Reisebilder aus China (1956) - Karl-Heinz Schleinitz - E-Book

Reisebilder aus China (1956) E-Book

Karl-Heinz Schleinitz

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Beschreibung

Im Jahre 1956 begleitete der Autor 230 junge Deutsche des Staatlichen Volkskunstensembles der DDR auf einer zehnwöchigen Tournee durch das neue China, dessen Gesicht ein anderes geworden ist, seit am 1. Oktober 1949 dort die rote Fahne mit den fünf Sternen als Zeichen der Volksherrschaft gehisst wurde. Karl-Heinz Schleinitz schildert interessant und fesselnd das Leben der Menschen in dem volkreichsten Land der Erde. Aus den vielen kleinen Erlebnissen und Gesprächen mit Arbeitern und Künstlern, mit Wissenschaftlern und Bauern, mit Kindern und Greisen formt sich ein anschauliches Bild der sprunghaften Entwicklung Volkschinas zu einer modernen Großmacht.

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Impressum

Karl-Heinz Schleinitz

Reisebilder aus China (1956)

ISBN 978-3-96521-479-8 (E-Book)

Die Druckausgabe erschien 1956 im KONGRESS VERLAG BERLIN.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

2021 EDITION digitalPekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.edition-digital.de

VOR EINER WELTREISE

Im Dezember 1953 reiste das Staatliche Volkskunstensemble der Deutschen Demokratischen Republik in die Volksrepublik China. Damals war es noch keine zwei Jahre alt. Es war ein Kind in der Familie der Ensembles. Gewiss hatte es schon einige erfolgreiche Tourneen in seinem Lebenslauf aufzuweisen – durch die Republik, eine besonders schöne durch Westdeutschland, und die Tanzgruppe war beteiligt am künstlerischen Wettbewerb beim IV. Festival der Jugend und Studenten in Bukarest und holte mit einem ehrenvollen dritten Platz die ersten internationalen Lorbeeren –, aber eine so große Aufgabe hatten die Künstler noch nicht zu lösen gehabt. Niemals zuvor in der Geschichte fuhr eine so große deutsche Kulturdelegation in den Fernen Osten.

Oft sagten uns später die chinesischen Freunde, einfache Menschen, Künstler oder Politiker: Ihr haltet im Westen Wacht für den Frieden, wir im Osten. Diese brüderliche Verbundenheit zu festigen, das war der wichtigste Auftrag des deutschen Volkes an die Künstler. Unsere innigen deutschen Volkslieder, die anmutigen Tänze unserer Heimat, die kämpferischen Gesänge aus Vergangenheit und Gegenwart und schließlich die musikalischen Kostbarkeiten, von unseren Großen geschaffen, sollten den chinesischen Bruder erkennen lassen, wer sein Gefährte im Kampf um den Weltfrieden ist. Mit dem Besuch sollten aber auch die Gastspiele der chinesischen Ensembles in der Deutschen Demokratischen Republik erwidert werden, und nicht zuletzt sollten unsere Künstler an Ort und Stelle die vieltausendjährige Kultur studieren, deren Geschichte sich in den Taten der neuen Menschen widerspiegelt.

230 zumeist junge Menschen träumten von dem fernen Land. Jeder machte sich andere Vorstellungen, genährt von Schulwissen, Büchern und Zeitungen.

Ich durfte das Ensemble auf seiner Tournee begleiten.

FAHRT VOLLER VORFREUDE

Klein ist die Welt unter Freunden. Entfernungen schmelzen zusammen wie Schnee im Frühlingswind. Zehntausend Kilometer? Vierzehn Tage Bahnfahrt? Kleinigkeit! Und wie im Märchen tun sich vor Freunden an den Ländergrenzen Tür und Tor auf.

Schnell sind die Formalitäten beiderseits der Oder erledigt. Einen Tag später öffnet sich die nächste Tür. Im Zugfunk erklingt die sowjetische Nationalhymne, Brest grüßt durch die Fenster.

Gerade hat man herausbekommen, dass die schwarzuniformierten Männer mit den weißen Leinenschürzen auf Brust und Rücken nichts anderes als Gepäckträger sind, da heißt es schon umsteigen. Ein Sonderzug wartet auf uns einhundertneunzig Bahnreisende. (Die Tanzgruppe macht die Reise auf dem Luftweg.)

Moderne Märchen beginnen nicht mit dem alten „Es war einmal …“, sondern mit dem viel schöneren „Es ist …“. Mögen die Gelehrten streiten, ob diese „Es ist …“-Märchen überhaupt Märchen sind oder nicht, für uns jedenfalls ist der Sonderzug, der uns von Brest nach Mandschuria bringen wird, der ersten Station auf chinesischem Boden, ein Märchenzug.

Blanke, glatte Außenhaut, blinkende Beschläge, hohe Räder-Beine, offensichtlich, damit der Wagenbauch nicht in den Schnee kommt, so steht er vor uns. Zwei, drei Stufen hoch, und man ist im teppichbelegten Gang. Schnell umgeschaut, dass niemand sieht, wie neugierig man ist: also doch durchgewebtes Bucharamuster! Die Wände sind mit hellbraunem, ornamentgeschmücktem Kunststoff tapeziert. Am anderen Ende des Wagens bürstet eine Frau in sowjetischer Eisenbahneruniform mit dem Staubsauger, der vom starken Akkumulator des Wagens gespeist wird, über den Teppich.

Ein Blick auf die Platzkarte: Abteil V. Vom Gang her sind die Abteile nicht einzusehen. Also ganz intime Kabinette! Vorsichtig die Tür aufgezogen: Sagt, was ihr wollt, es ist doch ein Märchenzug! Vier Mann haben hier Platz. Duftiges Weiß über den gepolsterten Betten rechts und links des Mittelraumes, und wenn auch die oberen Betten nicht hochgeklappt werden, so kann man unten doch bequem sitzen. Zwei helle Lampen an der Decke, über jedem Bett eine starke Leselampe und schließlich auf dem Tisch am Fenster eine geschmackvolle Tischleuchte mit eingebautem Lautsprecher für den Zugfunk.

Das Gepäck lässt sich bequem über dem Hauptgang des Wagens verstauen, am Fußboden liegt ein Teppich gleicher Güte wie draußen, und in die Tür ist ein Spiegel eingelassen, so groß, dass man bequem die Bügelfalte kontrollieren kann.

Kaviar, Lachs, Borschtsch, Geflügel und Obst warten indes im Speisewagen. Bei allem gesunden Hunger junger Menschen: es ist nicht zu schaffen. „Energisch“, sagt Nina, eine stattliche Kellnerin, „energisch!“ Die Teller werden leer. Ninas „energisch“ hilft auch, als die Fenster im Speisewagen sich nicht gleich öffnen lassen.

Anders ist es in den Abteilen. Die Wagenbegleiter – zwei gibt es für die 32 Reisenden in jedem Wagen – haben es gut gemeint und tüchtig eingeheizt. Aber die Doppelfenster – die ja ganz hübsch sein mögen für die sibirische Kälte, die uns sicher erwartet –, die Doppelfenster gehen selbst mit Ninas „energisch“ nicht zu öffnen, weil dazu gar keine Kurbel da ist. Kleiner Schönheitsfehler unseres Märchenzuges. Höflich übersieht man ihn …

„Aber was haben Sie nur?“ Natascha, Dolmetscherin und Schutzengel von Intourist für die nächsten vierzehn Tage, merkt gleich, wo der Schuh drückt, schaltet die elektrische Entlüftung ein, und schon badet man in Sauerstoff, bekommt keine kalten Füße, keinen Schnupfen, kein Ohrensausen, weil wir uns schließlich in einem Zug befinden, den sowjetische Ingenieure und Arbeiter erbaut haben. Draußen besagt ein kleines Schild in Bronze, dass das Herstellerwerk den Leninorden besitzt. Muss man noch mehr sagen?

Längst trägt es uns schnell und sanft in Richtung Moskau, als Natascha sagt, ganz einfach, als wäre es die alltäglichste Sache: „Das ist ein gewöhnlicher Zug der transsibirischen Strecke. Die neuen sind natürlich besser …“

*

Wir beginnen nach Stunden zu rechnen – was ist schon eine Minute? Wir sagen: Moskau ist jetzt soundsoviel hundert Kilometer vom derzeitigen Standpunkt entfernt. Was spielen bei diesen Weiten zehn Kilometer für eine Rolle?

Minsk – Smolensk – Moskau, der Zeigefinger hat es auf dem Taschenatlas bequem. Die Schnellzuglokomotive braucht immerhin einen guten Tag.

Es gab andere, die brauchten Monate für den gleichen Weg – und erreichten doch nicht das Ziel. Wir überqueren die Beresina, jenen Fluss, der Napoleons Truppen im November 1812 zum Verhängnis wurde. Moskau war für sie der Anfang des Unterganges. Wir passieren die Vororte Moskaus, bis zu denen Hitlers Truppen vordrangen, und denken an die Birkenkreuze, die wir so oft vom Zuge aus sehen konnten: Mahnmale gegen Gewalt und Unverstand.

Die Vorortbahnen sausen vorbei, erster Gruß der glücklichen Stadt. „Rechts müssen Sie rausschauen, rechts!“, ruft Natascha durch den Zugfunk, als im milchigen Grau stolz die Lomonossow-Universität auf den Leninbergen vorüberzieht. –

Moskau hat sich besonders fein gemacht, weil Sonntag ist. Unübersehbar ist der Fußgängerstrom, unüberhörbar sind die Autosirenen der Wagenkarawanen – und was für Wagen das sind! –, unübertrefflich ist das reibungslose Funktionieren des Verkehrs. Schnelligkeit ohne Hast.

Der Milizmann auf einer Verkehrsinsel in der Gorkistraße winkt mit seinem Befehlsstab. Artig schert ein „Pobjeda“ aus dem Strom aus, fährt zur Insel. Der ertappte Verkehrssünder zahlt gleich aus dem Fenster, Strafe muss sein, und fährt im nächsten Augenblick weiter, nun gewiss vorsichtiger.

Mitten auf dem Gehsteig eine Menschenansammlung, eine Schlange. Weit und breit kein Geschäft, das sie „fressen“ könnte. Diszipliniert stehen die Menschen so da, immer zu zweien, und wer dazukommt, schließt sich hinten an. Unverständlich!

Fast geräuschlos fährt ein Trolleybus vor, hält und schluckt die Schlange schnell und reibungslos. Ohne Gezeter und Gedränge geht das, unbegreiflich für uns Berliner …

Bequeme SIS-Omnibusse bringen uns zum Roten Platz. Stunden schon stehen die Menschen hier an, um Lenin und Stalin im Mausoleum zu ehren. Schweigend stehen sie da, Offiziere mit den verschiedenartigsten Pelzmützen, Arbeiter in warmen Wollmänteln mit hochgeschlagenen Pelzkragen, praktisch gekleidete Frauen, Kinder, manchmal den Teddy oder ein Püppchen in der Hand. Als Gäste werden wir an die Spitze gelassen.

Rubinrot leuchten die Sterne über dem Kreml. Als der goldene Zeiger am Spasskiturm auf halb zwölf rückt, setzt sich der feierliche Zug in Bewegung wie seit nunmehr fast dreißig Jahren, ununterbrochen, marschiert über die Mitte des Roten Platzes, schwenkt vor dem Mausoleum ein und grüßt die unsterblichen Führer des Weltproletariats.

Gruß Fritz Heckert, Clara Zetkin und Wilhelm Florin, die in der Kremlmauer bestattet sind, Gruß den revolutionären Kämpfern des Jahres 1917 und den Soldaten des Großen Vaterländischen Krieges, die neben dem Mausoleum ruhen. Ein Gedanke fliegt in die Heimat, zwei wandern in das ferne China. Die Heimat blüht, und wir reisen nach China – Dank den Toten auf dem Roten Platz in Moskau!

Die obersten Stockwerke der Lomonossow-Universität sind in Wolken gehüllt. Auch die Wohnhochhäuser wollen sich nicht zeigen, nur einige sechs- bis achtstöckige Häuserreihen lassen sich in ihrer ganzen Schönheit bewundern. Natascha aber sagt: „Das sind ja nur alte Häuser, die wurden schon vor zwanzig Jahren erbaut!“

Glückliche Stadt, in der alte Häuser noch so jung sind!

Der Chor nutzt die technischen Möglichkeiten und übt über den Zugfunk noch einige neue Lieder ein, darunter das chinesische Kampflied „Wir Arbeiter sind stark“. Ein junger Student aus Leipzig, der das Ensemble als Dolmetscher für die chinesische Sprache begleitet, erklärt erst den Inhalt des Liedes und die Bedeutung jedes Wortes, und dann sprechen die an den Lautsprechern in den Abteilen lauschenden Freunde den chinesischen Text nach.

Derweil fährt der Zug durch Landschaften, von denen wir „aufgeklärten“ Mitteleuropäer bei aller Sympathie zur Sowjetunion doch eine völlig falsche Vorstellung hatten. Wir sagten „Sowjetunion“ und dachten bis Moskau, Stalingrad, vielleicht noch bis Tbilissi. Gar nicht zu sprechen sei von der Vorstellungswelt gewisser Patentstrategen, die auf Landkarten Eroberungen machen, ohne zu ahnen, wie gewaltig weit und vor allem wie stark dieses Land Sowjetunion ist.

2000 Kilometer lang ist das Uralgebirge, das mit seinen sanften Kuppen, dem schönen Nadelwald und den mit Ornamenten reich geschmückten Holzhäuschen, die sich in die Lichtungen kuscheln, an unseren Thüringer Wald erinnert. Unvorstellbar sind die Schätze an Erzen, Kohle, Edelmetallen, kostbaren Steinen, Phosphaten, Petroleum und anderen Reichtümern, die sein Schoß birgt.

Was wussten wir schon von Swerdlowsk, der letzten Stadt auf europäischem Gebiet? Schon von weitem leuchtet dem Reisenden der Name der Uralmetropole in Neonlichtröhren vom hohen Bahnhofsgebäude entgegen. Eine prächtige Marmorhalle mit großen Skulpturen, die Decke mit reicher ornamentaler Malerei geschmückt und an den Wänden riesige Gemälde – so bietet sich das Aushängeschild der Stadt an. Lichtüberflutet ist der große Bahnhofsvorplatz, groß, mit weitem Atem, nicht so rachitisch verkrüppelt wie die meisten unserer alten Bahnhofsvorplätze. Elektrische Omnibusse fahren vorüber. Sechsstöckige Häuser sind von der Bahn aus zu erkennen, dahinter noch größere, deren Stockwerke man nicht zählen kann im Dunkeln. In der Nähe des Bahnhofs ist eine riesige Eislauffläche, und im Licht von Tiefstrahlern tummeln sich jetzt, gegen zwanzig Uhr, fröhliche Menschen.

Unter der Zarenherrschaft war Swerdlowsk ein zurückgebliebenes Dorf. 1925 wurde die erste Wasserleitung gelegt, 1928 die Kanalisation eingerichtet, und 1929 rollte die erste Straßenbahn. Heute hat die Stadt eine halbe Million Einwohner und besitzt in dieser Gegend viele Geschwister. Sie sind Kinder der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution, mit vielen Theatern, Hochschulen und wissenschaftlichen Instituten, von den Industrien ganz zu schweigen.

Tagelang durcheilt der Zug die Sibirische Tiefebene. Dorf reiht sich an Dorf. Große Metallsilos in jedem Ort, Traktoren, die schwer beladene Schlitten ziehen, viele skilaufend Kinder, die den Vorbeifahrenden Extravorstellungen geben. Und in jedem Ort Lichtmasten! Lenins Vermächtnis wurde erfüllt.

Knackend kalt ist es draußen, zimmerwarm im Zug. Die Häuschen haben Wattebäusche auf den Schornsteinen. Eine Kostprobe sibirischer Kälte gibt es durch das Abflussrohr des Waschbeckens in der Toilette, wenn das Wasser abgelassen wird, oder bei kurzen Aufenthalten zum Lokomotivwechsel.

Nowosibirsk, Zentralsibirien. Millionenstadt.

Wie überall sind wir bald von wartenden Menschen umringt.

„Wo kommen Sie her?“

„Aus Deutschland.“

„West oder Ost?“

„Ost.“

„Oh, demokratitscheskaja, Wilhelm Pieck, Drushba, Drushba!“

Die einheimischen Mädchen, angetan mit derben Sachen, bemitleiden lächelnd unsere Mädchen, deren Füße in Perlons und leichten Schuhen stecken, die für Schnee und dreißig Grad Kälte wenig geeignet sind. Abzeichen werden getauscht, und wer kein FDJ-Abzeichen zur Hand hat, bekommt das Komsomolabzeichen ohne Gegenleistung.

„Wohin fahren?“

„Mao Tse-tung!“

„Ah – otschen charascho, serr gut, Drushba, Drushba!“

Ab geht die Fahrt. Immer wieder müssen wir staunen, wie gut die Menschen hier, fast 6000 Kilometer von Deutschland entfernt, über unsere Probleme Bescheid wissen – einfache Menschen, die zufällig während unserer Durchreise auf dem Bahnhof anwesend sind.

Für uns ist das sogenannte finstere Sibirien die größte Überraschung.

Die sowjetischen Lokomotivführer haben die Angewohnheit – ist es ein Freundschaftszeichen, ist es Dienstvorschrift? –, sich bei Begegnungen auf der Strecke durch ein Sirenensignal zu grüßen. Das Signal hat die Lautstärke des Nebelhorns eines mittleren Ozeandampfers – nach unserer Ansicht. Für zarte Nerven jedenfalls ist es nicht ausgedacht. Im Gebiet um Nowosibirsk – das ist sozusagen das sibirische Ruhrgebiet mit gewaltigen Erz- und Kohlevorkommen, gar nicht zu reden von anderen Schätzen –, in diesem Gebiet also blies es streckenweise alle fünf Minuten eine Sirenenkantate, so dicht ist der Zugverkehr. Hunderte Kilometer weit sind die Strecken voll elektrifiziert, Industriekombinate ungekannter Größe liegen am Wege, Stadt an Stadt, dann wieder Urwälder mit schier unerschöpflichen Holzvorräten. – Krasnojarsk, Irkutsk. Natascha meint, die Irkutsker – ihre Stadt liegt eine Stunde vom Baikal entfernt –, die Irkutsker sind drauf und dran, den Moskauern in Bezug auf Städtebau den Rang abzulaufen. Die Stadt ist eine einzige Stalinallee wie in Berlin oder Gorkistraße wie in Moskau, und es sei nicht gut, gegenüber einem Einheimischen Moskau über alle Maßen zu loben.

Vier Theater hat die Stadt, eine Universität, eine Akademie der Wissenschaften mit zwanzig Instituten – und war doch noch vor vier Jahrzehnten ein einziges Verbanntengefängnis. Hier starben die Dekabristen nach ihrem misslungenen Aufstand vom Jahre 1825 in Verbannung, hier sollte im benachbarten Nowaja Uda in den Jahren 1903 und 1904 das Herz Stalins gebrochen werden, hier war es schließlich, wo 1905 und 1917 die Arbeiter, wie ihre Brüder im fernen Moskau und in Petersburg, auf den Barrikaden kämpften. Ihr Blut tränkte die Erde, aber heute singen in den Pionierpalästen und Kulturstätten die Kinder der Halbmillionenstadt von der Sonne über Sibirien, die die Revolution brachte.

Angara, einziger Abfluss aus dem Baikal, dem Reichen See (türkische Händler, die bis hierher kamen, tauften ihn einst so). Mitten in diesem Fluss – der trotz einer Temperatur von dreißig Grad unter Null nicht zugefroren ist, eine so starke Strömung hat er –, mittendrin eine große Baustelle, auf der selbst bei Nacht und Frost emsig gearbeitet wird: das größte Kraftwerk der Welt, leistungsfähiger als die Giganten von Kuibyschew und Stalingrad, wächst heran.

Baikal! Ein seltsames Gefühl schleicht ums Herz, wie er im Mondlicht uns begleitet. Wie oft haben wir daheim das Lied vom „Heiligen Meer“, Lenins Lieblingslied, gesungen, sind auch mit dem Zeigefinger auf der Landkarte spazierengegangen. Ein kleines Wässerchen auf dem Atlas! Und nun fahren wir schon geschlagene sechs Stunden um den Südzipfel herum und begreifen langsam, was 670 Kilometer Länge und 73 Kilometer Breite bedeuten. Holland ist kaum so groß an Fläche!

Nebelschwaden treiben über dem dunklen Wasser, in dessen Wellen der Mond spielt, während rechts das Gebirge steil in den Himmel ragt, nur der Bahn Platz lassend. Aber manchmal geizen die Berge zu sehr und steigen unmittelbar aus den Fluten. Der Mensch mit seiner Eisenbahn muss durch die Berge kriechen. Innen sind die Tunnel sorgfältig beleuchtet, außen gewissenhaft bewacht.

Berge und Wasser – unbeschreiblicher Baikal! Aber auch der ausdauerndste Beschauer wird einmal müde, stellt die Uhr wie jeden Abend wieder eine Stunde vor – woran die Längengrade schuld sind – und träumt den letzten beiden Fahrttagen durch den gastfreundlichen Riesen Sowjetunion entgegen.

Tschita, die letzte sowjetische Großstadt an der Bahnlinie, liegt hinter uns. Flache Hügel, kein Strauch, kein Baum. Pferde und Rinder mit dickem Fell fressen die dürren Grasspitzen, die aus dem dürftigen verwehten Schnee ragen. Ausläufer der Wüste Gobi!

Einmal müssen auch wir vom Märchenzug scheiden. Nina, Natascha, die Köche, der Zugfunker, alle, die Zeit haben, versammeln sich noch einmal mit uns im Speisewagen. Deutsche Lieder erklingen und Lieder ihrer sowjetischen Heimat. Lasst die Tränen fließen, keiner schämt sich ihrer.

„Kommt einmal nach Deutschland!“

„Kommt wieder in die Sowjetunion!“

Unwillkürlich fällt uns Egon Erwin Kisch ein, der vor zwanzig Jahren die gleiche Strecke befuhr, wovon sein Buch „China geheim“ berichtet. Für ihn war es eine Fahrt ins Ungewisse. Wir wissen, dass uns Freunde erwarten, so wie uns Freunde verabschieden. Die Geschichte hat einen Sprung nach vorn getan.

Der Grenzbahnhof Otpor ist ein architektonisches Meisterwerk, blitzblank, ein Kleinod. Wir bewundern die Gemälde, wertvolle Kopien berühmter Werke aus den Galerien in Moskau und Leningrad, als ein Grenzer auf uns zutritt, uns anspricht. Keiner aus unserer kleinen Gruppe kann Russisch. Der Soldat merkt, dass wir Deutsche sind, spricht deutsch. „Was macht Berlin, Moskau? Habt ihr das Ballett gesehen?“ Plötzlich: „Wir sind Freunde! Hier, ich gebe meine Uhr, hat fünfzehn Steine, geht genau! Ihr gebt mir Uhr aus Berlin!“ Dabei öffnet er den Deckel seiner Armbanduhr, zeigt das tickende Räderwerk.

Wir glauben es ja auch so, dass sie fünfzehn Steine hat, aber zufällig besitzt nur einer von uns eine Armbanduhr – die aber hat in Moskau die Krone verloren und ist außerdem ein billiges Ding, die keinem Vergleich mit der angebotenen standhält.

„Nun, was ist?“, klingt es schon ein wenig enttäuscht.

Wir versuchen dem Freund klarzumachen, dass unsere Uhr nichts taugt und außerdem defekt ist. Es hilft nichts.

„Macht nichts. Hauptsache ein Andenken an euch, hier meine Uhr!“

Die Uhren wechseln die Besitzer, ein Händedruck. „Ewige Freundschaft zwischen den Völkern!“ sind die letzten Worte des sowjetischen Grenzers.

DAS LACHEN CHINAS

Alles ist so, wie wir es in Büchern und Zeitungen gelesen hatten. Und doch ist alles viel schöner, als es geschrieben stand und wir es uns dachten.

Vier Stunden müssen auf dem Bahnhof Mandschuria, der ersten Station in China, die chinesischen Freunde am 21. Dezember auf uns warten, ehe wir gegen 22 Uhr eintreffen. Die Kälte klirrt mit 35 Grad. Zum ersten Mal die berühmten seidenen Fahnen: rote, weiße, grüne, und alle versilbert vom Raureif, trotz ihrer sanftfließenden Bewegungen. Augen schwarz wie Kohlen, aber leuchtend wie Diamanten; Zähne wie der Schnee an den Ufern des Argun; und öffnen sich die vollen Lippen, lacht dich ganz China an!

Durch das jubelnde Spalier geht es in den teppichgeschmückten Empfangsraum des Bahnhofs. Mao Tse-tung und Stalin, in einem großen Gemälde dargestellt, grüßen. Professor Pischner, der Leiter der deutschen Delegation, sitzt schon zwischen dem Bürgermeister Mandschurias und Ma Ko, dem Vertreter der Regierung (der die auch bei uns bekannte Oper „Das Mädchen mit den weißen Haaren“ geschrieben hat).

Nun erleben wir, was Gastfreundschaft ist! Eine Fußgängerbrücke über die vielen Gleise des Bahnhofs ist zu überqueren. Es zieht mächtig, und der chinesische Freund und Begleiter hakt fester unter. Trotz der grimmigen Kälte stehen an der dunklen Treppe vermummte Gestalten und leuchten mit Taschenlampen, damit ja niemand zu Schaden kommt, warten, bis auch der letzte Nachzügler vorbei ist …

Im Rathaus mitternächtlicher Empfang. An der Decke des Empfangssaales der fünfzackige Stern in Rot, Hammer und Sichel darin in Grün; alles in Neonröhren. Rote und blaue indirekte Beleuchtung oberhalb des profilierten Wandsimses. Stühle reihum entlang der Wand, davor Tische mit Schalen, die Birnen und Äpfel enthalten. Äpfel, deren Farbe dem Rot der Wangen jener Mädchen gleicht, die frisch und ungezwungen (bei aller mädchenhaften Schüchternheit) zwischen uns sitzen. Und dann wieder das Lachen der Jugend Chinas, dass einem das Herz aufgeht …

Das ist im ersten Stock. Im Parterre ist mittlerweile das Abendbrot hergerichtet worden. Brechend voll sind die Tische mit so vielerlei Dingen, dass man nur schwer eine Übersicht gewinnt. Zwischen den zahlreichen Wein- und Bierflaschen die Fisch-, Braten- und Gemüseplatten. Schnell überschlagen, mögen es zwölf verschiedene Gerichte sein, die parat liegen. Sieh mal an, die berühmten Pekinger Eier sind auch darunter, in Europa fälschlich (mit bestimmter Absicht) als faule Eier bezeichnet. Sie sind nicht faul, sondern werden so zubereitet, dass sie gelieren.

Reden werden gewechselt. Es lebe China, es lebe Deutschland! Es lebe Mao Tse-tung und Wilhelm Pieck! Gam be! und Prosit! Und dann kommt unser kleiner Kellner mit einem dampfenden Ungetüm, einem regelrechten Herd im Kleinen. Das Ding ist ungefähr 50 Zentimeter hoch. Der kupferblecherne Herd verläuft nach oben konisch und hat in halber Höhe außen herum eine breite Rinne, in der es brodelt und zischt.

Mein einheimischer Nachbar ist der Meinung, dass man die Suppe unbedingt probieren müsse, und ich bekomme in meine schöne Porzellanschale eine Kostprobe. Stäbchen, von denen wir daheim angstvoll träumten, werden gegen das bisher benutzte Besteck eingetauscht, und der Suppenfischzug kann beginnen. Man hat im Nachbarn einen guten Lehrer, und schon ist man Spezialist auf dem Gebiete des Stäbchenessens (was man sich jedenfalls einbildet).

Manches wird probiert, aber vorzugsweise halte ich mich an eine Art Karpfenfisch, der wohlgarniert im Laufe der weiteren Esserei an den Tisch geschwommen kommt. Nun schmecken ja Teichfische immer ein wenig modrig, weshalb ich sie gar nicht recht mag. Das aber ist kein Fisch mehr, sondern ein Gedicht auf einen Fisch mit mindestens sechs Strophen. Nichts von Modrigkeit! Ein einziger erlesener Gewürzgarten ist das! Im Geschmack ähnelt das Fischgedicht unserem Bino-Gewürz, nur sehr viel aromatischer, viel feiner ist es.

Die Mädchen, die so große Angst vor den „mindestens zwölf Gerichten“ hatten, sind beruhigt, nachdem sie festgestellt haben, dass vielerlei Dinge essen nichts damit zu tun hat, dass große Mengen gegessen werden. Und doch sagt am Tisch Ma Ko zu Professor Pischner: „Bei uns ist es üblich, dass die Gäste beim Verlassen des Landes wenigstens fünf Pfund zugenommen haben müssen.“ Der Professor wehrt entsetzt mit beiden Händen ab: „Das kann ich mir nicht leisten!“ Darauf Ma Ko als höflicher Gastgeber: „Mitglieder der Tanzgruppe und Professoren sind davon ausgenommen!“

Oben im Saal sitzt dann wieder alles reihum. Unser Chor stellt sich auf: „Am Brunnen vor dem Tore“. Beifall. Das Thälmann-Lied. Herzlicher Beifall. Und dann das chinesische Kampflied „Die Völker der Welt sind eines Herzens“ in chinesischer Sprache. Stürmischer Beifall! Und Ma Ko, der offizielle Vertreter der Regierung Volkschinas, geht nach vorn, rückt die Brille zurecht und sagt, von der einheimischen Dolmetscherin in gesetztes Hochdeutsch übertragen, er sei kein Sänger, habe auch keine ausgebildete Stimme, aber er könne nicht anders und müsse quasi als Gegenleistung ein altes Fischerlied vortragen. Und er singt vom Glück und Leid eines Fischers aus der alten Zeit, singt ohne Begleitung und verliert nichts von seiner Würde.

Ma Ko muss noch ein zweites Lied zugeben. Dann scheiden die ersten, weil ihr Sonderzug eher fährt. Wir bleiben noch ein Stündchen. Und als das Akkordeon zum ersten Walzer aufspielt, tanzt die Delegation mit dem Lachen Chinas, mit einem zweiten, dritten. Und die schwarzhaarigen frischen Männer schwenken unsere blonden Mädchen, dass es eine Pracht ist. Die Apfelbäckchen glühen, und der Delegation wird es langsam warm. Auf die Rückseite der Tischkarte mit dem Namen in Chinesisch und in Deutsch schnell ein Autogramm der ersten Bekanntschaft: Auf Wiedersehen!

Morgens gegen halb vier Uhr fährt unser Zug ab. Das Weiß der Betten duftet sauber. Ein Gutenachtkuss in Richtung Deutschland, und die Augen fallen zu. Wir sind unter Freunden.

ERSTE STATION: PEKING

Charbin, Mukden, Tientsin. Nach zwei Tagen Fahrt lächelt Annemarie (Annemarie? Eine waschechte Chinesin, die in Deutschland geboren wurde – die Ablösung für Natascha) mit perlweißen Zähnen, deutet auf die gerade vorbeiziehende Stadtmauer und sagt „Peking“. Auf die Minute pünktlich rollt der Zug auf dem Hauptbahnhof ein.

Musik, Blumen, Umarmungen alter Bekannter vom Besuch des chinesischen Jugendkunstensembles in Berlin. Heute sieht man sich hier, morgen da, die Welt ist klein! Begrüßung durch den Stellvertretenden Kulturminister Liu Dshih-min.

Auf dem Bahnhofsvorplatz warten die Omnibusse. Aber die Koffer, die Koffer! Keine Angst, die haben mittlerweile Beine bekommen. Unendlich sacht, als hätte jeder kostbares Porzellan zum Inhalt, wandern sie über die Hände unserer Freunde von der Volksbefreiungsarmee aus den Eisenbahnwagen in die Lastkraftwagen.

Verwirrend ist die Farbenpracht in den Straßen der alten Kaiserstadt, aber noch unübersichtlicher nach unseren Begriffen der Straßenverkehr. Schwarz von Menschen sind die Gehsteige. Auf der Straße haben die Radfahrer die Übermacht. Dazwischen modernste sowjetische Autos und „Tatras“ aus der Tschechoslowakei, „Ikarus“-Omnibusse aus Ungarn und viele amerikanische Wagen.

„Wo habt ihr die her?“

„Amerikanische Erbschaft, über die Kuomintangarmee. Genügt das?“

Es genügt.

Am auffälligsten sind die Rikschas, jene dreirädrigen, von Menschen bewegten Verkehrsmittel, die heute noch in den engen Straßen und bei der verhältnismäßig geringen Motorisierung eine gewisse Daseinsberechtigung haben. Die Fahrgäste sitzen bequem in einem Sessel über der Hinterachse: Mütter, die ihre Kinder zum Kindergarten bringen, Studenten mit der Kollegtasche auf den Knien, Soldaten, Geschäftsleute und natürlich Arbeiter, die von der Schicht kommen. Unsereiner kennt die einzelnen Berufsgruppen noch nicht heraus, verflixt, die Gastgeber sehen alle gleich aus; aber die Dolmetscher, die uns auch künftig begleiten werden, wissen natürlich Bescheid. Andere Rikschas haben drei, vier ausgeschlachtete Schweine geladen oder ganze Möbeltransporte. Wie vor fünfzig Jahren, zwanzig Jahren, wie vor fünf Jahren …

Vor fünf Jahren? Irrtum, lieber Freund! Vor fünf Jahren noch hätte uns kein Rikschafahrer lachenden Gesichts zugewinkt, er hätte sich abgewandt, wäre den Weißen aus dem Wege gegangen, weil er in ihnen seinen Feind sah. Die Polizisten waren seine Feinde, die Offiziere der Kuomintang, die ganze mit den Ausländern paktierende Ausbeutergesellschaft. Rikschakuli – verachtetster Beruf in China.

Heute lacht er, weil er Mensch unter Menschen, gewerkschaftlich organisiert ist, acht Stunden Arbeitszeit, satt zu essen, gute Kleidung hat, und morgen wird er einen „SIS“ oder „Tatra“ fahren, das weiß er auch!

Vorsichtig fahren die Omnibuslenker durch die winkligen Straßen, und doch kommt unsereinem das bei dem Gewimmel schon tollkühn vor. Noch eine letzte Kurve durch ein Tor und wir halten vor dem Friedenshotel. Empfang durch die ganze Belegschaft vor der Eingangshalle, Direktor, Fahrstuhlführer, Koch, Friseur, Kellner und die chinesischen Christels von der Post. Acht Stockwerke geht es hinauf, dann über weiche Teppiche, in denen jeder Schritt versinkt wie im Moos, in die Zimmer.

Heimat für drei Wochen!

*

Ungewohnt sind die Geräusche, die uns anderntags aus dem Schlafe wecken. Tak-taktak macht die Klapper in der Hand eines Händlers, der in den Körben am Tragestock aus Bambus das Frühstück wiegenden Schrittes zur Auswahl bis vor die Tür bringt. Unablässig tönt das Hupen der Wagen von den Hauptstraßen herüber und mischt sich mit den lang gezogenen, warnenden Rufen der Polizisten auf den Verkehrsinseln; fast singend preist ein Händler seine Waren an.

Ein anderer Ton kommt langsam näher: tom, tom, teromtomtom. Chinesische Trommeln. Ich stoße das Fenster auf, die Sonne blendet herein vom pastellenen Himmel. Unten marschieren Junge Pioniere. In der Nähe des Hotels halten sie und formieren sich vor einem etwa fünf Meter langen roten Plakat. Sie singen. Menschen sammeln sich um die Kinder. Dann spricht ein älterer Schüler zu den Versammelten.