8,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 8,99 €
Fruchtbar sind die Felder am Lickweg. Das alles war einmal Junkerland, und nur an einer Stelle ragte der Lansfid-Acker mitten hinein in die Domäne des Herrn. Zwei Jahrhunderte lang hielten sich die Lansfids hartnäckig gegen den Junker, und als er 1945 zum Teufel gejagt wurde, begrüßte und unterstützte Robert Lansfid die Bodenreform aus ganzem Herzen. Nun aber, da der weitere Schritt zur Genossenschaft vor ihm steht, stemmt er sich mit aller Macht dagegen. Die stürmischen Märztage 1960 haben das Dörfchen Spellhagen in Aufruhr gebracht. Doch was ist das, was sich sichtbar vor aller Augen abspielt, verglichen mit dem Sturm, der unter jedem Dach, in jedem Menschen tobt, mit dem Für und Wider langer schlafloser Nächte, mit dem Hoffen und Suchen, als endlich die Raine gefallen sind und dem leichthin über den Zaun gesprochenen Wort nun die Beratung am gemeinsamen Tisch und die Arbeit auf dem gemeinsamen Feld folgen muss.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 688
Veröffentlichungsjahr: 2021
Karl-Heinz Schleinitz
Morgen am Lickweg
ISBN 978-3-96521-487-3 (E-Book)
Die Druckausgabe erschien 1963 im Dietz Verlag Berlin.
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
2021 EDITION digitalPekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.edition-digital.de
MEINER MUTTER
Der Zug fuhr nach Norden. In einem seiner Abteile saßen Otto Schramm und sein Sohn Hannes. Sie schwiegen. Ihre Mitreisenden waren stadtfein geputzte, aufgeregt schnatternde Weiber, die ungeniert über die Kollektivierung herzogen und dennoch meinten, man dürfe ja darüber nichts sagen, schon würde man abgeholt.
Hannes Schramm, ein schlanker, sportlicher Bursche mit länglichem Gesicht, schräg gestellten dunklen Augen, mit Grübchen in Wangen und Kinn, hatte neben sich einen Stapel Bedrucktes liegen. Er las in einer Broschüre. Die bewältigten Seiten glichen mit ihren roten und blauen Strichen, Pfeilen, säuberlich nummerierten Kreisen und Kommentaren einem strategischen Aufmarschplan. Auf der Titelseite war zu lesen: Musterstatut der LPG Typ III. Das hatten die Frauen noch nicht entdeckt, obwohl es in großen Buchstaben gedruckt stand.
Otto Schramm, ein Mann Anfang der Fünfzig mit ebenmäßigen Gesichtszügen und festen, breiten Lippen, die in tiefen, nach unten ziehenden Mundwinkeln endeten, träumte sich aus dem überheizten, muffigen Abteil hinaus in den reinen Februartag. Seine Stirn, die hoch und klar war, vom Grau kräftiger Brauen und dichtem Kopfhaar eingefasst, hielt er gegen die kühle Scheibe gelehnt. Mitunter reizte es ihn, den Zeternden über den Mund zu fahren und zu sagen: Ihr lieben Frauen, was keift ihr nur, ihr werdet euch noch die Zunge abbeißen, ihr straft euch ja selber Lügen! Aber dann konnte er doch nicht den Blick von der träge vorbeiziehenden Landschaft reißen. Er ließ seine Gedanken treiben und sprang mit ihnen über die Gehölze, die als braungrüne Flecken die Ebene durchbrachen. Sein Blick blieb hängen an Äckern, deren Krume nassschwarz glänzte. In ihren Furchen blinkten die zusammengeronnenen Wasser des Winters. Die Sonne leckt schon! dachte Schramm und meinte zu spüren, wie aus allen Poren und Rissen der Kruste die bislang eingefrorenen, nun befreiten Düfte stiegen, um den hohen Raum unter dem milchig blauen Himmelsgewölbe mit herben Gerüchen zu würzen, und er glaubte zu sehen und zu hören, wie das erstarrte, schweigende Gewölbe zu schwingen begann. Naht ein zeitiges Frühjahr?
Der Träumende holte tief Luft. Als ob er erwartet hätte, den sauberen, erdigen Odem des Vorfrühlingstages zu atmen und nun übel enttäuscht war, wandte er seinen Blick vom Fenster weg dem Abteil zu. Er wischte mit dem Handrücken über die umschatteten, grünlichen Augen und sah und hörte die Frauen wie vordem hecheln. Aber er konnte sich nicht entschließen, ihrem Gewäsch das Wasser abzulassen, seine einzige Reaktion blieb ein ärgerliches Kopfschütteln, ein Runzeln der Stirn. Er drehte sich wieder dem Fenster zu, fuhr mit der Hand zärtlich, fast tastend über die Scheibe mit dem dahinterliegenden Landschaftsbild, wie über das Bild einer frühen Geliebten, und fragte sich wieder und wieder: Wie konnte ich nur so lange ohne dich sein, du liebes, vertrautes Land. Du warst mir entrückt. Hatte ich dich vergessen? Wie konnte ich’s übers Herz bringen, die ganzen Jahre über Spellhagen nicht zu sehen, Spellhagen und Robert Lansfid …
Schramm versuchte sich vor den eigenen Angriffen zu verteidigen. In der Illegalität – konnte ich da mit Robert in Verbindung treten? Das durfte ich nicht. Und danach? Wir hatten die Fabriken aufzubauen. Wir hatten sie zu übernehmen. Wir hatten überall einzuspringen und zu helfen. Das Leben blutete: eine zerfetzte Haut, die geflickt werden musste. Schramm hierher, Schramm dorthin. Da ist ein Tagebau ersoffen. Du hast keine Ahnung vom Bergbau, du weißt nicht, wie du ihn leer kriegst? Aber Genosse! Du musst an die Frage politisch herangehen! Und wenn du ihn leer hast, bleibst du gleich als Direktor da. Dann wieder stand die Frage der Kultur. Was, du bist kein Fachmann? Aber Genosse, du bist doch belesen, Mandoline spielst du auch. Dann hatte man Bürgermeister zu sein. Dann Parteisekretär. Du lieber Himmel, wie lange dauerte es, bis ich wieder Stahl in die Hand bekam. Stahl formt sich ja so leicht …
Otto Schramm wendete die Hände, die entspannt auf den Oberschenkeln lagen. An den Griffstellen war die Haut dick und braun. Seine Mundwinkel hoben sich zu feinem Lächeln. Schwielen sind doch eine hübsche Garnierung, dachte er, selber weiß man, was man getan hat, und jeder andere sieht auf den ersten Blick, wohin man gehört.
Dann verschwand das Lächeln. Wieder waren die Vorwürfe da, die Landschaft fragte, Spellhagen, das kleine Dorf, das er irgendwo hinter dem Horizont wusste, fragte, und vor seinen Augen stand in diesem Dorf Robert Lansfid auf und rief mit fordernder Stimme: Wie konntest du uns nur so lange warten lassen? Und so sehr sich Schramm zu rechtfertigen suchte vor diesen Stimmen, sie blieben stärker.
Die Schramms verließen den Zug in Useklam, einer Stadt am Rande der ebenen Haffwiesen. Von den Zeiten der Hanseaten an war ihre Silhouette harmonisch gewachsen. Schramms Wiedersehen mit ihr war schmerzlich. Er hatte ihren Rhythmus der hochstrebenden Kirchen und wuchtigen Tore geliebt und fand davon wenig wieder.
Sie meldeten sich in der Kreisleitung, wo sie mit anderen Genossen empfangen und in ihre Aufgabe als Parteibeauftragte eingewiesen wurden. „Trage uns für Spellhagen ein“, forderte Otto Schramm mit seiner harten und doch angenehm klingenden Stimme vom Sekretär.
Der Sekretär, ein dicht umlagerter junger Mann, der zwischen nervösen Zigarettenzügen ein Kreuzfeuer von Fragen zu beantworten hatte, hob beschwörend die Hand. „Das geht nicht, Genosse. Ihr könnt nicht alles durcheinanderbringen. Du hast doch gehört, ihr seid für Stutensid eingeteilt. Haltet bitte Disziplin.“
„Ich muss nach Spellhagen“, sagte Schramm fest. „Versteh das: Ich kenne Spellhagen. War bis Mai fünfunddreißig dort. Ich muss hin!“
Der Sekretär zog hastig an der Zigarette und blickte ihn prüfend an. „Also Ortskenntnisse!“ Er änderte mit fahrigen Bewegungen die Liste. „Warst lange nicht da, wie? Dann sei nicht enttäuscht. Sei auf alles gefasst. Dort bohrt der Klassengegner. Wir wissen nicht wer, aber wir spüren, dass einer bohrt. Spellhagen bleibt zurück. Ein Schwerpunkt. Dabei ist die Typ III in Ordnung. Nur ihr Vorsitzender ist ein bisschen sehr linksradikal. Wir hatten ihn schon vor, aber es hilft nichts. Hermann Kreek scheint unverbesserlich.“
Otto Schramm, der kaum erwarten konnte, die Frage nach Lansfid zu stellen, sah den Sekretär überrascht an. Er musste auflachen. Der Sekretär fragte missbilligend: „Warum lachst du?“
„Sagtest du Hermann Kreek?“, vergewisserte sich Schramm.
„Hast richtig gehört.“
„Er hat einen Linksdrall? Und zweiunddreißig, als ich zu ihm mit unserem Bauernprogramm auf den Hof kam, da brüllt er mich an, Kommunisten hätten darauf nichts zu suchen. Den Hund hat er mir nachgejagt!“
„Er ist jetzt unser Genosse“, sagte der Sekretär rasch und betont, wohl in Sorge, Schramm könnte über unliebsame Erinnerungen nicht hinwegkommen. Doch Schramm war in Gedanken schon wieder bei Robert Lansfid, und er fragte den Sekretär, ob er ihn kenne.
„Ihn hast du auch noch in Erinnerung? Donnerwetter. Ein gutes Gedächtnis.“ Die Stimme des Sekretärs klang anerkennend. „Freilich kenn ich Robert Lansfid. Wer kennt ihn nicht? Meisterbauer. Eine Kanone im Kreismaßstab.“
„Ich habe es nicht anders erhofft.“
„Hoffen und Harren hält manchen zum Narren. Uns ging es nicht anders. Wir dachten: Nun, Lansfid ist Meisterbauer, er wird eine Lokomotive sein und die anderen nachziehen. Pustekuchen. Er zog nicht. Er tat’s einfach nicht. Ich sage dir, mein lieber Genosse – wo kommst du doch gleich her … ja richtig, vom Schwermaschinenbau –, ich sage dir, die Bauern sind kompliziert, nicht so wie unsere Arbeiter. Da sage ich dir altem Genossen nichts Neues. Nimm nur deinen Lansfid: Nach landwirtschaftlicher Nutzfläche wäre er ein guter Mittelbauer. Aber politisch: ein typischer Großbauer. Manchmal geradezu reaktionär.“
„Reaktionär?“ Schramm konnte das Wort nicht verdauen. „Er hat mich vor den Faschisten gerettet.“
„Umso verwunderlicher, seine heutige Haltung. Wirklich. Umso verwunderlicher.“
„Lansfid ist gut!“, behauptete Schramm in barschem Ton. „Ich glaube dir deine Einschätzung nicht.“
„Du sollst nicht glauben, du sollst wissen“, erwiderte der Sekretär scharf. „Ich sage so etwas nicht leichthin. Wer hatte denn mit ihm zu tun? Du oder wir? Du kennst ihn doch gar nicht mehr.“
Schramm musste sich eingestehen, dass darin der Sekretär recht hatte, aber er versuchte der Sache auf den Grund zu gehen und damit Lansfid erneut zu verteidigen. „Gut, ihr hattet mit ihm zu tun. Aber nun frage ich dich, was habt ihr getan, dass diese Kanone, wie du sagst, zu einer Lokomotive wird? Was habt ihr getan?“
Der Sekretär unterdrückte seinen Ärger und versuchte im sachlichen Ton zu sprechen. „Ich habe in deinen Unterlagen gelesen, dass du AGL-Vorsitzender bist. Das stimmt doch? Gut. Und nun sei mal offen: Wie schimpfst du und ärgerst dich, wenn du mit der politischen Arbeit nicht schnell genug vorankommst! So ist es doch? Alles geht dir zu langsam. Du fühlst dich geradezu am Schwanz der Geschichte. Ist es so? Dabei marschieren die, mit denen du politische Arbeit zu leisten hast, jeden Morgen vor dir auf. Jeden Morgen Punkt sechs! Sie stehen da wie auf einem Tablett. Aber bei uns in den Dörfern? Wann bekommst du schon mal die Bauern zusammen. Hundert Bauern sind hundert Betriebe. Hinter jedem müsstest du einen Instrukteur haben. Aber wie sieht es bei uns aus? Nicht mal einen Instrukteur haben wir für Spellhagen. Das heißt, wir haben einen, aber er liegt ständig lang. Rheuma – von der Motorradkutscherei. Wundert’s dich noch, dass Spellhagen Schwerpunkt ist? Dass dein Lansfid nicht kommt? Ich sage dir, ich hätte hundert Instrukteure haben müssen, ach, was rede ich, ein Dutzend gute Genossen hätte genügt, und ihr hättet nicht zu kommen brauchen, wir hätten den Kreis schon umgekrempelt.“
Die Umstehenden raunten einander zu. Schramm nagte, den Blick zum Boden gewandt, an den Lippen. Er dachte nach. Alles hörte sich so richtig an, was er sagte. Aber war es denn richtig?
Hannes mischte sich ein. „In euren Kreis wären zweiundachtzig Genossen gekommen, habe ich gelesen. In der Aktion ,Industriearbeiter aufs Land‘. Wo sind sie?“
Der Sekretär blickte unsicher. Wo will er hinaus? Dann antwortete er schnell: „Buchhalter sind gekommen. Buchhalter! Ein paar Bürgermeister. Aber keine Instrukteure.“
„Aber das wären doch eure Instrukteure gewesen! Warum habt ihr sie nicht dazu gemacht? Buchhalter und Instrukteur! Bürgermeister und Instrukteur! Ideale Lösungen.“
Der Sekretär wurde ärgerlich. „Ich weiß wirklich nicht, Genosse, ob du da mitreden kannst. Dazu muss man schon drinstehen. Von außen sieht manches rosig aus. Aber gekocht wird im Topf.“
„Rede nicht herum, Genosse!“, warf Schramm ein, nun auch ärgerlich. „Du hast uns deine Meinung gesagt, gestatte bitte, dass wir unsere sagen. Und wir fragen dich: Wo sind die zweiundachtzig Industriearbeiter geblieben? Wo?“
„Wenn du die Frage so stellst“, erwiderte der Sekretär aufgebracht, „dann sollst du eine ebenso klare Antwort haben: Umgekippt sind sie! Die meisten jedenfalls. Einfach umgekippt. Die Landluft war ihnen zu stürmisch. Leider. Ich sage das wirklich bedauernd: Leider!“
„Beileidskarten erwecken keine Toten“, antwortete Schramm heftig. „Wie konnten sie denn umkippen? Das waren doch Parteikader. Freiwillige. Sie waren doch nicht irgendwer. Das waren doch Kerle, die aufs Land gingen. Habt ihr euch denn um sie gekümmert, damit sie nicht umkippen? Junge Bäume brauchen einen Pfahl. Muss ich als Städter euch das sagen?“
Der Sekretär war zufrieden, dass er gerufen wurde. Er verabschiedete sich kühl und dachte im hastigen Weggehen: Da haben sie uns den richtigen Starrkopf aufgehalst.
Es war schon Abend, als sie die Kreisleitung verließen. Frost stieg auf. Die Glocke des Frühlings schwieg, kaum dass sie zum Schwingen gekommen war.
Die Schramms ließen sich durch die lärmerfüllte lange Verkehrsader dem Bahnhofshotel zutreiben, vorbei am Greifentor, das aus sonderbar verschobenen, scharf gebrannten Backsteinen gefügt war. Ab und zu verweilten sie, ohne ein Wort zu wechseln, vor einem Schaufenster, oder sie betrachteten eines der alten Bürgerhäuser, das durch Zufall von den Bomben verschont geblieben war.
Hannes beobachtete den Vater von der Seite. Der schritt langsam dahin, noch den Ärger auf der Stirn, in der einen Hand den abgenutzten kleinen Koffer, die andere in der schrägen Tasche seiner blauen Joppe versenkt. Hannes ahnte, wie sehr das Gespräch in der Kreisleitung den Vater noch beschäftigte. Er ließ ihm sein Schweigen. Sie verstanden sich.
Allmählich überwand Schramm den Ärger. Er versuchte sein Bild über Robert Lansfid neu zu ordnen, aber stärker als jenes, das der Sekretär gezeichnet hatte, blieb ihm sein eigenes. Und er sah sich im Stroh liegen und einen jungen, lebenstrotzenden Hünen auf sich zukommen. Größer und größer wird das rötliche, von kurz geschnittenem blondem Haar gekrönte Gesicht, das sich herabbeugt, herrisch blicken graue Augen, und eine schneidende Stimme fragt: „Was suchst du in meinem Schober?“
„Was wohl!“
„Was ist mit deinem Arm?“
„Das siehst du doch.“
„Blut?“
„Dreimal kannst du raten.“
„Werde nicht frech. Bist dir wohl nicht klar, in welcher Lage du dich befindest.“
„Das kann ich mir an den fünf Fingern abzählen. Das braucht mir ein Erbhofbauer nicht zu erklären.“
„Ich habe gesagt, du sollst nicht frech werden! Dann warst du’s also, auf den sie geschossen haben. Und so gut getroffen. Oder zu schlecht, wie man’s nimmt.“
„Liefere mich doch ab! Dann hätten sie gut getroffen!“
„Ihr Kommunisten seid komisch. Alles, was nicht euer Rot ist, ist schwarz. Dich abliefern! Dem Wittfoot abliefern? Dem Junker! Wofür hältst du mich eigentlich?“
Das Gesicht geht langsam zurück. Die Stimme befiehlt: „Hier kannst du nicht bleiben. Komm zum Hof, wenn’s dunkel ist. Komm durch den Garten, ich warte.“
Dieses Bild sah Schramm. Er redete sich fest zu: Gib es nicht auf! Du kannst es gar nicht aufgeben! Der Sekretär kennt Robert nicht. Ein Mensch wie Robert kann nicht so tief sinken, dass er seinen eigenen Feinden in die Hände arbeitet … Nach dem Abendessen hielt es Schramm in der rauchverpesteten, von lauten Gesprächen und kreischender Radiomusik durchschüttelten Luft der niedrigen Wirtsstube nicht mehr aus. Er wollte mit sich allein sein und verließ das Hotel. Einige Zeit musste er warten, bis der lärmende Strom der Fahrzeuge abriss, der ihm unheimlich dünkte, da er die Straßen nur von Pferdefuhrwerken bevölkert in Erinnerung hatte. Vor ihm lag – matt erleuchtet – der Bahnhof. Dahinter erhob sich die Zuckerfabrik. An ihrem Schornstein – eine schwarze Silhouette – glühten hellrote Flugsicherungslampen.
Schramm ging an Bahnhof und Zuckerfabrik vorbei den Wiesen zu. In der einsamen Weite der starren Weiden, auf Wegen, an denen die Bäume tanzten und das Gestrüpp pfiff, in deren Pfützen der Frost knisternd Eisdeckchen strickte, wo es salzig vom nahen Meer und dumpf aus den Gründen roch, in diesem so lebendigen Einsamen standen in ihm die alten Bilder und Gespräche mit unwiderstehlicher Gewalt auf, ja, er forderte sie heraus.
Neunzehnhundertdreißig war es, als ein Krauter den jungen Schramm fragte, ob er sich ein paar Mark in die Hand verdienen wolle. Schramm war arbeitslos, er hatte nichts unter und nichts über der Haut. Er zögerte keine Sekunde. „In Ordnung, Meister.“
Der Meister fährt mit einem wackligen Lieferwagen Marmorplatten. Er braucht den jungen Burschen zum Hintendraufsitzen, zum Aufpassen. So kommt Schramm nach Spellhagen.
Was macht ein Bursche mit Löchern im Magen, wenn er auf ein Schloss kommt? Er hält sich an die Küche. Aber die Mamsell, ein feistes, altes Mädchen, kaum zusammenzuhalten von Fassreifen und hochnäsig obendrein, der reinste Aufguss der Baronin, rauscht auf ihn zu. „Was wollen Sie in der Küche, junger Mann? Uns schenkt auch niemand was.“ Schramm geht knurrend hinaus. Wenn ich dir mal was auswischen könnte! Fühlt sich als Steißbein ihrer Gnädigen …
Am Küchenfenster erscheint ein Mädchen: Augen wie brauner Samt, Mohnlippen, blauschwarzes Haargeflecht unter weißem Häubchen. Ihr Kopf winkt. Schramm steht steif da und starrt die Erscheinung an. „Stehen Sie nicht wie verhext! Nehmen Sie’s! Aber schnell weg vom Fenster.“ Das Märchenmädchen schiebt etwas flüchtig in Papier gewickeltes Fettiges heraus. Schramm greift zu, aber er fühlt sich außerstande wegzugehen, er steht da mit dem heißen Kotelett in der Hand und kann seinen Blick nicht von dem Mädchen lassen.
„Glotzen Sie mich nicht so an! Haben Sie kein Benehmen?“ Schramm schluckt. Dann sagt er schüchtern: „Sie sehen mich ja auch an.“
Das Mädchen schiebt eine Schulter mit schnippischer Bewegung vor. Dann knallt das Fenster zu. Schramm steht tief unglücklich da, er hält das triefende Fettige weit von sich, blickt auf seine Schuhe, die rissig sind, auf den linken Ärmel, den rechten, er rückt die Schultern an, aber die Arme werden davon nicht kürzer, sie ragen heraus wie frischgehobelte, kantige Leisten. Fürwahr – Staat ist mit mir nicht zu machen …
Aber er hat zehn Mark in der Tasche. Eine juckende Seligkeit! Er streicht um die Küche. Zäh verrinnen die Stunden. Endlich verlässt das Küchenmädchen am Abend ihren Platz. Schramm spricht sie an, und sie kann seine Bitte nicht abschlagen, mit ihm zum Tanze zu gehen.
„Ich heiße Otto. Und du?“
„Anna.“
Sie tanzen die Nacht durch, Schramm scheint es eine Ewigkeit. Er bringt sie nach Hause ins Nachbardorf. Ade, liebe Anna …
„Du musst bleiben, Otto.“
„Ich und bleiben? Wie denn? Wo denn? Mit was denn? Morgen geht’s wieder zurück.“
„Brauchst nicht zurück – wenn du nicht willst. Hab’ mir schon was ausgedacht. Unser Baron sucht einen Kammerdiener, Vadder Brisemann ist ihm zu klapprig. Aber du … du bist doch bei Kräften. Würd’s dem Herrn Baron schon beibringen …“
Schramm lacht. „Ich bin Schweißer. Ich kann nicht dienern.“ Anna sieht ihn lange von unten her mit ihren sanften braunen Augen an. Dem Burschen wird heiß, und als sie dann fragt: „Auch nicht mir zuliebe?“, da verspricht er, es zu versuchen. Er schreibt es seiner Mutter.
Der alte Baron von Stave beriecht den Burschen. Schlapp ist er nicht, denkt er, und anders wär’s auch nicht das Richtige. Blöd scheint er auch nicht zu sein. Wo käme ich hin, müsste ich ihm alles dreimal sagen? Freilich, übermäßig gesegnet hat ihn die Natur auch nicht, man sieht’s den Augen an. Gut so. Er wird gefügig sein, ein braver Bursche …
Der neue Kammerdiener bekommt eine neue Livree geschneidert, himmelblau und mit blanken Knöpfen, dazu die passende himmelblaue Melone. Auch Schuhe liefert der neue Arbeitgeber – abgetragene von Vadder Brisemann. Sie waren nie besohlt worden. Wozu auch? Die Löcher sind nicht zu sehen. Und wozu hat ein Kammerdiener Haut an den Füßen?
Schramm schließt sich in seiner Kammer ein, zieht die Montur über und stellt sich vor den Spiegel. Er übt, sich zu verbeugen. Er schämt sich unsäglich. Wenn mich bloß nicht die Kumpel mal so sehen. Ein Prolet Bücklingmacher! Ein Repräsentationsstück!
Der Baron ist ein früh zum Greis gewordener Mann mit einem Bauch wie ein Zweizentnersack Zucker und Wurstspeilerbeinen. Die Leute tuscheln, das käme von der Inzucht und allerlei Lastern. Er liegt im Bett. Das Aufrichten fällt ihm schwer. Er ruft: „Erich! Komm’ er her!“
„Jawohl, Herr Baron. Aber ich heiße Otto.“
„Verlangt er, dass ich mich umgewöhne? Er heißt hier Erich. Nun sag’ er mir, wo der Wind herkommt.“
Der Kammerdiener sieht zum Turm mit dem Wetterhahn. „Von Norden, Herr Baron.“
„Dacht ich mir’s doch“, ächzt der Alte. „Bring’ er mich ins Südkabinett.“
Der Baron hat den Windfimmel. Weht der Wind von Norden, will er ins Südkabinett, dreht er zurück, will er ins Nordzimmer. Das geht Tag und Nacht: „Erich – wo kommt der Wind her?“ Ein kotzdämlicher Windfimmel! Und der neue Kammerdiener, kräftig und geduldig, macht seine Arbeit brav.
Alle Schikanen sind vergessen, wenn er nur bei Anna sein kann. Sie hat dem Baron das Frühstück zu bringen. Darauf wartet der Kammerdiener. Er versteckt sich in der Bibliothek hinter den Regalen für einen Kuss auf einen Husch. Und Anna kommt, Kakao und feine Schnitten auf dem Tablett vor sich. Sie erschrickt und flüstert furchtsam: „Du sollst nicht hier auf mich warten, Otto, die gnädige Frau hat’s verboten, das weißt du doch. Musst du denn immer wieder in die Bibliothek?“
„Das muss ich, du liebe Hexe, schwarze. Oder soll ich in die Küche kommen? Mit der Mamsell zusammenrasseln? Schnell: Bekommst du frei?“
„Ja doch.“
„Also, dann am Lickweg.“
„Am Lickweg.“
„Noch einen Kuss!“
„Du sollst doch nicht hier.“
„Bis abends ist’s mir zu lange.“
Und der Bursche fasst vorsichtig nach ihrer Taille, sie hält das Tablett ängstlich weg, es zittert – o Gott, wenn’s bloß keine Scherben gibt! –, er beugt sich über ihre Augen, die erregt flackern, seine Lippen huschen darüber hin, sie suchen den Mund, küssen den Nacken.
Anna macht sich frei, sie ist wie mit Blut übergossen, sie läuft davon und flüstert noch an der Tür, sich umwendend: „Ich verbiete dir’s, ganz ernsthaft verbiete ich dir’s!“ Aber der junge Kammerdiener lacht still und setzt mit frechem Schwung seine Melone auf. „Was verbietest du, Anna? Das oder das?“ Er zeigt auf den Mund und mit ausholender Bewegung auf die Bibliothek.
„Beides!“ Und hinaus ist sie.
Der Bursche kümmert sich um beide Verbote nicht. Erst bleiben es die heimlichen Küsse, die ihn in den Raum treiben, der vom bitteren Geruch der Ledereinbände und des trockenen, abgelagerten Staubes erfüllt ist. Noch halten sich die Hände an das Verbot der Baronin, die Bücher zu berühren. Aber die Augen! Hinauf die Regale, herunter die Regale! Was steckt hinter den bunten Streifen? Was hinter den ledernen, die hoch unter der Decke stehen? Ihr Goldschnitt leuchtet, und der junge Schramm sieht in ihnen unerreichbare kalte Sterne. Hier bin ich – da sind sie. Dazwischen liegt das Verbot der Baronin.
Dann will die Hand doch hineinfassen. Er befiehlt ihr, unten zu bleiben. Aber es drängt sie, das Verbot zu durchbrechen, er kann nichts dagegen machen, sie hält sich nicht an seine Befehle, sie greift ins Regal und zieht hastig ein Buch heraus, ein dünnes nur, vielleicht damit die Sünde nicht zu groß ist …
Was stand eigentlich darin? fragte sich Schramm später und versuchte, die Erinnerung zu zwingen. Aber er gab es bald auf, da er sich eingestehen musste, nie gewusst zu haben, was er in diesem ersten Buch gelesen hatte. Oder hatte er nur geblättert? Zu hastig ging alles – wie ein unerwiderter Kuss. Damals bückte sich Schramm, um das Büchlein eilig zurückzustellen. Das Gesicht presste er dicht ans Regal, er schloss ein Auge, um mit dem anderen genau die Flucht zu visieren, damit das Eingeordnete auch ja ins Unauffällige untergehe. Dann richtete er sich aufatmend hoch.
Anna sagte er nichts. Wie konnte er! Sie wäre vor Angst gestorben.
Dann kommen Nächte mit ungeheuerlichen Erlebnissen. Kein Laut im Schloss. Nur draußen summt der Wind, die Nachtvögel jagen. Und er schleicht mit einer Kerze zu den Büchern.
Der Nachtwächter erzählt, im Schloss spuke es, er selber habe den Geist gesehen, ein heller Schein liege über seinem Kopf, bei Jesu, das unglückliche irrlichternde Freifräulein sei’s, die Gelbe Dame …
Schramm nimmt den Nachtwächter beiseite. Er beruhigt den alten Mann und spendiert ihm aus der Kiste des Barons ein paar Zigarren, damit er nicht versehentlich wegen der Gelben Dame ins Horn tute.
Fast jede Nacht tastet sich Schramm in die Bibliothek, erst wahllos lesend, in eine Ecke gedrückt, dann wählerisch suchend. Er wird kühner, bis er die Leiter anstellt und die Sterne erstürmt.
Da findet er „Rot und Schwarz“. Der junge Schramm glüht bei Julien Sorels Gedanken: „Er selbst empfand nur Hass und Abscheu gegen die hohe Gesellschaft, die ihn wohl duldete, aber in Wahrheit ganz unten am Tische, woraus sich vielleicht sein Hass und Abscheu erklären ließ. Bei einigen prunkvollen Diners konnte er nur mit Mühe den Hass gegen alles, was ihn umgab, zügeln.“
Schramm kann sein Geheimnis nicht mehr für sich behalten. Er nimmt das Buch unter die Jacke und bringt es mit zum nächsten Stelldichein am Lickweg. „Lies das, Anna, lies!“ Er zeigt ihr, was Julien Sorel denkt.
Anna liest. Ihre Augen werden weit vor Schreck. Sie klappt das Buch hastig zu. „Um Gottes willen, so etwas darf man nicht denken! Schon gar nicht sagen. Wir wollen doch heiraten, Otto!“
Schramm blickt erstaunt. „Begreifst du nicht, dass es für uns geschrieben ist? Dieses darf man nicht, jenes darf man nicht – aber die Herren, die dürfen alles! Das ist doch ungerecht! So kann man doch nicht leben!“
„Sprich nicht mehr so!“ Anna sieht ihn mit zornigen Augen an. „Wer so spricht, mit dem nimmt es kein gutes Ende.“ „Wir sind auch Menschen!“
„Ich treffe mich nicht mehr mit dir, wenn du nicht still bist. Versprich, nicht mehr in die Bibliothek zu gehen.“
Schramm kann es nicht versprechen, er senkt nur den Kopf und ist still. Anna gibt; sich zufrieden.
Die neue Leidenschaft lässt ihn nicht mehr los. Die Nächte gehören weiter den Büchern. Doch nicht alle. Denn wenn der Baron ins Südkabinett zieht, weil Nordwind weht, kann Schramm nicht in der benachbarten Bibliothek auf die Leiter steigen.
Und der verdammte Hahn knarrt und dreht sich nach Belieben. Schramm sinnt nach Abhilfe. Ob ich ihn öle? Dann hat er eine bessere Idee, und eines Nachts, als der Himmel verhangen ist, steigt der brave Kammerdiener in den Turm und von da hinaus zum Wetterhahn. Er bindet den Hahnenschwanz mit Draht fest auf Südwind. Danach wundert sich der Baron über die beständige Windrichtung, er fühlt sich geradezu gesünder werden. Und Schramm sitzt ungestört bei seinen Sternen.
Bis ihn die Gnädige erwischt. Aus der Traum mit der blauen Melone! Anna bettelt für ihn. Er darf auf dem Gute bleiben, als Landarbeiter. Er zieht in die Schnitterkaserne zu Strohsack und Blechschüssel und hängt als einziges Kleidungsstück, außer den Sachen, die er auf dem Leibe trägt, seinen ausgebeutelten Mantel auf den Nagel an der Wand.
Anna hält sich zurück. Sie sieht in ihm einen Hinabgestoßenen und begreift nicht, dass er in Wirklichkeit hinaufgestoßen wurde. Denn zu den organisierten Landarbeitern bleibt nur noch ein kleiner Schritt. Sie finden in ihm einen zuverlässigen Burschen. Er kämpft mit ihnen und wird ihr Genosse, bis ihn eines Nachts beim Zettelankleben der Schuss des Inspektors Wittfoot trifft. Er flieht zum Pfarrhaus. Dort wird mich niemand vermuten, denkt Schramm, und predigt der Pfarrer nicht Nächstenliebe? Er rüttelt an der Tür. Der Pfarrer öffnet. Er ist entsetzt.
Schramm bittet: „Herr Pfarrer, verstecken Sie mich!“
Pfarrer Beyerle windet sich. „Lieber Sohn, das geht nicht. Ich werde dich verbinden – o Gott, wie du blutest. Aber dann …“
„Zum Teufel, ich habe keine Wahl. Bei Ihnen bin ich sicher. Nur bis morgen …“
„Auch nicht bis morgen. Die Schrift lehrt, gib Gott, was Gottes ist, und dem Kaiser, was des Kaisers ist. Du hast die Hand gegen die Obrigkeit erhoben, du musst dich vor ihr verantworten …“
Beyerle verbindet ihn und heißt ihn aus der hinteren Gartenpforte davongehen. Der Gejagte kriecht in Lansfids Strohschober unter, wo ihn der junge Bauer findet.
Vierzehn Tage hält Lansfid den Kommunisten versteckt. Als Schramm endlich in seiner Heimatstadt untertauchen kann, schickt er Briefe: Komm her zu mir, Anna, irgendwie werden wir uns schon durchschlagen, aber komm, ich habe Sehnsucht nach dir! Alles wird sich finden, nur dass wir zusammen sein dürfen.
Nie erhielt er Antwort.
Ein eisiger Hauch wehte vom Haff herüber. Schramm fröstelte. Er zog die blaue Schiffermütze in die Stirn, rückte den dicken Schal ins Genick, kuschelte sich in der Joppe zurecht und ging auf die ruhende Stadt zurück, über der das rote Signal schwebte.
Hannes schlief längst. Aber sein Vater fand keine Ruhe. Der Baron erschien ihm: ein abstoßendes Bild. Dann kam Anna ins Zimmer. Sie trat vor ihn hin, vor sich das Tablett mit dem Frühstück, und Schramm sah sich ihre Lippen küssen und mit der Hand sacht ihre Brust streicheln.
Schramm seufzte tief auf. Erschreckt, wie ertappt bei unerlaubtem Tun, wandte er sich Hannes zu. Aber der schlief fest. Der Vater lächelte beruhigt und verspottete sich: Bist ein Esel, ein alter, hast schon ein graues Fell, aber im Kopf noch junge Flausen.
Endlich schlief er ein. Doch im Traum kamen ihm andere Bilder. Er sah wieder Robert Lansfid kommen und ihn in das Versteck auf dem Boden geleiten. Dann erschien erneut Anna, sie hielt seine Briefe in der Hand, und er hörte sich fragen, weshalb sie nie geantwortet habe. Und Anna schwieg steinern. Die Gestalten der alten Genossen traten vor ihn hin. Dann wieder hetzte ihn der Hund Hermann Kreeks vom Hof, der Baron fragte mit matter Stimme nach dem Wind, tausend Gesichter stiegen auf, bekannte und doch längst unbekannte. Und immer wieder erschien Robert Lansfid und schrie: Du hast mich im Stich gelassen!
Es war ein unerquicklicher Schlaf, ein Schlaf belastet von unbeantworteten Fragen, und als Schramm am nächsten Morgen vom energischen, laut im Flur hallenden Pochen des Nachtpförtners erwachte, fühlte er sich wie zerschlagen.
Hannes sprang, kaum dass der Wächter Ruhe ließ, aus dem Bett. Er machte einige Kniebeugen, die Arme in Vorhalte, lachte den Vater dabei an, dass sich in seinen Wangen die Grübchen drehten, und foppte ihn: „Optimismus, Vater, mehr Optimismus!“
Schramm knurrte ihn an: „Theoretiker.“
Robert Lansfid fand keinen Schlaf. Der Bauer lag reglos, die langen Arme steif auf das Deckbett gepresst, die Hände wie zur Abwehr geballt. Er starrte zur Decke.
Anna beobachtete ihn von der Seite. Warum quält der Mann sich so, dachte sie. Warum spricht er nicht? In jedem Frühjahr hat er seine unruhigen Nächte. In der Tenne ist bald der Boden zu sehen. Die Felder schlucken das Schneewasser. Sie trinken sich Kraft an und warten auf die Sommerung. Nun alles richtig einzuteilen ist Mannessache. Denn die Tage sind jung, sie springen weg, wenn sie nicht zeitig an der Leine liegen. Aber in diesem Frühjahr zwingt ihn anderes zur Schlaflosigkeit. Warum spricht er nicht mit mir, da nun das Unterste zuoberst und das Obere nach unten gedreht wird? Ich bin doch seine Frau. Wir feiern dieses Jahr die Silberne …
Anna seufzte auf. Lansfid hörte es nicht. Er stierte weiter auf das Lichtkaro über sich, das unbarmherzig grell den Nachtsamt zerriss, und ließ von hier aus seine Gedanken hinstürmen über die helle Brücke, die auf der Straße lag, bis hinüber zu den Männern, die im Gemeindebüro beisammensaßen.
Da sitzen sie wieder, dachte er, sie sitzen und glucken, wie sie mich zum Springen kriegen. Schon lange sind sie nicht mehr gekommen. Die Lust ist ihnen vergangen. Wozu habe ich Zähne? Aber sie werden wiederkommen, ich spür’s. Sie trauen sich nur noch nicht. Aber einmal werden sie sich wieder trauen in der Hoffnung, dass die Zähne locker geworden sind …
Dem Bauern war, als müsse er seine Kraft schon jetzt sammeln zu neuer Anstrengung, und langsam presste er die Luft aus der Lunge.
Anna hielt den Atem an. Ihr Blick tastete sein Gesicht ab. Sie suchte die Wege seiner Gedanken zu finden. Vertrau dich doch an, Mann! Was irrst du herum? Von Jahr zu Jahr sind wir uns fremder geworden. Was stößt du mich ins Einsame? Es ist kalt darin. Mein Herz friert. Ist mir das Blut eingetrocknet? Ich lebe wie tot neben dir. Hast du denn alles vergessen, alles, was zwischen uns war?
Oder war gar nichts zwischen uns? War alles nur Einbildung? Wir hatten nichts Gemeinsames. Nicht das Bett. Nicht den Tisch. Nichts.
Anna erschrak bei diesen Gedanken. Die Frau in ihr bäumte sich auf und flüsterte bebend: Aber wir waren doch glücklich, so glücklich wie Mann und Frau miteinander nur sein können. Wir hatten unsere Pläne. Unsere Hoffnungen. Sogar Träume. Warum haben wir sie nicht mehr?
Wir leben gut. Uns fehlt nichts. Wir haben sogar einiges mehr als das, was wir zum Leben brauchten. Wir sind wohlhabend.
Aber wir leben nur dahin.
Warum sind wir nicht glücklich?
Wir haben Kinder. Aber jedes, der Richard wie die Lore, geht seiner Wege.
Warum sind wir keine Familie?
Was ist an allem schuld?
Das starre Gesicht des Mannes blieb die Antwort schuldig. Anna sah es auf dem dicken Kissen schräg über sich liegen, groß, kalt, unnahbar: ein kühner Berg. Sie suchte sich eine tastende Frage zusammen und öffnete den Mund. Aber der Ton blieb ihr in der Kehle stecken.
Der Mann atmete tief ein. Annas Lippen, einst blühend, nun schmal gegerbt von den Enttäuschungen und den Jahren, schlossen sich langsam. Die kleine Frage kroch von der Zunge zurück. Der Berg blieb unberührt.
Robert Lansfid bemerkte nicht, was in der Frau vor sich ging. Er hatte verlernt, ihre Gedanken zu erkennen, und erst recht in dieser Nacht war er einsam und weit von ihr entfernt. Allein seine Widersacher beschäftigten ihn.
Was wollt ihr eigentlich von mir? fragte er sie. Der Mensch kann doch denken und rechnen. Wenn er’s nicht tut, ist’s seine Sache. Aber wenn er’s tut, ist’s auch seine. Und ich denke! Ich bleibe Herr meiner selbst, und wenn es tausendmal so ist, dass einer nach dem anderen vor euch umfällt.
An der Decke … die Lampenstrippen werfen Schatten. Quer übers Lichtkaro. So liegen meine Äcker in euren Schlägen. Du sagst, Kreek, es wären Messerschnitte im Tischtuch, und in ein Tischtuch gehörten keine Schnitte.
Ich will dir sagen, Kreek, weshalb du so verrückt bist. Du bist wild nach meinem Land, weil ich mal deins aufgekauft habe. Du kannst es nicht überwinden. Ich kann dir’s nachfühlen. Aber es war reell. Du hast gefordert, ich habe gezahlt. Es war zu wenig? Es war der Preis. Du warst verschuldet – nicht ich. Der Stärkere setzt sich nun mal durch, das ist ein Gesetz der Natur. Das war so, das ist so, das bleibt immer so.
Bist du überhaupt ein Bauer?
Säen kann man zur Not lernen, sogar aus Büchern. Und im Herbst nach den Kartoffeln grapschen kann sogar ein Städter. Das alles macht nicht den Bauern aus. Denn Bauer kann man nicht lernen. Bauer muss man sein. Ein Stück Natur ist der Bauer, gewachsen wie ein Baum, und alle deine Sinne sind eins mit der Natur.
Nach dem ersten Frühjahrsregen riechen die Kirschbäume bitter, dass dir’s Wasser im Munde zusammenläuft. Dann musst du am Lickweg die Sommerung reinbringen, sonst erntest du Stroh. Weißt du das, Kreek? Siehst du, das weißt du nicht. Und wenn du das wüsstest, so würde es dir auch nichts nützen, weil du die Gerüche nicht deuten kannst. Dir ist’s auch beim Drillen egal, aus welcher Richtung die Wildgänse übers Dorf streichen. Du weißt nicht, dass die Kühe von der Weide müssen, wenn in der Zieselschlucht die Mäuse pfeifen, weil‘s Wasser schon in den Löchern gluckst. Du wartest nicht mit der Heumahd, wenn der Wind salzig schmeckt.
Du hast damals schlappgemacht, weil du kein richtiger Bauer warst!
Der Mensch kann nicht dicker sein, als das Hemde sich spannt, Kreek. Darum soll man dir nicht was anhängen, wenn etwas schiefgeht. Jeder so gut wie er kann. Und ich lass’ dich doch in Ruhe. Darum lass auch mir meine Ruhe. Glaube doch nicht, dass die Lansfids sich gegen den Junker gehalten haben, damit du uns mit einem Tintenklacks kassieren kannst.
Weißt du überhaupt, was das heißt, sich zweihundert Jahre lang gegen den Junker zu halten? In all den zweihundert Jahren, die wir den Hof haben, waren wir im Leben der Staves die Galle, weil ihr Urahn einmal den Gnädigen gespielt hatte. Freispruch von der Leibeigenschaft, ein paar Morgen Land, ein paar Taler dazu für den Husaren Lansfid; bei Kunersdorf hatte er den verwundeten Obristen von Stave über die Oder gerettet. Das reichte als Grundstock für den Hof. Zweihundert Jahre lang versuchten sie die Gnade des Obristen rückgängig zu machen und unsere Wirtschaft zu fressen wie die meisten im Dorfe. Ein Gehöft nach dem anderen fiel. Bis unsere Felder mitten in den ihren lagen. Sie wollten tauschen, wir gingen nicht darauf ein. Sie ließen auf ihren Schlägen das Unkraut wuchern, damit der Samen herüberwehte. Wir kannten in diesen Unkrautjahren keine Nächte. Sie versuchten es mit Intrigen und Klagen, Versprechungen und Drohungen. Wir kämpften auf Leben und Tod – und leben.
Der Großvater erzählte: Ließ der Baron ein Vorwerk errichten, baute er sich einen Stall. Der Baron sollte sehen, dass wir da waren. Der Vater erzählte: Der Baron stiftete eine Kirchenglocke, wegen des Segens von oben und des Ansehens nach unten. Vater konterte mit einem Spanferkel für den Pastor. Und ich, als ich die Erbhoftafel bekam – ich baute die neue Toreinfahrt. Die Leute sagen, ich hätte die steinernen Pfosten bauen lassen, um ein bisschen an den Schlossturm des Junkers heranzureichen. Was die Leute reden! Und wenn’s so wäre, was ist dabei? Es ging gegen den Junker! Sollte er sehen, dass noch jemand da war, der nicht dienerte!
Ihr wart doch auch gegen die Junker. Ihr mit eurer Partei vorneweg habt sie doch davongejagt. Und wer hat damals seine Braunen angespannt, damit die Grenzpfähle herauskamen? Ich, Lansfid! Ihr hattet ja nicht mal ’nen Gaul. Der Levverkuhl, euer dicker Gemeinderat, der fuhr die Pfähle nicht. Der hatte seine Gründe dafür. Wie könnte so einer seinen Junker vergessen? Aber ich mache kein Hehl daraus, wie’s mich gefreut hat, gefreut bis zum Bauchnabel, als die Pfähle geschlagen wurden. Immer rin ins Junkerfleisch, immer rin! Und gesoffen haben wir abends im Schloss, im Remter, oder nicht? Von meinem Selbstgebrannten, von mir spendiert! Und ich habe in dieser Stunde was gepfiffen darauf, dass sie mich wegen der Brennerei einlochen könnten.
„Prost Bauern! Auf das freie Bauerntum.“
Einer stieß nicht an. „Ich war schon mal freier Bauer, nicht? Bis du mich geschluckt hast!“ Du hast das gesagt, Kreek. Es brannte mir wie ein Peitschenhieb. Aber hätte ich dich nicht aufgekauft, so wärst du dem Junker verfallen – für dich auch nicht besser.
Aber ihr anderen, ihr da im Gemeindebüro, ihr habt mit mir angestoßen. Habt ihr vergessen, was? Wie war denn das in den ersten Jahren, Kreek, wer kam denn und bettelte: „Ach, Robert, hast du nicht ’ne Mütze voll Saatgut?“ Das warst du doch wohl, Kreek! Und jetzt willst du mir die Pistole auf die Brust setzen. Und wer stand in meiner Türe und drehte am Jackenknopf und jammerte: „Meine Kühe schaffen’s nicht am Lickweg, borg mir deine Braunen für ’n paar Stunden.“ Das warst du doch wohl, Nies. Und jetzt willst du mir in den Rücken fallen und beim Kreek mitmachen. Und für wen habe ich das Soll mitgeliefert, wenn ihr nicht hinten hochgekommen seid? Für euch alle samt und sonders habe ich das getan, verflucht noch mal!
Robert Lansfid konnte seine Erregung nicht mehr zurückhalten, er hob die hölzern lang gestreckten Arme spannweit an und schlug sie heftig nach unten, dass es im Bettgestell knarrte.
Anna zuckte zusammen. Sie sah seine Züge nicht, aber sie wusste, wie es im Gesicht des zornigen Mannes arbeitete, wie die Lippen sich pressten, die Augen schmal wurden, der Stirnmuskel die Haut mit dem spärlichen Brauenhaar über den Jochbögen zusammenzog.
Sonst funktioniere ich wie eine Schlafpuppe, dachte Anna. Kaum liege ich lang, klappen die Augen zu, abgerackert wie man ist. Aber dieses Ungewisse stiehlt einem den Schlaf. Wenn der Mann doch reden würde!
Lansfid stöhnte auf. Unverändert stand das Karo an der Decke. Er hörte auf die Würmer im Holz. Der Hund winselte. Das schienen ihm dröhnende Geräusche.
Endlich fasste sich Anna und sagte mit spröder Stimme: „Sie sitzen noch immer.“
Der Bauer starrte unverwandt nach oben. „Ich denke, du schläfst?“
„Ich hörte dich. Ist dir was?“
Einen Augenblick lang wandte er sein Gesicht der Frau zu. Dann sah er wieder zur Decke. Was hat sie nur? überlegte er. Sie sollte vernünftig sein und schlafen, die Last des Tages ist schwer genug für ihre Schultern, sie schrumpft mir immer mehr zusammen.
Plötzlich war das Karo weg, das Zimmer versank im Nachtdunkel. Lansfid fuhr unbeherrscht hoch, als könnte er den Lichtschein zurückholen. In seinem Kopf hatten Gedanken an die Frau neben ihm keinen Platz mehr, sie wurden verdrängt von der trommelnden Sorge: Solange sie zusammensaßen, haben sie nur geredet, aber nun werden sie handeln. Und morgen oder übermorgen oder irgendwann stehen sie vor dir, Lansfid, und du musst dich wehren. Was wirst du ihnen sagen? Überlege es rechtzeitig!
„Was hast du?“, fragte die Frau.
„Ich sehe nach dem Vieh. Es ist unruhig.“
Nicht das Vieh ist unruhig, dachte Anna, du selber bist die Unruhe und rennst damit in den Stall, um mit den Tieren zu sprechen. Aber sie antworten nicht. Sprich doch mit mir!
Mit einem Ruck drehte sich der Bauer aus dem Bett. Er angelte nach den Latschen, stand auf und zog sich an. Dann ging er aus dem Zimmer.
Anna sah ihm nach. Ihr Herz, eisernen Rhythmus gewöhnt unter der Arbeit, pochte erregt, da sie sich befahl: Wenn der Bauer nicht mit dir über die Genossenschaft spricht, dann musst du’s mit ihm tun. Und sagen musst du: Entscheide dich, Robert!
Noch einen anderen hatte das erleuchtete Fenster des Gemeindebüros in Unruhe versetzt: Willi Plust, Landarbeiter bei Lansfid, ein untersetzter, kräftiger Bursche mit einem Kopf glatt und rund wie ein junger Kürbis, hatte am Fenster gelauscht. Die Spellhagener nannten ihn „Plusterken“. Das war eine gutmütige Anspielung auf die Einfalt, die man ehemals dem Jungen nachsagen musste. Diese Einfalt war in den letzten Jahren einer naiven Schläue gewichen. Doch der Name hielt sich.
Plusterken war vier Jahre alt, als er um die Weihnachtszeit des letzten Kriegswinters mit seiner Mutter im Treck nach Spellhagen gekommen war. Sie war nach zwei Jahren gestorben. Bis dahin hatte sie bei Lansfid gearbeitet, soweit es die Kräfte zuließen. Dort hatten sie auch ihre Kammer.
Damals rührte sich Annas Mutterherz, sie fragte ihren Mann, ob der Junge nicht bleiben könne.
Der Bauer hatte sie darauf mit strengen, ein wenig erstaunten Blicken angesehen und erklärt, dass es doch ihre Pflicht sei, sich des Jungen anzunehmen.
In diesen ersten Nachkriegsjahren spürte der Bauer wie ein Baum im Frühling die Säfte in sich emporschießen, er reckte sich, schritt breiter und fester denn je daher, erfüllt von einem hohen Gefühl, und obwohl manch anderen die Tage grau schienen, Lansfid war zuversichtlich. Bei allem Schweren dieser Jahre: manchmal lachte er auf, wie ihn Anna seit langem nicht mehr lachen gehört hatte. „Was staunst du mich an, Anna? Begreifst du denn nicht: Unsere Zeit ist heran! Die Zeit der Landsfids!“
Lansfid sah unter den neuen Bedingungen seine Wirtschaft wachsen, ständig hatte er die Äcker vor Augen, die er zukaufen wollte, um ein wirtschaftlich Rundes zu erreichen. In den Nachtstunden saß er über den schweren Schreibtisch seines Herrenzimmers gebeugt, und wenn Anna nach Mitternacht besorgt vor ihn hintrat und ihn zur Ruhe bat, hielt ihr der starke Mann mit seinen großen, geröteten Händen seine Träume hin: Skizzen für moderne Wirtschaftsgebäude. „Sieh dir das an, Anna! So wird der Rinderstall gebaut. Da ist die Melkanlage. Da die Futterküche. Alles elektrisch! Wie kannst du von schlafen reden, wenn das Leben gerade beginnt.“ Damals meinte Lansfid zu wissen, dass er eine glückliche Entscheidung getroffen hatte, den Jungen der fremden Frau im Hause zu behalten. Denn seine Pläne, für Jahrzehnte berechnet, brauchten Hände, viele Hände. Er sagte sich: Den Kopf gebe ich selber dazu, auch die eigenen Hände. Aber sie und die Hände der Frau und der Kinder reichen nicht. So ist es gut, andere im Hause heranwachsen zu lassen. Es wird sich auszahlen. Bäume brauchen ihre Jahre, bevor sie tragen.
Selbst als Lansfid mehr und mehr erkennen musste, dass ihm der Weg ins Große verlegt blieb, und er seine Träume still, mit zusammengekniffenen Lippen, einzurollen begann, war er froh, den kräftigen Burschen auf dem Hofe zu haben.
Doch in den letzten Wochen spürte Lansfid, dass ihm Plusterken aus der Hand zu gleiten begann. Er sah mit nüchternem Blick: Der Junge schielt zu Kreek! Wie soll ich ihn da noch halten können? Ich müsste ihn halten, Teufel eins, aber wie kann ich das? Wenn der Bock springt, kannst du dir’s Lammen ausrechnen.
Mitte Februar las Plusterken im Gemeindekasten, dass die Gemeinderäte über „Die Vollgenossenschaftlichkeit unseres Dorfes“ beraten wollten. Er fragte sich: Was wird aus mir? Lansfid hat Land. Ich habe keines. Vielleicht kriegen sie es fertig und treiben Lansfid in die Produktion. Was mache ich dann? Weiter bei ihm arbeiten? Gibt’s denn das, dass ein Kollektiver einen Landarbeiter hat? Oder nehmen sie mich auch? Und wenn sie Lansfid nicht kriegen? Bei wem komme ich dann besser weg, bei Kreek oder Lansfid?
An diesem Abend der Gemeinderatssitzung hatte Plusterken seine Arbeiten eilig beendet, um am Fenster des Büros lauschen zu können. Doch hatte ihm das keine Antwort gebracht. Er war enttäuscht.
Nun, da im Gemeindebüro das Licht erlosch, schwang er sich über die niedrige Mauer in den Hof des Pfarrhauses, wohl wissend, dass Pfarrer Beyerle keinen Hund besaß.
Die Tür des Gemeindehauses öffnete sich, Plusterken sah nicht, wer herauskam, aber er spürte in der Nase ein feines Kribbeln. „Maienstolz“ – die Hausmarke vom Kneipier, stellte er genießerisch fest und schloss die Augen. An der Theke nicht zu haben, hat der Kneipier im Schlafzimmer, dachte er und wusste ohne hinzusehen, dass sie der Bürgermeister rauchte. Aber warum geht der als Erster? fragte er sich. Er muss doch abschließen.
So ein Bürgermeister hat’s gut, überlegte Plusterken weiter. Anders als unsereiner. Unsereiner muss dem Kneipier ’nen Sack Körner ranschleppen für seine heimlichen Mastgeschichten, für die er Geld schindet. Erst dann kriegt man mit den paar Scheinen ’ne „Maienstolz“. Aber ein Bürgermeister braucht nur was zu genehmigen und einen Stempel zu riskieren. Schon ist der Kneipier spendabel.
Plusterken schmatzte vor Lüsternheit. Dann hörte er, wie einer laut ausspuckte und wusste: Das ist Levverkuhl. Genauso spuckt er politische Bogen. Dem bringt die Politik was ein. Hat schon zwei Autos. Was braucht der Mensch zweie, wo er doch nur einen Hintern hat? Aber er hat sie! Wär’ ich Bürgermeister, ich würd’ ihm mit einem Paragrafen eins überziehen und ihm ein Auto wegnehmen.
Plusterken hörte die anderen in die Nacht treten. Sie stritten sich. Er schob seinen Kopf an der Mauer hoch, blickte hinüber und registrierte: Da ist der Vorsitzende Kreek. Der ist wütend. Wie er seine Mütze über den Kopf wichst! Der Bürgermeister ist vor ihm ausgekniffen, nichts Neues. Lehrer Kunzelmann schabt sich die Backe. Partei-Pandukeit krächzt wie ein Pumpenschwengel. Der Abevauer schließt ab …
„Ich stecke in niemandem drin!“
Der Bürgermeister!
„Unser Glück! Sonst brauchten wir überhaupt nicht weiterzumachen.“
Der Vorsitzende stinkt vor Wut!
„Du bist ein Radikalinski, Kreek! Du wirst einen Lansfid nie kriegen. Und mich dann auch nicht!“, hörte Plusterken Levverkuhl sagen.
„Beim Lansfid weiß man wenigstens, woran man ist“, antwortete Kreek. „Aber bei dir? Redet rot und handelt schwarz! Sechs gute Bauern treten ein. Aber du? Schöner Gemeinderat! Schönes Vorbild! Anstatt an der Spitze zu stehen.“
„Ich komme schon – aber erst Lansfid.“
„So redet ihr alle, ihr Großbauern. Einer reicht uns zum anderen und der letzte zum Lansfid.“
„Ich bin Mittelbauer, verstehst du! Kein Kulake.“
„Die Gesinnung macht’s.“
„Ach nee – du bist mir ein schöner Marxiste, verwechselst die Gesinnung mit den Hektarn!“, sagte Levverkuhl höhnisch und dann leutselig: „Also abgemacht: Ich springe, wenn euer Meisterbauer springt.“
Kreek konnte nicht an sich halten. „Weißt du, was du bist? Ein Feind bist du! Jawohl, ein Feind! Scheinheilig bis auf die Knochen. Versteckst dich hinter Lansfid. Und in Wirklichkeit kannst du ihn nicht riechen.“
„Kannst du’s denn? Du hast allen Grund, dich aufzuregen“, höhnte Levverkuhl und fügte drohend hinzu: „Und das andere will ich nicht gehört haben, sonst sitzt du morgen, mein Lieber.“
Plusterken hörte Kreek fluchen und dann den alten Pandukeit krächzen: „Schluss damit. Auf der Straße wird keine Wäsche gewaschen.“
Die Männer gingen in die Nacht. Plusterken löste sich von der Mauer und schlich durch die Gärten davon.
Ihn trieb es in die Flur, wo jedes seine Stimme hatte, Findling und Baum, Himmel und Erde, und er sah hinter den faserigen Wolken den Mond steigen. Da setzte er sich auf einen Stubben, strich den Mantel straff über die Knie, zog sie dicht an den Körper, legte die Arme darum und wandte sich ihm zu. Sein rundes Gesichtchen leuchtete nun unter dem kalten Silber, als wäre es selber ein kleiner Mond.
Plusterken sprach seinen Freund in Gedanken an: Ach Mond – mancher sieht dich nicht. Vielleicht hat er’s nicht nötig. Er hat seine Mutter. Einen Vater, Geschwister. Oder – eine Frau.
Aber ich sehe dich. Mit wem soll ich sprechen, wenn nicht mit dir? Die Frau Lansfid ist gut, aber sie ist die Bäuerin. Die Lore? Unerreichbar. Und wenn sie mich wollte, wie ich sie will – der Bauer lässt das nie zu. Nie! Wenn sie wenigstens merken würde, dass ich nur ihretwegen bleibe. Sie ist schön. Und gut. Aber sie weicht mir aus. Nicht einmal mit den Tieren kann ich sprechen. Sie parieren auf „hü“ und „hott“ – doch sie gehören Lansfid, und der Bauer spricht mit ihnen.
Sage mir: Was soll ich tun? Bei Lansfid bleiben? Mir steht’s bis zum Kinn. Wenn’s ans Arbeiten geht, bin ich sein Sohn, ich muss ran, als wär’s mein Eigen. Aber es ist nicht meines, es ist seines. Der Richard hat sein Motorrad. Ich habe keines. Ich werde auch nie eins bekommen, nicht vom Lansfid geschenkt, schon gar nicht zusammengespart. Denn geht’s ans Bezahlen, bin ich nicht sein Sohn. Dann zählt der Tarif. Landarbeitertarif. Was soll ich tun, Mond?
Plusterken hielt sein Gesicht dem stillen Freunde zugewandt, die Augen weit geöffnet, und versuchte, sich über sein Leben klar zu werden. Ab und zu seufzte er tief auf. Dann spürte er den Frost am Körper hochklettern, er stand auf, bewegte die Zehen und steckte die klammen Fäuste in die ausgebeutelten Taschen. Einem plötzlichen Entschluss folgend, eilte er mit schnellen Schritten ins Dorf zurück. Was habe ich schon vom Leben? fragte er sich bitter. Ich muss sehen, wo ich bleibe. Bei Lansfid? Oder in der Produktion? So oder so, wer mehr bietet, soll mich haben.
In Lansfids Schlafzimmer flammte für einen Augenblick Licht auf. Plusterken sah das von weitem. Drückt dem Bauern die Blase? überlegte er. Oder hat er auch gehorcht, und ich hab’s nicht gemerkt? Aber der Bauer würde das doch nicht tun …
Die Neugierde trieb ihn, und als er vor dem Gehöft seines Bauern stand, schwang er sich über den schmiedeeisernen Zaun in den Vorgarten. Da rief eine Stimme: „He – was suchst du da?“
Der Bauer! Plusterken tastete erschreckt zur Wand. „Ich sehe nach, ob der Wein schon treibt.“
Lansfid trat aus dem Dunklen auf Plusterken zu, packte ihn am Oberarm und drohte mit der anderen Hand. „Ich werde dir’s treiben, ins Gesicht treibe ich dir’s, Spionierer du!“ Plusterken duckte sich und blickte zu Lansfid auf. Er sah seinen Mund schmal werden und dachte: Wenn du wütend bist, darf man bei dir nicht Langholz quer fahren. Aber heute? Eins drauf kriegst du, Bauer! Noch bin ich unter dir – aber ich kann ebenso gut neben dir sein. Das liegt doch bei mir! Und so sprach er gedehnt, und die Worte schmeckten ihm wie Honigfäden, die vom Finger geleckt werden: „Schlagen darfst du nicht, das ist verboten, die Gewerkschaft würd’ dich vornehmen. Und ob du mich treibst, ist gar nicht gesagt. Dich werden sie treiben – mit ’nem Mähdrescher, immer vorneweg. Das Rennen wirst du kriegen! Das weiß ich vom Büro.“
„Halt den Schnabel“, herrschte Lansfid ihn an, gab aber den Arm frei. Plusterken rieb die Stelle, wo der Bauer zugefasst hatte.
„Was sind das für Andeutungen?“, fragte Lansfid, schon weniger barsch. „Was weißt du? Raus mit den Körnern!“
„Körner hin, Körner her.“ Plusterken schaukelte mit dem Kopf.
Lansfid spürte, dass der Bursche es darauf anlegte, zu triumphieren, und er dachte: Wenn ich bloß nicht auf den Kerl so angewiesen wäre, das Fliegen würde ich ihn lehren. Aber ich muss erfahren, was sie im Büro besprochen haben. Wo gibt es so was, dass der Knecht mehr als sein Bauer weiß? „Nun rede schon“, forderte er ungeduldig.
„Im Büro haben sie allerhand erzählt“, begann Plusterken breit zu spinnen. „In Uhlenshagen hat einer den Kopf in eine Schlinge gesteckt. Das andere Ende hing dummerweise an ’nem Dachbalken. Als sie ihn abschnitten, war er noch warm, und als sie ihn hinlegten, hat das eine Auge noch geplinkert. Aber dann ist er auch noch auf diesem Auge gestorben. Er konnt's eben nicht übers Herz bringen, sein Eigen wegzugeben.“
„Quatschkopf!“
„Na dann kann ich wohl gehen.“
„Hiergeblieben, sage ich. Was hast du noch gehört?“
„In Stutensid ist auch einer aus Gram gestorben, weil er vergesellschaftet werden soll. Der Merret war’s.“
„Gequassel! Der war schon achtundachtzig, der wäre sowieso hin.“
„Sage das nicht. Soll-Agathe hat’s erzählt, und die stimmt nur auf ihren Beinen nicht.“
„Was, die war auch im Büro?“
„Habe ich das gesagt? Nun lass mich.“
Der große, starke Mann Lansfid blickte unschlüssig auf den untersetzten Burschen hinab. Was soll das Gerede? Wo will er hinaus?
Plusterken griente. Lansfid musste an sich halten. Er zwang sich zu einem ruhigen Ton und versuchte, seiner Stimme einen gleichgültigen Klang zu geben: „Fiel etwa mein Name? Könnte ja sein, nicht wahr?“
Plusterken tat, als müsste er überlegen, und sagte dann: „Nun ja – aber nur ab und zu. Sie sagen, du würdest eines Tages von ganz alleine in Kreeks Produktion wollen.“
„Da können sie lange warten. Kannst du dir denken, dass ich zu Kreuze krieche?“ Lansfid lachte trocken. Wenn sie weiter nichts hoffen! Anscheinend weiß der Bengel wirklich nicht mehr. Und väterlich fügte er hinzu: „Nun geh schlafen, Plusterken. Morgen ist ein langer Tag. Wir fahren Mist.“
Aber Plusterken blieb. Der Bauer blickte ihn argwöhnisch an. Da sagte der Junge auch schon: „Wenn du nicht in die Produktion willst, Bauer – wer schreibt mir vor, dass ich nicht gehe?“ „Was? Du?“ Lansfid war überrascht. Er musste lautauflachen. Doch als er die Augen des Jungen lauernd auf sich gerichtet sah, brach der alte Zorn in ihm auf. „Geh doch! Geh nur! Du zertrampelst mir mehr, als du einbringst. Nur aus Barmherzigkeit hält man dich, man steckt’s dir rein, weil die Bäuerin ’nen Narren an dir gefressen hat. Geh nur!“
Diese Wendung hatte Plusterken nicht einkalkuliert. Er begann zu handeln: „Man könnte ja mit sich reden lassen. Sagen wir: ’nen Fuffziger die Stunde mehr, und Willi Plust bleibt.“
„Verschwinde!“
„Oder ’n paar Sack Weizen nach der Ernte.“
„Hau ab!“
Plusterken schlich wie geprügelt davon und fragte sich, was er wohl falsch gemacht hätte. Doch an der steinernen Vortreppe, die vom Hof zum Flur führte, hielt er inne. Ich habe ja noch einen Trumpf! Warum soll ich ihn nicht ausspielen? Vielleicht sticht der! Warum soll er nicht stechen?
Er zauderte einen Augenblick. Dann war er entschlossen. Erst schritt er eilig, dann wie schlendernd zum Vorgarten zurück, wo Lansfid noch stand, und sagte betont gleichgültig: „Wenn dich das interessiert, Bauer: Da kommen Leute aus der Stadt, lauter Geschulte, sagen sie. Die fackeln nicht.“ Lansfid runzelte die Stirn. „Wer kommt?“ „Agitatoren. Arbeiter. Da wird’s lustig, meint Kreek.“ „Na und? Lass sie doch! Zu mir kann jeder kommen, wenn er ehrliche Gedanken hat. Oder kennst du das anders? Du zum Beispiel hast keine. Du willst mich erpressen. Schöne Dankbarkeit von dir! Nun ja, jedem ist sie nicht gegeben. Aber bei mir kommst du damit nicht durch, Freundchen. Nun geh. Und merke dir: Wer von meinem Tisch isst, den seh’ ich mir genau an. Ganz genau!“
Plusterken fand nicht mal mehr den Mut zum Gutenachtgruß. Er stieg im Flur die Treppe hinauf zum Boden, wo es süß nach Sämereien und dumpfig nach Korn roch, das breit aufgeschüttet lag, und tastete sich in dem schmalen Gang, den das Getreide ließ, zu seiner Kammer. Er vergaß seine Angewohnheit, zum anderen Giebel des Bodens zu gehen und an der Kammer zu lauschen, um ungestört Lores Atemzüge zu hören und sich dem Ahnen hinzugeben, wie die heimlich Angebetete im Schlaf lag. Er warf sich in seiner Kammer mit dem Rücken aufs Bett und suchte wieder Zuflucht bei seinem Freund, der nun schon hoch über dem Zieselwald stand. Sage mir, was habe ich falsch gemacht …
Robert Lansfid blieb im Innern nicht so gleichgültig, wie er sich vor Plusterken gegeben hatte. Die Unruhe des Abends loderte nun noch stärker auf. Er versuchte zwar, sich zu beruhigen, und sagte sich: Was ist dabei, wenn Agitatoren kommen? Du hast ein gutes Gewissen, du hast stets dein Soll erfüllt, du hast die Gesetzlichkeit geachtet. Du hast nichts zu befürchten.
Es ist die Nacht, die einem die Unruhe ins Blut treibt, versuchte er sich einzureden. Am Tage sieht die Welt anders aus.
Doch die mühsam niedergezwungene Unruhe brach danach mit noch stärkerer Wucht hervor. Arbeiter kommen! Lansfid presste die Lippen aufeinander und schloss die Augen, als könnte er sich so alles besser vorstellen. Mit einem Kreek, mit einem Bürgermeister wie Krüger wirst du noch fertig.
Aber nun sei auf der Hut!
Als Anna den Mann mit Plusterken streiten hörte, richtete sie sich auf. Sie blickte, alle Sinne gespannt, zum Fenster, hinter dem fahl der unruhige Februarhimmel stand, und versuchte die Worte der Streitenden aufzufangen. Sie blieben ihr ohne Sinn.
Dann verstummte das Gespräch. Anna verharrte in ihrer Stellung, die Linke aufgestützt, die Rechte wie zum Schutz auf das Brustbein gepresst. Sie fühlte in ihrem Hals das Blut beben.
Was ist nur mit dir, lieber Mann? dachte sie bangend. Ich blicke zu dir auf, und du verlässt deine Höhe und streitest dich sogar mit einem Jungen, den du nicht einmal für voll nimmst. Hast du das nötig? Und wie kommt das? Warum vergibst du dich?
Aber zu mir wirst du immer schweigsamer.
Hat etwa beides die gleiche Ursache? Und welche? Ist es, dass du unsicher geworden bist?
Hast du unser Leben nicht mehr in der Hand?
Aber warum nicht?
Anna wandte sich dem Kopfkissen im Bett des Mannes zu und blickte auf die Mulde, die sein Haupt eingedrückt hatte, die schweigende und doch so beredte Spur eines Menschen, noch warm von ihm, und sie sah sein Gesicht daraus wachsen, die hohe Stirn mit den vorspringenden Jochbögen, eingefasst vom durchgrauten kurzen Blondhaar, auch die herrisch blickenden grauen Augen, die schmalen, nach unten gezogenen Lippen, das eckige Kinn, die kräftige, leicht gekrümmte Nase, die seinem Gesicht den Ausdruck von Willensstärke und Kühnheit gab.
Plötzlich sah Anna dieses Gesicht sich aufrichten und jung werden, unwahrscheinlich licht. Die Haut glüht wie von innen leuchtend, die Haare sind strahlender Weizen, die Augen Wolken, die dem Zorn und der Sonne befehlen, wie es ihnen gefällt; und es gefällt ihnen zu lachen, und mit ihnen lacht der Mund, der Mund einer jungen Bauerngottheit in einer Mittjulinacht, die unterm schweren Geruch des Kornes zittert und darüber nicht schlafen kann. Unsere Hochzeitsnacht …
Anna schloss die Augen. Sie sah sich neben diesem Gesicht: jung, straff, brennend. Der Brautschleier ist abgetanzt. Sie stehlen sich vom Gejohle der Hochzeitsgesellschaft weg und jagen mit der offenen Kutsche in die helle Nacht.
„Lass mich fahren! Ich will fahren, Robert!“
„Wo willst du nur hin? Verrückte Idee von dir …“
Die junge Frau ist loderndes Feuer, sie reißt dem Manne die Leine aus der Hand und schlägt auf die Pferde ein, sie fliegen mit dem leichten Wagen über die Wege, die Gebüsche springen beiseite, die Bäume heben ihre Dächer, die Steine zermahlen unter den stählernen Reifen, bevor sie den rasenden Flug stören können.
„Was du nur willst, Anna! Bist wirklich verrückt!“
„Im Korn will ich liegen, in meinem Korn!“
Am Lickweg endet das Rasen. Schaum steht den Pferden, die Flanken beben. Der Mann schwingt sich vom Bock. Sie springt ihm in die Arme und zieht ihn ins Korn.
Verlangen kommt in dem Manne auf. Seine Hände sind heiß. Aber Anna ist plötzlich ruhig und kalt. Sie hält die Augen weit geöffnet und sieht an ihm vorbei in die Sterne, und es scheint ihr, dass sie mild und gütig lächeln. Sie weiß den Mann bei sich, aber sie spürt ihn nicht, sie liegt da wie erlöst, die Arme breit gestreckt, die Finger locker gespreizt, und all ihre Gefühle fließen in diese Finger zum lustvoll zärtlichen Tasten nach den knisternd reifen, erntemüden Halmen. Mein Korn …
Anna, erregt vom Nacherleben ihrer ersten Nacht als Bäuerin, atmete schwer. Dann lösten sich ihre Gesichtszüge. Sie öffnete die Lider, die Bilder zerflossen, sie sah vor sich das eingelegene Bett des Mannes und strich darüber hin.
War es vielleicht das, fragte sie sich, dass ich dem Manne nicht gab, was ihm zustand?
Anna hielt in der Bewegung inne. Dann schüttelte sie den Kopf. Das kann es nicht sein, redete sie in Gedanken ihren Mann an. Ich gab dir, was dir zusteht, und wenn es in der ersten Nacht nicht voll war, so doch später.
Aber was ist es dann? Sind es die Kinder?
Ich habe dir einen Erben geboren, einen Erben dir wie aus dem Gesicht geschnitten. Ist es nicht so, lieber Mann? Du selber hast gesagt, dass Richard ein Lansfid ist. Immer hast du das gesagt. Bis in die letzte Zeit hinein. Kann die Mutter denn schuld sein, wenn er plötzlich aus der Art schlägt, wie du nun sprichst?
Eine Tochter habe ich dir geschenkt. Du hast sie verhätschelt, weil sie mir gleicht. „Meine junge Anna!“ ist deine Rede. Ich habe mein Lebtag nicht so viele Kleider gehabt, wie Lore sie von dir bekam. Auf Schule musste sie gehen! Und nun? Nun wunderst du dich. Aber bin ich denn schuld daran?
Du hast unser Leben nicht mehr in der Hand, deines nicht, meines nicht, das der Kinder nicht, lieber Mann.
Warum nur nicht?
Anna ließ sich langsam in ihr Bett zurückfallen. Sie fror plötzlich, zog das Deckbett bis zum Kinn und kreuzte darunter die Arme, dass die Hände wärmend auf den Halsansatz zu liegen kamen.
So lag sie todmüde, im Halbschlaf noch grübelnd, ohne Antwort zu finden, bis Lansfid wieder still in die Stube trat. Er zog sich aus. Sofort war Anna hellwach. Ich muss ihn sprechen, redete sie sich zu, ich habe mir’s doch vorgenommen. Ich muss ihn sprechen, wegen der Produktion und allem anderen …
Sie fühlte die Zunge trocken werden. Die Worte kamen stockend: „Hattest du Streit?“
Lansfid drehte sich ihr zu. „Du schläfst noch nicht?“
„Ich kann nicht schlafen, wenn du Sorgen hast.“
„Woher weißt du, dass ich Sorgen habe?“, fragte der Mann verwundert. Er ordnete seine Sachen und sagte leise: „Ich habe keine Sorgen. Und wenn ich welche hätte, dann wären es Männersorgen.“
Anna schloss unwillkürlich die Augen, denn obwohl das letzte so leise wie alles andere gesprochen war, so hatte es doch den unduldsamen Klang wie alle seine Anweisungen. Meine Sorgen sind Männersorgen …
Lansfid versuchte noch über die Unruhe der Frau nachzudenken, aber doch nur einige Atemzüge lang. Dann war das andere wieder da, es trommelte auf ihn ein und drückte ihm jeden anderen Gedanken aus dem Kopf.
Er warnte sich: Überlege alles rechtzeitig, Lansfid! Es wird ernst!
Der Vorsitzende Hermann Kreek war Ende der Zwanzigerjahre zum ersten Male nach Spellhagen gekommen. Der Vater, Bergbauer im kargen Sauerland, hatte ihm geraten, ins Mecklenburgische zu machen. „Lass dir vom Ältesten auszahlen, Junge, und siedle.“
Siedeln! Eine eigene Wirtschaft haben!
Die Siedlung war schnell gekauft, spottbillig, wie es schien, und Kreek und seine junge Frau schonten sich nicht, die verwahrlosten, ausgehungerten Äcker in Ordnung zu bringen. Aber der Mensch hat nur zwei Hände und der Tag vierundzwanzig Stunden. Drei Ernten konnte Kreek aus dem Boden quetschen. Dann flogen ihm die Glieder.
Landarbeiter vom Gut kamen. Sie gaben ihm eine Zeitung mit dem Bauernprogramm der Kommunistischen Partei und redeten auf ihn ein: „Du machst dich doch fertig, Hermann, dich und deine Frau dazu. Du bringst deine paar Morgen in Schuss, und dann kassiert sie der Junker.“
„Redet mir nicht in den Kram!“, fuhr Kreek sie an. „Ich weiß, was ich will.“
„Weißt du das wirklich?“
„Wollt ausgerechnet ihr mir Vorschriften machen? Habt selber nichts hintendrauf!“
Ein Wort gab das andere, bis Kreek die Landarbeiter mit dem Hund vom Hof jagte. „Kommunistenpack! Hetzer! Steckt euch euer Programm an den Hut! Lasst euch ja nicht mehr blicken!“
Kreek schuftete weiter. Aber nach der folgenden Ernte war er am Ende.
Inspektor Wittfoot erschien. „Na, Kreek, wollen Sie verkaufen?“
Kreek beherrschte sich und dachte krampfhaft: Nur gut das Herz verstecken! Hat man nicht gehört, dass Selbstsicherheit den Preis nach oben drückt? Er versuchte ein Lächeln und antwortete: „Würd’ schon verkaufen wollen, wenn’s sich lohnt, Herr Inspektor.“
Wittfoot blieb eisig formal. „Machen Sie mir nichts vor, ich sehe doch, was los ist. Also wollen Sie?“
Kreeks Stolz zerbrach. Er fragte leise: „Was würde Ihr Baron zahlen, Herr Inspektor?“
„Wie die Zeiten so sind – es wird nicht viel sein. Uns geht’s selber nicht gut.“
Tags darauf kam der alte Lansfid, wie jeder Lansfid in Fehde mit dem Baron. Er bot weniges mehr, um den Feind auszustechen, und Kreek verkaufte auf der Stelle.
Im folgenden Frühling, dem Frühling des Jahres dreiunddreißig, stand der Knecht Hermann Kreek am Rain seines ehemaligen Lickwegackers und sah mit ziehendem Schmerz zu, wie der gleichaltrige Sohn des alten Lansfid in ruhigem Gleichmaß die Krume brach, eine Furche hoch, die nächste herunter, ein nervenzerreibend langsam, präzise funktionierendes Uhrwerk, wie zum Messen der Ewigkeit eingesetzt. In Kreek zerriss der Vorsatz, gleichgültig zu sein, er schwor sich, das Land zurückzuerobern. Vergessen war, dass genauso wie die Lansfids der Junker nach dem Land greifen wollte. Nur noch diesen unbeirrbar auf dem Lickwegacker dahinziehenden jungen Hünen mit dem kurzen Blondhaar hatte Hermann Kreek Tag und Nacht vor Augen. Er hat mein Land … Das Bild ließ ihm nirgends Ruhe, und obwohl er wusste, dass jede neue Begegnung die aufgebrochene Wunde nur noch tiefer schnitt, zog es ihn wie einen Verfallenen immer wieder zum Lickweg.