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Das "Willkommen in Utopia" Komplettpaket enthält die Geschichten:
- Tödlicher Spam (Vorgeschichte)
- So wertvoll Leben ist (Vorgeschichte)
- Willkommen in Utopia
Die schlimmste Form der Überwachung ist jene bei der ein Mensch gar nicht mehr mitbekommt, dass eine Überwachung stattfindet und das Überwachende jeglichen Widerstand schon im Kopf erstickt.
Da es schon zu Irritationen und Rechtschreibekollern ;-) geführt hat sollte ich erwähnen, dass in einigen Fällen die Artikel anders sind als gewohnt. Dies ist Absicht, also bitte nicht wundern oder sich drüber aufregen. :-)Wird sich alle klären.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2016
Es war ein ruhiger gemütlicher Abend. Die junge Kripo-Beamtin Sonja Regensfurth, eine Ermittlerin im Dezernat für besondere Internetkriminalität, saß an ihrem heimischen Schreibtisch und ging die persönlichen Emails durch. Neben ihr dampfte eine Tasse heißer Tee.
Meist konnte sie sich nach Feierabend nur schwer dazu durchringen, noch am Computer zu arbeiten. Aber da sie heute Rufbereitschaft hatte, konnte sie sich eh nicht richtig entspannen. Ihr blieb nur die Hoffnung, dass sie keiner anrief. Der Alltag am Rechner war anstrengend genug. Sie seufzte, denn wieder hatte sich massenhaft Spam in ihrem Postfach angesammelt.
Ihre behagliche Wohnung in warmen Farben gestrichen und wohlig gemütlich ließ sie ein wenig entspannen. Es war ihr Rückzugsort aus dem harten Alltag. Einem Alltag, zu denen die schlimmsten Perversionen, welche Menschen sich vorstellen konnten, genauso gehörten wie Kriminalität bis hinab ins Darknet. Dem 'düsteren' Teil des Internets, den die Mehrheit gar nicht wahrnahm. Sie verdrängte den Gedanken an die Arbeit und nahm einen Schluck ihres aromatisierten Tees. Innerlich ächzte sie bei jeder gelöschten Spammail. Die eine Hand war mit der Maus und dem löschen beschäftigt, die andere spielte mit ihren schulterlangen rötlichen Haaren.
'Warum konnte bloß niemand diese nervigen Spammer stoppen?', fragte sie sich. Die Antwort kannte sie leider nur zu gut. In ihrem Dezernat bei der Polizei gab es einfach zu viele Fälle und leider wurden die Spuren im Netz durch Profis zu gut verwischt, als dass einer dieser Spammer unwiderlegbar überführt hätte werden können. Wenn sich die Profis überhaupt in diesem kleinen Teil der Welt aufhielten. Die Staatsanwaltschaft mochte Fälle ohne eindeutige Beweise meist gar nicht erst annehmen. Auch dort war die Überlastung alltäglich und es wurden nur die lohnenden Fälle übernommen und die anderen erst einmal abgelegt oder direkt eingestellt.
Sonja schreckte aus ihren Gedanken hoch, als ihr Handy plötzlich klingelte. Es war eines von diesen, mit denen man eigentlich nur telefonieren konnte. Zu einem Smartphone hatte sie sich bisher nicht durchringen können. Aufgrund ihrer Berufserfahrung war es ihr viel zu unsicher. Mit Grauen dachte sie daran, wie einfach man in die meisten Smartphones eindringen konnte und welche Daten diese dazu auch noch alles über die Apps weiterleiteten. Schon mehr als einmal hatte sie sich anhören müssen, wie junge Leute wegen intimer Aufnahmen verzweifelten oder andere von Nervanrufen überflutet wurden.
Die Rufbereitschaft fürs Dezernat Computerkriminalität zu haben bedeutete, man wurde immer dann zu allen möglichen Fällen gerufen, die etwas mit Computern zu tun hatten. Zu ihrem Ärger meistens vollkommen unnötig. Aber sie hatte sich den Beruf schließlich ausgesucht.
"Regensfurth?", meldete sie sich schließlich mit leicht genervtem Unterton.
Eine freundliche Männerstimme erklang. "Meier hier. Wir haben hier etwas, was Ihr Dezernat möglicherweise betrifft."
"Ich mach mich auf den Weg.", ihrer Stimme war anzumerken, dass sie es nicht bereitwillig tat.
Schnell noch notierte sie die Adresse und fuhr dann los. Ihren Zuständigkeitsbereich kannte sie nur zu gut und wusste, dass sich ihr Ziel am anderen Ende ihres Bezirks befand. Glücklicherweise war die kalte Dezembernacht zumindest frost- und schneefrei. Sie fand es natürlich gar nicht schön, aus ihrem wohligen Heim in die Kälte zu müssen.
Auf der Fahrt dachte sie darüber nach, wie sie ihr analytischer Verstand und starker Gerechtigkeitssinn damals zu Polizei geführt hatten. Bereut hatte sie es trotz der Anstrengungen und Entbehrungen bisher nicht. Es war ein gutes Gefühl etwas, für anderen Menschen zu tun.
Nach einer Fahrt durch die Nacht war sie endlich angekommen. Die Kollegen führten sie in eine in dunklen Farben gehaltene Wohnung. Das Dunkelgrau der Wände war auch ohne ein mögliches Verbrechen beklemmend. Die Möbel waren überwiegend aus schwarzem Kunststoff und Pressspan. Sonja versuchte ein gleichmütiges Gesicht zu machen und nicht ans schön helle Kiefernholz zu denken, was zuhause wartete. Dies war definitiv kein Ort, an dem Sonja sich gerne aufhielt. Ein Psychologe könnte sicherlich sagen, warum ein Mensch sich ein derart unangenehmes Umfeld als Heim schuf.
Auf einem schwarzen Kunstledersofa saß eine ziemlich verstörte Frau. Sonja bekam nur Bruchstücke der Unterhaltung mit, war aber auch nicht geneigt, unnötig lange hier zu verweilen. Alles in ihrer wollte einfach nur raus aus dieser Umgebung. Als kleine Blase der Behaglichkeit trug sie den Gedanken an ihre Wohnung in sich.
Sie holte ihren Notizblock und Stift heraus und machte sich Notizen. Weder Fotos noch Berichte anderer konnten die eigenen Eindrücke ersetzen, fand sie. Es war zwar mühsam, aber notwendig.
Im Arbeitszimmer lag ein Mann auf dem Boden. Sein Körper war seltsam verrenkt. Der Gerichtsmediziner war auch schon da.
"... Es sieht aus, wie ein Fall von Epilepsie mit tödlichem Ausgang...", bekam Sonja einen Gesprächsfetzen mit, während sie sich schon dem Computer zuwandte.
Ihre Gedanken kombinierten, dass er vielleicht vor dem Computer gesessen hatte und es dabei zu einem Anfall gekommen war. Kein Grund also, ein Verbrechen zu vermuten. Seltsam, dass trotzdem ermittelt wurde. Sie sah sich den Computer genauer an. Bei einer natürlichen Todesursache konnte sie sich eigentlich den Aufwand sparen.
Doch dann hörte Sonja, wie der Gerichtsmediziner sich wunderte, dass er in letzter Zeit von ein paar Fällen dieser Art gehört hatte. Immer traten die Anfälle auf, während die Betroffenen am Computer arbeiteten. Ganz dunkel erinnerte sich Sonja an eine Reportage über Fernsehsendungen, welche Anfälle ausgelöst haben sollten. Kein schöner Tod so am Bildschirm zu sterben, fand sie.
Vielleicht war ja ein neuer Egoshooter der gemeinsame Nenner. Bei diesen Schießspielen aus der Ich-Perspektive gab es teilweise sehr rasante Bilderwechsel. Nur zu gut erinnerte sie sich an LAN-Parties, wo sie viel zu wenig getrunken und geschlafen hatte.
Sie nahm diese Information in ihrem Notizbuch auf. Es wunderte sie nicht, dass sie gerufen worden war, wenn hier der Verdacht eines Zusammenhangs mehrerer Vorfälle mit Computern bestand.
Der Computer war noch angeschaltet, wie das leise Summen verriet. Zufrieden sah sie, wie der große Flachbildschirm bei einem leichten Stupser ihres behandschuhten Zeigefingers gegen die Maus aus dem Energiesparmodus erwachte. Der verstorbene Nutzer hatte unvorsichtigerweise kein Anmeldepasswort hinterlegt, sodass sie sofort den vollen Zugriff hatte. Wenigstens ersparte ihr das den Aufwand, den Computer sofort hier analysieren zu müssen.
Stehend mit leicht verkniffener Mine begann sie mit einer ersten Sondierung. Auf dem Desktop des Windowsrechners fand sie bei erster Betrachtung keine Auffälligkeiten. Auch Egoshooter waren keine installiert. Nur der Bildschirmhintergrund wirkte sehr düster. Er zeigte eine finstere Höhle oder Gruft und passte zu dem Rest der grausigen Wohnung.
Vorsichtig startete sie den Taskmanager und schaute nach auffälligen Programmen. Aber auch da konnte sie auf den ersten Blick keine finden. Sowohl Firewall als auch Virenschutz stellten sich unter ihren kundigen Fingern als aktuell heraus, aber dies war nicht relevant. Selbst die aktuellste Software schützte nicht hundertprozentig sicher, da auch diese nicht alle Programme erkannte. Zur Sicherheit fertigte sie mit einem Spezialgerät eine Spiegelung der Festplatte an. Während das Gerät arbeitete, sah sie sich noch einmal um und musste sich wieder schütteln.
Sonja machte, nachdem sie fertig war, dem aufsichtführenden Beamten kurz Meldung. Sie wollte jetzt nur noch in ihr gemütlich warmes Bett und hoffte, die Nacht würde ruhig bleiben. Der Computer sollte zu ihrem Büro gebracht werden, wo sie ihn am nächsten Morgen dann auch vorfand.
Eigentlich warteten genug andere Fälle auf sie, trotzdem konnte sich Sonja nicht von diesem losreißen. Ihr Gespür sagte ihr, dass hier irgendetwas seltsam war und ihre Neugier trieb sie zur Aufklärung des Geheimnisses.
Bevor sie mit der Überprüfung des Rechners begann, las sie sich die Akten anderer Todesfälle durch. Sie hatte sich diese aus dem Server der Gerichtsmedizin herausgesucht, um eventuell weitere Anhaltpunkte zu finden. Die Diagnose lautete immer 'epileptischer Anfall'. Es gab keine Anzeichen von Gewalteinwirkung. Obwohl sie nicht viel geschlafen hatte, ließen die Informationen ihren Adrenalinspiegel steigen.
Einige der Wohnungen waren von innen verriegelt gewesen, sodass niemand zutritt gehabt haben konnte. Eine Tür war sogar so gesichert gewesen, dass man letztendlich ein Loch in die Wand gemacht hatte, weil es einfacher war.
Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Es konnte kein Zufall sein, dass diese Personen tot vor ihrem Rechner gefunden worden waren. Aber wie konnte man jemanden durch verschlossene Türen ermorden und es wie einen Anfall aussehen lassen? Eine der vielen Fragen, die sie wohl lösen musste. Es erschien ihr seltsam, dass bisher sich niemand näher damit beschäftigt hatte. Bei der Arbeitsauslastung, die sie alle hatten, konnte man schon mal etwas übersehen. Aber eine derartige Serie, war ihr unverständlich.
Ihr Notizbuch füllte sich mit immer mehr Information und Fragen. Ein gemeinsamer Faktor aller Toten war die Art ihrer Computer-Tätigkeit gewesen. Alle hatten auf die eine oder andere Art mit Internetkriminalität zu tun gehabt. Der eine war ein Spammer gewesen, die andere hatte mit Abofallen zu tun und ein weiterer schien Daten verkauft zu haben. Ihr Gespür sagte ihr, dass es mehr als bloßer Zufall war. Für alle war das Spammen tödlich verlaufen. Erschrocken legte Sonja die Hand vor den Mund. 'Hat da etwa jemand ebenfalls meinen Wunsch, dass der Spam endlich aufhört?'
Sonja lagen nun erste Anhaltspunkte vor, wenn ihr auch noch so vieles unklar war. Sie fertigte routiniert eine Arbeitskopie ihrer Spiegelung mit ein paar Mausklicks an und begann dann mit wenigen weiteren Klicks das forensische Programm über den Inhalt laufen zu lassen. Während ihre Finger die Knöpfe der Tastatur drückten, gingen ihre Gedanken auf Wanderschaft, was hinter der Sache stecken konnte. Gemeinsamkeit waren sowohl der Computer als auch die kriminelle Tätigkeit.
Normalerweise hätte sie die Festplatte auch vom zuständigen Kollegen analysieren lassen können. Dieser arbeitete als Experte auf dem Computergebiet, allerdings an einem größeren internationalen Fall rund um eine mysteriöse weltweit agierende Computerhackervereinigung namens Legion. Legion hinterließ quasi keine Spuren und trotz langer Ermittlung war bisher kein einziges 'Mitglied' von Legion aufgespürt worden. Wobei Legion nach Sonjas Meinung bisher mehr gutes als schlechtes getan hatte. Sie hatten mehr als ein kriminelles Netzwerk öffentlich gemacht und damit die Ermittler sogar unterstützt. Andererseits operierten sie außerhalb jedes Gesetzes. Sonja fühlte sich sehr zwiegespalten und war froh, sich nicht um Legion kümmern zu müssen.
Wie Sonja erwartet hatte, brachte die Vorratsdatenspeicherung bei Profis wie Legion oder auch Kriminellen rein gar nichts. Sonja hatte ja die Theorie, dass diese Speicherung nur dazu diente, den Verkauf von Datenspeichern zu erhöhen. Auch Kollegen fragten sich in ihren Unterhaltungen immer wieder, was die Politik und andere verantwortlich wirklich davon verstanden.
Die Analyse würde wohl mehrere Stunden dauern. Währenddessen eignete Sonja sich von ihrer Neugier getrieben weitere Hintergrundinformationen an. Es kribbelte einfach in ihren Fingern. So eine Begeisterung für einen Fall hatte sie schon lange nicht mehr gespürt. Es gab nicht nur in ihrem Bereich derartige Todesfälle, sondern in allen Regionen Deutschlands. Allerdings fand Sonja mit deutlichen Unbehagen bei ihren Recherchen heraus, dass auch weltweit über mehr als hundert ähnlicher Fälle berichtet wurde. Natürlich hatte sie keinen Zugriff auf die Datenbanken im Ausland, aber es war in Blogs und auf Netzauftritten von lokalen Zeitungen über einige Fälle berichtet worden. Sicherlich gab es da noch mehr. Allein der Gedanke, wie viele Tote es bereits gegeben haben musste, ließ Sonja schwindelig werden. Es verstieß zutiefst gegen ihr Gerechtigkeitsempfinden.
Wieso war bisher niemandem die Parallelität der Todesumstände aufgefallen? Sonja konnte über diesen unbegreiflichen Zustand nur ungläubig den Kopf schütteln. Selbst die Reporter schienen dies nicht bemerkt zu haben, obwohl sie sonst teilweise größere Skandale aufdeckten. In vielen Todesfällen wurde sogar über den gemeinsamen Nenner Computerkriminalität berichtet. Während ihrer Recherchen spürte sie die Kälte in ihre Glieder kriechen, obwohl der Raum gut geheizt war. Es war fast als könnte ein Massenmörder überall ein- und ausgehen.
Sonja hatte eine Anfrage an Interpol vorbereitet, wobei diese erst noch von ihren Vorgesetzten abgesegnet werden musste, was dieser nicht immer tat. Sie wollte wissen, ob es noch weitere Fälle gab. Ziemlich wahrscheinlich gab es welche, über die nicht berichtet worden war. Diese legte sie in ihren Postausgangskorb.
Bei ihrer Recherche hatte sie gar nicht bemerkt, wie schnell die Zeit vergangen war. Wieder einmal waren ihre Kollegen ohne sie zum Mittagessen gegangen. Sie fragte sich, ob sie es einfach vergaßen oder mit Absicht taten. Seufzend holte sie ihre Keksdose hervor und aß etwas von dem Gebäck. Sonja wusste, dass dies nicht gesund war. Aber ihr Gehirn brauchte momentan viel Zucker und Kaffee, um zu arbeiten.
Ein Piepsen meldete ihr, dass die Analyse beendet war. Mit gespannter Mine wandte sie sich wieder dem Bildschirm zu. Fein säuberlich listet die Analysesoftware verdächtige Programme und Dokumente auf. Es waren etliche bekannte Blackhatprogramme auf dem Rechner installiert. Programme, welche dazu dienten, Spam und Viren zu verbreiten. Es sah aber auch ganz so aus, als hätte diese der Benutzer installiert.
Sonja wunderte sich, wieso der Rechner so schlecht abgesichert war, wo der Benutzer doch offensichtlich illegale Programme nutzte. Außerdem fand sie Dateien, die den Toten mit einem Unternehmen namens Actawix in Verbindung brachten. Es handelte sich um ein Unternehmen, das schon häufiger mit Porno- und Versicherungsspam in Verbindung gebracht worden war, allerdings hatte nie etwas bewiesen werden können. Ein Lächeln schlich sich auf ihr Gesicht. Der Emailverkehr auf dem Rechner könnte diesen Umstand vielleicht ändern.
In dem Moment kam ihr Kollege Ricardo Schwangold herein. "Warum grinst du so?", fragte Ricardo.
"Ich denke, mein aktueller Fall könnte Actawix ein für alle mal erledigen. Auf dem Rechner gibt es ziemlich viel Beweismaterial."
Da Actawix sein Fall war, bekam Ricardo eine weitere Kopie der Spiegelung und nahm sie mit zu eingehenderen Auswertungen.
Sonja wandte sich gespannt wieder ihrer Ermittlung zu. Ein Programm, welches der Analysesoftware von den Eigenschaften her unbekannt war, stach hervor. Es nannte sich h4ck.exe, wobei der Name nicht viel sagte. Allein die Eigenschaften waren relevant. Allerdings passierte nichts, wenn sie es starten wollte. Egal wie oft sie es anklickte oder mit verschiedenen anderen Tricks versuchte. Sie testete das Programm natürlich in einer Sandbox, also in einem virtuellen Computer, wo ein Virus oder Trojaner keinen Schaden anrichten konnte. Es konnte natürlich einfach ein Programm sein, was der Verstorbene selber geschrieben hatte. Aber sein Computer deutete nicht daraufhin, dass er auch nur das einfachste Script schreiben konnte.
Sonja starrte eine Weile unschlüssig auf den Computer. Schließlich sicherte sie den Fund auf einem Datenträger ab und gab ihn weiter an einen Spezialisten zur Analyse. Es war wieder nur ein vages Gefühl, dass das Programm etwas mit dem Fall zu tun haben könnte.
Es vergingen einige Tage, bis das Ergebnis des Spezialisten eintraf. In dieser Zeit wälzte sie sich nachts häufig im Bett hin und her und dachte ständig an diesen Fall. Sie wusste nicht einmal so recht, warum sie so schlecht schlief. Vielleicht bereitete ihr der Gedanke, dass jemand unbemerkt in jedes Leben eindringen und es auslöschen konnte, Unbehagen.
Sonja hatte diesmal bei der Analyse sogar Glück gehabt, dass es so schnell ging. Normalerweise dauerte dies eher Wochen als Tage.
Neugierig öffnete sie den Bericht, aber natürlich nicht ohne vorher noch mal den Virenscanner drüber laufen zu lassen. Das Programm schien sowohl auf Grafik- wie auch Soundkarte zuzugreifen, allerdings war unklar zu welchem Zweck. Der Spezialist hatte einige Tests vorgenommen, war aber nicht hinter seine Funktion gekommen. Es gab vermutlich einen unbekannten Auslöseimpuls. Diesen kannten aber wohl nur die Programmierer und ohne den Quellcode des Programms war es aussichtslos, die Funktion vollständig zu durchschauen.
Erst am Abend beim Fernsehen kam Sonja der entscheidende Gedanke. Eigentlich hatte sie nur entspannen wollen, war dann aber beim Zappen auf einem Sender hängengeblieben. Voller Interesse verfolgte sie eine Sendung zum Thema Epilepsie, wo erklärt wurde, wie Lichtgeflacker oder Töne bei Menschen einen epileptischen Anfall auslösen konnten. Sie erinnerte sich an ihren ersten Gedanken zu Egoshootern, hatte damit aber wohl ein wenig daneben gelegen.
Sonja hatte nun zwar eine Ahnung, was das Programm machte, wenngleich das 'Wie' noch teilweise unklar blieb. Da bei einem vollkommen gesunden Menschen so ein Geflimmer nach ihrem Verständnis eigentlich nichts anrichten dürfte.
Als sie später im Bett lag konnte sie lange nicht einschlafen. Der Gedanke an Geflimmer und wilde Töne verfolgte sie, selbst bis in ihre Träume. Die düsteren Gedanken wälzten sich wie Findlinge durch ihre Traumbilder und ließen sie kaum zur Ruhe kommen. Immer wieder fand sie sich, wie gefesselt vor dem Bildschirm in der düsteren Wohnung, wo sie auf diesen Fall gestoßen war. Jedes Mal, wenn schrille Töne und Geflimmer sie töten wollten, erwachte sie.
Das Klingeln des Weckers war fast, wie eine Erlösung. Noch kein Fall hatte sie bisher so um den Schlaf gebracht. Dabei hatte sie schon deutlich Schlimmeres als tote Spammer gesehen. Und selbst mit den Festplatteninhalten von perversem Abschaum kam sie einigermaßen klar. Aber dies ging ihr wirklich unter die Haut. Es musste die Hilflosigkeit sein, denn es gab bisher keinen Schutz gegen eine digitale Mordwaffe.
Ohne Termin oder Ankündigung fuhr sie auf gut Glück zur nahen Uniklinik. Dort gab es eine Forschungsstelle für Epilepsie, wie sie noch am Abend im Netz herausgefunden hatte. Ein Wissenschaftler bestätigte ihre Annahme, dass bei gesunden Menschen Bildschirmgeflacker keine Anfälle auslösen konnte. Sonja durfte ihm natürlich keine Details zum Fall nennen. Als sie etwas präziser nach Bild- und Toneffekten fragte, erinnerte sich ihr Gesprächspartner an eine Publikation, von der er Sonja eine Kopie gab. Der Artikel war natürlich sehr theoretisch und höchst wissenschaftlich verfasst. Aber im Kern verstand sie die Aussage, wie es unter bestimmten Umständen möglich war, mit schnell flackernden Bildern und in bestimmten Tonbereichen bei jedem Menschen einen tödlichen Epilepsieanfall auszulösen. Audio-Optische-Überlastung der Synapsen nannte dies der Artikel.
Beim Gedanken, dass jemand diese Theorie in die Tat umgesetzt hatte bildete sich ein ziemlicher Kloß in ihrem Hals. Jeder Bildschirm wurde zu einer tödlichen Waffe. Wie hatte so etwas bloß veröffentlicht werden dürfen? Dieser Artikel hatte bestimmt jemanden auf die Idee gebracht, ein Programm zu schreiben, mit dem man andere über das Netz töten konnte. Eine extrem gefährliche und tödliche Cyberwaffe. Allein die Vorstellung, was man damit alles anrichten konnte, ließ sie erschauern. Gegen eine solche Waffe war man in der heutigen Welt nirgendwo geschützt. Selbst ein Smartphone ließe sich derart missbrauchen. Sie war sehr froh, sich diesem Trend bisher erfolgreich zu verweigern.
Als sie auf der Arbeit ankam, sagte ihr Herr Krass aus dem Büro neben ihrem, dass ihr Vorgesetzter sie sehen wolle. Mit leicht mulmigem Gefühl machte sie sich auf den Weg. Mit ihrem Chef kam sie einfach nicht klar. Vielleicht mochte er keine Frauen, aber mehr als einmal schon hatte er ihre Überlegungen abgetan. Sie hatte ihn sogar mal bei einem anderen Fall übergangen und sich damit ziemlichen Ärger eingehandelt.
Sonja berichtete ihrem Vorgesetzten Herrn Müller, also was sie ermittelt hatte. Dieser konnte oder wollte ihre Schlussfolgerungen nicht nachvollziehen. Herablassend meinte er: "Jagen Sie etwa schon wieder einem Ihrer Gehirngespinste hinterher? Ist ziemlich gewagt, zu glauben, man könnte Menschen per Mausklick töten. Es gibt genug richtige Arbeit und es stehen noch mehrere Berichte aus. Machen Sie da mal lieber weiter. Den Antrag an Interpol lehne ich natürlich auch ab."