Das neue Leben der Dandelia Dorca - Marlies Lüer - E-Book

Das neue Leben der Dandelia Dorca E-Book

Marlies Lüer

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Beschreibung

So hat sich Dandelia den Morgen nach der Geburtstagsparty nicht vorgestellt! Ihre Töchter Ella und Lucy sind trotz Anterra-Verbot ihrem Bruder Artan durchs Portal gefolgt, vorgeblich, um ihm das vergessene Kuchenpaket zu bringen. So macht sich Dandelia zähneknirschend und leicht verkatert auf den Weg, um die quirligen Teenager nach Hause zu holen. Doch in dem Moment, als sie durch das Portal tritt, geschieht ein kosmischer Unfall. Der Weg zur Erde ist fortan versperrt! Nicht nur, dass sie und ihr Schulterdrache dabei schwer verletzt werden, Ella und Lucy sind niemals bei Artan angekommen! Selbst ein planetenweiter Suchzauber kann sie nicht aufspüren. Wer kann helfen? Die Suche nach ihren Töchtern offenbart ein dunkles Geheimnis Anterras.

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Inhaltsverzeichnis

Das neue Leben der Dandelia Dorca

Über dieses Buch

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Das neue Leben der Dandelia Dorca

Urban Fantasy

Band 5

(Finale)

© 2023

Impressum: Marlies Lüer, Fuhrberger Str. 95

29225 Celle

[email protected]

Cover: Renee Rott Dream Design

Band 1: Das wahre Leben der Dandelia Dorca

Band 2: Dandelia Dorca und die Wunschkekse

Band 3: Dandelia Dorca und das Ungeheuer von Loch Ness

Band 4: Dandelia Dorca und der Drachenkönig von Anterra

Sequel: Der Fluch von Rosegarden Manor

Band 5: Das neue Leben der Dandelia Dorca

Über dieses Buch

Die Geschichte um Dandelia Dorca, die Hexe aus Avalon, wird nun fortgesetzt und zu einem Ende geführt. Sie beginnt in dem Zeitraum von „Rosegarden Manor“, dem Sequel zur Dandelia-Dorca-Reihe. Das heißt, die drei Kinder der Dorca-Jones-Familie Artan, Ella und Lucy, und auch Melly, die Tochter von Ambrose (dem „Rosenprinz“) und Willow, sind nun junge Erwachsene in ihren Zwanzigern, bzw. die Zwillinge sind im besten Teenageralter. Toddy, der Herr von Aldourie Castle und Heather, die Anterranerin, werden sehr bald ihr erstes Kind bekommen. Artan und Melly sind verheiratet und gehen ihrer Berufung nach, arkane Wächter zu sein und verbringen wann immer nötig Zeit auf Anterra.

Zum leichteren Einstieg für Sie, liebe Leser, lasse ich kurz Melly zu Wort kommen, die im Buch „Der Fluch von Rosegarden Manor“ das letzte Wort haben durfte.

Ja, ich sollte vielleicht an dieser Stelle erklären, was genau wir machen. Über Anterra selbst sage ich an dieser Stelle nur, dass es eine wundervolle, hochtechnisierte Welt ist, die dennoch eine intakte Natur hat. Anterra ist der Schwesterplanet der Erde, sozusagen die große Schwester, die nun auf die Kleine aufpasst. Auch wenn der Vergleich ein wenig hinkt. Die Planeten sind energetische Zwillinge, untrennbar verbunden auf feinstofflicher Ebene. Wenn die Erde untergeht, wird dasselbe mit Anterra geschehen. Es ist also nicht nur Nächstenliebe, sondern auch Eigennutz, anterranische Wächter auszusenden, die nach den ‚Lichtern‘ der Menschheit suchen und nach den ‚Verdunkelten‘.

Es ist so, ich werde das kurz erläutern:

Magie ist nicht nur in der merlinischen und korlanischen Linie weitergegeben worden, es haben sich vor langer, langer Zeit Unterlinien gebildet. Viele Menschen haben, ohne es zu wissen, ein magisches Fluidum um sich herum. So schwach, dass man es kaum wahrnehmen kann, aber mit unserer Technik können wir das jetzt klar unterscheiden. Diese Leute sind entweder Nachfahren von weißen Magiern oder von – sie werden es erraten haben – Schwarzmagiern. Die Kraft an sich in der förderlichen oder eben zerstörerischen Ausprägung ist nur sehr schwach, diese Leute können nicht zaubern. Es ist mehr eine Charaktersache, eine Sache von Charisma, Wille, Intension. Wir machen sie ausfindig und unterstützen oder hemmen sie. Es ist oberste Direktive – ja doch, lachen Sie nicht, genau wie bei Star Trek – ihren freien Willen zu achten und sie keinesfalls zu manipulieren. Entscheidungsfreiheit ist ein Menschenrecht. Allerdings sehen wir uns in der Rolle von Mentoren und Wegbereitern.

Übrigens habe ich heute einen Einsatz, darum bin ich gerade im Hotel. Die Standuhr ist nach wie vor das Portal zwischen den Welten. Mein Einsatz heute wird mich nach Skandinavien führen; ich trage dafür meinen Miniaturzieltransporter am Arm, der als breites Schmuckarmband getarnt ist. Für Einsätze außerhalb des Raums meiner Muttersprache brauche ich keine Fremdsprachenkenntnisse. Das ist auch gut so, denn ich bin eine echte Niete darin. Wir Wächter tragen alle einen Chip hinterm Ohr, er ist in den Mastoid implantiert und Bill Gates hat rein gar nichts damit zu tun, haha. Der Mastoid ist übrigens dieser Knochen da, sie wissen schon. Na, oder auch nicht.

Egal. Wo war ich in meinen Gedanken stehengeblieben? Ach ja, Artans Eltern, Dandelia und Oliver. Sie führen ihr altes Leben weiter und betreiben den Laden von Onkel Toddy. Ich weiß, er ist nicht mein Onkel, aber er liebt es, wenn wir ihn so nennen. Heather ist schwanger. Die beiden hatten schon Angst, sie wären nicht genetisch kompatibel. Aber das Ungeborene gedeiht gut. Ich kann das fühlen, wenn ich meine Hände auf ihren Bauch lege. Ich bin nicht nur arkane Wächterin, ich bin inzwischen auch ausgebildete Geistheilerin.

Die Plagegeister, wie Artan seine kleinen Schwestern immer noch gerne neckend nennt, sind zu quirligen Teenagern herangewachsen. Dandelia und Oliver sind mit ihrer Erziehung und dem Laden und der Töpferei voll ausgelastet. Lucy und Ella stehen kurz vor der Reife; damit ist der Moment gemeint, wenn sie zu vollwertigen Zauberinnen herangewachsen sind. An diesem Tag werden sie ihren Drachen Lemon und Rose ihre wahren Namen enthüllen. Die Schwestern meditieren jeden Tag, um die Namen für ihre Schulterdrachen zu finden.

Erinnern Sie sich wieder? Wenn ja, können wir jetzt loslegen mit dem ersten Kapitel. Wenn nein, lesen Sie am besten nochmals alles, was mit Rosegarden Manor, Avalon und Anterra zu tun hat. Dandelias Leben wird jetzt wieder einmal kräftig durchgerüttelt. Ach, was sage ich? Sie wird schockiert und entsetzt sein. Und furchtbar wütend. Wenn Hexen erstmal so richtig wütend sind, sollte man sich ihnen nicht entgegenstellen! Merken Sie sich das, falls sie mal echten Hexen und Zauberern begegnen sollten. Die sind ganz schön emotional. Dandelia bekommt es mit neuen Gegnern und Problemen zu tun. Und sie muss erkennen, dass selbst sie, die avalonische Großhexe, nichts gegen die größte kosmische Kraft ausrichten kann: die Macht der Liebe und des Schicksals!

***

Liebe Grüße von der Autorin!

Herzlichst, Marlies Lüer

Kapitel 1

„War eine kurze Nacht, was?“ Der Herr von Aldourie Castle grinste seine Freundin frech an.

Dandelia schloss hinter Ranald die Tür des Ivy Cottage. Dass er so unverschämt gut drauf war nach dieser denkwürdigen Party zu Artans 28. Geburtstag! Wie machte er das nur? „Ist eben nicht jeder so trinkfest wie du, du alter Schotte“. Liebevoll knuffte sie ihn gegen die Schulter. „Komm schon rein, Toddy. Ist kalt da draußen.“

„Du bist noch im Nachthemd?“

„Äh, ja? Was ist daran so bemerkenswert?“

„Schon mal auf die Uhr geschaut?“

„Nein. Sag du es mir.“

„11.40 Uhr!“

Überrascht schaute Dandelia ihn an. „Oh nein! Wir wollten uns doch von Artan verabschieden.“

„Der ist vor zwei Stunden schon durch die Uhr gegangen. Ich habe ihn und Blue Sky noch kurz gesprochen, bevor er nach Anterra ging. Heather hatte einen Brief für ihre Freunde geschrieben, eine Einladung zu einer Babyparty. Er wollte ihn mitnehmen.“

„Oliver, wach auf!“, rief Dandelia laut in Richtung Schlafzimmer. „Wir haben verschlafen.“

Sie rieb sich die Stirn und seufzte. Nie wieder Party! Jedenfalls nicht so eine. Das war dann wohl doch nur etwas für junge Leute und nicht für Mittvierziger. Fast Endvierziger! Beim Barte des Merlin, so alt und elend hatte sie sich nach einer Feier noch nie gefühlt.

„Entschuldige, Ranald. Was führt dich zu uns? Möchtest du vielleicht einen Kaffee mit uns trinken?“

„Nein danke. Ich wollte euch an das Mittagessen erinnern.“

Dandelia schaute ihn fragend an.

„Die Abordnung aus Deutschland? Die Brockenhexen? Klingelt es jetzt bei dir?“

„Ach du Schande, die Möchtegernhexen aus dem Hatz kommen heute?“

„Harz! Nicht aus dem Hatz. Sag das in deren Gegenwart bloß nicht falsch. Nicht nur heute, meine Teuerste – in etwa einer Stunde werden sie eintreffen und ich habe den Damen versprochen, dass die Großhexe Avalons sie höchstpersönlich empfangen wird.“

Oliver schlurfte ihnen entgegen, auch er hatte kleine Augen, seine Haare standen kreuz und quer, seine Schultern hingen.

„Toddy, mein Bruderherz. Was willst du hier zu nachtschlafender Zeit?“

„Hast auch schon mal besser ausgesehen, Olli. Ihr seid einfach nichts gewohnt! Ich werde Heather bitten, euch eine anterranische Pilzbrühe zu kochen. Die macht euch innerhalb von Minuten fit. Oliver, heute Mittag habt ihr einen Termin. Ich wollte nur sicherstellen, dass ihr den nicht platzen lasst.“

Dandelia nickte ihrem Mann bedeutungsschwanger zu und beobachtete aus dem Augenwinkel, wie Ranald eine WhatsApp an Heather schrieb. Waldi und Wendi kamen aus der Küche angeflogen und setzten sich auf die Schultern ihrer Menschen. Sie warf, nun schon etwas wacher, einen Blick auf den Küchentisch. Gut. Das Kuchenpaket stand nicht mehr dort. Artan hatte also daran gedacht, es mitzunehmen. Die arkanen Wächter hatten alle einen süßen Zahn.

„Toddy, wir werden rechtzeitig da sein. Lass uns einen Moment Zeit für eine Dusche und einen Kaffee. Oliver, stellst du bitte die Kaffeemaschine an? Ich mache die Plagegeister wach, die wollen dem Besuch aus dem Hat… aus dem Harz ja ihre PowerPoint-Präsentation zeigen.“

Oliver schlurfte gehorsam in die Küche.

„Eure Töchter sind längst auf den Beinen, werte Großhexe. Ich habe sie vorhin im Hotel herumstromern sehen.“

„Was?“, entfuhr es Dandelia. „Was wollten sie denn da?“

„Ich glaube, sie haben Artan gesucht. Aber der war schon weg.“

„Nun ja. Wenigstens die beiden halten die Ehre der Familie aufrecht und verweigern sich dem Alkohol“, sagte sie mit einem kleinen Grinsen und lauschte gierig dem Brodeln der Kaffeemaschine. Erst der Kaffee, dann die kalte Dusche. Man musste Prioritäten setzen.

„Ich gehe dann mal und lasse meine Lieblingsnachbarn allein. Man sieht sich!“

Dandelia winkte ihm noch hinterher. Die Tür knallte er entschieden zu laut zu. Wie rücksichtslos von ihm! Aber so waren sie, die trinkfesten Schotten. Nahmen keine Rücksicht auf trinkschwache Avalonier und zarte Engländer.

„Wenigstens hat Artan an den Kuchen für seine Kumpels gedacht. Wäre echt schade gewesen, wenn nicht.“

Müde ließ sie sich auf den nächstbesten Küchenstuhl sinken.

„Aber das hat er nicht“, widersprach ihr Wendi, während Oliver Espresso in Tassen füllte. „Ella und Lucy haben ihm das Päckchen hinterhergebracht.“

„Das erklärt, weshalb sie schon so früh im Hotel waren“, meinte Oliver und rückte seine Brille zurecht. Er nahm mit geschlossenen Augen die ersten Schlucke und seufzte wohlig auf. Das Trippeln von kleinen Drachenfüßen auf der Küchenarbeitsplatte störte seine Konzentration auf diese erste, hochwillkommene Stärkung des Tages. Ohne seine Augen zu öffnen, fragte er nach dem Grund für die Unruhe.

Auch Dandelia bemerkte jetzt, dass auch ihr Waldi besorgt aussah.

„Was ist denn los? Habt ihr Sorge, dass wir nicht pünktlich drüben sind?“

„Nichts könnte uns jetzt egaler sein!“, knurrte der waldgrüne Drache.

„Waldi! Fauch mich gefälligst nicht an. Was kann ich dafür, wenn du dich nicht von mir genügend abschirmst! Ich habe einfach einen über den Durst getrunken. Kommt nicht wieder vor!“, versprach sie und fügte leise murmelnd ein ‚hoffe ich‘ hinzu. „Außerdem habe ich euch doch beigebracht, wie ihr euch von unserem Nervensystem abschotten könnt. Die „Schloss & Riegel-Übung“, du erinnerst dich?“

„Das ist es nicht“, sagte Wendi ernst. „Wir haben seit etwa zwei Stunden Schwierigkeiten, unsere Kinder zu fühlen. Sie sind weit, weit weg. Und wir wissen nicht, wo sie sind. Es fühlt sich so fremd an. Die Verbindung ist unstet und eingetrübt.“

Dandelia griff zum Handy, das auf der Fensterbank lag, und wählte die Nummer der Rezeption.

„Ich bin’s, Dad! Du brauchst deinen Aldourie-Text nicht abspulen. Sag, sind die Mädchen noch bei euch im Hotel? Haben sie bei euch gefrühstückt? Nein? Haben sie euch denn gesagt, wo sie hinwollten?“

Dandelia lauschte mit gerunzelter Stirn, auch Oliver war jetzt leicht alarmiert.

„Aha, okay. Danke. Dann werde ich mal einen Suchzauber ausführen, in einer Stunde kommen ja diese Hexen vom Festland an. Ja, genau, die deutsche Frauengruppe aus Niedersachsen. Ella und Lucy haben lange an ihrer Präsentation gearbeitet und wollen mit ihren hart erlernten Deutschkenntnissen prahlen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie den Auftritt freiwillig versäumen. Also, bis gleich! Wir kommen pünktlich.“

Dandelia trank ihren Becher leer und griff in die Obstschale. Zum Aufbacken von Brötchen war sie jetzt zu faul. Während sie einen Apfel aß, stieg in ihr ein ungutes Gefühl auf. Artan hatte gegen acht, spätestens um neun durch die Uhr gehen wollen. Was machten die Mädchen so lange? Ob sie am Ufer des Loch Ness saßen, um Wasservögel zu beobachten? Aber dann müssten ihre Schulterdrachen doch für ihre Eltern spürbar sein.

„Den beiden ist doch wohl klar, dass sie immer noch Hausarrest haben?“, fragte Oliver mürrisch.

„Aldourie-Arrest“, entgegnete Dandelia korrigierend. „Auf dem Areal hier dürfen sie sich frei bewegen.“

„Planet-Erde-Arrest, meint ihr wohl!“, erinnerten die Schulterdrachen ihre Menschen. „Die Mädchen sind so ungehorsam! Ihr habt sie einfach nicht im Griff, und unsere Kinder müssen darunter leiden. Ihr wisst doch, dass auch Lemon und Rose im selben schwierigen Alter sind. Die Abenteuerlust überwiegt den Verstand.“

„Wollt ihr etwa andeuten, die sind allesamt durch die Uhr gegangen und treiben sich wieder auf Anterra herum und machen Unfug? Artan wird ihretwegen noch Ärger bekommen! Und wir natürlich auch.“

Der Apfel schmeckte ihr plötzlich nicht mehr. Oliver hingegen nahm sich in aller Seelenruhe einen zweiten Espresso und schaute seine Frau auffordernd an.

„Jaaa, schon gut, ich weiß! Dieses Mal bin ich an der Reihe, die Plagegeister heimzuholen. Aber so wahnwitzig werden die Mädels doch nicht sein? Ich glaube, die sind bloß am See und haben die Zeit vergessen.“

Den Gedanken, dass die Drachen dann fühlbar sein mussten, verdrängte sie lieber. Zu müde für Sorgen! Dandelia füllte eine flache Schale mit Wasser, fuhr mit der Hand im Uhrzeigersinn darüber und murmelte einen Zauberspruch. Nichts zu sehen! „Gib mir mal den Becher von Ella bitte herüber, oder irgendwas von Lucys Kram.“

Oliver gab ihr das Gewünschte und schaute dann auch besorgt in die Schale. Dandelia wiederholte den Suchzauber noch zwei weitere Male. Nichts!

„Verdammt noch mal! Ich habe doch Ranald versprochen, pünktlich zu sein.“

In diesem Moment klingelte das Handy. Oliver ging ran und lauschte seiner Schwiegermutter Nora. „Okay, danke dir!“ Er legte es zurück auf die Fensterbank und sagte: „Ich soll dir ausrichten, die Harzer Damen verspäten sich erheblich, sie haben ihren Zuganschluss verpasst und kommen nicht vor 17 Uhr an. Bis dahin dürftest du unsere Plagegeister wieder eingesammelt haben.“

„Komm doch mit“, bettelte Dandelia. „Das letzte Mal war schon so peinlich.“

„Nö. Viel Spaß! Ich habe dir ja gesagt, die werden nicht auf uns hören, solange wir keine harten Konsequenzen einführen wegen ihres Ungehorsams. Du wolltest nicht auf mich hören. Du und dein weiches Herz! Ich werde mich wieder hinlegen.“

Er gab seiner Frau einen Kuss auf die Stirn, klopfte ihr aufmunternd auf die Schulter und verließ die Küche.

„Oller Besserwisser“, schickte Dandelia ihm hinterher, im Wissen, dass er es tatsächlich besser gewusst hatte. „Aber jetzt ist wirklich Schluss damit. Mir reicht es nun auch.“

Sie ging kurz unter die Dusche, zog sich an und verließ mit Waldi auf der Schulter das Cottage. Die kühle Luft tat ihr gut. Als sie im Schlosshotel ankam, ging es ihr deutlich besser. Ihre Eltern standen heute an der Rezeption und gingen ihren Tätigkeiten nach. Sie winkte ihnen zu und tippte mit dem Finger zweimal auf ihr linkes Handgelenk, das Zeichen für „Ich gehe zur Uhr“. Sie hatten inzwischen eine umfassende Zeichensprache entwickelt, zusammen mit den anterranischen Wächtern, die hier in der Regel ein und aus gingen und ihr Inkognito wahren mussten. Im Privatraum des Schlossherrn angelangt, seufzte Dandelia tief. Da lag eine Haarspange von Ella auf dem Teppich. Ihre Töchter hatten also das Reiseverbot missachtet und waren ihrem großen Bruder gefolgt. Was sollten sie bloß mit ihnen anfangen?

Gibt es eigentlich Erziehungsratgeber für Hexen- und Zauberer-Familien? Falls nein, sollte man einen schreiben, dachte sie genervt und schnaubte wütend durch die Nase.

„Was ist, Waldi? Du zitterst.“

„Keine Ahnung. Die Uhr fühlt sich anders an. So …“

„Ach was, kann nicht sein. Spinn du jetzt nicht auch noch!“

„Aber …“

Dandelia öffnete das Portal nach Anterra und im selben Moment wurden sie brutal hineingerissen. Bevor die Hexe einen klaren Gedanken fassen konnte, lag sie zitternd und stöhnend auf anterranischen Boden. Sie sah noch, dass ihr Schulterdrache ohnmächtig einige Meter entfernt von ihr auf der Wiese lag. Er war doch nur ohnmächtig, oder?

Oder?

Dann hörte sie noch, wie jemand nach ihr rief und ihr wurde schwarz vor Augen.

Stille. Absolute Ruhe. Schweben … Dahintreiben … Frieden … Vollkommenes Wissen. Zeitlosigkeit. Dann ein leises, spürbares Brausen, verbunden mit einem zielgerichteten Ändern der Richtung. Müsste das Brausen nicht eher hörbar als spürbar sein? Dandelia wunderte sich und fing an zu denken. Das war der Auslöser für das Verlassen dieses herrlichen Zustands der absoluten Harmonie. Das Denken warf sie aus diesem Paradies. Zuerst hörte sie, wie jemand etwas über sie sagte. Ihr war, als würde sie diesen Menschen kennen. Aber es interessierte sie nicht. Dort, wo sie eben noch gewesen war … Dandelia wollte den Gedanken weiterverfolgen, aber er entzog sich ihr und diese Stimme kam wieder näher. Ärgerlicherweise! Denn dort, wo sie herkam, da war … alles … und sie … und dann hatte … Sie konnte sich einfach nicht erinnern! Dabei war das doch wichtig, warum verlor sie den Zugang? Wer zerrte sie weg? Die Stimme wurde jetzt lauter und drängender.

„Ich sehe doch, dass sie noch da ist! Ihre Augenlider zucken, sie träumt! Mum, wach auf! Ich bin’s!“

Dandelia dachte gar nicht daran, die Augen zu öffnen.

Augen? Sie hatte Augen?

Dann spürte sie ein kleines Gewicht auf ihrer Brust, ein vertrauter Duft stieg in ihre Nase. Diese Sinneswahrnehmungen zogen sie in einer Spirale – oder war es eine Art Trichter? - hinab in einen menschlichen Körper. Oh, das war ja ihr eigener Körper! Sie hatte ganz vergessen, dass sie einen hatte und was sie war, wer sie war. Im vermeintlich nächsten Moment wachte sie auf und war einer Fülle von Eindrücken ausgeliefert. Licht, so grell! Das Gewicht einer Bettdecke, ziehende Schmerzen im Nacken, ihre Hände waren kalt, sie spürte großen Hunger. Ziellos irrte ihr Blick eine Weile durch den Raum, bis sie ein lohnendes Ziel, einen Anker fanden. Die Augen ihres Sohnes.

„Artan?“

„Sie lebt, sie ist wieder da! Ich habe es euch doch gesagt!“, jubelte er. „Mum, ich bin ja so froh! Wir hätten dich fast verloren.“

Dandelia atmete tief ein und aus und merkte nun, dass ihr Junge ihre linke Hand umklammerte. Auf ihrem Brustbein lag schlafend ihr Schulterdrache. Mit der rechten Hand streichelte sie Waldi sanft.

„Was ist denn passiert? Wo bin ich?“

Um ihr Bett versammelten sich weitere Menschen. Sie brauchte eine Weile, um alle mit Namen benennen zu können. Ihr Verstand kehrte zurück und mit ihm ihr Gedächtnis.

„Das Portal! Mit ihm stimmt etwas nicht.“

„Ja, Mum. Es ist verloren. Du hast es im letzten Moment geschafft.“

„Wie fühlst du dich?“, fragten Afalja und Kyrian gleichzeitig. Hinter ihnen stand Talantha, ihre Augen waren gerötet. Kyrian legte seine Altmännerhand auf Dandelias Schulter und schluchzte leise auf. Afalja legte tröstend ihre Arme um seine Schultern und lächelte die im Bett liegende an. Glewlwyd, der avalonische Wächter, betrat jetzt den Raum. Oder besser gesagt Torgan, der Drachenkönig.

„Es ging mir schon besser. Ich fühle mich, als wäre ich durch einen Fleischwolf gedreht worden und dann wieder zusammengesetzt. Es scheint aber alles an der richtigen Stelle zu sein“, fügte sie mit einem schiefen Lächeln hinzu. Genau genommen war ihr nicht nach Scherzen zumute. Ein Blick in die Gesichter ihrer alten Freunde reichte, um zu wissen, dass es ernst um sie gestanden hatte, vielleicht sogar noch stand.

„Können Sie Ihre Beine bewegen, haben Sie überall Gefühl?“

Dandelia nahm erst jetzt die Heilerin im lindgrünen Kittel wahr. Offenbar lag sie in einem anterranischen Krankenhaus. An der Wand hing ein Gemälde, das fliegende Wale unter einem Regenbogen zeigte. „Ja, ich denke schon.“ Sie versuchte, mit den Zehen zu wackeln und beugte etwas ihre Knie. „Ja. Geht. Fühlt sich alles etwas leer an, so als wäre ich zu klein für meinen Körper. Merkwürdig. Artan, was hast du eben gesagt, das Portal ist verloren?“

Glewlwyd antwortete an seiner Stelle. „Das würde ich so nicht sagen. Es hat eine Fehlfunktion. Mehr wissen wir jetzt noch nicht.“ Er schaute Artan streng an, was Dandelia nicht entging. „Ich bin so froh, dass es dir besser geht, meine Liebe. Wir alle sind dankbar dafür.“

Die Umstehenden stimmten zu und redeten nun durcheinander, bis Dandelia die Hand abwehrend hob. „Leute, so sehr es mich freut, euch zu sehen, ich bin sehr müde. Kann ich bitte für eine Weile mit Artan allein sein?“

„Aber natürlich“, sagte die Heilerin. „Alle raus hier, Herrschaften! Auch Ihr, werter Drachenkönig. Verzeiht meine Direktheit, Hoheit. Oder Wächter Avalons … ich weiß immer nicht, wer Ihr gerade seid.“ Sie machte eine auffordernde Geste, wandte sich dann der Patientin zu und legte Dandelia für einen Moment ihre Hand auf die Schulter. „Ich lasse Ihnen noch etwas zu essen und zu trinken bringen. Infusionen brauchen Sie jetzt nicht mehr, den Zugang werde ich Ihnen ziehen. Nachdem Sie sich gestärkt haben, sollten Sie ruhen. Aber bis dahin darf Ihr Sohn im Haus der Heilung bleiben.“ Sie lächelte warmherzig und fügte noch ein Willkommen zurück hinzu, bevor sie selbst den Raum verließ.

Das Zimmer leerte sich, was der Patientin sehr angenehm war. Die Reizüberflutung war anstrengend. Offenbar hatte es sie ziemlich erwischt. Waldi fühlte sich ungewohnt schlaff an. Er lag im Tiefschlaf und schnarchte leise. Blue Sky sprang Artan von der Schulter und kuschelte sich winselnd an seinen Drachenvater.

„Was ist denn mit ihm?“, fragte sie.

„Wir wissen es nicht“, antwortete Artan betrübt. „Er schläft schon seit drei Tagen. Möglicherweise ein Koma.“

„Beim heiligen Kessel der Götter! Das hätte nicht passieren dürfen. Armer Kleiner.“ Sie streichelte nun auch Sky zärtlich übers Köpfchen. Es brach ihr das Herz, den Drachen ihres Sohnes so betrübt zu sehen.

Artan versuchte Zuversicht zu zeigen. „Mag sein, er wacht bald auf, jetzt, wo du auch wach bist. Ihr seid doch aufs Innigste verbunden.“

Dandelia runzelte ihre Stirn. Eben. Sie waren aufs Allerinnigste verbunden. Warum … oh nein! Warum fühlte sie Waldi nicht wie sonst?

„Artan! Ich habe kein Gespür mehr für ihn. Nur über die Haut, nur sein Gewicht. Aber nicht seine Person, seine Seele. Aber er ist doch da! Er lebt! Ich sehe ihn doch atmen und er ist warm.“

Artan wurde blass. Er bekam etwas Schonfrist für eine Antwort, da eine Pflegerin anklopfte und dann den Raum betrat. Auf einem Tablett brachte sie einen Teller Suppe und etwas, das entfernt an Kaffee erinnerte. Dazu gab es zwei Scheiben duftendes Kräuterbrot, offenbar frisch gebacken. Artan zog aus dem Nachtschrank eine drehbare Platte hervor, auf der sie die Mahlzeit abstellte. Behutsam legte sie beide Drachen in ein weich gepolstertes Körbchen, das in Sichtweite auf einem kleinen Tisch stand, damit Dandelia sich aufsetzen konnte.

„Ich wünsche eine gesegnete Mahlzeit. Wenn Sie mehr möchten, drücken Sie einfach die Ruftaste am Kopfende des Bettes. Ich komme, sobald ich kann.“

„Ich danke Ihnen.“

Dandelia griff nach dem Löffel und probierte die Gemüsesuppe, obwohl ihr der Appetit wegen der Sorge um Waldi vergangen war. Doch ihr Körper verlangte vehement nach Nahrung. Nachdem sie den Teller geleert hatte, war sie gestärkt für die Frage, die ihr auf der Zunge lag.

„Hat man sich auch um Waldi gekümmert? Haben sie alles versucht?“

„Natürlich, Mum. Alle avalonischen Hexen und Zauberer gaben ihr Bestes, um euch beide zu retten, auch die Anterraner. Gib noch nicht die Hoffnung auf. So einen Fall wie diesen gab es noch nie. Mag sein, die Verbindung entsteht wieder, sobald dein Waldemar aufwacht.“

„Das glaube ich nicht“, wisperte Blue Sky. „Ich kann ihn auch nicht fühlen. Es ist, als wäre er nicht da.“

Der Löffel fiel scheppernd aus Dandelias Hand in den Teller.

„Was sagst du da?“ Entgeistert starrte sie erst den Drachen, dann Artan an. Sie wurde noch blasser als sie ohnehin schon war.

„Dann ist es ernst“, murmelte Artan. „Ich werde mich umhören, ob es hier Schamanen gibt, die Seelen suchen können. Wenn er zwischen Leben und Tod schwebt, müssen wir das wissen. Wie dem auch sei, Mum, was willst du eigentlich hier? Warum bist du mir nachgegangen? Stimmt zuhause was nicht?“

„Ich bin nicht dir nachgegangen, sondern den Plagegeistern. Sie wollten dir wohl das Kuchenpaket hinterherbringen. Gesagt haben sie uns nichts, die sind einfach abgehauen, als wir noch unseren kleinen Rausch ausgeschlafen haben.“

„Oh nein! Ich Idiot habe den Kuchen vergessen. Aber ich habe Ella und Lucy nicht gesehen. Sie hätten mich in der Residenz antreffen können, die wissen doch, wo ich arbeite. Jede Wette, Mum, die beiden belästigen wieder Fredegar. Dieses kindische Anhimmeln muss aufhören. Er hat mit Antara kürzlich den Jahresbund geschlossen.“

„Die beiden bereiten sich auf die Ehe vor? Das freut mich. Nun, die Mädels werden schon auftauchen. Übrigens haben sie immer noch striktes Anterra-Verbot.“

„Und Hausarrest. Hat Ella mir gesagt. Sie beklagen sich bitter bei mir über ihre ach so strengen, rückständigen Eltern. Vor allem das Implantatverbot des Generalübersetzers nehmen sie euch übel. Sie hätten gern ihre Noten in Fremdsprachen auf dem leichten Wege verbessert. Nimm’s nicht tragisch, Mum. Du weißt ja, das geht vorbei. Sie eifern eben ihrem großen Bruder nach und wollen sich in der Schule nicht anstrengen. Ich war in dem Alter auch nicht viel besser.“ Er grinste seine Mutter schief an. „Um deinen Kuchen tut es mir wirklich leid.“ Artan stand auf und holte das Körbchen mit den Drachen, stellte es ans Fußende des Bettes. „Du willst ihn bestimmt in deiner Nähe haben. Ich weiß nicht, ob du schon aufstehen darfst. Ist dir schwindelig oder so?“

„Nein, das nicht. Aber das Licht blendet mich und mir ist kalt. Ich würde gern ein wenig schlafen. Kümmerst du dich um die Mädchen?“

„Na klar, die werden wir schon auftreiben. Ich bringe sie in einem Gästezimmer im Institut unter. Es sei denn, Afalja und Kyrian wollen sie unter ihre Fittiche nehmen. Ich geh dann mal und schaue heute Abend wieder bei dir vorbei. Wir müssen auch noch herausfinden, was mit dem Portal los ist. Vorerst seid ihr auf Anterra gestrandet.“

„Ob wir eine Nachricht nach Aldourie schicken können?“

„Ich werde es versuchen. Vor allem sollte niemand durch die Uhr gehen. Schade. In einer Woche wollte Melly von ihrem Einsatz in Neuseeland zurück sein. Ich vermisse sie.“

„Ja, sehr schade, dass sie deine Party verpasst hat.“

„Es ging leider nicht anders.“

Dandelia fielen die Augen zu. Sie legte sich seufzend hin und murmelte müde ein „Bis später.“

„Sky, kommst du? Oder willst du lieber bei Waldi bleiben?“

„Ich bleibe.“

„In Ordnung, mein Blauer. Ich geh dann mal. Pass gut auf unsere Patienten auf.“

Artan gab seiner Mutter einen Kuss auf die Stirn. Mit hängenden Schultern verließ er das Zimmer.

Kapitel 2

Artan verließ das Haus der Heilung und eilte zur Residenz des Drachenkönigs, wo alle Fäden zusammenliefen. Seit dem Zwischenfall am Tor waren alle, die mit der Technik des interdimensionalen Reisens einigermaßen vertraut waren, mit der Aufklärung befasst. Er nahm einen Seiteneingang, der direkt zum Technikraum führte, wo die große Maschine aus grauer Vorzeit stand und Brummgeräusche von sich gab, die an wildgewordene Hornissen erinnerten. Von Weitem schon erkannte er seinen Freund, ein Hüne von Mann, immer korrekt gekleidet, am liebsten in tiefschwarz. Fredegar.

„Kumpel, ich muss dich was fragen.“

Der Techniker schüttelte den Kopf. „Ich habe keine Neuigkeiten für dich. Das verdammte Tor ist nach wie vor kollabiert und wir finden ums Verrecken nicht heraus, was die Ursache ist.“

Etwas hilflos studierte er mit mehreren Kollegen die Anzeigen auf der Tafel und gab hektisch Befehle über den Terminal ein.

„Der Apparat spinnt nur noch, das ergibt alles keinen Sinn hier! Ehrlich gesagt, sind wir ausnahmslos ratlos. Aber sag nicht weiter, dass ich dir das gesagt habe.“

„Das meinte ich jetzt gar nicht. Sag, hast du heute meine Schwestern gesehen?“

„Ella und Lucy? Nein, warum sollte ich. Sag nicht, die sind schon wieder hinter mir her! Antara bringt mich um. Weißt du eigentlich, welchen Streich die mir letztens gespielt haben, als …“

„Nein. Will ich auch nicht wissen. Ist mir so schon peinlich genug, dass die Gören in dich unsterblich verliebt sind.“

„Warum fragst du?“

„Weil sie noch vor meiner Mutter durch die Aldourie-Uhr gegangen sind. Sie wollten mir ein Kuchenpaket hinterhertragen. Ich muss sie finden! Sie könnten in Gefahr sein.“

Fredegar hielt in seiner Tätigkeit inne. Nachdenklich starrte er für eine Weile vor sich hin, ging alle denkbaren Möglichkeiten durch und schaute seinen Freund dann mit einem tiefen Bedauern an. „Ich sage es nicht gern. Aber es liegt im Bereich des Möglichen, dass sie einen Zeitsprung gemacht haben oder auf der anderen Seite Anterras in der Wüste angekommen sind. Wir sollten eine Großfahndung ausrufen.“

Artan hieb mit der Faust gegen die Schalttafel. „Verfluchte Scheiße aber auch! Reicht es denn nicht, dass meine Mutter mit dem Leben gerade so davongekommen ist?“

„Ey, beruhige dich. Du hilfst keinem, wenn du die Nerven verlierst.“

„Was du nicht sagst!“, fauchte er Fredegar an und entschuldigte sich sofort dafür. „Es ist nur … Melly ist auch nicht hier, sie hat derzeit einen Einsatz in Neuseeland. Wenn wir die Technik nicht wieder zum Laufen bringen, sehe ich meine Frau nie wieder! Und meinen Vater auch nicht.“

„Wir tun, was wir können. Auf so eine Situation sind wir einfach nicht vorbereitet. Du weißt ja, wieviel Wissen unter der Schlangenherrschaft verlorengegangen ist. Dreh dich mal um, mein Freund. Da hinten im Durchgang steht Talantha und winkt. Die will was von dir.“

Artan wandte sich um und entdeckte die alte Freundin der Familie, die inmitten einer lautstark diskutierenden Gruppe stand. Sie stach hervor, weil sie sich kleidete wie die Königin der Nacht aus Mozarts Zauberflöte. Und vor allem, weil sie mit Abstand die älteste Person im Raum war. Er ging eilig auf sie zu, in der Hoffnung, dass sie einen Rat wusste. Talantha war neben seiner Mutter die Hexe mit den größten Fähigkeiten unter den Avaloniern. Und sie war steinalt. Mehr Erfahrung als sie hatte nur Torgan Drachenkönig, der auf die Erfahrungen vieler Leben durch den vereinigten Geist Glewlwyds zurückgreifen konnte. Artan verzog bei dem Gedanken das Gesicht. Die Erinnerung, dass er als kleiner Junge arglos Torgans Bewusstsein beherbergt hatte, ließ ihn erschauern. Er hatte seinen Nessie-Drachen so sehr gemocht … doch war alles nur Lug und Trug gewesen.

„Artan, mein Junge, was ist los mit dir? Geht es Dandelia schlechter?“

„Nein, Tante Tally, sie schläft. Es sind Ella und Lucy, die mir Sorgen machen, sie haben das Tor noch vor Mum benutzt. Ich muss sie unbedingt finden. Fredegar meint, ich soll eine Großfahndung auslösen, sie könnten sonst wo sein.“ Oder sonst wann …

„Ach, das dauert viel zu lange. Ich werde einen planetaren Suchzauber ausführen. Hast du zufällig etwas bei dir, was deinen Schwestern gehört?“

Artan verneinte bedauernd und zuckte gleich darauf zusammen, denn Talantha hatte ihm ohne Vorwarnung ein paar Haare ausgerissen.

„Damit geht es auch. Schließlich seid ihr blutsverwandt. Komm, wir ziehen uns in den Königsgarten zurück. Hier ist es zu laut dafür, ich muss mich konzentrieren.“

Talantha zog ihn am Ärmel mit, als wäre er noch ein kleiner Junge. Sie steuerte auf einen Baum zu, der Artan wie eine Mischung aus der irdischen Trauerweide und einem Kirschbaum erschien. Der Baum trug gleichzeitig Blüten und Früchte, sie hingen buchstäblich bis zum Boden hinab. Er öffnete den Vorhang aus langen Zweigen und Blättermassen, ließ Talantha den Vortritt und folgte ihr. Um den Stamm herum war eine Rundbank gezimmert. Ächzend ließ sich die Alte darauf nieder und schloss dann ihre Augen.

„Gib mir einen Moment, ich muss mich konzentrieren. So ein Zauber ist nicht leicht.“

Sie riss ein Blatt vom Baum ab, murmelte eine Entschuldigung für die Störung seines Friedens und legte Artans Haare darauf. Zu seiner Verwunderung spuckte sie dann aufs Blatt und pustete einmal drüber.

„Mum nimmt für sowas eine Schale mit Wasser“, sagte er.

„Ich bin nicht deine Mum. Ruhe jetzt!“

Artan versuchte, sich etwas zu entspannen, ruhiger zu werden. Ohne Zuversicht würde er das alles nicht überstehen. Vor wenigen Tagen noch war sein Leben gut und überschaubar gewesen. Geordnet! Vorhersehbar! Genau die richtige Mischung aus Routine und interessanten kleinen Wendungen. Er war ein glücklicher Mann gewesen, vor allem gestern. Und nun? Seine Mutter war knapp dem Tod von der Schippe gesprungen, seine Schwestern wurden vermisst. Waren sie jetzt alle für immer auf Anterra gestrandet? Hatten sie ihr Schicksal etwa zu oft herausgefordert und bekamen jetzt die Quittung dafür? Eine leise, innere Stimme bescheinigte ihm, dass er Unsinn dachte und es keinen Grund gäbe, an eine Art Bestrafung zu glauben oder dass das Schicksal ihm nun einen Dämpfer verpasse, weil er sich vielleicht zu selbstsicher gefühlt hätte. Nein, er durfte das alles nicht persönlich nehmen! Das hier war eine große Sache. Er atmete mehrmals tief ein und aus. Talantha hatte begonnen, leise zu murmeln, ihr Atem ging schneller. Ein leises Stöhnen zeugte von Anstrengung. Plötzlich begann die Luft um sie herum zu flackern! Sie selbst schien zu fluktuieren für einen schrecklichen Moment. Artans Herz raste. Was beim Barte des Merlin geschah hier?

Dann war es auch schon vorbei. Sie öffnete ihre Augen und starrte schweigend vor sich hin.

„Tante Tally! Alles in Ordnung?“

Langsam drehte sie ihren Kopf zu dem jungen Zauberer und schaute ihn eine Weile schweigend an. Ein großer Schweißtropfen rann über ihre Stirn und verlor sich in ihrer buschigen Augenbraue. Dann atmete sie tief ein und schüttelte das Blatt mit seinen Haaren von ihrer Hand, als würde es ihr Angst machen.

„Das war unerwartet.“

„Was? Nun sag schon, was war los? Hast du sie gefunden?“

„Ja und nein.“

Artan schnaubte wütend durch die Nase. „Beides zugleich kann nicht sein. Das ist unlogisch. Und was war das eben für ein Geflacker mit dir?“

„Hast du das wahrnehmen können? Ich fand die Spur deiner Schwestern, doch ist sie schon sehr … alt. Ich bin in eine andere Zeitlinie gerutscht. Das kam unerwartet. So hat es sich angefühlt. Sie waren da und doch nicht da. Und mich hätte es fast innerlich zerrissen, das ist kaum beschreibbar. Irgendwas ist hier nicht in Ordnung.“

„Das ist mir nicht neu“, fauchte er sie an.

Mit einem scharfen Blick rief sie ihn zur Ordnung. „Du darfst nicht die Nerven verlieren. Versprich mir das. Wir werden dem Problem gemeinsam auf den Grund gehen und mit dem Drachenkönig ein Wörtchen reden. Das Weltentor ist nicht das Einzige, was hier nicht in Ordnung ist.“

„Warum mit ihm? Der weiß doch auch nicht mehr als wir.“

„Das wird sich zeigen. Es gibt da etwas, das er verschweigt.“

„Dann lass uns sofort zu Torgan gehen.“

Es dauerte eine ganze Weile, ehe sie ihn in der Residenz ausfindig machen konnten.

---ENDE DER LESEPROBE---