Das Wunder der Unsterblichkeit - Gerhard Kardinal Müller - E-Book

Das Wunder der Unsterblichkeit E-Book

Gerhard Kardinal Müller

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Beschreibung

Christliches Leben ist vom Beginn an mit der Hoffnung verbunden, das ewige Leben zu erreichen. Eine Botschaft, die für den Gläubigen Trost, aber auch Verantwortung sich selbst gegenüber bedeutet. Denn in der Beziehung Gott – Mensch sind die Koordinaten einer christlichen Existenz eingeschrieben. Als Antwortender hat der Mensch die Möglichkeit, in Gottes Heilsangebot über den Tod hinaus zu leben. Ein Blick in die Kontroversen der Theologie und Philosophie über die Verheißung des ewigen Lebens, lässt erahnen, welche Schwierigkeiten sich mit diesem Passus aus dem Glaubensbekenntnis ergeben. Der Autor nimmt den Leser mit durch Kritik und Zustimmung, durch den Zweifel und die Hoffnung, die im Glauben zur Gewissheit wird, und jeden einzelnen unmittelbar in seiner Existenz herausfordert. Die Eschatologie wird so aus einem isolierten dogmatischen Traktat zu einer Aussage über das Schicksal des individuellen Menschen, der in der Schöpfung zugleich die Vollendung erkennen kann.

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Gerhard Kardinal Müller

Das Wunder der Unsterblichkeit

Was kommt nach dem irdischen Leben?

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2022Alle Rechte vorbehaltenwww.herder.deUmschlaggestaltung: Verlag HerderUmschlagmotiv: © kavunchik/GettyImagesSatz: SatzWeise, Bad WünnenbergE-Book-Konvertierung: SatzWeise, Bad WünnenbergISBN Print 978-3-451-39168-2ISBN E-Book (PDF) 978-3-451-83827-9ISBN E-Book (ePub) 978-3-451-83829-3

Meinen GeschwisternHildegard • Antonia • GünterIm himmlischen Jerusalem

Inhalt

Hinführung

1. Warum die Hoffnung nicht stirbt

2. Der Mensch – geworfen ins Nichts oder geborgen im Sein?/ Das Leiden – der Fels des Atheismus?

3. Mortalitätsrate bei 100 % – Der Gesang der Sirenen

4. Steigerung der Immortalitätsrate – Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen

5. Die unsterbliche Seele – fromme Illusion oder abgefeimter Betrug?/ Die Paradoxien des Existenzialismus

6. Die unsterbliche Seele – der große Traum der Menschheit

7. Das Überschreiten der Schwelle – Gottes Ankunft in seinem Eigentum

8. Gott – die Fülle des Lebens/ »Das Jenseitige ist nicht das unendlich Ferne, sondern das Nächste«

9. Jesu Proklamation des Reiches Gottes – der zentrierende Neueinsatz

10. Jesus Christus – Auferstehung und Leben in Person

11. Jetzt und in der Stunde unseres Todes

12. Das Schicksal der Toten

13. Gericht und Läuterung

14. Der kommen wird, zu richten die Lebenden und Toten

15. Hölle ist Freiheit ohne Liebe – Die kirchliche Lehre

16. Im Haus des Vaters

17. Der universale Heilswille Gottes und die Universalgeschichte

18. IHM sei die Ehre in Ewigkeit

Namenregister

Trennung ist wohl Tod zu nennen,Denn wer weiß, wohin wir gehn,Tod ist nur ein kurzes TrennenAuf ein baldig Wiedersehn.Joseph von Eichendorff 1

Die Lösung des Problems des Lebens in Raum und Zeitliegt außerhalb von Raum und Zeit.Ludwig Wittgenstein2

Auf dich, o Herr, habe ich gehofft.In Ewigkeit werde ich nicht zuschanden.In te, Domine, speravi;non confundar in aeternum.Ps 71,1

Anmerkungen

1 Sprüche 4: Werke IV, München 1980, 51.

2 Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus 6.4312 [1921], hg. v. J. Schulte, Frankfurt a. M. 92019, 109 f.

Hinführung

Doch ihre Hoffnung ist voll Unsterblichkeit

Wen ergreift nicht das Schaudern vor der Macht und Majestät des Todes, wenn er in die gebrochenen Augen eines lieben Menschen auf dem Sterbebett blickt und seine kalten Hände umfasst? Wie Jesus – in Trauer um seinen Freund Lazarus – stehen wir »im Innersten erregt und erschüttert« (Joh 11,35) vor dem überwältigenden Eindruck, den »die Spur des Anderen«1 hinterlassen hat. Es gibt kein Ausweichen und Vertrösten. »Der Tod ist der Ernst des Lebens. Das Leben ist kein Scherz und leichtsinniges Spiel mehr … Des Todes Ernst ist seine Frage an das Leben, an mein Leben, an mich selbst, an das von dieser Frage geweckte und aus ihr anhebende Denken.«2

Auch der sensibelste Biograph vermag dem Geheimnis einer Persönlichkeit nur nahezukommen, es aber nie zu enträtseln. Schon Sophokles (497–405 v. Chr.), der bedeutendste der griechischen Tragödiendichter, ließ in der »Antigone« den Chor singen:

»Vieles Gewaltige ist, doch nichtsIst gewaltiger als der Mensch.«3

Jeder einzelne Mensch ist ein Abgrund, der ihn entweder verschlingt oder nach seiner Ent-Sprechung ruft in einer »Liebe, die stärker ist als der Tod« (Hld 8,6).4 Die Liebe ist der einzige Schlüssel zum Herzen des Seins, wenn ich in Gottes ewigem Licht »durch und durch erkenne, so wie auch ich durch und durch erkannt worden bin«. (1Kor 13,12). Und das Wort gilt allen Jüngern Jesu: »Ihr werdet bleiben im Vater und im Sohn. Und das ist Seine Verheißung: das Ewige Leben.« (1 Joh 2,25).

Grande profundum est ipse homo –Ein abgrundtiefes Geheimnis ist sich der Mensch selbst.5

Die gesamte Kulturgeschichte stellt ein einziges Reflexionskontinuum dar über Herkunft und Zukunft des Menschen nicht nur als Spezies, sondern noch mehr als Individuum. Der konkret existierende Mensch kann nicht durch allgemeine Wesensbestimmungen definiert oder seinen Funktionen entsprechend evaluiert werden, weil er ein singuläres Bei-sich-Sein ist als das Über-sich- hinaus-Sein des Geistes auf den personalen Gott hin.

»Denn Person bedeutet das Höchste und Vollkommenste in der ganzen Wirklichkeit. Sie ist die subsistente, die für sich selbst bestehende Existenz eines vernunftbegabten Wesens.«6

In jedem möglichen Universum ist Person die realste Verdichtung des Seins in einem konkreten denk- und entscheidungsfähigen Seienden von absoluter Singularität, die der Kern-Spaltung ihres Trägers widersteht und sich kategorisch jeder Verschmelzung mit einem anderen Subjekt entzieht. Gegenüber jeder Funktionalisierung und Instrumentalisierung der menschlichen Person stellt Immanuel Kant lapidar fest:

»In der ganzen Schöpfung kann alles, was man will, und worüber man etwas vermag, auch bloß als Mittel gebraucht werden; nur der Mensch, und mit ihm jedes vernünftige Geschöpf, ist Zweck an sich selbst. Er ist nämlich das Subjekt des moralischen Gesetzes, welches heilig ist, vermöge der Autonomie seiner Freiheit.«7

Dass zwischen tierischem Leben und menschlichem Person- Sein nicht nur viele Welten liegen, sondern sämtliche Galaxien und alle Weltformeln hineinpassen, erweist schon des Sokrates Maxime in Platons Dialog Gorgias, in welcher »der Überwinder der Sophistik«8 die Sonderstellung des Menschen in unüberbietbarer Hellsicht ausspricht. Vor die Wahl gestellt zieht es der Weise vor, »lieber Unrecht zu leiden als Unrecht zu tun«9.

Ecce homo!

Der Schöpfer des Himmels und der Erde, der »im Anfang« sprach: »Es werde Licht!« (Gen 1,3; Joh 1,4), offenbarte auf uns hin gesprochen seinen wichtigsten Entschluss: »Lasst uns den Menschen machen als unser Bild, uns ähnlich.« (Gen 1,26). Der Mensch als Person ist göttlichen Ursprungs, unteilbar, unwiederholbar, unbegreiflich, unerschöpflich, weil seine Existenz heraufsteigt aus den »unendlichen Tiefen des Ozeans von Gottes Sein und Güte«10.

Individuum est ineffabile.11

Anfang des 19. Jahrhunderts konnte Johann Wolfgang Goethe (1749–1832), der Dichterfürst der deutschen Klassik, noch sagen: »Das eigentliche, einzige und tiefste Thema der Welt- und Menschengeschichte, dem alle übrigen untergeordnet sind, bleibt der Konflikt des Unglaubens und des Glaubens.«12 Zu Beginn des 21.  Jahrhunderts hat sich die Auseinandersetzung verschärft und zugespitzt auf die letzte Alternative zwischen der nihilistischen Ent-Personalisierung des Menschen und der Behauptung seiner absoluten Person-Würde.13

Der mit Publikationsverbot zensurierte Kulturphilosoph Joseph Bernhart (1881–1969) hielt in den Jahren der triumphierenden Nazi-Ideologie des »Menschen in der Gottlosigkeit« die Einsicht entgegen: »Wenige machen sich klar, dass es der Ausfall der jenseitigen Ewigkeit ist, der unser Leben zwar in einen fiebernden Dynamismus versetzt, aber die Fiebernden unausweichlich auch mit dem Gespenst der Sinn-Not konfrontiert, die unsere wahre Krankheit ist.«14

Und in den Wüsten des materialistischen Positivismus wächst das »Gefühl der Welt als begrenztes Ganzes«, das Ludwig Wittgenstein »das Mystische«15 nennt. Der Skeptizismus ist nicht unwiderleglich, wenn er das Unfragbare bezweifeln will. An-deutend fährt Wittgenstein fort: »Wir fühlen, dass selbst, wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind. Freilich bleibt dann eben keine Frage mehr; und eben dies ist die Antwort.«16 Dem deutsch-amerikanischen Geschichtsphilosophen Eric Voegelin (1901–1985) erscheint »das unglaubliche Spektakel der Moderne« zu enden »mit dem Ergebnis, dass die gesamte Menschheit heute in einem globalen Irrenhaus sitzt«. Und er fragt sich: »Wo in diesem Irrenhaus ist Raum für eine rationale Diskussion über die Unsterblichkeit, die genau diesen Kontakt mit der verlorengegangenen Realität voraussetzt – falls es überhaupt Platz dafür gibt?«17

Und es war der Personalismus des größten abendländischen Kirchenvaters Augustinus (354–430) wie ebenso des englischen Gelehrten und wahren Gentleman John Henry Newman (1801– 1890), der »wegen der fürchterlichsten Verbrechen an der Würde des Menschen«18 Sophie Scholl (1921–1943) und ihrem Bruder Hans (1918–1943) die Augen öffnete über die Unmenschlichkeit, die aus einer neuen Weltordnung ohne den Gott der Liebe zwangsläufig folgen musste. Für die Flugblätteraktion der Widerstandsgruppe »Weiße Rose«, mit der das deutsche Volk über die Verbrechen Hitlers aufgeklärt werden sollte, wurde sie mit ihrem Bruder und Freunden am 22. Februar 1943 zum Tode verurteilt.19

In einem Brief an die Mutter der beiden Hingerichteten schrieb Carl Zuckmayer (1896–1977), einer der großen Dramatiker deutscher Sprache, aus seiner katholischen Glaubenserkenntnis heraus: »Sie kämpften für das einfachste und größte Anliegen der Menschheit, den Triumph des Guten und Echten über das Böse und Falsche, der Wahrheit über die Lüge, des Göttlichen in der Menschenbrust über das Teuflische … Sie kämpften für die Souveränität des freien Geistes im Glauben an die tiefe Verpflichtung, die uns das Gottes-Geschenk einer unsterblichen Seele auferlegt.«20 Gegenüber der gnadenlosen Unterordnung des Individuums unter den evolutiven Prozess, die Zwecke der biologischen Rasse, die Interessen der ökologischen Naturreligion, die historische Dialektik des Klassenkampfs oder die monotonen Umläufe eines Universums, das über das Schicksal des Einzelmenschen ohne jede Empathie hinwegschreitet, hält der katholische Glaube an der natürlichen und geoffenbarten Wahrheit fest, »dass der Mensch … auf Erden die einzige von Gott um ihrer selbst willen gewollte Kreatur ist«21. Aufgrund einer »Ähnlichkeit zwischen der Einheit der göttlichen Personen und der Einheit der Kinder Gottes in der Wahrheit und Liebe« (vgl. Joh 17, 20) »kann er sich selbst nur durch die aufrichtige Hingabe seiner selbst vollkommen finden«22 – nämlich in der Liebe des dreifaltigen Gottes.

Im Guten wie im Bösen gilt von allen Menschen das Wort des Psalmisten (Ps 64, 7):

Das Innere eines Menschen und sein Herz – sie sind ein Abgrund.

Und darum kann niemand über uns oder andere das letzte Urteil sprechen als Gott allein. ER richtet nicht nach dem äußeren Anschein: Gott kennt die geheimsten Regungen unseres Gewissens (vgl. Ps 139, 1 f.; Jes 11, 3; Joh 7, 24).

Fürchten müssen wir uns nur vor denen, die hinter den Überwachungskameras sitzen und die Aufnahmegeräte kontrollieren. Auf die barmherzige Liebe Gottes jedoch, die die Tiefen des Herzens erleuchtet, darf auch der größte Sünder hoffen. »Wer kann die Auserwählten Gottes anklagen? Gott ist es, der gerecht macht. Wer kann sie verurteilen? Christus Jesus, der gestorben ist, mehr noch: der auferweckt worden ist, ER sitzt zur Rechten Gottes und tritt für uns ein.« (Röm 8, 33 f.).

Der Mensch in seiner nicht multiplizierbaren und kopie- resistenten Singularität transzendiert die Summe seiner materiellen und sozialen Daseinsbedingungen sowie die Plastizitäten des Gehirns und die neurophysiologischen Prozesse seines Zentralorgans ins Unendliche. Denn er ist nicht das more geometrico23 berechenbare Produkt der sozialdarwinistisch interpretierten Natur oder ein zufällig vorhandenes Konglomerat aus bewusstloser Materie, das – marxistisch formuliert – seine individuelle und kollektive »Wesenhaftigkeit durch den Entstehungsprozess des Sozialismus selbst konstituiert«24. Folglich wären die Individuen nur soviel wert, wie sie der Gesellschaft als Menschenmaterial von Nutzen sind und in einem Akt letzter Selbstlosigkeit mit ihrer Asche die Ackerfelder der Zukunft düngen. Der gegenwärtig auch die westliche Kultur dominierende historisch-dialektische Materialismus, aus dem alle suizidalen und genozidalen Ideologien der Selbsterschaffung des autonomen Subjekts und seiner Emanzipation von der natürlichen Logik und Ethik, der Sprache und ihrer Grammatik hervorgehen25, besteht seinem Prinzip nach in der Leugnung des allein Gott ver-dankten Seins von Welt und Mensch. Darum auch war der gegenteilige Effekt seines Programms der »Versöhnung des Menschen mit sich selbst«26 das Ergebnis des blutigsten Selbstexperiments der Menschheit im Aufstand gegen Gott, der allein und ganz Ursprung und Ziel allen Seins ist.27

Der Gott des jüdischen und christlichen Glaubens wird erkannt als die universale Ursache, die die Welt ins Da-Sein überführt, nicht aus inneren Bedürfnissen und äußeren Notwendigkeiten, sondern allein, um ihr seine Güte mitzuteilen und um sich dem Menschen als Ziel zu offenbaren.28 Der Sinn der ganzen Schöpfung ist die Offenbarung der Herrlichkeit Gottes und darin die Heiligung oder Vergöttlichung des Menschen – unser »Anteil an der göttlichen Natur« (2 Petr 1, 4).29

Es wäre irreführend, das urbiblische Wort der Selbstoffenbarung Gottes »ICH BIN der ICH BIN« (Ex 3, 14) und Christi, seines Sohnes, Selbstkundgabe »ICH BIN, ehe Abraham ward« (Joh 8, 58) – gemäß der Hegel’schen Dialektik von Geist und Natur – auszulegen als Rückzug Gottes in eine »Abstraktheit und Ferne« des leeren Seins, die den »Schrecken des Inkommensurablen verstärkt.«30

Schon im Alten Testament ist die Transzendenz Gottes nicht beängstigende Ferne, sondern die beglückende Nähe Gottes beim Volk seines Bundes. »Denn welche große Nation hätte Götter, die ihr so nah sind, wie der HERR, unser Gott, uns nah ist, wo immer wir ihn anrufen?« (Deut 4, 7) Gottes Sein überstrahlt noch den letzten Schatten des Nichts. »Fürchte dich nicht … Denn dein Schöpfer ist dein Gemahl … Der Heilige Israels dein Erlöser, Gott der ganzen Erde wird er genannt.« (Jes 54, 4 f.)

Der messianische Name Jesu bedeutet »Immanuel-Gott mit uns.« (Mt 1, 23; 28, 20; Offb 21, 3; Is 7, 14; Ez 37,  27). In der christologischen Relation Gottes zu seinem Mensch gewordenen Sohn erfüllt sich das endgültige soteriologische Verhältnis des Menschen zu Gott: »Ich werde für ihn Vater sein und er wird für mich Sohn sein.« (2 Sam 7, 13; Offb 21, 7; Gal 4, 4–6; Röm 8, 14–17; 1 Joh 3, 1). Die Gotteskindschaft als Ziel allen Heilshandelns Gottes »ist vollkommene Liebe, welche Furcht und Angst vertreibt« (1 Joh 4,  18). Paulus schreibt an die Christen in Rom, deren »Glaube in der ganzen Welt bekannt gemacht wird« (Röm 1, 8), d. h. an die »Römische Kirche«, die zur »Mutter und Lehrerin aller Kirchen«31 werden sollte: »Ihr habt nicht einen Geist der Knechtschaft empfangen, sodass ihr immer noch in Furcht leben müsstet, sondern ihr habt den Geist der Sohnschaft empfangen, in dem wir rufen: Abba, Vater.« (Röm 8, 15)

Gott befreit die Kinder Israels aus entwürdigender Knechtschaft und führt sie »in ein schönes, weites Land, wo Milch und Honig fließen« (Ex 3, 8). Der christliche Glaube an den dreifaltigen Gott ist nichts weniger als die Antwort der Jünger Jesu auf die Selbstauslegung Gottes, der sein Wesen als Liebe (immanente Trinität) vollzieht in der heilsgeschichtlichen Zuwendung (ökonomische Trinität) zu uns in seinem Mensch gewordenen Sohn und im Heiligen Geist, der in unser Herz ausgegossen ist (Röm 5,  5). Nur durch die göttliche Liebe wird die Welt zum Besseren verändert, und zwar nicht nur partiell bis zum nächsten Mal, sondern sie ist auf immer verwandelt in die »neue Schöpfung« (Gal 6,  15; Offb 21, 5). Jeder Mensch kommt vollkommen mit sich ins Reine, wenn er sich durch Jesus Christus mit Gott versöhnen lässt. »Wenn also jemand in Christus ist, dann ist er eine neue Schöpfung.« (2 Kor 5, 17)

Karl Marx (1818–1883) wollte demgegenüber sogar den Atheismus als Leugnung Gottes hinter sich lassen, indem er sich von der Frage nach der außerweltlichen Seins-Ursache des restlos sinnlich-weltlichen Daseins des Menschen radikal emanzipierte. Er bediente sich der biblischen Sprache aber nur, um ihren Sinn ins Gegenteil zu verkehren. »Ein Wesen gibt sich erst als selbständiges, sobald es auf eigenen Füßen steht und es steht erst auf eigenen Füßen, sobald es sein Dasein sich selbst verdankt. Ein Mensch, der von der Gnade eines anderen lebt, betrachtet sich als ein abhängiges Wesen. Ich lebe aber vollständig von der Gnade eines anderen, wenn ich ihm nicht nur die Unterhaltung meines Lebens verdanke, sondern wenn er noch außerdem mein Leben geschaffen hat; wenn er der Quell meines Lebens ist und mein Leben hat notwendig einen solchen Grund außer sich, wenn es nicht meine eigene Schöpfung ist.«32

Bei der Dechristianisation33 der abendländischen Welt seit den Jakobinern der französischen Revolution bis zur Sinisierung der (als »fremdländisch« disqualifizierten) Religionen im kapital-sozialistischen KP-China geht es nicht nur um die Kritik an diesem oder jenem Element des geschichtlichen Christentums, sondern um seine totale Eliminierung. Die Agenda schließt mit dem Gottesmord, dem Deicide.34

Wie der Jesuitenpater Alfred Delp (1907–1945) nach seiner Verurteilung zum Tode durch den Volksgerichtshof des Nazi- Regimes mitteilte, waren es die »Rechristianisierungsabsichten«35, die – im Zusammenhang des Attentats auf Hitler am 20. Juli 1944 – der Vorsitzende Roland Freisler dem Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus und Begründer der Widerstandsgruppe »Kreisauer Kreis«, Helmuth James Graf von Moltke (1907–1945), zum Vorwurf und Grund des Todesurteils über ihn machte.

Hinter der eisernen Maske des nihilistischen Positivismus verbirgt der atheistische Posthumanismus sein wahres Gesicht. Wie in einer diabolischen Perversion des Gottes der dreifaltigen Liebe subsistieren nun die dialektisch vermittelten Hervor-Gänge des Relativismus aus dem Nihilismus, die sich in einem gnadenlosen Totalitarismus wieder vereinigen.36 Harmlose Geister, auch unter Christen, lassen sich geflissentlich mit den Propagandaparolen von Emanzipation und Autonomie, Reform und Modernisierung die Sicht vernebeln und als »nützliche Idioten« (Wladimir Iljitsch Lenin) vor den Karren zum eigenen Schafott spannen.37

Angesichts der Völkermorde, Versklavungen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in den pervertierten Polit-Religionen von Selbsterschaffung und Selbsterlösung bleiben wir Christen doch lieber in der Liebe des Sohnes Gottes (Joh 15, 9 f.): Denn er opferte nicht unser Leben für seine Interessen, sondern gibt wie »der gute Hirte« (Joh 10, 11) »sein Leben hin für seine Freunde« (Joh 15, 13). Und das ist sein Versprechen, auf das wir bauen: »Die aus der großen Bedrängnis kommen … stehen vor dem Thron Gottes und dienen ihm Tag und Nacht …  ; und der, der auf dem Thron sitzt, wird sein Zelt über ihnen aufschlagen … Denn das Lamm in der Mitte vor dem Thron wird sie weiden und zu den Quellen führen, aus denen das Wasser des Lebens strömt, und Gott wird alle Tränen von ihren Augen abwischen.« (Offb 7, 14–17)

Schöpfung heißt im christlichen Sinn nicht die demiurgische Gestaltung eines vorliegenden Materials oder die Realisierung einer möglichst besten Welt aus passiven Potentialitäten, sondern die Verwirklichung der konkreten Welt aus Gottes unendlichen aktiven Möglichkeiten und damit aus der grenzenlosen Mitteilung des Seins und der verschwenderischen Anteilhabe am Leben des dreifaltigen Gottes:

Ipse solus est maxime liberalis.38

Da der Sohn gleich-ewig aus dem Vater gezeugt ist als das Wort des göttlichen Verstandes – verbum intellectus – und der Heilige Geist hervorgeht aus dem Vater durch den Sohn als der Wille ihrer sie einigenden Liebe – amor voluntatis – »findet sich in den vernunftbegabten Geschöpfen, d. h. in ihrem Verstand und Willen, die Darstellung der Dreifaltigkeit nach der Weise des Bildes, insofern sich in ihnen das empfangene Wort findet und die ausgehende Liebe«39.

Die aber zum Glauben an Christus, das fleischgewordene Wort Gottes, gekommen sind, leben aus seiner Verheißung: »Wenn ihr in meinem Wort bleibt, seid ihr wahrhaft meine Jünger. Dann werdet ihr die Wahrheit erkennen und die Wahrheit wird euch befreien.« (Joh 8, 31 f.) Der Christ ver-dankt sich (eu-charistisch) Gott, der ihn aus un-bedürftiger und schenkender Liebe ins Dasein gerufen hat und der den Menschen nicht zum Sklaven der Mächte und Gewalten der Elemente,40 sondern zum »Sohn und Erben durch Gott« (Gal 4, 7) auf ewig schon zum Heil vorherbestimmt hat (Röm 8, 29). »Ewigkeit der Erwählung und Vorherbestimmung« bedeutet hier nicht die bloß (von unserem endlichen Verstand her) gedachte Endlosigkeit der Zeit vor der gemessenen Zeit der Welt nach ihrer Entstehung aus dem Nichts, sondern den überzeitlichen Ursprung des individuellen Menschen – in seiner denkenden und wollenden Vermitteltheit zu sich selbst – im trinitarischen Geheimnis der personalen Erkenntnis (Wort) und Liebe (Geist) Gottes im Verhältnis zu sich selbst, dem Vater, der ewiger Ursprung der Gottheit ist und schöpferischer Ursprung der raum-zeitlichen Welt.

Der Mensch gehört dieser sichtbaren Welt an. Aber er ist prinzipiell verwiesen auf die Transzendenz. Er geht wie ein Wanderer zwischen zwei Welten – der homo viator. Der Pilger auf dem Weg ins himmlische Vaterhaus startet bei der Endlichkeit der Welt und gelangt an sein Ziel in der Unendlichkeit Gottes. Der Tod ist das Ende seines Daseins in der Form der Zeit und der Anfang seines unvergänglichen Lebens in Gottes Ewigkeit.

Nach dem missglückten Attentat auf den Tyrannen am 20.  Juli 1944 sagte der evangelische Pastor Dietrich Bonhoeffer im Nazi-Gefängnis – schon mit dem Todesurteil rechnend: »Auf dem Weg zur Freiheit ist der Tod das höchste Fest.«41

Selig, wer in seiner Sterbestunde die Worte des heiligen Franziskus von Assisi im »Sonnengesang«42 – dem Cantico delle Creature – beten kann:

Gelobt seist du, mein Herr,durch unsere Schwester, den leiblichen Tod;kein lebender Mensch kann ihm entrinnen.Wehe jenen, die in tödlicher Sünde sterben.Selig, die er finden wird in deinem heiligsten Willen,denn der zweite Tod wird ihnen kein Leid antun.Lobet und preiset meinen Herrnund dankt und dient ihm mit großer Demut.

Kein Geschöpf kann über den Schatten seiner Kontingenz springen oder ist – wie Sisyphos – verurteilt wegen der Zufälligkeit des menschlichen Daseins oder – wie Prometheus – befangen im Nebel der Dialektik, die Sonne der Selbsterlösung selbst zum Leuchten zu bringen.43 Dennoch ist der Mensch als geistiges Wesen – indem er die Prinzipien seines Daseins bedenkt – selbst »der entscheidende Schritt über sich hinaus.«44 Er stößt nicht von innen an eine unüberschreitbare Grenze wie mit dem Kopf gegen eine undurchdringliche Mauer. Vielmehr vollzieht er in seinem innersten Selbst-Sein die permanente transzendentale Verwiesenheit in den unverfügbaren, aber sich ihm frei gewährenden Grund seines Daseins. Die Substanz seiner geistig-sittlichen Existenz ist nichts anderes als Aufgeschlossenheit für »das absolute Geheimnis Gottes«45. Im Hinblick auf das intellektuelle und ethische In-der- Welt-Sein aller Menschen stellt der Apostel Paulus in seiner Areopag-Rede zu Athen fest: »Sie sollten Gott suchen, ob sie ihn ertasten und finden könnten. Denn keinem von uns ist er fern. In Ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir.« (Apg 17, 27 f.)

Sein Zeitgenosse, der stoische Philosoph Seneca (um 1–65 n.  Chr.), der im Unterschied zu ihm nicht als Märtyrer für Christus sterben durfte, sondern wegen der Pisonischen Verschwörung als Opfer des Tyrannen Nero sich selbst den Tod geben musste, konnte erstaunlich Ähnliches von der Gott-Nähe des Menschen sagen: »Gott ist dir nahe, er ist mit dir, er ist in dir. Ich behaupte … : ein heiliger Geist wohnt in uns, ein Wächter und Beobachter aller unserer Fehler und Vorzüge. Wie wir ihn behandeln, so behandelt er uns. Vor allem: Ohne Gott ist niemand ein vollkommener Mensch. Oder vermag sich jemand ohne Gottes Hilfe über sein Schicksal zu erheben? Er gibt uns die hochsinnigen und erhabenen Entschlüsse. In jedem einzelnen vollkommenen Menschen ›wohnt Gott – verborgen bleibt, welcher Gott‹.«46

Jeder Mensch in seiner irreduziblen Einmaligkeit ist ein relatives Wunder der »Natur«, d. h. seiner menschlichen Mit- und sachlichen Um-Welt, insofern die Größe des nach Gottes Bild und Gleichnis geschaffenen Menschen offen-bar wird, sowohl in dessen Sein als auch in seinem kreativen und moralischen Handeln (Ps 8,  7). Dabei überschreitet er ins Un-begrenzbare deren eigene Möglichkeiten mit den staunenswerten Werken seiner Kultur in Sprache und Spiel, Ackerbau und Viehzucht, Handwerk und Technik, Daseinsfürsorge und Heilkunde, Gesellschaftsordnung und Ökonomie, Rechtswesen und Staatenbildung, Architektur und Kunst, Wissenschaft und Literatur, Ethik und Philosophie. Ein Stillstand der innerweltlichen Entwicklung ist per se unmöglich, die immanente Vollendung ihrer Perfektibilität unerreichbar, von der Jean Jacques Rousseau (1712–1778), der romantische Aufklärer, träumte.47 Niemals jedoch vermag der geschichtliche Mensch sich seiner Selbsttranszendenz in das Geheimnis Gottes zu verweigern, der jeder Person unmittelbar präsent ist, in welcher Epoche ein Mensch auch leben mag.

Doch kraft ihrer Bestimmung zur Unsterblichkeit ist jede Person auch ein absolutes Wunder der Liebe Gottes. Der Schöpfer der Welt und der Erlöser Israels sagt zum Volk seines Bundes: »Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du gehörst mir … Denn jeden, der nach meinem Namen benannt ist, habe ich zu meiner Ehre geschaffen, geformt und gemacht.« (Jes 43, 1.7)

Statt im nachmetaphysischen Zeitalter des Naturalismus und Immanentismus verlegen von Gottes »Machtaten, Wundern und Zeichen« (Apg 2, 22) zu schweigen, sollte die kirchliche Verkündigung um der menschlichen Hoffnung willen von den Wundern reden, durch die Jesus, das fleischgewordene Wort Gottes, »seine Herrlichkeit offenbarte« (Joh 2, 12), »damit ihr glaubt, dass Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes, und damit ihr durch den Glauben das ewige Leben habt in seinem Namen« (Joh 20,  31). Darius, der heidnische König von Babylon, lässt wegen der Rettung Daniels aus der Löwengrube »an alle Völker, Nationen und Sprachen auf der ganzen Erde« schreiben vom »Gott Daniels«, dem Gott Israels: »Denn er ist der lebendige Gott; er bleibt in Ewigkeit. Sein Reich geht niemals unter; seine Herrschaft hat kein Ende. Er rettet und befreit; er wirkt Zeichen und Wunder im Himmel und auf der Erde; er hat Daniel aus der Gewalt der Löwen gerettet.« (Dan 6, 27 f.).

»Löwe« ist hier das Symbol für die brutale Macht des grausamen Todes. Doch es kommt die Rettung aus »Tod, Trauer, Klage und Mühsal« (Offb 21, 4), aus der »Zeit der Not« (Dan 12,  1). Der Prophet Daniel vernimmt die noch geheime Verheißung, nach der viele suchen und forschen bis sie schließlich am Ende der Zeiten zur »großen Erkenntnis« gelangen: »Doch zu jener Zeit wird dein Volk gerettet, jeder, der im Buch verzeichnet ist. Von denen, die im Land des Staubes schlafen, werden viele erwachen, die einen zum ewigen Leben, die andern zur Schmach, zu ewigem Abscheu. Die Verständigen werden glänzen wie der Glanz der Himmelsfeste und die Männer, die viele zum rechten Tun geführt haben, wie die Sterne für immer und ewig.« (Dan 12, 2f.).

Im wahren und eigentlichen Sinn kann nur Gott allein Wunder wirken. Und alles, was Gott wirkt, ist ein Wunder, insofern es die Natur der Welt Grund legt, und ihre immanenten Entelechien zugunsten des natürlichen Wohls und des übernatürlichen Heils überschreitet oder – im Werk der Erlösung von der Sünde – ihre Perversion ins Destruktive überwindet. Das Wesen des Wunders im theologischen Sinn ist innerhalb des mechanistischen Weltbildes falsch beschrieben als Durchbrechung der Naturgesetze, die nur statistisch den Ursache-Wirkungs-Zusammenhang materieller Dinge beschreiben. Ludwig Wittgenstein hatte schon methoden- kritisch formuliert: »Der ganzen modernen Weltanschauung liegt die Täuschung zugrunde, dass die sogenannten Naturgesetze die Erklärung der Naturerscheinung sind.«48 Vielmehr ist ein Wunder die staunende Erfahrung, dass Gott handelt in einer Weise, die unsere endliche Vernunft überschreitet in ihrer Beziehung auf das Sein der Seienden (und nicht limitiert auf materielle Wechselwirkungen). Wunder als Beschreibung des einzigartigen Heilshandelns Gottes sind in diesem Sinn: die Schöpfung, die Inkarnation, die Auferstehung Christi von den Toten, die Unsterblichkeit der geschaffenen Personen und ihre Berufung zur Gotteskindschaft. Gott offenbart seine Gottheit durch das Heilswirken Christi. Er bestätigt ihn in seinen Wundertaten als den Messias Israels, der das leibliche und geistliche Heil der verlorenen Sünder bewirkt und sich darin als der wesensgleiche Sohn des Vaters vor der Welt bezeugt (Apg 2, 22). Die Wunder im Sinn des christlichen Glaubens an den dreifaltigen Gott erschließen (ontologisch und noetisch) die Offenbarung der Herrlichkeit Gottes und seines universalen Heilswillens in der Schöpfung, in der Geschichte und im menschlichen Einzelschicksal.49

Die Erfahrung Israels mit Gott, der sein erwähltes Volk aus der Sklaverei in das Land der Freiheit und des Lebens in Fülle führte, sammelt sich in der Gewissheit seiner Gläubigen, von Ihm auch im Tode, wenn alles zu Ende geht, nicht verlassen zu sein.50 In der endzeitlichen und definitiven, d. h. der eschatologischen Transposition der messianischen Geschichte des Gottesvolkes in das »Evangelium von Jesus Christus, dem Sohn Gottes« (Mk 1, 1) bestärkt uns die (um 30 v. Chr. griechisch-alexandrinisch gefasste) »Weisheit Salomons« (Weish 3, 1–5) in der Hoffnung auf Gott, unseren Schöpfer und Retter:

Die Seelen der Gerechten aber sind in Gottes Hand … In den Augen der Toren schienen sie gestorben, ihr Heimgang galt als Unglück, ihr Scheiden von uns als Vernichtung; sie aber sind in Frieden. In den Augen der Menschen wurden sie gestraft

–doch ihre Hoffnung ist voll Unsterblichkeit.

Diese Verheißung hat Gott erfüllt im »Evangelium von Seinem Sohn, … der dem Geist der Heiligkeit nach eingesetzt ist als Sohn Gottes in Macht seit der Auferstehung von den Toten« (Röm 1, 2–4). Christi Evangelium »ist eine Kraft Gottes zur Rettung für jeden, der glaubt, zuerst für die Juden, aber ebenso für die Griechen [alle Völker]. Denn in ihm wird die Gerechtigkeit Gottes offenbart aus Glauben zum Glauben, wie geschrieben steht: Der aus Glauben Gerechte wird leben« (Röm 1, 16 f.).

In der österlichen Sequenz Victimae paschali laudes singt die Kirche:

Tod und Leben, die kämpften unbegreiflichen Zweikampf.Des Lebens Fürst, der starb, herrscht nun lebend. –Mors et vita duello conflixere mirando:Dux vitae mortuus, regnat vivus.

Der Sohn Gottes ist am Kreuz für jeden einzelnen Menschen gestorben, um sich ihm als die vergebende Liebe Gottes unmittelbar mitzuteilen. Jesus opferte sich nicht für die Idee einer besseren Welt oder das Glück der größten Zahl in einer abstrakten Menschheit (als Kollektivsingular). Diese intimste Nähe Gottes, die jedem Einzelnen einen unendlichen Wert verleiht, indem Gott jedem im Innersten nahe ist, darf nicht mit dem Persönlichkeitsstolz des Renaissance-Menschen oder dem Personenkult des bürgerlichen Individualismus oder sozialistischen Kollektivismus verwechselt werden.51

Das Individuum steht hier – aufgrund der Vermittlung des Gott-Menschen Jesus Christus – im Mittelpunkt von Gottes Heilswillen und hat in der christlichen Theologie seine metaphysische Basis in der unsterblichen Seele, die ihre Erfüllung findet in der Erkenntnis der Wahrheit und in der liebenden Ehrfurcht vor dem Leben. Die christlich-humanistische Kultur der Person und Persönlichkeit bewahrt den Glaubenden, der Gott liebt über alles und den Nächsten wie sich selbst (Mt 22, 36–40), vor dem süßen Gift des Narzissmus ebenso wie vor dem Kollektivismus, der seine Opfer wie eine Anakonda umschlingt und ihnen das Leben aus dem Leibe drückt. Der Kollektivismus übt eine große Faszination aus, weil der in der Masse sich verloren fühlende moderne Mensch als Ausgleich die Geborgenheit in einem größeren Ganzen der Nation, der Rasse und einer Wertegemeinschaft sucht, die von einem Führer als Identifikationsfigur verkörpert wird und dem man als Gegenleistung sein Denken, Fühlen und Handeln unterwirft.52

In politischer Pseudo-Mystik wird zur Bestimmung des Selbstwertgefühls vom Kollektiv her der Begriff der »Massenseele«53, der »Rassenseele«54 oder der »Über-Seele«55 ins Feld geführt, wobei die letztere Idee (in einer interpretatio benigna) auch denken lässt an Platons (metaphysisch, metaphorisch, theistisch oder pantheistisch interpretierte) »Allseele«56, d. h. der Durchdringung der Welt durch die Vernunft und Güte des Gottes. Im Manifest von Facebook will der Gründer dieser Plattform die 2,5 Milliarden Mitglieder seiner Community in einer Überseele der Kommunikation vereinen und ihre Herzen beglücken durch den harmonischen Gleichklang all ihrer Gefühle und Gedanken.57

Virtuelle Kommunikation kann nur ein Hilfsmittel sein und die reale und sinnenhafte Vermittlung von Freundschaft, Austausch und Nähe niemals ersetzen, wenn der Mensch als Person einer geistigen und leiblichen Natur in ihrem sozial und geschichtlichen Kontext nicht schwersten Schaden erleiden soll. Die polare Einheit von Personalität und Sozialität kann nicht unterlaufen oder ausgehebelt werden.

Person ist nie ohne Relation, die aus der eigenen Enge hinausführt und erst in der Hingabe die Einheit von Lieben und Geliebt- Sein findet.58 Cyprian von Karthago hat die das katholische Lebensgefühl treffende Verbindung von Unmittelbarkeit zu Gott (Theozentrik) und kirchlicher Vermittlung (Sakramentalität) ausgedrückt in der berühmten Formel: »Gott kann der nicht mehr zum Vater haben, der die Kirche nicht zur Mutter hat.«59

Anstößig wird die Kirchlichkeit des Glaubens nur bei denen, die »die Kirche des dreifaltigen Gottes«60 mit einer beliebigen von Menschen gemachten Institution oder einem in der Geschichte zufällig gewordenen Machtkomplex verwechseln und nicht verstehen, dass die Kirche keine Sache, sondern als Braut Christi eine Person ist, »die ER geliebt und für die ER sich hingegeben hat, um sie zu heiligen, da er sie gereinigt hat durch das Wasserbad im Wort« (Eph 5, 26). Die Kirche – in der Gesamtheit der Gläubigen und ihrer Hirten – ist »in Christus das allumfassende Sakrament des Heils der Welt.«61 »Denn seine Menschheit war in der Einheit mit der Person des Wortes Werkzeug unseres Heils. So ist in Christus ›hervorgetreten unsere vollendete Versöhnung in Gnaden, und in ihm ist uns geschenkt die Fülle des göttlichen Dienstes‹.«62

Wo Gott aber der absolute Geist ist, der sich das Gegenüber des geistlos Anderen der Natur erst im Durchgang durch sie dialektisch aneignen muss, kann die menschliche Natur Christi und ihre Vergegenwärtigung in der Kirche, als seinem Leib, und in den Sakramenten, als Zeichen der Gegenwart des leiblich auferstandenen Herrn, nur als verdinglichte Vermittlung missverstanden werden, welche die Unmittelbarkeit zu Gott im reinen Bewusstseinsakt des Glaubens verunmöglichen würde. Indem der lutherische Fiduzial- Glaube im absoluten Idealismus auf die Spitze getrieben wurde, konnte Hegel den Katholizismus (mit den Sakramenten, der Transsubstantiation, d. h. der Wesensverwandlung von Brot und Wein in die Substanz des Fleisches und Blutes Christi, dem Dienst der Vermittlung durch geweihte Priester) als »die Religion der Unfreiheit«63 diskreditieren. Das ist – nur anders formuliert – das alte protestantische Schlagwort von der »Verdinglichung der Gnade«, deren der Katholizismus bezichtigt wird. Der Preis allerdings für diese Idealisierung der Inkarnation zu einem bloßen Moment des sich entäußernden absoluten Geistes ist aber gerade die Freiheit selbst, die leblos auf eine Einsicht in die Notwendigkeit herabsinkt und die die Spontaneität der Liebe als freie Zustimmung zur Wahrheit des Glaubens verflüchtigt ins Wesenlose der Selbstreflexion, dem das reale Gegenüber einer Person fehlt.64

In der Tat muss das Objektive (das »Äußerlich-Historische«) der Erlösung subjektiv werden in der Rechtfertigung (die »Verinnerlichung und Zu-eigen-Nahme«), aber eben nur im Akt der Liebe, die frei macht, und im Vollzug der Freiheit, die in der Liebe werk-tätig wird (Gal 5, 6). Es kann keinen prinzipiellen Gegensatz zwischen Gottes wesenhafter Freiheit und des Menschen geschaffener Freiheit geben, weil selbst durch den Sündenfall der Mensch seine Würde als Geschöpf und seine Gewissens- und Wahlfreiheit nicht verloren hat und ihrer prinzipiell niemals verlustig gehen kann – selbst nicht in der Hölle, die den Verlust der Gnade, aber nicht des Seins bedeutet. Deshalb erübrigt sich auch eine pan-en-theistische Aufhebung des Menschen in Gott oder eine Selbstverwirklichung des absoluten Geistes in seinen endlichen Erscheinungen, weil das »Prinzip der Freiheit«65 von einem katholischen, d. h. anti-doketischen und anti-manichäischen, Standpunkt her niemals eine »Selbst-Vergötterung des Menschen« bedeuten kann, die paradox, dialektisch und antithetisch mit der Freiheit Gottes vermittelt werden müsste – wie Hegel es versucht im »spekulativen Karfreitag«66.

Jesus, der Sohn des Vaters (Lk 10, 21), offenbart »den Herrn, den Gott Abrahams, den Gott Isaaks und den Gott Jakobs« und weitet unseren Horizont in Seine Ewigkeit: »Er ist doch kein Gott von Toten, sondern von Lebenden. In ihm leben sie alle.« (Lk 20, 38)

Die christliche Hoffnung im Moment des Sterbens und über den Tod hinaus ist begründet in der Selbstmitteilung des göttlichen Wortes, das Fleisch geworden ist (Joh 1, 14–18), in unserem Fleisch gelitten hat (Hebr 2, 14), gehorsam war »in der Gestalt des Fleisches unter der Macht der Sünde« (Röm 8, 3) »bis zum Tod am Kreuz« (Phil 2, 8) und das im menschlichen Leib Christi von den Toten auferstanden ist (Lk 24, 39). Nur der Sohn Gottes konnte das göttliche Selbst-Sein seiner Person »im fleischgewordenen Wort« (Joh 1, 14) offenbaren: »ICH BIN die AUFERSTEHUNG und das LEBEN. Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt, und jeder, der lebt und an mich glaubt, wird auf ewig nicht sterben.« (Joh 11, 25 f.).

Der Christ geht aus von der realen Transzendenz und Immanenz Gottes über und in uns67. Gott hat sich uns in Wort und Tat geoffenbart als der ewig Seiende –

ICH BIN der ICH BIN.

ER engagiert sich zu unserem Heil in der Geschichte für das Leben und die Freiheit seines Volkes (Ex 3, 14). »Wenn Gott für uns – pro nobis – ist, wer ist dann gegen uns?« (Röm 8,  31)68 Gott, der An-und-für-sich-Seiende, ist in Christus Pro-Existenz. »Das ›Für-andere-Dasein‹ Jesu ist die Transzendenzerfahrung!«69

Dass Jesus in seiner Person die Gottesherrschaft Gottes geschichtlich verwirklicht und eschatologisch vollendet hat, sagt der wiederkommende Herr selbst im Wort der Selbstoffenbarung seiner Wesens-Gleichheit mit dem Vater: »ICH BIN das Alpha und das Omega, der Erste und der Letzte, der Anfang und das Ziel – principium et finis.« (Offb 22, 12)

Die Gläubigen bauen auf Jesus Christus: »der auferweckt worden ist, ER sitzt zur Rechten Gottes und tritt für uns ein« (Röm 8,  34). Keine Macht der Welt kann uns von der Liebe Christi losreißen. Wir tragen »einen glänzenden Sieg davon durch den, der uns geliebt hat«. Und darum ist sich der Apostel gewiss: »Weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges noch Gewalten, weder Höhe oder Tiefe noch irgendeine andere Kreatur können uns scheiden von der Liebe Gottes, die da ist in Christus Jesus, unserem Herrn.« (Röm 8,  37–39)

Deshalb hat der Mensch in der Welt eine Geschichte mit Gott. Dass wir nicht mit metaphysischer Notwendigkeit, sondern in physischer Kontingenz existieren, also den Launen der Natur, den Wechselfällen der Geschichte und der Willkür von Despoten ausgesetzt sind, ist eine gewaltige Herausforderung unseres Vertrauens in Gott. Die aller Technik zum Trotz bleibende Unverfügbarkeit der Welt enthält aber auch die einzigartige Chance der Freiheit, alle unsere Hoffnung auf Gott zu setzen.70 Allein diese Freiheit eröffnet die Möglichkeit der Liebe »für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit«71.

Andernfalls gäbe es ein Verhältnis zu Gott bloß in einer sklavischen Unterwerfung. Niemals könnte ohne die Kontingenz der Welt, die eine absolute Prädestination vonseiten Gottes ebenso undenkbar macht wie eine totale Determination durch die Naturgesetzlichkeit, die damit erst von Gott ermöglichte kreatürliche Freiheit zur Gnade der Gotteskindschaft gelangen, d. h. zur »Teilhabe an Wesen und Gestalt seines Sohnes, damit dieser der Erstgeborne unter vielen Brüdern sei« (Röm 8, 29).

Den an Christus Glaubenden und auf seinen Namen Getauften erwartet nach dem Tod das Offenbarwerden seines end-gültigen personalen Verhältnisses zum dreifaltigen Gott. Jenseits unserer – in den Kategorien von Raum und Zeit gefangenen – Vorstellungskraft und Formulierungskunst ist nach dem heiligen Augustinus Gott selbst in und nach diesem irdischen Leben unser Ort und Aufenthalt – qui nos tuetur in loco vitae huius, ipse, post istam vitam, sit locus noster.72

Die eschatologischen Zustände und Vorgänge nach dem Tod (Gericht, Fegfeuer, Himmel, Hölle) sind nichts anderes und gerade deshalb nichts weniger als Bestimmungen unserer personalen Relation zum dreifaltigen Gott, der uns durch Jesus Christus in sein Leben als ewige Liebe einbezogen hat: »Kein Aug hat je gesehen, kein Ohr hat je gehört, in keines Menschen Herz ist es gedrungen, was Gott denen bereitet hat, die ihn lieben.« (1 Kor 2, 9)

So konnte der als Philosoph wie als Theologe gleichermaßen geniale Hans Urs von Balthasar (1905–1988)73 mit Augustinus sagen: »Ipse post istam vitam sit locus noster.«74 »Gott ist das ›Letzte Ding‹ des Geschöpfs. Er ist als Gewonnener Himmel, als Verlorener Hölle, als Prüfender Gericht, als Reinigender Fegfeuer. Er ist Der, woran das Endliche stirbt und wodurch es zu Ihm, in Ihm aufersteht. Er ist es aber so, wie er der Welt zugewendet ist, nämlich in seinem Sohn Jesus Christus, der die Offenbarkeit Gottes und damit der Inbegriff der ›Letzten Dinge‹ ist. Eschatologie ist darin, beinah noch mehr als jeder andere locus theologicus, im ganzen Lehre von der Heilswahrheit.«75

Die Unsterblichkeit und die Auferstehung des Menschen sind nicht empirisch-anschaulich als ein apokalyptisches Szenarium des Atomkrieges, der Erderwärmung oder der Überbevölkerung zu beschreiben, wie wir es aus Warnungen der Planeten-Rettungs- Stiftungen und den Science-Fiction-Romanen und Katastrophenfilmen zum »Ende der Welt« kennen.

Unsere persönliche Unsterblichkeit ist das personal-dialogische Verhältnis zu Gott. ER ist unsere Vollendung, da wir zum ewigen Lob Gottes geschaffen sind. Die Gemeinschaft mit dem Gott der dreifaltigen Liebe umfasst die anthropologischen Dimensionen von Leib und Seele, die soziale Dimension in der Gemeinschaft der Heiligen76 und die kosmisch-universale Dimension mit der Neu-Schöpfung von Himmel und Erde.77

Das hermeneutische Kriterium für eschatologische Aussagen formulierte Karl Rahner (1904–1984), ein Theologe von außerordentlich spekulativer Denkkraft,78 auf diese Weise:

»Der Mensch als Christ weiß von seiner Zukunft weil und indem und darin, dass er durch die Offenbarung Gottes von sich selbst und seiner Erlösung in Christus weiß. Sein Wissen um die Eschata ist nicht eine zusätzliche Mitteilung zu der dogmatischen Anthropologie und Christologie, sondern nichts anderes als eben deren Transposition in den Modus der Vollendung. Ein solcher prospektiver Entwurf des eigenen christlichen Daseins auf seine zukünftige Vollendetheit hin ist dennoch strenge Offenbarung, weil diese enthüllende Interpretation des menschlichen Daseins Offenbarung ist, die im Wort Gottes geschieht. Aber eben genau in dem, was der Mensch über sich von Gott her als die Eröffnung der Wahrheit seines Daseins hört, geschieht die Offenbarung der Zukunft und umgekehrt.«79

Der klassische Begriff der »letzten Dinge« (de novissimis; vgl. Sir 7, 40 Vg; Mt 12, 45 Vg) und Wirklichkeiten in der Eschatologie80 beantwortet die Frage: Was dürfen wir hoffen?81

Und die Konzilsväter des II. Vatikanums formulierten sie so:

Was kommt nach diesem irdischen Leben?82

Diese Frage soll in 18 Themenkreisen behandelt werden:

1. Warum die Hoffnung nicht stirbt

2. Der Mensch – geworfen ins Nichts oder geborgen im Sein?

3. Mortalitätsrate bei 100 %

4. Steigerung der Immortalitätsrate

5. Die unsterbliche Seele – fromme Illusion oder abgefeimter Betrug?

6. Die unsterbliche Seele – der große Traum der Menschheit

7. Das Überschreiten der Schwelle – Gottes Ankunft in seinem Eigentum

8. Gott – die Fülle des Lebens

9. Jesu Proklamation des Reiches Gottes – der zentrierende Neueinsatz

10. Jesus Christus – Auferstehung und Leben in Person

11. Jetzt und in der Stunde unseres Todes

12. Das Schicksal der Toten

13. Gericht und Läuterung

14. Der kommen wird, zu richten die Lebenden und Toten

15. Hölle ist Freiheit ohne Liebe

16. Im Haus des Vaters

17. Der universale Heilswille Gottes und die Universalgeschichte

18. IHM sei die Ehre in Ewigkeit

Warum aber verfassen immer wieder andere Autoren jeweils dickere und dünnere Bücher zu den Themen der letzten Dinge von Tod, Gericht, Fegfeuer, Himmel, Hölle, Weltgericht und ewiger Vollendung, wenn doch schon alles gesagt ist und wenn vor allem der Glaube der Kirche zu allen Zeiten der gleiche und derselbe bleibt?

Schon der heilige Augustinus rechtfertigte die immer neuen Anläufe, die Wahrheit des Glaubens den Menschen auf ihrem je eigenen Glaubensweg verständlicher zu machen: Zu Beginn seines monumentalen Werkes über das unbegreifliche Geheimnis der Dreifaltigkeit Gottes schreibt er: »Deshalb ist es von Nutzen, wenn über die gleichen Fragen mehrere Bücher von mehreren Autoren in verschiedener Darstellungsweise verfasst werden, jedoch nicht in verschiedenem Glauben, damit die dargestellte Sache zu recht vielen gelange, zu den einen auf diese Weise, zu den anderen auf jene Weise.«83

Und schon Aristoteles hatte bei aller Auseinandersetzung um die ersten Fragen der Philosophie einen versöhnlichen Ton angeschlagen, der sich umso mehr für die letzten Antworten der Theologie ziemt: »Die Betrachtung der Wahrheit ist in einer Hinsicht schwer, in einer anderen leicht. Dies zeigt sich darin, dass niemand sie in genügender Weise erreichen, aber auch nicht ganz verfehlen kann, sondern ein jeder etwas Richtiges über die Natur der Sache sagt, auch wenn sie einzeln genommen nichts oder wenig zu derselben beitragen; so ergibt sich doch aus der Zusammenfassung aller eine gewisse Größe … Mit Recht muss man nicht bloß gegen diejenigen dankbar sein, deren Ansichten man teilen kann, sondern auch gegen die, deren Lehren sich mehr an der Oberfläche gehalten haben. Denn auch sie trugen etwas bei, dadurch wir unsere Fähigkeit übten und vorbildeten.«84

Anmerkungen

1 Emmanuel Lévinas, Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, Freiburg i. Br. 1983.

2 Fridolin Wiplinger, Der personal verstandene Tod. Todeserfahrung als Selbsterfahrung, Freiburg/München 1970, 11. Vgl. Michel Aupetit, La mort. Méditation pour un chemin de vie, Paris 2020. Vgl. Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung II/II, Kapitel 41 (Über den Tod und sein Verhältnis zur Unzerstörbarkeit unseres Wesens an sich): Zürcher Ausgabe in zehn Bänden IV, Zürich 1977, 542 f.: »Schwerlich sogar würde auch ohne Tod philosophiert werden … Das Thier lebt ohne eigentliche Kenntnis des Todes … Beim Menschen fand sich, mit der Vernunft, nothwendig die erschreckende Gewißheit des Todes ein.«

3 Sophokles, Antigone 132 f.: Griechische Tragödien, hg.  v. H. J. Meinerts, München o. J., 221.

4 Ferdinand Ulrich, Homo Abyssus. Das Wagnis der Seinsfrage, 21998.

5 Augustinus, Confessiones IV 14.

6 Thomas von Aquin, Summa theologiae I q. 29 a. 4: »Persona significat id quod est perfectissimum in tota natura, scilicet subsistens in rationali natura.« Vgl. Josef Endres, Thomasischer Personbegriff und neuzeitlicher Personalismus: Thomas von Aquino. Interpretation und Rezeption, hg. v. Willehad Paul Eckert, Mainz 1974, 117–143. Vgl. grundsätzlich dazu: Stefan Oster, Person-Sein vor Gott, Freiburg i. Br. 2015; Theo Kobusch, Die Philosophie des Hoch- und Spätmittelalters = Geschichte der Philosophie V, hg. v. W. Röd, München 2021, 261; ders., Die Entdeckung der Person. Metaphysik der Freiheit und modernes Menschenbild, Darmstadt 21997.

7 Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft A 156: Werke in zehn Bänden 4, hg. v. W. Weischedel, Darmstadt 1968, 210.

8 Hellmut Flashar, Die Philosophie der Antike 2/1 = Friedrich Überweg, Grundriss der Philosophie der Geschichte, Basel 1998, 141–200.

9 Platon, Gorgias 479 c.

10 Johannes von Damaskus, De fide orthodoxa, cap 9 (Burgundionis versio).

11 Aristoteles, Metaphysik 1039b; L. Oeing-Hanhoff, T.  Borsche, Individuum, Individualität: HWPh 4, 300–323.

12 Johann Wolfgang Goethe, West-Östlicher Divan. Noten und Abhandlungen: Hamburger Ausgabe II, München 91972, 208.

13 Wie sich der religiöse oder säkulare Kampf um den Menschen an der Relation des Menschen als Person zum personalen Gott entwickelt und entscheidet, haben zwei der bedeutendsten katholischen Schriftsteller des 20.  Jahrhunderts mit fast gleichlautenden Titeln eindrucksvoll durchgearbeitet: Gilbert Keith Chesterton (1874–1936), The Everlasting Man [1935]; dt. Bremen 1930; Alfred Döblin (1878–1957), Der unsterbliche Mensch. Ein Religionsgespräch: ders., Der Kampf mit dem Engel. Religionsgespräch (Ein Gang durch die Bibel), Frankfurt a. M. 2016.

14 Joseph Bernhart, De profundis [1935], München 41952, 67.

15 Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus 6.5, hg.  v. J. Schulte, Frankfurt a. M. 92019, 110.

16 Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus 6.52; ebd. S. 110 f.

17 Eric Voegelin, The Ingersoll Lectures on Immortality [1965]: The Harvard Theological Review 60,3 (1967) 235–279; dt. Unsterblichkeit: Erfahrung und Symbol, Berlin 2020, 23.

18 Formulierung aus dem 2. Flugblatt der Widerstandsgruppe »Weiße Rose« an der Ludwig-Maximilians Universität München 1942/43.

19 Robert Zoske, Sophie Scholl. Es reut mich nichts. Porträt einer Widerständigen, Berlin 2020.

20 Matthias Hilbert, Carl Zuckmayer: Gott ist doch nicht tot!: ders., Gottsucher. Dichter-Bekehrungen im 19. und 20. Jahrhundert, Neuenkirchen bei Soltau 2020, 73–78, hier 76.

21 II. Vatikanum, Gaudium et spes 24.

22 II. Vatikanum, Gaudium et spes 24.

23 Baruch de Spinoza, Descartes’ Prinzipien der Philosophie auf geometrische Weise begründet [1663] = PhB 94, Hamburg 1987; ders., Die Ethik nach geometrischer Methode dargestellt = PhB 92, Hamburg 1972.

24 Vgl. Leszek Kolakowski, Die Hauptströmungen des Marxismus. Entstehung – Entwicklung – Zerfall I, München 1976, 175–201 (Die deutsche Ideologie).

25 Günter Rohrmoser, Nietzsche als Diagnostiker der Gegenwart, München 2000.

26 Vgl. Leszek Kolakowski, Die Hauptströmungen des Marxismus. Entstehung – Entwicklung – Zerfall I, München 1976, 203; Gerd Koenen, Ursprünge und Geschichte des Kommunismus, München 2017.

27 Gustav Siewerth, Der Triumph der Verzweiflung: Gesammelte Werke III, Düsseldorf, 1971, 201–263; Augusto Del Noce, Il problema dell’ateismo, Bologna 2010; Gerhard Kardinal Müller, Der Glaube an Gott im säkularen Zeitalter, Freiburg i. Br. 22021, 85–181.

28 Thomas von Aquin, Summa theologiae I q. 44 a. 4.

29 Basil Studer, Gott und unsere Erlösung in der Alten Kirche, Düsseldorf 1985.

30 Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente [1944], Frankfurt 1969, 186.

31 Gerhard Kardinal Müller, Der Papst. Sendung und Auftrag, Freiburg 2017, 159–166.

32 Vgl. Karl Marx, Nationalökonomie und Philosophie (1844): ders., Die Frühschriften, hg. v. S. Landshut, Stuttgart 1964, 246.

33 Begriff von dem nationalistisch-antiklerikalen Historiker Jules Michelet (1798–1874) vgl. Gerd Krumeich, Jules Michelet (1798–1874): Klassiker der Geschichtswissenschaft, Bd. 1, hg. v. Lutz Raphael, München 2006, 64–87.

34 Name einer Death-Metal-Band in den USA.

35 Alfred Delp, Mit gefesselten Händen. Aufzeichnungen aus dem Gefängnis, Freiburg i. Br. 112007, 226.

36 Augusto Del Noce, Il problema dell’ateismo, Bologna 2010, 9– 211; vgl. Luca Del Pozzo, Filosofia Cristiana e Politica in Augusto Del Noce, Roma 2019.

37 Hans Urs von Balthasar, Cordula oder der Ernstfall, Einsiedeln 41975.

38 Thomas von Aquin, Summa theologiae I q. 44 a. 4 ad 1.

39 Thomas von Aquin, Summa theologiae q. 45 a. 7.

40 Heinrich Schlier, Mächte und Gewalten im Neuen Testament (= QD 3), Freiburg i. Br. 31958; Otto Böcher, Das Neue Testament und die dämonischen Mächte (= SBS 58), Stuttgart 1972.

41 Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft: DBW 8, München 1998, 550.

42 Gotteslob. Katholisches Gebet- und Gesangbuch, Regenburg 2013, Nr. 19, 2.

43 Zur Entstehung der irrlichternden Dialektik im abendländischen Denken von Plotin bis zu Hegel und Marx vgl. Leszek Kolakowski, Die Hauptströmungen des Marxismus. Entstehung – Entwicklung – Verfall I, München 1976, 23–996.

44 Robert Spaemann, Schritte über uns hinaus. Gesammelte Reden und Aufsätze, 2 Bde., Stuttgart 2010/11.

45 Karl Rahner, Grundkurs des Glaubens. Einführung in den Begriff des Christentums: KRSW 26, Freiburg i. Br. 1999, 48–90.

46 Seneca, Briefe an Lucilius. I. Rom unter Nero, Reinbek b. Hamburg 1965, 91. Das Schlusszitat stammt von: Vergil, Aeneis VIII 352

47 Jean-Jacques Rousseau, Discours sur l’Origine et les Fondemens de l’Inégalité parmi les Hommes, Amsterdam 1755; dt. Abhandlung über den Ursprung und die Ungleichheit unter den Menschen, hg.  v. K. Weigand = PhB 243, Hamburg 1983, 61–269.

48 Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus 6.371, hg.  v. J. Schulte, Frankfurt a. M. 92019, 106.

49 Vgl. Thomas von Aquin, Summa theologiae III q. 43 a.  1–4.

50 Johann Maier, Zwischen den Testamenten. Geschichte und Religion in der Zeit des zweiten Tempels, Würzburg 1990.

51 Vgl. dazu Jacob Burckhardt, Die Kultur der Renaissance in Italien [1860], Berlin 1961, 67–85 (Die Entwicklung des Individuums).

52 Vgl. Dietrich Bonhoeffer, Der Führer und der Einzelne in der jungen Generation [1933]. DBW 12, München 1997, 242–260.

53 Gustave Le Bon, Psychologie der Massen [1896], Stuttgart 1973, 10–37.

54 So der Chef-Ideologe des Nationalsozialismus: Alfred Rosenberg, Der Mythus des 20. Jahrhunderts, München 1934, 21–144. Dieses verheerende Werk hatte eine Auflage von 1,5 Millionen (!) verkauften Exemplaren.

55 Ralph Waldo Emerson, Die Über-Seele [1920] E-Book 2014.

56 Platon, Timaios 30 c.

57 Vgl. kritisch dazu, Giulio Tremonti, Le tre Profezie. Appunti per il Futuro, Milano 2919, 73–86.

58 Vgl. Josef Endres, Thomasischer Personbegriff und neuzeitlicher Personalismus: Thomas von Aquino. Interpretation und Rezeption, hg.  v. Willehad-Paul Eckert, Mainz 1974, 117–143.

59 Cyprian von Karthago, De unitate ecclesiae catholicae 6.

60 Cyprian von Karthago, De oratione Dominica 23; II. Vatikanum, Lumen gentium 4.

61 II. Vatikanum, Gaudium et spes 45, Lumen gentium 1; 48.

62 II. Vatikanum, Sacrosanctum concilium 5.

63 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundriss (1830) III. Teil, II. Der objektive Geist. C. Sittlichkeit, hg. v. F. Nicolin u. O. Pöggeler = PhB 33, Hamburg 1969, 435.

64 Vgl. Karl Eschweiler, Joh. Adam Möhlers Kirchenbegriff. Das Hauptstück der katholischen Auseinandersetzung mit dem deutschen Idealismus, Braunsberg 1930, 65–88.

65 Johann Adam Möhler, Symbolik oder Darstellung der dogmatischen Gegensätze der Katholiken und Protestanten nach ihren öffentlichen Bekenntnisschriften [1832], hg. v. J. R. Geiselmann, Köln u. Olten 1958, Bd. I, 290.

66 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Glauben und Wissen oder die Reflexionsphilosophie der Subjektivität in der Vollständigkeit ihrer Formen als Kantische, Jakobische und Fichtesche Philosophie [1802] = PhB 62b, Hamburg 1962, 124.

67 Erich Przywara, Weg zu Gott; ders., Gottgeheimnis der Welt; ders., Gott: ders., Schriften II, Einsiedeln 1962, 3–372.

68 II. Vatikanum, Dogmatische Konstitution über die göttliche Offenbarung »Dei verbum« 2; Henri de Lubac, Die Göttliche Offenbarung. Kommentar zum Vorwort und Ersten Kapitel der Dogmatischen Konstitution »Deiverbum« des Zweiten Vatikanischen Konzils, Einsiedeln 2001.

69 Dietrich Bonhoeffer, Entwurf einer Arbeit: Widerstand und Ergebung: BDW 8, München 1998, 558.

70 Emerich Coreth, Vom Sinn der Freiheit, Innsbruck 1985.

71 II. Vatikanum, Lumen gentium 1.

72 Augustinus, En. in Ps 30, sermo 3, 8 (CCL XXXVIII, 218).

73 Wolfgang Müller (Hg.), Eine Theologie für das 21. Jahrhundert. Zur Wirkungsgeschichte Hans Urs von Balthasar, Einsiedeln 2014.

74 Augustinus, Enarrationes in Ps 30, 8; Ps 70, 5.

75 Hans Urs von Balthasar, Umrisse der Eschatologie, ders.: Verbum Caro. Skizzen zur Theologie I, Einsiedeln 1960, 276–300, hier 282.

76 Gerhard L. Müller, Gemeinschaft und Verehrung der Heiligen. Geschichtlich-systematische Grundlegung der Hagiologie, Freiburg 1986.

77 Joseph Ratzinger, Eschatologie – Tod und ewiges Leben = JRGS 10, Freiburg 2012, 168–171; Karl Rahner, Zur Hermeneutik eschatologischer Aussagen: ders., Grundkurs des Glaubens. Einführung in den Begriff des Christentums, = KRSW 26, Freiburg i. Br. 1999, 3–421, hier 406–408.

78 Karl Kardinal Lehmann, Karl Rahner, ein Portrait: KRSW 1, Freiburg i. Br. 2014, XII–LXVII.

79 Karl Rahner, Theologische Prinzipien zur Hermeneutik eschatologischer Aussagen: KRSW 12, Freiburg i. Br. 2005, 489–510, hier 500.

80 Gerhard L. Müller, Katholische Dogmatik. Für Studium und Praxis der Theologie, Freiburg i. Br. 102016, 510–562.

81 Hans Urs von Balthasar, Was dürfen wir hoffen?, Einsiedeln 1986.

82 II. Vatikanum, Gaudium et spes 10.

83 Augustinus, De Trinitate I, 5.

84 Aristoteles, Metaphysik, 993b (Buch II, 1).

1. Warum die Hoffnung nicht stirbt

»Mit dem Tod ist alles aus!«, seufzen und jammern alle, »die keine Hoffnung haben« (1 Thess 4, 13). Dieser Melancholie der Vergänglichkeit verfallen auch Christen, die den Glauben an Gottes Liebe und Gerechtigkeit verloren haben und die ererbte christliche Kultur nur noch widerwillig hinter sich herziehen wie die lange Schleppe ihres zerschlissenen Hochzeitskleides. Versetzt uns die materialistische oder idealistische Weltanschauung in die Lage, unserem Leben existenzialistisch einen Sinn abzutrotzen, auch wenn die Welt an und für sich keinen Sinn hat?1 Bleibt uns im Zweifel des Relativismus und im Weltschmerz des Nihilismus vorsichtshalber nur die Devise: »Lasst uns essen und trinken, denn morgen sind wir tot.« (1 Kor 15, 32)?

Doch vielen Zeitgenossen genügt nach dem Scheitern der großen Narrative von einem selbstgemachten Paradies die Rabulistik der Epikureer und der Zynismus der Sophisten nicht mehr. Einst hatte Heinrich Heine (1797–1856), der Liebling der Linkshegelianer, gegenüber dem christlichen Entsagungslied vom »irdischen Jammertal« sein »neues Lied, ein besseres Lied« von den Dächern »der freien Lust« gepfiffen: »O Freunde, ich will euch dichten! Wir wollen hier auf Erden schon das Himmelreich errichten … Den Himmel überlassen wir den Engeln und den Spatzen.«2 Doch in seiner »Matratzengruft« hatte der schwerstkranke Dichter, der auf die Hilfe anderer angewiesen war, die Vertrauenswürdigkeit des biblischen Gottes wieder entdeckt.3

Und wenn auch die Ruhe der Stoiker verwandte Züge hat mit der Gelassenheit christlicher Mystiker, so reicht es dennoch nicht, die Ungerechtigkeit und Bosheit der Welt nur ertragen zu lernen, sondern es gilt, sie zu besiegen. Und das ist der Mehrwert des Christlichen: »Gott sei Dank, der uns den Sieg geschenkt hat, durch unseren Herrn Jesus Christus.« (1 Kor 15, 57) Denn alle spüren »angesichts der heutigen Weltentwicklung« die existenziellen Grundfragen mit neuer Schärfe: »Was ist der Mensch? Was ist der Sinn des Schmerzes, des Bösen, des Todes?«

Wenn nicht alles vergeblich gewesen sein soll oder – schärfer gesagt – wenn alles seinen Sinn gehabt haben muss und behalten soll, dann stellt sich letztendlich die alles entscheidende Frage:

Was kommt nach diesem irdischen Leben?4

Diese Frage bezieht sich auf das Schicksal jedes einzelnen Menschen und die Menschheit als Ganzes. Wir klammern uns nicht an den Strohhalm der Unwahrscheinlichkeit, dass wir vielleicht doch jenseitig im Hades als unser eigener Schatten oder im Elysium selig wie die olympischen Götter weiterleben oder im Diesseits konserviert werden wie die Mumie im Lenin-Mausoleum zu Moskau. Was bringt es, im allzeit schwachen Gedächtnis der Nachwelt weiterzuleben? Denn auf dem Sockel ihres Denkmals können die in Erz gegossenen Helden den Nachruhm schwerlich genießen – mögen sie auch zu ihren Lebzeiten den römischen Dichter Horaz mit Tremolo in stolzgeschwellter Brust zitiert haben: »Exegi monumentum arere perennius – dauerhafter als Erz erschuf ich ein Ehrenmal aus meinem Leben.«5 Wenig Trost vermittelt die Aussicht, dass unsere Gene und Moleküle im Kreislauf der Materie weiterzirkulieren oder unser privater Datensatz in einer I-Cloud durch den Orbit zieht in der Hoffnung, als Avatar re-materialisiert zu werden. Interessant ist allein, ob wir als diese einmalige, auf Liebe hin angelegte leibhaftige Person mit unserer individuellen Geschichte und der gesamten Lebensleistung uns nach dem Tod im Kreis unserer Lieben wiedersehen, in Gottes dreifaltiger Liebe geborgen werden und darum auf ewig glück-selig sind.6

Die absolute Einmaligkeit des einzelnen Menschen

Von allen Seiten wird auf uns eingeredet: Der Mensch »ist durchaus keine Krone der Schöpfung«7, sondern der Schädling in einer heilen Natur.8 Nicht zu leugnen ist allerdings, dass »die Natur« ohne den Menschen niemals zum Bewusstsein ihres Glücks (zwischen Fressen und Gefressenwerden) gekommen wäre, bevor ihr der Unfall der Hominisation zustieß. Immerhin ist im Laufe der Erdgeschichte durch kosmische Katastrophen in den letzten 3,  5 Milliarden Jahren schon mindestens fünfmal fast die gesamte Flora und Fauna vernichtet worden, ohne dass ihr »die Mutter Natur« eine Träne nachgeweint oder für den Tier- und Umweltschutz den kleinsten Finger gerührt hätte. Und nur aus den minimalen Restbeständen hat die Evolution den Stammbaum des Lebens bis zur letzten Verzweigung in den Homo sapiens weitersprießen lassen.

Wer aber in die höchsten Wipfel gelangt ist, hat auch den Überblick über seinen stammesgeschichtlichen Aufstieg und den unbegrenzbaren Horizont vor ihm und über ihm. Gegen den heidnischen Pessimismus und Fatalismus beschrieb schon um 200 n.  Chr. der christliche Apologet Minucius Felix glänzend die Sonderstellung des Menschen, die sich schon in seiner äußeren Gestalt ausdrückt: »In hervorragendem Maß bezeugt bereits die Schönheit unserer eigenen Gestalt einen schöpferischen Gott: der aufrechte Gang, das erhobene Antlitz, die am höchsten Punkt wie auf einer Warte angebrachten Augen und alle anderen Sinne, welche wie auf einer Burg sich zusammenfinden.«9 Schon 100 Jahre vorher hatte die römische Kirche an die Mitchristen zu Korinth geschrieben, dass der Mensch das »Hervorragendste und Großartigste« ist, was Gottes Hände geformt haben zum Abbild seiner eigenen Gestalt.«10

Die unantastbare Würde des Menschen, die ihn vor einer Instrumentalisierung bewahrt, hat ihre Grundlage in der Gottebenbildlichkeit als Grund und Maß, als Sinn und Ziel seines Daseins (Gen 1, 27). Gegen den Utilitarismus und Konsequenzialismus in der Ethik formulierte schon der große Philosoph der Vernunftkritik, Immanuel Kant (1724–1804), den praktischen (moralischen) Imperativ mit der Folgerung: »Der Mensch aber ist keine Sache, mithin nicht etwas, was als Mittel gebraucht werden kann, sondern muss bei allen seinen Handlungen jederzeit als Zweck an sich selbst betrachtet werden.«11

Im diametralen Gegensatz dazu sieht Lenin und damit die von ihm dominierte atheistisch-marxistische Herrschaftsideologie »in den Menschen ausschließlich Instrumente des politischen Handelns, Werkzeuge des historischen Prozesses«12.

Der seiner Würde bewusste Mensch begreift sich aber selbst nicht mehr als nützlichen Zweck der (untergeistigen) Natur, sondern als eine Existenz um seiner selbst willen, d. h. in seiner Konstitution durch das Sein selbst. Darum ist es die erste Menschenpflicht, sich selbst zu lieben als Dank an Gott, dem wir uns unmittelbar verdanken, und die Eltern zu ehren, denen wir das Dasein, die Möglichkeit des Wachsens und Reifens mittelbar verdanken.13 Als »Geist-in-Welt«14 betrachtet er die materielle Natur nicht nur als Ressource für sein physisches Überleben, sondern unter dem Gesichtspunkt des Sinns von Mensch und Welt: »Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr Nichts?«15 Deshalb kann er auch nach den ersten Prinzipien und Ursachen fragen, durch welche die materielle und intelligente Natur existiert und erkennbar wird, aus der er als staunendes und denkendes Wesen hervorgegangen ist.16

Auf die Rückfrage, was denn so falsch daran ist, mich selbst für so wichtig und einmalig zu halten, kommt nur die indignierte Belehrung oder eher scharfe Verwarnung: deshalb, weil du – in der Dialektik von Verbraucher und Verbrauchtem – nur ein Teil des größeren Ganzen bist, ein Randsiedler im Kosmos, eine Biomasse im Stirb und Werde der Natur, ein DNA-Träger in der Evolution der Organismen, einer von Milliarden Nutzern in der Internet- community, ein Kostenfaktor für die Gesellschaft, eine Ursache für die Überbevölkerung und am Ende als Pflegefall ein Problem für die umweltschonende Entsorgung. So jedenfalls verkünden die Hohenpriester der neuen Öko-Religion oder die sozialistischen Gesellschaftsdesigner ihre um-werfenden Botschaften. In ihrem naturalistischen Übereifer übersehen die wahn-sinnigen Anti- Natalisten des Voluntary Human Extinction Movement17 allerdings den logischen Widerspruch, den Menschen in der Form einer ontologischen Wesensaussage (er ist nichts anderes als …) nur den Rang eines Phänomens, einer Funktion oder auch nur Konstrukts zuzuschreiben. Der Mensch ohne Gott rennt im Käfig seines Narzissmus abwechselnd gegen die Wand seines Minderwertigkeitskomplexes oder seines Größenwahns, indem er sich wahlweise verkleinert zum »Mängelwesen« oder aufbläht zum Prometheus.18

Dass der Mensch keine Krallen, Hörner und Reißzähne oder sonstige Supersinne hat, ist durchaus kein zu kompensierender Wesens-Mangel im Kampf ums Dasein. Sein aufrechter Gang, sein Kopf ganz oben, seine Augen nach vorne und die gegenüberliegenden Daumen zu seinen Fingern sind ein gewaltiger Vorteil, der es dem Geist und Genie eines Michelangelos gestattete, in der Sixtinischen Kapelle das Jüngste Gericht so eindrücklich darzustellen, dass Millionen von Menschen zur Besinnung über den Unterschied von Gut und Böse kommen und in ihrer Hoffnung auf den gerechten Richter am Jüngsten Tag bestärkt werden. Das ist mehr als aller Kampf ums nackte Überleben gegen die feindliche Natur, indem der Mensch am Ende sich durch die Technik zu einem Schöpfer einer ihm gemäßen zweiten Natur aufschwingen müsste – und zwar zuerst vorneuzeitlich gegen den »theologischen Absolutismus« des Christentums und jetzt zur Rettung von Neuzeit, Vernunft und Aufklärung »gegen den ökologischen Absolutismus« der grünen Ersatz-Religion mit ihren Dauerapokalypsen und »5-vor-12-Rhetoriken« des lustvoll-schaudernd erwarteten Weltuntergangs noch in unserer Generation.19