Das Wanderdünenfräulein - Karl-Heinz Schleinitz - E-Book

Das Wanderdünenfräulein E-Book

Karl-Heinz Schleinitz

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Beschreibung

Kud und Gäd sind jung, verliebt und glücklich. Sie haben ein winzig kleines Zimmerchen an der Ostsee ergattert und der Wirt hat ihre Lüge geglaubt, dass sie verheiratet sind. Sonst wäre es nichts mit dem Zimmer geworden. Beide verbringen unbeschwerte Urlaubstage am Meer und unterhalten sich mit Witz und Humor über Gott und die Welt, die spießige alte Dame aus dem Westen eingeschlossen. Da soll ein Telegramm an Fräulein Meyer zugestellt werden und ihre Lügenblase scheint zu platzen. Kud bekommt mit List das Telegramm, das gleichzeitig das Ende ihres Urlaubs bedeutet. Aber sicher nicht das Ende ihrer Liebe.

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Impressum

Karl-Heinz Schleinitz

Das Wanderdünenfräulein

Erzählung

ISBN 978-3-96521-481-1 (E-Book)

Die Druckausgabe erschien 1969 im Eulenspiegel Verlag Berlin.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

2021 EDITION digitalPekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.edition-digital.de

1

Der Sommer spielt Flöte. Sein Himmel häkelt Wölkchen. Die Möwen darunter hüpfen, sie hängen an Gummifäden. Sie schlafen beim Hupffliegen. Und das Meer schnarchelt. Nur der Leuchtturmfinger steht stramm. Armer Hund. Nie Urlaub.

Ich beuge mich zu Gäd. Mir ist was erschütternd Wichtiges eingefallen.

„Gäd?“

„Hm?“

„Ich habe einen Namen für dich. Einen neuen.“

„Einen schönen?“

„Aber Gäd!“

„Sag ihn mir. Sag ihn mir ins Ohr.“

„Wan – der – dü – nen – fräu – lein.“

Kleiner Aufruhr. „Flegel! Strolch! Mädchenschänder!“

Diese Verallgemeinerungen sind eine Berufskrankheit. Entschließungsdefekt.

„Ästhetinihizist!“

Na bitte - ein Salatwort. Ästheti … klar. Und nih … nihi …

„Kud?“

Also doch neugierig. Also noch eine gesunde Frau. Ich brumme „Hm?“ und lasse das gelangweilt zum Horizont schwimmen.

Sie beblinzelt mich aus den Augenwinkeln – so viel, dass sie mich sehen kann, so wenig, dass der Besehene zu begreifen hat: Freundchen, hier lauert dein Privattiger. Und sagt dann mit kaum bewegten Lippen: „Wieso ,Wan – der – dü – nen – fräu – lein'?“

Meine Eroberungsfinger verlassen ihre Brust, tippeln über den Hals, klettern ins Gesicht, besteigen die Stirn, legen sich nieder und kosen die Brauen. „Kud, suchst du eine Ausrede?“

„Aber Gäd!“

Dass Frauen nicht begreifen können, dass ein Mann nie Ausreden sucht, sondern nur fundierte Argumente. Dabei hatte ich gehofft, sie würde eine Ausnahme bilden, schließlich hat sie so vieles zu begreifen – als Sekretär. Sekretär des Kreisrates Hohenwalde.

„Mach die Augen auf, Gäd.“

„Beide?“

„Wie du willst.“

„Das heißt also: ja! Das heißt also: Eines allein ist dir nicht schön genug. Du liebst mich nicht mehr.“ Das ist Bikini-Logik. Alles aufgedeckt, alles versteckt.

Ich muss meine Schulerfahrungen bemühen. „Meine liebe zukünftige Frau!“

„Wieso zukünftig? Ich bin es schon jetzt.“

„Ja – moralisch! Aber nicht juristisch. Dies ist ein feiner Unterschied – für Kenner. Sagt Munk.“

„Jag das Munk weg!“

„Also meine liebe schon jetzige!“, sage ich, klein beigebend, und hebe den bedeutungsvollen Zeigefinger der rechten Hand. „Sei ein braves Kind und höre her.“

„Nimm erst das Ding aus den Wolken. Du zerkratzt mir den Himmel.“

„Lenke nicht schon wieder ab. Man bereitet sich vor – und du … na ja. Wir sind bei den Augen stehengeblieben. Also: Zwei Augen sind ein Auge mehr als nur eines. Kannst du folgen? Ergo sind zwei Augen zweihundert Prozent von einem Auge …“

„Hast du mal Gedichte gemacht?“

„Unterbrich mich nicht! Nun musst du wissen: trotz der zweihundert Prozent ist dieses kein Umschlag in eine neue Qualität, sondern eine Anreicherung der Quantität. Dieses ist also keine Revolu …“

„Kud?“

„Warum lässt du mich nicht ausreden?“

„Kud, wenn du mir versprichst, zu sagen, wieso ich ein Wanderdünenfräulein bin, dann öffne ich auch zweihundert Prozent.“

Es bewahrheitet sich wieder mal: Du kannst eine Frau in Weisheiten baden, es schlägt nicht an. Aber nenn große Zahlen! Sofort hat sie maßloses Vertrauen. Und so öffnet meine Gäd ihre Augen, ohne ein Versprechen abzuwarten, und die Lider zucken, da die Himmelshelle nun ungehindert in sie hinabstürzen kann, und ich beuge mich über sie, bedecke sie mit meinem Schatten, bin Sonnenfinsternis, und unter dieser werden die Lider ruhig und die Pupillen groß.

Ich blicke in Gäds Augen. Komisch. Ganz vorn, ganz groß, unanständig grobporig die nichtigste Sache des Universums: meine Nase. Dahinter, wenn ich Gäds Augen trauen darf, zwei davonfliegende Sachen, obgleich sie mir nützlicher als eine Nase scheinen: meine Ohren. Darüber segeln in Gäds Augen Wolken. Klein wie Puppenmasern. Wie viel wichtiger als ein Paar Ohren? Hinter den Wolken ahne ich einen Stern. Einen zweiten. Ich ahne viele. Unzählbare. Und hinter den Unzählbaren die Unendlichkeit.

Die lauten Porentrichter einer Nase und die Stille der Unendlichkeit zugleich in einem Menschenauge. Komisch.

Komisch?

„Wieso ,Wan – der – dü – nen – fräu – lein'?“

„Deine Augen – ein Meer. Die Ufer – grünlich. Seegrün. Gibt’s das? Da buddeln sich die Schollen ein.“

„Küss mich auf die Augen, rasch!“

Ich küsse. Und frage: „Zweck der Übung?“

„Ich dank’ dir schön. Hast mir die Quallen verscheucht.“

Das war Missbrauch der Macht! Aber ich erkläre weiter: „Und in der Mitte dieser Augen tiefes Grau. Bestimmt Seeaugengrau. Zum Ertrinken tief. Lustig: Ausgerechnet an den tiefsten Stellen gelber Bernstein. Gäd, du bist ein Naturwunder!“

„Dass du’s schon weißt, was du besitzt.“

„Und um dieses Meer“ – ich streiche windsacht über Wimpern und Lider – „die Dünen.“

Die Dünen klappen zu. Klappen auf. Zucken. Argwöhnisch fragt ihre Besitzerin: „Und was wandert daran?“

„Schließ die Augen, ich will sie küssen.“

Sie tut das eine, ich das andere. „Siehst du, da kommt der Wind, der küsst den Dünensand, er trägt ihn fort, zur Stirn – so, zum Näschen – so, zum Mund – so, zum Hals – so, na und so weiter. Bis zum Bauch trägt der Wind Wanderdünensommersprösschen.“

Heller Aufruhr. „Mein Bauch hat keine Sommersprossen!“

„Dann habe ich sie noch ganz anderswo gesehen.“

„Du lügst!“ Und Fäuste trommeln auf mich ein. Wer das Meer erzürnt, darf sich über seinen Zorn nicht beklagen.

2

Unser Zimmernummerchen „43“ ist ein charmanter Übertreiber. Sein richtiger Titel wäre vielleicht „12“ oder „14“. Doch da man im vierten Stockwerk unter den Schwalbennestern dieses Handtuchhauses thront und außerdem das dritte Kämmerchen ist, bildet sich mit wissenschaftlicher Exaktheit und damit rechtskräftig die neue Hochstapelnummer.

Von oben bis unten, gewissermaßen von Webekante zu Webkante, riecht es nach Blutwurst mit Sauerkohl. Wir riechen es nicht. Im Nachbarzimmer trällert ein Mädchen, das wir nie zu sehen bekommen, schon zur Hahnenfrühe Thüringer Gegenwartsschaffen. Wir hören es nicht. Überhaupt sind wir die zahmsten Gäste. Das hängt damit zusammen, dass wir ein Webfehler sind, gewissermaßen.

Als wir vor Tagen das Hotelchen betraten, geziemend freundlich, rechneten wir selbstverständlich damit, auf Munk zu stoßen. Alles uns nicht Wohlgesinnte ist Munk. Und da saß es auch, ein Mustermunk, rundköpfig, stoppelbesät, mit einer Mütze auf dem Kopf, die hinter Schanghai die Blattern hatte. „Zimmer? Nö.“

Großes Munkschütteln unter dem Blatternstück. Großer Stadtmenschseufzer bei mir, durch und durch echt schon, und bei Gäd zum dreizehnten Male an diesem Tage „Hab’ ich’s nicht gesagt?“, diesmal mit dem Zusatz „Idiot du“.

„Wartense mal“, sagte der Alte. Rührte ihn mein Schicksal?

„Ja bitte“, sagte ich rasch.

Ein misstrauischer Blick aus schmalen Munkaugen. „Sie sinn doch Ehelüt, noch?“

Ich griff nach dem Strohhalm. „Ja, ja, selbstverständlich, wir haben schon zwei Kinder, nur, soll man sie mitschleppen, man weiß ja nicht, wie man’s trifft, noch?“

„Se sinn doch nicht etwa zu Ferien hier?“ Kopfschütteln in Blond und Schwarz, sehr energisch.

„Dann is gut. Dann geiht’s. Is nämlich so, wat de Marie is, de hat uns in Stich geloten. Is gleich Saison, und bliwt in Wurzen! Awer kommt se doch, müssen Se rut!“

So landeten wir in der Personaletage, im Zimmer der treulosen Marie, gelobt sei ihre Untugend. Freilich hatte vordem der Alte mit kurzsichtigen Augen die Ausweise berochen und mit dem Anmeldeschein verglichen. „Dat stimmt doch all, noch? Ik hew de Brill verlegt.“ Sein Blick, der mich traf, war so bittend, dass ich ihn nicht enttäuschen konnte, wobei ich mir im Klaren bin, es mit unserem verehrten Gesetzgeber angelegt zu haben. Aber der Alte war kein Munk mehr, sondern ein herrlich markanter Küstenbewohner, fast langschädlig, schon mit der Knospe eines Seemannsvollbartes, und auf dem Kopf eine Mütze, die vom Ruhm glorreicher Fahrten sang, kurz: Vadder Breithack, Hausmeister und Empfangschef i. V. im Hause „Seeräuber“ HOG.

Zehn Minuten später, bereits in „43“, machte mir Gäd Vorhaltungen. Sie sagte, es hätte genügt, uns ein einziges Kind anzulügen. Immer diese Übertreibungen, ich solle sie endlich unterlassen.

Ich musste widersprechen. Kam es nicht darauf an, den Anschein hellster Wahrheit zu verbreiten? Und da sind doch wohl unseren studentenhaft jungen Jahren entsprechend zwei Kinder schon eher typisch.

3

Ich liege abseits von den anderen, ihrer Strandkorbstadt, diesem Babylon der Dialekte und Gerüche. Stadt haben wir das ganze Jahr über. Und neben mir liegen ein Leuchtturm und eine Nase. Die eine Entfernung würde eine Kameraeinstellung von unendlich, die andere von 0,8 verlangen. 0,8 ist näher als unendlich. Ein Apfelfipslutschröhrchen a. D. biedert sich zum Fliegenspielen an.

„Kud?“

„Hm?“

„Kud – haben die Werktätigen das Recht auf Erholung?“

„Wenn ich mich recht erinnere …“

„Dann verscheuch mir die Fliegen!“

„Sch, sch!“, heuchele ich.

Gäd hält die Augen geschlossen: die Schlummernde Venus von Giorgione mit dem Bekleidungsstück Sonnenbrille. „Keiner kann das so schön wie du“, sagt Venus Gäd. „Wie stark du bist!“ Meine Bewusstseinsbizeps schwellen. Nun lächelt Gäd wie Asta Nielsen im Stummfilm, sie hätte auch schweigen sollen wie sie, aber sie sagt: „Bist ein richtiger Fliegenscheucherich!“

Ich wende mich ab und stelle die Pupillen auf unendlich.

„Kud?“

„Hm?“

„Bist du eingeschnappt?“

„Ich? Wieso denn? Wie kommst du darauf?“

„Nur so. Vergiss nicht: Deine Mammi hat dich mir als Mann und Mensch anvertraut, dass du mich beschützt und in ordentlichem Zustand wieder abgibst. Männer dürfen nicht gnitzen. Das verschlägt ihren lieben Frauen den Teint.“

Der launenlose Mann, die Kosmetik auf homöopathischer Basis.

Die Metaphysik ist gnädig und schickt gleichen Augenblicks das Instrument der Rache. Auf fliegender Basis. Einen Marienkäfer. Er kurvt unentschlossen. Was schwankst du, Freund Käfer, Genosse Glücksbringer?

Kinderzeiten springen auf. Kornblumenkränze in Semmelblondhaaren … kribbelnde Grummetluft … vom Dorf her Bimmelbang … Und ein Verschen:

Summ, summ, summ,

lieber Käfer, kumm,

setze dich auf meine Nase,

drück auf deine Käferblase,

schiet ein bissken Glück …

Achtung, Landung! 0,8 liegt näher als unendlich, ein „Hoch“ auf die Erfinder der Geometrie, die freundlichen Förderer des Glücks!

„Kud, du sollst nicht immer krabbeln, denkst du, ich weiß nicht, dass du es bist!“

„Stillhalten! Gleich geschieht was Schönes!“

Statt auf das Glück zu warten, probiert Gäd die Mechanik ihrer Nasenhaut. Sie funktioniert und macht ein Beben unter dem Fahrgestell des Käferapparates. Der Pilot in ihm gibt Vollgas.

Gäd reißt die Augen auf. Die Radarspiegel darin irren dem taumelnden Flug nach.