte. In ihrem Becher dampfte gefriergetrockneter Kaffee vor sich hin. Für einen anständigen, von Hand aufgegossenen Filterkaffee fehlte ihr der Elan zu dieser Tageszeit. Sie war mit ihrer Mahlzeit kaum fertig, da klingelte es an der Tür ihres kleinen Hauses, das sich zwischen zwei wesentlich größere und wesentlich modernere Bauten duckte. Hinter dem Haus lag ein verwunschener Garten, verwildert, überwuchert, blühend und Frucht tragend. Auf der anderen Seite des Gartens stand sozusagen die große Schwester von Danielas Haus, ein identischer Zwilling. Bloß mit dem Unterschied, dass es eine Etage mehr hatte nebst Dachboden. Der Garten war somit der Stadt entrückt. Ein bärtiges Gesicht schob sich in dem Moment, als Daniela aus der Küche schlurfte, vor das kleine Guckfenster neben der Haustür. Der alte Postbote winkte ihr mit einem dicken Umschlag. Die junge Hausherrin öffnete das Fenster mit einem freundlichen Lächeln, denn sie mochte den alten Knaben. Sie waren mal ins Gespräch gekommen, er stammte aus Berlin, war nicht in England geboren. Er erinnerte sie an jemanden, der auch so buschige Augenbrauen hatte, aber an wen genau, das wusste sie nicht. Wie so vieles andere auch nicht. Ihr Gedächtnis war wie der Garten von einer hohen Mauer umgeben. Zumindest fühlte es sich so an, was sie allerdings nicht in Sorge versetzte. Irgendwie war das sogar ganz schön, immer in der Gegenwart zu leben. Waldi kam ihr hinterhergeflogen und setzte sich auf die Sitzstange nahe der Tür, die wie ein überdimensioniertes „T“ aussah, und schaute wachsam den Mann an und schnupperte. Die olfaktorische Prüfung fiel zu dessen Gunsten aus. Keine Gefahr. Waldi entspannte sich und legte die Flügel locker auf seinem Rücken gefaltet ab.

„Guten Morgen, hier ist Ihre Post, sie passt nicht durch den Briefschlitz.“

„Danke! Darauf habe ich schon gewartet.“

„Wie geht’s dem Papagei? Er schaut mich immer so streng an. Ich habe das Gefühl, Sie brauchen keinen Wachhund, was?“

„Mein Schulterdrache? Ach, dem geht’s prima.“

„Na, der Name passt ja zu dem mürrischen Vogel. Fehlt nur noch, dass er Feuer speit.“

Der Mann lachte lauthals über seinen Witz. Unwillkürlich griff Daniela sich in die Haare …

„Ich muss jetzt weiter, schönen Tag noch!“, grüßte der Postbote und ging über den schmalen Weg aus Trittsteinen durch den kleinen Vorgarten zurück zu seinem vollbeladenen Fahrrad. „Schöner Fingerhut, den Sie hier überall haben! Habe nirgendwo jemals größeren gesehen“, rief er noch anerkennend und verschwand aus Danielas Blickfeld.

„Er heißt Waldemar Waldmeister“, rief sie ihm hinterher. „Aber ich rufe ihn lieber Waldi“, sandte sie noch nach, doch er schien sie nicht gehört zu haben. Daniela schloss das Fenster und fragte sich, wieso alle Leute stets ihren Waldi für einen Papagei hielten? Aus dem Augenwinkel sah es jetzt in diesem Moment tatsächlich so aus, als hätte er ein Federkleid und einen gebogenen Schnabel, aber als sie vom Umschlag wieder aufsah und ihrem kleinen Liebling in die goldenen Augen schaute, sah er ganz und gar nicht wie ein Papagei aus. Die Leute redeten so einen Quatsch, das nahm schon Einfluss auf ihre Wahrnehmung! Sie zuckte mit den Schultern und riss den Umschlag auf. Darin befanden sich Gewürztüten und Tees aus Übersee. Daniela hätte gern an jeder Tüte ausführlich geschnuppert, aber ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass sie sich beeilen musste, wenn der Laden nicht schon wieder zu spät öffnen sollte.

„Oh nein, heute kommt ja die Lieferung mit dem Halloween-Kram!“

Daniela legte den Umschlag auf der Garderobe ab und beeilte sich, ihre Schuhe anzuziehen. Sie schaute schnell noch kritisch auf den Boden, der dick mit Zeitung ausgelegten Vogelvoliere. Müsste auch mal wieder gesäubert werden.

„Für heute muss es noch reichen, mein Schatz. Morgen mache ich deinen kleinen Palast sauber, versprochen! Ich würde dich gern mitnehmen ins Geschäft, aber du weißt ja, die Katze! Mit der ist nicht zu spaßen. Lass dir den Tag nicht lang werden.“

Sie warf einen prüfenden Blick auf die zum Glück gut verheilende Kratzwunde auf dem Schwanz des Drachen, schnappte sich ihren Schlüsselbund und verließ eilig die Wohnung, um zu ihrem Arbeitsplatz zu gelangen: „Oliveros Zauberladen“. Dafür musste sie praktischerweise nur durch den Garten laufen und das Geschäft durch die Hintertür betreten.

Waldi zuckte etwas zusammen, als die Tür krachend ins Schloss fiel. Er warf einen angeekelten Blick in die antike Voliere aus Metall.

„Wie ich das hasse, dort zu …!“, dachte er.

 

-2-

 

Als Daniela etwas atemlos den Laden erreichte und in den Verkaufsraum hastete, um die Eingangstür aufzuschließen, war der Lieferwagen schon vor Ort. Weil der Fahrer sich gerade mit finsterer Miene von der Tür abwandte, um wieder hinters Steuer zu steigen, schaltete Daniela schnell die Beleuchtung ein und ruderte wild mit den Armen, öffnete die Tür weit und schob einen Keil darunter.

„Warten Sie! Haaalloooo!“

Das Motorengeräusch erstarb und der ältliche Fahrer stieg unwillig aus.

„Frolleinchen, das nächste Mal, wenn Sie mich wieder warten lassen, fahre ich einfach davon oder ich schmeiße Ihnen das Zeug vor die Tür und fälsche die Unterschrift. Da kenn ich nix!“, drohte er. „Hab schließlich noch mehr Kunden zu beliefern.“ Sein Schnauzbart zitterte leicht vor Empörung.

„Es tut mir so leid, ehrlich. Soll nicht wieder vorkommen.“ Daniela ließ die Wimpern klimpern und setzte ihr süßestes Kleinmädchenlächeln auf, aber irgendwie fehlte ihr offenbar heute der Zauber, das gewisse Etwas … denn seine Miene blieb finster.

Der Fahrer schnaubte verächtlich. „Das sagen Sie jedes verdammte Mal. Kaufen Sie sich einen Wecker, den sie auch hören können.“

Daniela fühlte beim Wort Wecker förmlich Waldis feuchte Zunge in ihrem Ohr und schauderte. Aus dem Lagerraum holte sie den Palettenwagen und schob ihn eilig zum Eingang, riss dabei den Drehständer mit den Zauberstäben aus Hogwarts um. Verflixt nochmal! Zum x-ten Male wünschte sie sich, es gäbe einen Hintereingang für die Lieferanten und viel Platz in einem gut beleuchteten Lager, staubfrei und ansehnlich. Aber nein, sie musste alles durch den Verkaufsraum schleppen und schieben und dann in irgendwelche staubigen Lücken stopfen, bis unter die Decke in einem Flur mit veralteter Elektrik, die immerzu die Glühlampen platzen ließ. Im sogenannten Sozialraum, der auch nicht mehr war als eine kleine Küchenzeile zum Teekochen mit wackeligem Tisch am Fenster einschließlich Blick in den Garten, stapelte sie all die Kisten, die nicht mehr in den Flur passten. Ludwig, der Fahrer, war heute wirklich ungnädig und nachtragend. Daher stellte er die Lieferung einfach nur vorne im Laden ab, einen Teil draußen auf der Türschwelle – und verschwand grußlos ohne schriftliche Annahmebestätigung.

Daniela schickte ihm leise einen herzhaften Fluch hinterher, wohl wissend, dass der Fehler bei ihr lag. An den Fingern zählte Daniela die Tage ab und kam erfreut zu dem Schluss, dass ihr Chef schon morgen von seiner Reise zurückkehren würde. Sie nahm eins der Pakete von der Türschwelle hoch und ächzte unter der Last. Was hatte ihr Arbeitgeber bloß wieder alles bestellt? Der Lkw war mittlerweile an der Ampel rechts abgebogen, aber er kam quietschend zum Stehen und die Warnblinkanlage ging an. Was war denn nun wieder? Ludwig tauchte auf und trat wütend gegen einen der Reifen. Es gab ein kleines Hupkonzert, worauf der Lieferant wütend seine Faust schüttelte und – vermutlich – den Hupenden wüste Beschimpfungen spendierte, die den geplatzten Reifen aber auch nicht wieder fahrtüchtig machen würden. Daniela wandte sich ab, zumal das Paket schwerer und schwerer wurde. Frolleinchen … also wirklich! Allein dafür hatte er mieses Karma verdient. Instant-Karma!

Oh nein! Daniela wurde fast übel, als sie zurückschaute. Eins der Päckchen lag mitten auf dem Weg. Außerhalb ihrer Reichweite. Jetzt musste sie all ihren Mut zusammennehmen. Sie hielt sich am Türrahmen fest, ein Fuß stand auf der Schwelle, mit dem anderen angelte sie nach dem Päckchen. Es fehlte nur wenig, vielleicht zwei, drei Zentimeter. Könnte sie doch nur ihr Bein wachsen lassen! Könnte sie doch nur ihre Angst vor der Straße überwinden, die für sie so gefährlich schien wie ein Meer voller Haie, wie eine Schlucht mit fließender Lava, wie ein Feld voller Tretminen! Auf ihrer Stirn bildeten sich kleine Schweißperlen. Ein Kind auf einem Roller fuhr vorbei. Zu schnell, als dass Daniela es um Hilfe hätte bitten können. Musste es denn ausgerechnet das Päckchen mit der teuersten Ware sein? Sie hatte den Stempel erkannt. Eine Lieferung aus Tibet. Räucherware und Pilze für ganz bestimmte, ominöse Zwecke, der Kilopreis lag bei mindestens 600 €. Ob sie es kurz aus den Augen lassen konnte, um sich den Besen aus der Küche zu holen? Besen! Das war die Lösung! Warum hatte sie nicht gleich daran gedacht? Sie riss in Windeseile den Nimbus 2000 aus seiner Halterung im Schaufenster zu ihrer Linken, lief zurück zur Tür und angelte damit nach dem Päckchen. Kurz darauf lag die kostbare Fracht in ihrer Hand. Ihr Herz raste. Sie war erst seit einer guten Viertelstunde im Laden, aber schon reif für den Feierabend. Als die Päckchen und Pakete mehr oder weniger ordentlich verstaut waren, bis auf die, die sie heute noch unbedingt auspacken musste, gönnte sie sich in der Mini-Küche einen Kamillentee und ein paar Kekse. Heute war es erstaunlich ruhig im Laden, zu ruhig eigentlich. Aber warum nicht die Gunst der Stunde nutzen und sich etwas entspannen? Der Tag würde noch lang genug werden, denn geschlossen wurde erst um 19.30 Uhr. Daniela schaute verträumt aus dem Küchenfenster in den verwilderten, ummauerten Garten. Der übrigens der einzige Grund dafür war, dass es keinen Lieferantenhintereingang gab. Ihr Chef kümmerte sich herzlich wenig um das Fleckchen Erde, das da in aller Pracht vor sich hinvegetierte, im wahrsten Sinne des Wortes. Die Vegetation war eindrucksvoll. Alte Eiben und Haselnussbüsche, Efeu, Lavendelpflanzen in lila, rosa und weiß und einiges, dessen Name sie nicht kannte. Massenhaft wilde Kräuter und daher auch jede Menge umherschwirrender Insekten und Vögel.

Der Garten war das Reich der Ladenkatze: Severus, ein nachtschwarzer Kater, eigenwillig, etwas boshaft, aber wunderschön mit smaragdgrünen Augen. So grün wie die Lederhaut ihres Schulterdrachens. Wenn der Kater durch die Katzenklappe das Haus betrat, leuchteten vorn im Laden die Augen einer überdimensionierten Grinsekatze aus Alices Wunderland auf, die an der Wand befestigt war. Da dies eher selten zu den Öffnungszeiten geschah, kursierte in der Kundschaft ein Gerücht. Es hieß, es würde Glück bringen, die Augen leuchten zu sehen. Einige aber schworen darauf, dass sie nichts als Pech gehabt hätten, sieben Tage und Nächte lang, nachdem die Grinsekatze sie angestarrt hatte. Daniela, die dem Okkulten nicht abgeneigt war, konnte sich lebhaft vorstellen, dass Severus in Wahrheit ein uralter Magier war, der sich inkognito auf dieser Seite der Erdenwirklichkeit aufhielt. Wobei ihr selber nicht ganz klar war, was sie mit „dieser Seite der Erdenwirklichkeit“ meinte. Immer, wenn sie näher über etwas nachdachte, was ihr suspekt war, wurden ihre Gedanken ganz wuselig und unscharf. Vermutlich war der Kater mit seinem hypnotischen Blick dran schuld. Andererseits hatte sie das Problem auch in ihrer Wohnung, fiel ihr ein. Daniela trank noch einen Schluck Tee und lächelte in sich hinein. Es gab noch eine zweite Ursache in ihrem Leben für wuselige Gedanken. Nämlich die leider seltene Anwesenheit des Inhabers, der über dem Laden wohnte. Sein Rasierwasser duftete nach Sandelholz und Zimt. Er hieß vermutlich nicht wirklich Olivero, schließlich waren sie hier nicht in der Winkelgasse. Doch einen anderen Namen als diesen kannte sie nicht. Das war merkwürdig. Und auch, dass er ihr auf eine unterschwellige, dennoch eindringliche Art bekannt vorkam, war merkwürdig. Bekannt in dem Sinne, als müsste sie ihn schon viele, viele Jahre kennen. Aber das war ja nicht der Fall. Sie arbeitete hier erst seit …? Keine Ahnung, seit wann genau, aber egal, Hauptsache, sie hatte den Job hier und musste nicht vor die Tür. Kein anderer Mensch löste in ihr dieses Gefühl der Verbundenheit aus. Allerdings kannte sie nicht gerade viele Leute. Außer ‚Mein-Name-ist-nicht-Olivero‘ und den Fahrer Ludwig kannte sie niemanden beim Namen. Oh, doch! Antonio, den Pizzaboten. Den konnte sie auch mit Vornamen ansprechen. Ob alle Menschen so wenige Leute kannten? Daniela rieb sich die Stirn, hinter der wieder dieser graue Nebel aufzog, der alles Denken mit einer wohligen Schwere überdeckte und die Gedanken so aalglatt machte, dass sie ihr davonflutschten, kaum dass sie auftauchten. Worüber hatte sie noch gerade eben nachgedacht? Sie wusste es nicht mehr. War dann wohl auch nicht so wichtig gewesen. Oder? Daniela zuckte ergeben mit den Schultern und lenkte ihren Blick wieder in den Garten. In diesem Moment öffnete sich die elektronische Katzenklappe und Severus spazierte hoheitsvoll herein. Er schaute sie vorwurfsvoll an. Sehr vorwurfsvoll.

„Na, was habe ich Eure Hoheit angetan? Das Futter vergessen?“

Daniela grinste. Das hatte sie ja tatsächlich! Er bekam am Morgen ein Schälchen Trockenfutter gereicht, verziert mit etwas Thunfisch aus der Dose. Anweisung von Olivero. Sie stellte ihren Teebecher ab und kam ihren Pflichten nach. Der Kater verschlang den Fisch, aber nicht das Trockenfutter. Sorgfältig putzte er sich Mäulchen und Barthaare und schaute sie immer noch vorwurfsvoll an, ließ sogar ein kleines Fauchen hören.

„Schlecht gelaunt, oder was?“

Sie ließ ihn einfach stehen, schnappte sich das Teppichmesser und begann, die Pakete zu öffnen. Ihr Tee war vergessen und wurde kalt.

 

-3-

 

Nachdem sie den Ständer mit den Zauberstäben wieder in eine aufrechte Stellung gebracht hatte, räumte sie die Stäbe, die einem Mikado gleich auf dem Boden verteilt lagen, in ihre Halterungen zurück, ergänzte die Lücken mit der neuen Lieferung. Verträumt hielt sie eine original lizensierte Nachbildung von Hermine Grangers Zauberstab vor ihre Augen und bewunderte die zarte Blumenranke, die ihn anmutig umschlang. Die Stäbe von Harry und Dumbledore hingegen mochte sie nicht besonders. Waren einfach zu grob für ihren Geschmack. Als sie mit dem Ständer zufrieden war, wandte sie sich der nächsten Kiste zu, hierin waren Drachenskulpturen und Hörner von Einhörnern, die sie auf den ersten Blick als lachhafte Fälschungen erkannt hatte. Überhaupt war es ihr peinlich, dass ihr Chef neben all dem Tand und den Büchern fast nur Fälschungen verkaufte, bis auf seltene Ausnahmen, die fast alle im Tresor lagen. Sie erkannte das mit Sicherheit, weil den gefälschten Gegenständen das magische Fluidum fehlte. Doch die Kundschaft war damit zufrieden. Wie anspruchslos die Leute dieser Stadt doch waren! Apropos seltene Ausnahmen … Daniela fiel das Päckchen aus Tibet ein, sie deponierte es unter der Ladentheke im Geheimfach. Kurz darauf kam der erste Kunde dieses Tages und fragte nach Tarotkarten.

„Ich hoffe, Sie haben die alten Klassiker im Angebot“, sagte der ältliche Mann, der schmale Lackschuhe an seinen Füßen und einen roten Künstlerschal locker um den faltigen Hals trug. „Nicht das Zeug, was man bei Amazon bekommt. Richtige Tarotkarten, Gnädigste, wenn Sie verstehen, was ich meine.“

Auch wenn der Kunde der Typ „blasierter Besserwisser“ zu sein schien, nickte Daniela angemessen freundlich und führte ihn zu einem schmalen Regal, das über den Runensteinen und den schwarzen Kerzen an der Wand befestigt war. In die Seitenwände des Regals waren lauter Köpfe von Waldtieren geschnitzt: Bären, Füchse, Marder, Eber und Eulen – eins ging ins andere über. Angeblich war das Ebenholzregal an die dreihundert Jahre alt. Zielsicher griff sie nach einem Original der Marseillekarten aus der Werkstatt des Nicolas Conver, nachdem sie sich weiße Handschuhe übergestreift hatte.

„18. Jahrhundert. Und wenn Ihnen das noch nicht alt genug ist, haben wir auch ein äußerst seltenes Exemplar aus dem alten Ägypten, was aber im Tresor liegt. Der Inhaber des Ladens dürfte am Montag wieder zu sprechen sein.“

Dass im Tresor auch ein Original aus Atlantis lag, verschwieg sie noch. Das zu offenbaren, lag allein in der Entscheidung des Ladeninhabers. Der Kunde überlegte. Er machte einen überraschten Eindruck und bekam kleine hektische Flecken am Hals, die lustigerweise dieselbe Farbe wie der Seidenschal hatten. Ein Sammler, ordnete Daniela ihn ein.

„Und was kostet dieses Deck von Conver?“

„320 Euro für Marseille.“

Der Kunde zeigte sich unbeeindruckt. Andere Kunden zuckten im Allgemeinen etwas zusammen, wenn sie die Preise nannte.

---ENDE DER LESEPROBE---