Das wundersame Weihnachtsgeschenk - Simone Ehrhardt - E-Book

Das wundersame Weihnachtsgeschenk E-Book

Simone Ehrhardt

4,6

Beschreibung

Endlich hat die Adventszeit begonnen! Begegnen Sie einer ganzen Reihe von Personen, die diese Wochen auf unterschiedlichste Art erleben. Doch sie alle haben eines gemeinsam: Kleine und große Geschenke gehen auf die Reise, kreuzen die Wege dieser Menschen und verbinden deren Lebensgeschichten auf manchmal ganz erstaunliche Weise. Etwas Größeres und Wundersames muss dahinterstecken … Gleichzeitig schöpft ein Mann neue Hoffnung. Sollte Gott tatsächlich etwas so Unmögliches möglich sein? Der Mann beginnt zu beten. Und er wartet auf ein alles entscheidendes Wunder ... 24 Geschichten erzählen von einer besonderen Hoffnung, die wir - gerade in der Weihnachtszeit - erleben können. Ein Adventskalender zum Innehalten, Genießen und Träumen.

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Seitenzahl: 157

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Bestell-Nr. 629.489

ISBN 978-3-7893-2101-6 (E-Book)

ISBN 978-3-7893-9489-8 (lieferbare Buchausgabe)

Datenkonvertierung E-Book:

CPI – Ebner & Spiegel, Ulm

© 2011 SCM Collection im SCM-Verlag GmbH & Co. KG · Bodenborn 43 · 58452 Witten

Internet: www.scm-collection.de; E-Mail: [email protected]

Umschlaggestaltung: Yvonne Pils, Düsseldorf

Satz: Christoph Möller, Hattingen

Illustrationen: © Ramona Heim - Fotolia.com / © Barbara Dudzinska - Fotolia.com

Inhalt

1. Dezember

2. Dezember

3. Dezember

4. Dezember

5. Dezember

6. Dezember

7. Dezember

8. Dezember

9. Dezember

10. Dezember

11. Dezember

12. Dezember

13. Dezember

14. Dezember

15. Dezember

16. Dezember

17. Dezember

18. Dezember

19. Dezember

20. Dezember

21. Dezember

22. Dezember

23. Dezember

24. Dezember

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

1. Dezember

Es ist Zeit, das erste Türchen zu öffnen, dachte er und sah zu dem bunten Adventskalender, den er geschenkt bekommen hatte. Welch nette Geste. Das kam so unverhofft. Er ging hinüber zu dem Tischchen, auf dem er den Kalender platziert hatte, und nahm ihn hoch. Es dauerte eine Weile, bis er die Eins gefunden hatte, doch dann öffnete er ohne weitere Umschweife den Pappverschluss und holte das kleine Stück Schokolade heraus, das sich dahinter befand. Es hatte die Form eines Tannenbaums. Die Schokolade war mit Nougat gefüllt, zerging süß und samtig auf der Zunge und schmeckte herrlich.

Er mochte es kaum zugeben, aber dieser Adventskalender war viel mehr als eine nette Geste und etwas zum Naschen. Es war der Beginn einer Hoffnung. Er hatte nicht damit gerechnet, war vollkommen überrascht gewesen. Dieses kleine Geschenk weckte einen ganz kleinen Glauben an Wunder. Und ein Wunder konnte er wahrlich brauchen, ein richtig großes Wunder. Er hatte schon lange nicht mehr gebetet, aber er wusste, dass er nun nichts anderes mehr tun konnte. Es lag in Gottes Hand.

Holprig kamen die Worte über seine Lippen, und langsam stellte sich ein vertrautes Gefühl ein.

Marc Auermann betrat das Zugabteil und wunderte sich sehr. Darüber, dass er einen Sitzplatz gefunden hatte, obwohl der Zug um diese Zeit immer proppenvoll war, und darüber, dass auf der kleinen Ablage ein zerfleddertes Buch lag. Sicher hatte es jemand dort liegen lassen. Marc nahm Platz und griff nach der Lektüre, die ihm ganz gelegen kam, denn er war den ganzen Tag an der Uni gewesen und hatte sich den Kopf mit Jura vollgestopft. Nun nahm er den Abendzug in seine Heimatstadt, wo er noch bei seinen Eltern wohnte. Es war zwar umständlich, weil er so viel unterwegs war, aber finanziell gesehen die günstigere Variante.

Bei dem Roman handelte es sich um einen Weihnachtskrimi. Wie passend, dachte sich Marc und blätterte unschlüssig durch die Seiten. Er hatte eine Stunde Zeit und auf Gesetzestexte und Fallerörterungen ganz sicher keine Lust mehr. Die Bahn setzte sich mit sanftem Ruckeln in Bewegung, und Marc sah vor dem Fenster ein paar kleine Schneeflocken fallen. Als der Zug die Stadt verließ, war er bereits auf Seite zwölf und völlig in die Geschichte versunken.

Der Krimi war unglaublich spannend und unterhaltsam, Marc vergaß völlig die Zeit und die Umgebung um sich her. Nur ganz weit weg schienen Menschen zu kommen und zu gehen, sich zu unterhalten; vereinzelt drangen Fetzen wie „eisig“ oder „Schneesturm“ an sein Ohr. Gelegentlich wurde er angeschubst, einmal etwas gefragt, doch er reagierte nicht. Marc stellte Theorien bezüglich der Lösung des Falles und des Mörders auf, rätselte, wägte ab, verwarf manches wieder und war sich auf Seite 253 ganz sicher, dass er wusste, wer es gewesen war. Doch als er schließlich am Ende des Buches alle Antworten hatte, war er absolut verblüfft. Unglaublich, dachte er, ich war die ganze Zeit auf der falschen Fährte!

Nur langsam kam er wieder in der Realität an, während er in die Nacht hinausstarrte. Schwerer Schnee kam in einem dichten Wirbel herunter und nahm ihm die Sicht, nur direkt vor dem Abteilfenster reflektierten die Flocken das Licht und formten psychedelische Muster. Wann hatte es denn angefangen, so stark zu schneien? Marc sah auf seine Uhr und bekam einen Riesenschreck. Er hatte fast drei Stunden lang gelesen! Wie hatte ihm das passieren können? Er hatte es total verpasst, rechtzeitig auszusteigen! Marc stöhnte so laut, dass die anderen Fahrgäste ihn verunsichert anstarrten. „Verzeihung“, sagte er errötend. „Welches war denn die letzte Haltestelle?“

„Weidenbach“, teilte ihm sein Sitznachbar mit.

Er musste aus dem Zug, und zwar schnell! Vielleicht hatte er Glück, und es kam bald eine Bahn, die ihn wieder zurückbrachte. Und wenn nicht, dann musste er sich wohl oder übel abholen lassen. Er wollte lieber nicht daran denken, was seine Eltern zu diesem Missgeschick sagen würden oder seine Freundin, mit der er – ein weiterer Blick auf die Armbanduhr – bereits vor einer halben Stunde verabredet war. Das war ihm alles sehr peinlich.

Gerade als er seine Jacke anziehen wollte, streckte ein alter Mann Hilfe suchend die Nase ins Abteil. Er war schlecht zu Fuß und schien nach einem Sitzplatz Ausschau zu halten, was um diese Zeit ohnehin ein aussichtsloses Unterfangen war. Dazu kam, dass der Mann so langsam ging, dass ihm jeder vielleicht doch noch verfügbare Platz schon mehrmals vor der Nase weggeschnappt worden wäre, bis er ihn erreicht hätte.

„Warten Sie“, rief Marc, als der Mann weitergehen wollte. „Ich muss an der nächsten Haltestelle raus, Sie können meinen Sitz nehmen.“

Das Gesicht des älteren Herrn leuchtete auf. „Wirklich? Das ist sehr freundlich von Ihnen, junger Mann.“

„Keine Ursache. Und hier ist auch noch ein spannendes Buch, wenn Sie etwas lesen möchten.“ Mit einem vielsagenden Grinsen drückte Marc sich an den anderen Fahrgästen vorbei in den Gang hinaus.

„Eine frohe Adventszeit“, rief ihm der Mann hinterher.

„Danke, Ihnen auch!“ Mit einem angenehmen Gefühl tauchte Marc ein in die Menschenmenge, die den langen Gang bevölkerte, um sich zur Tür vorzuarbeiten.

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

2. Dezember

Im Frühstücksraum war auf der Anrichte ein Adventskranz platziert, die erste Kerze brannte. Theodor Fischer fand das grundsätzlich eine schöne Sache, war aber nicht mit ganzem Herzen dabei, während er die Dekoration betrachtete.

„Haben Sie gut geschlafen?“

Die Stimme direkt neben ihm ließ ihn beinahe einen Satz machen. Theodor klammerte sich an die Anrichte und versuchte, seinen Herzschlag in den Griff zu bekommen. Die Inhaberin der Frühstückspension sah ihn erwartungsvoll an. Nein, er hatte überhaupt nicht gut geschlafen. Er hatte kaum ein Auge zugetan vor lauter Nervosität. Aber wie sollte er ihr das mitteilen? Er wollte weder den Eindruck machen, sich beschweren zu wollen, noch lügen oder etwas erklären müssen.

„Ähm“, machte er, um Zeit zu gewinnen, und noch während er sich ausführlich räusperte, wurde die Frau weggerufen an einen der Tische. Theodor atmete erleichtert auf und nahm sich einen Teller, um ihn am Frühstücksbüfett zu füllen.

Als er Platz genommen hatte, kam die Inhaberin zu ihm, um zu fragen, was er trinken wolle. Theodor bestellte Kaffee und die Dame eilte davon. Es war eine nette kleine Pension; auf den Tischen waren sogar weihnachtlich bestickte Tischdecken ausgebreitet und die Papierservietten waren bunt bedruckt mit Stechginsterzweigen. Eine kleine Bienenwachskerze brannte vor ihm und verströmte Honigduft.

„Haben Sie etwas Schönes vor heute?“ Die Hauswirtin war zurück und hob die Kaffeekanne von ihrem Tablett, um ihm einzuschenken.

„Danke“, sagte Theodor und überlegte erneut, was er der Frau sagen sollte. Er konnte ihr unmöglich die Wahrheit sagen, das wäre viel zu peinlich. Wieder waren da dieser erwartungsvolle Blick und ein mitfühlender Ausdruck im Gesicht der Dame. Das erlebte er öfter, seit er älter wurde – das und Ungeduld. Es gab viele Leute, die entweder mitleidig und gerührt waren, wenn sie ihn ansahen, aber auch viele, die barsch auf ihn reagierten, noch ehe er etwas gesagt oder getan hatte. Das lag am Alter, da war er sich sicher, und dass er Probleme mit den Gelenken hatte, machte die Sache nicht besser.

„Ja, danke schön, ich habe den Tag voll verplant“, antwortete Theodor schließlich und die Inhaberin zog zufrieden von dannen. Da saß er also in Lübeck und konnte es kaum glauben, dass er tatsächlich hergefahren war. Am Abend zuvor hatte er den Zug genommen, dank eines netten jungen Mannes sogar einen Sitzplatz bekommen und sich in der Pension „Edelweiß“ einquartiert. Er hatte die Pension wegen ihres Namens ausgewählt, der so gar nicht zu Lübeck passte, und bisher hatte er seine Entscheidung nicht bereut. Alles war sauber und gemütlich, die Angestellten und die Betreiberin sehr freundlich, das Frühstück gut. Doch was dachte er sich nur dabei? Er benahm sich wie ein junger Spund, und das war unglaublich albern in seinem Alter!

Eine halbe Stunde später zupfte Theodor in seinem Zimmer seine Fliege zurecht, kämmte sich ein letztes Mal und machte sich auf den Weg zu seiner Verabredung. Ein Taxi brachte ihn zum Buddenbrookhaus. Als er ausgestiegen war, bezahlt hatte und sich dem weißen Haus zuwandte, sah er sie schon am Eingang stehen und warten. Wilhelmine! Sein Herz klopfte bis zu seinem Hals, während er langsam zu ihr ging. Tausend Gedanken jagten ihm auf dem kurzen Weg durch den Kopf. Sie war so schön, wie er sie in Erinnerung hatte. Hatte sie ihn schon erkannt? Würde sie enttäuscht sein? Wie hatte sie es geschafft, sich so viel Jugendlichkeit zu erhalten? Was sollte er nur mit ihr reden, nach all den Jahren – nein, Jahrzehnten! Es war so lange her, seit sie sich zum letzten Mal gesehen hatten, neunundvierzig Jahre, wenn er sich nicht verrechnet hatte.

„Theodor!“ Die schlanke Frau mit den kurzen, weißen Haaren kam auf ihn zugelaufen, sobald sie ihn entdeckt hatte. „Du hast dich ja kaum verändert! Ich hätte dich überall wiedererkannt.“

Das hatte doch eigentlich er sagen wollen! Wilhelmine fiel ihm um den Hals. Sie roch sogar noch wie damals, stellte er fest.

„Du bist unglaublich schön“, entfuhr es Theodor, woraufhin ihm heiß wurde vor Verlegenheit. Wie konnte er nur so etwas sagen? Doch Wilhelmine lachte ihr angenehmes kleines Lachen, das er immer so an ihr geliebt hatte.

„Danke. Du hast nichts von deinem Charme verloren, wie ich sehe.“ Sie hakte sich bei ihm unter und zog ihn mit sich zu dem Haus. „Komm, sie haben gerade geöffnet. Du wolltest es dir doch schon immer mal ansehen, nicht wahr?“

Er nickte und freute sich, dass sie das nicht vergessen hatte. Zugleich fragte er sich, wieso er es in den zweiundsiebzig Jahren, die er am Leben war, nie geschafft hatte, das Buddenbrookhaus zu besuchen, obwohl er doch so gern davon erzählte, wie sehr ihn Thomas Mann und besonders „Die Buddenbrooks“ interessierten.

Während sie durch die Ausstellung schlenderten und Wilhelmine muntere Kommentare abgab, versuchte Theodor, seine feuchten Handflächen zu verbergen und seine Nervosität zu bekämpfen. Er war überwältigt von Wilhelmine und davon, dass er nach all den Jahren noch immer diese Gefühle für sie hatte. Damit hatte er nicht gerechnet. Er fragte sich, ob Wilhelmine genauso empfand. Sie hatten beide schon ein langes Leben hinter sich, waren verheiratet gewesen, hatten Kinder bekommen, Enkelkinder, hatten gearbeitet, die Familie versorgt, die Kinder ziehen lassen, waren glücklich gewesen, hatten die Ehepartner verloren und lernen müssen, wieder alleine zu sein. Alles war wie weggewischt an diesem Dezembertag, als wären zwischen ihrem letzten Zusammensein und dem Heute nur ein paar Wochen vergangen. Wilhelmine, seine erste große Liebe. Theodor seufzte.

„Was ist los? Langweilst du dich?“, erkundigte sie sich besorgt.

„Oh nein, ganz und gar nicht, es ist sehr interessant“, beeilte Theodor sich zu erwidern. „Ich habe nur gerade an früher gedacht, wie es mit uns war und was wir alles erlebt haben.“ Er steuerte eine Bank an, auf der sie sich niederließen. „Wilhelmine, kommt es dir auch so vor, als wären wir gar nicht so lange getrennt gewesen?“

Sie erwiderte seinen Blick und lächelte. Tausend kleine Fältchen erschienen um ihre Augen. „Es ist seltsam, aber ja, gerade so kommt es mir vor. Wie kann das sein?“

„Ich nehme an, dass wir die Liebe, die wir einmal für jemanden empfunden haben, nie verlieren. Sie wird nur in einem Winkel des Herzens eingemottet, aber wenn man sie herausholt und abstaubt, dann funktioniert sie noch.“

Wilhelmine senkte schüchtern die Augen. „Als du angerufen hast, um zu fragen, ob ich mich mit dir treffen möchte, und ich Ja sagte, kam ich mir vor wie eine Närrin.“

„Das ging mir genauso. Du glaubst ja gar nicht, wie lange ich gebraucht habe, um deine Nummer zu wählen.“

„Ich bin so froh, dass du es getan hast. Ich hätte vermutlich nicht den Mut dazu gehabt. Wer hätte gedacht, dass das Internet zu so etwas führen kann?“ Sie spielte darauf an, wie sie sich gefunden hatten: in einem Internetforum, in dem man alte Bekannte suchen und finden konnte. Und das auch nur, weil sie beide einen Computerkurs für Senioren besucht hatten. Was für ein unglaublicher Zufall!

„Wilhelmine, ich habe etwas für dich“, sagte Theodor und wusste, dass er gleich sehr rot werden würde, weil er das, was er jetzt tun wollte, noch nie für eine Frau getan hatte und äußerst peinlich fand. Er würde ein Gedicht aufsagen – ein Gedicht, wozu ihn ein Werbeplakat inspiriert hatte, das ihm während der ganzen Zugfahrt vor Augen gewesen war, da es sich seinem Sitzplatz gegenüber an der Abteilwand befand. Auf dem Plakat hatte gestanden: „Nur mit Wirlewu wird Weihnachten ein Fest.“ Wirlewu war der neue Markenname eines Herstellers von Dekoartikeln, und Theodor fand ihn einfach nur scheußlich, doch der Spruch hatte ihn nicht mehr losgelassen. Die ganze Nacht hatte er darüber gebrütet und Wirlewu durch Wilhelmine ersetzt: Nur mit Wilhelmine wird Weihnachten ein Fest. Er war ganz und gar kein Poet, aber dieses kleine Gedicht hatte unbedingt herausgewollt, und da war es nun:

„Es ist die Zeit der Wunder da,

ein Wunder ist’s, dich heut zu sehn,

vergangen sind so viele Jahr’,

seit wir mussten auseinandergehn.

Nun sitz ich hier und bin dir nah,

fühl’ mich wie ein Vogel zurück im Nest.

Ich weiß es, seit ich dich vorhin sah:

Nur mit dir wird Weihnachten ein Fest.“

Er hatte leise gesprochen, um unerwünschte Zuhörer zu vermeiden, doch Wilhelmine hatte offenbar jedes Wort verstanden. Tränen standen in ihren Augen und sie wirkte sehr bewegt. Sie griff nach seiner Hand. „Oh, Theodor, ich danke dir. Noch nie hat mir jemand ein Gedicht gewidmet! Das ist das romantischste Geschenk, das ich mir vorstellen kann. Ich würde sehr gerne Weihnachten mit dir verbringen, ich wüsste nichts, was ich mir mehr wünsche.“

Theodor lächelte selig. Konnte man die Uhr um Jahrzehnte zurückdrehen? Oh ja, man konnte. Das würde eines der besten Weihnachtsfeste werden, da war er sich sicher. Wilhelmine hielt noch immer seine Hand, und da sie beide nicht mehr die Jüngsten und auch bei ihr die alten Gefühle noch vorhanden waren, machte sich Theodor augenblicklich daran, zu planen, wann der richtige Moment für den ersten Kuss wäre. Nicht ihr erster überhaupt, aber der erste ihrer neuen alten Liebe, und er wollte keine Zeit mehr verlieren.

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3. Dezember

Das ist mein Haargummi!“

„Pech gehabt, jetzt habe ich es!“

„Gib es sofort zurück!“

„Hol es dir doch!“

Wilhelmine war versucht, sich die Ohren zuzuhalten. Sie warf einen vorsichtigen Blick zu ihrem Sohn hinüber, um zu sehen, wie er das Chaos in seinem Haus verkraftete. Frieder saß gemütlich in einem Sessel und las Zeitung, er hatte offenbar sein Gehör abgeschaltet. Er war an die Streitereien seiner beiden siebzehnjährigen Töchter gewöhnt. Sie aber nicht. Wilhelmine eilte die Treppe hinauf zu den Zwillingen Lena und Marie.

„Wo liegt das Problem?“, erkundigte sie sich beherrscht. Vielleicht konnte man dem Ganzen mit Ruhe und Besonnenheit beikommen.

„Marie klaut immer mein Zeug!“, beschwerte sich Lena, woraufhin sich ihre Schwester auf sie stürzte und sie kräftig an den langen blonden Haaren zog. „Au, auuuuu! Lass los, dumme Kuh!“

„Schluss damit, alle beide. Und solche Ausdrücke will ich nicht hören!“ Wilhelmine beschloss durchzugreifen. „Marie, du gibst Lena ihre Sachen zurück. Lena, du hörst auf, so ein Theater zu machen. Warum seid ihr noch nicht fertig? Wir müssen gleich los. Sobald eure Mutter zurück ist, fahren wir.“

„Sie hat meine Frisur ruiniert“, heulte Lena los und stürzte ins Bad, um den Schaden zu begutachten.

„Heulsuse“, rief Marie ihr hinterher, doch sie erhielt keine Antwort und wandte sich ihrer Großmutter zu. „Ist doch wahr.“

„Wie weit bist du?“, hakte Wilhelmine nach und dankte im Stillen Gott für ihre guten Nerven.

„Fast fertig“, entgegnete Marie und deutete auf ihre Tasche. „Ich muss nur noch mal mit dem Haarspray über die Frisur gehen.“ Ihre Haare waren zu einem straffen Dutt gebunden, dessen Anblick allein Wilhelmine die Haarwurzeln kribbeln ließ, weil er aussah, als würde er dem Mädchen die Gesichtshaut nach hinten ziehen. Außerdem hatte sie bereits eine halbe Dose Haarspray auf ihrem Kopf verteilt, das ganze Haus roch danach. Sie streckte einen Finger aus, um die Festigkeit zu prüfen, doch ihre Enkelin duckte sich weg.

„Nein, nicht anfassen! Es sitzt alles perfekt, das muss so bleiben.“

Wilhelmine seufzte und ging wieder nach unten. Sie ließ ihre Gedanken zum Vortag wandern und ein weiches, warmes Gefühl durchflutete sie. Sie war verliebt. Das wusste sie, seit Theodor ihr tief in die Augen geschaut und dieses Gedicht aufgesagt hatte. Der Tag war wie der Himmel auf Erden gewesen. Theodor war frühmorgens wieder nach Hause gefahren, doch sie hatten sich fest für Weihnachten verabredet. Wilhelmine fragte sich nur, wie sie ihrer Familie beibringen sollte, dass sie zum ersten Mal am Christfest nicht da sein würde. Sie hatte ihnen nichts von ihrem Rendezvous erzählt und fand auch jetzt, dass noch nicht der richtige Zeitpunkt gekommen war. Doch sie war froh um den Schatz, den sie in ihrem Herzen trug, denn er half ihr, dem Chaos des heutigen Tages relativ gelassen zu begegnen.

Die Mädchen kamen die Treppe herunter, beladen mit ihren vollen Taschen, in denen sie alles hatten, was sie für den Abend brauchten. Sie sahen in ihren Ballettkleidern aus wie Elfen – zart, beweglich, anmutig, liebreizend. Wenn sie sich nur auch so benommen hätten. Lena schmollte und Marie schnitt Fratzen. Ehe es zu einer Wiederaufnahme der Auseinandersetzung kommen konnte, ging die Haustür auf, und Dorothee, die Mutter der beiden, kam herein.

„Hallo, da bin ich. Können wir los?“, fragte sie munter. Die Zwillinge stapften nach draußen, Frieder faltete die Zeitung zusammen und erhob sich. Wilhelmine war froh, dass sie endlich das Haus verließen.

Die Fahrt war geprägt von mehr Gezanke und Vermittlungsversuchen, Ermahnungen und Handgemenge auf der Rückbank. Wilhelmine schob es auf die Nervosität ihrer Enkelinnen. Sie hatten praktisch das gesamte Jahr geprobt, um heute den „Nussknacker“ aufzuführen; es war also ein sehr wichtiger Abend. Die Stadthalle würde bis auf den letzten Platz besetzt sein, Presse und Lokalfernsehen wurden erwartet, außerdem der Oberbürgermeister und einige Prominente, denn die Ballettschule Celine hatte einen guten Ruf in Fachkreisen und war weithin bekannt für ihre professionellen Weihnachtsaufführungen.