Das Zentrale - Rainer Pervöltz - E-Book

Das Zentrale E-Book

Rainer Pervöltz

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Beschreibung

Dieses Buch hilft Ihnen, sich auf fundamentale und doch konzentriert schlichte Weise kennenzulernen. Sie können es einfach lesen oder Sie können sich darauf einlassen. Sie werden mithilfe zahlreicher "Exerzitien" immer wieder eingeladen, sich unter zwei Aspekten zu beobachten und zu erleben. Da ist auf der einen Seite Ihre gelernte Geschichte, die früh in Ihrem Leben begonnen hat und mit der Sie anfingen sich anzupassen, um geliebt oder zumindest geduldet zu werden. Sie hat so etwas wie eine innere Grundatmosphäre, die Ihnen zur Gewohnheit geworden ist und die Ihr alltägliches Leben auf mehr oder weniger mechanische Weise bestimmt und ständig wiederholt. Sie hat Ihnen als Kind geholfen, Ihren Platz in der Familie zu halten, aber je älter Sie werden, um so mehr wird sie Ihnen zum Hindernis, Ihre andere Seite zu leben, nämlich Ihr Leuchten, Ihre Essenz, Ihr eigentliches individuelles Wesen. Wann immer Sie das Gefühl haben, "das kann doch nicht alles sein", erinnert sich etwas in Ihnen an diese vergessene und vergrabene erotische Kraft. Solche Zweiteilung findet sich in vielen psychologischen und spirituellen Lehren. Die Besonderheit des Buches liegt darin, dass hier beide Seiten auf einen zentralen Nenner gebracht werden. Sowohl durch Ihre gelernete Geschichte als auch durch Ihre "Essenz" geht ein simpler roter Faden, der auf beiden Seiten Ihre unverwechselbare Individualität ausmacht. Sie haben nicht gelernt, ihn wahrzunehmen, da Kompliziertheit und Verwirrung fast immer eine erhaltende und stabilisierende Funktion in der alten Geschichte haben. Das Buch lädt ein zu einer Reise, die Sie zunehmend mit der einfachen, sich stets wiederholenden Grundformel in Berührung bringen kann, wie Sie Schmerz, Angst und Leid in Ihrem Leben herstellen. Gleichzeitig wird vielleicht die Fähigkeit, sich an Ihren Glanz, Ihre Strahlkraft zu "erinnern", immer stärker in Ihnen werden und damit die Türen öffnen zu einer anderen Perspektive, in der eine unvertraute Leichtigkeit und Freude die Basis Ihres Lebens bilden. All das wird allerdings nur geschehen, wenn das Verlangen, zu sich nach Hause zu kommen, in Ihnen heftiger ist als die mechanische Nötigung, Ihren gängigen Alltag und Ihre Routine beizubehalten. Das Buch ist eine Einladung, aber kein Versprechen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 592

Veröffentlichungsjahr: 2022

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RAINER PERVÖLTZ

DAS ZENTRALE

© 2022 Rainer Pervöltz

Umschlag, Illustration: Ana Castro Carrancho

Lektorat, Korrektorat: Tobias Schwaibold, Cornelia Eder

Druck und Distribution im Auftrag des Autors:

tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland

ISBN

Paperback

978-3-347-59176-9

e-Book

978-3-34759177-6

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland.

Inhaltsverzeichnis

Anfängliche Gedanken

TEIL I DAS ALTE ZENTRALE

Alles ist immer im Gleichgewicht (oder versucht es zumindest)

Haben Sie ein Bewusstsein davon, dass Sie in einer Geschichte leben?

Der mechanische Mensch ist immer Opfer

Das Wesen des Alten Zentralen

Leben Sie das Drehbuch Ihrer Eltern?

Die neurotische Balance

Druck 87

Wie alles auf dem Kopf steht

Die Liebe fängt an, wo sie aufhört

Die Sache mit Gott

Erste Mut machende Gedanken zum sechsten Chakra

Das Gesetz der monströsen Wandlung

Das Ego imitiert die Essenz – und was sich daraus alles ergibt

Das tragische Gesetz der Ambivalenz

Was halten Sie von Abraham und Isaak?

Die Erlösung des mechanischen Menschen – falls man sie in Betracht ziehen darf

Und immer lockt das Drama

Die neurotische Logik

TEIL II DIE INDIVIDUELLE ESSENZ

Hinführung

Startschwierigkeiten

Sich erinnern

Werden Sie bitte primitiver!

Den Körper träumen lassen

Mein Weg zu mir

TEIL III MIT DER INDIVIDUELLEN ESSENZ UND DEM ALTEN ZENTRALEN IM ALLTAG LEBEN

Schmerzliche und fröhliche Quantensprünge

Sie leuchten auch ohne Erleuchtung

Zwischenablage

Heil werden. Nach Hause kommen.

Sind Sie mit sich verheiratet oder leben Sie in Trennung?

Die Angst für die Essenz benutzen

Sie sehen, was Sie sind; und Sie werden, was Sie sehen

Lassen Sie Ihre Zauberkraft spielen

Die zwei Grundatmosphären

An der Schwelle

Vom Wesen der Magie

Hier ist das Buch (nach und nach) zu Ende

Danksagung und Autoreninfo

Verzeichnis der Exerzitien

Index

Als Kind wolltest du dich leben, doch sie waren nicht einverstanden. Sie konnten es nicht sein, weil sie nur wussten, was sie wussten.

Dich in die Gesellschaft einzuweihen und zugleich dein Eignes zu fördern, haben sie versucht, aber nicht zuwege gebracht. (Weil sie nur wussten, was sie wussten.) Du hast es halb akzeptiert, vielleicht sogar für richtig befunden… Hinter dem Vorhang blieb dennoch ein vages verletzliches Unwohlsein, dass es so doch nicht stimmen konnte und dass du verloren gingest in der Verkleidung.

Daraus hast du dann was gemacht, hast irgendwie gelebt, wie sie und du es wollten. Dann hast du dazugehört. Dachtest du.

Nebenher hast du eine Form gefunden, dein Eignes auf sperrig schräge Weise weiterzuleben. Doch die schräge Machart war dann bloß Abklatsch… ein Abklatsch vom wirklich lebendigen Leben in dir,und war so abgedreht verfahren, dass du dir selber zum Feind wurdest. (Weil du nur wusstest, was du wusstest.)

Traurigerweise versteifst du dich drauf, das ganze aufgezwungene Zeug de facto dein Sein und Wesen zu nennen, und erkennst nun nicht mehr, wie sehr du dich ausgemerzt hast.

Du, wirklich du, das ist jemand anderes.

Anfängliche Gedanken

Dieses Buch soll davon handeln, wie ein Mensch seinen Glanz verliert und wie er ihn wiederfinden kann. Ohne jeden Zweifel sind wir alle leuchtende Wesen und können dieses Licht sicherlich auch nie gänzlich verlieren. Aber wir können glauben, dass wir es verloren haben, und dann leuchten wir meistens weniger sichtbar.

Denn leider (oder glücklicherweise) geht es bei allem, was wir lieben, denken und ablehnen, nie um das, was ist, sondern um das, was wir glauben.

Auch dieses Buch, und was drinstehen wird, ist nicht etwas an sich, sondern nur etwas, was Sie, lieber Leser, und Sie, liebe Leserin, auf eine Ihnen besondere Weise wahrnehmen werden. Und was Sie erleben, ist immer nur, was Sie wahrnehmen. Wie Sie wahrnehmen, so wird Ihre Welt. (Selbst das müssen Sie hinterfragen und sehen, ob Sie es glauben wollen.)

Wissen Sie, ich muss Ihnen gleich zu Anfang eingestehen, dass ich als Autor dieses Buches in einem beträchtlichen Dilemma stecke. Denn seit zehn, vielleicht auch schon zwanzig Jahren kann ich Bücher nicht mehr leiden, in denen einer den Anderen nahelegt, die Welt so zu sehen, wie er sie selbst sieht. Oft ist das anschaulich getarnt, indem da zum Beispiel ein junger Naiver eine merkwürdige Frau oder einen kauzigen Alten trifft, die so tun, als ob sie ihn auf die Probe stellen und ihn erst mal schroff zurückweisen. Das wird damit begründet, dass der Junge wirklich sicher sein muss, ob er würdig ist, die Weisheit aufzunehmen. Als Leserin weiß man aber natürlich, dass die Sache früher oder später in Gang kommen wird; denn eigentlich will ja nur der Autor seine Weisheit in die Welt bringen, und dann wäre es doch dappig, wenn der junge Naive schon im zweiten Kapitel nicht mehr auftauchen würde. Und so stellt sich schließlich immer heraus, dass nach kurzem oder längerem Gerangel der tumbe Thor begreift, dass er bei jemandem gelandet ist, der oder die unfehlbar darüber im Bilde ist, wo es langgeht.

Und da zeigt sich mein Dilemma (das leicht mit Koketterie verwechselt werden könnte). Ich werde Dinge sagen, die für einige von Ihnen so klingen können, als ob sie wahr sind. Meine Absicht ist aber lediglich, sie anzubieten, als Spielformen sozusagen, als Anstöße. Derart müssen Sie das bitte unbedingt verstehen: die Angebote als Gelegenheiten aufgreifen und daraus Ihre eigene Wahrheit machen.

Das gilt fast für jeden Satz in diesem Buch. Ich habe lange gezögert, ob ich es schreiben soll. Es ist gleichsam die (vorläufige) Ernte meiner therapeutischen Arbeit und meines gelebten Lebens, die Frucht der späten Jahre. Vorläufig deshalb, da ich mich trotz meines relativ fortgeschrittenen Alters noch immer selbst als ganz und gar unfertig erlebe und in einigen Jahren mit absoluter Sicherheit vieles anders sehen und sagen werde, als ich es jetzt tue. Sie denken vielleicht (nicht ganz zu Unrecht), na, wenn er nichts vorzubringen hat, was Hand und Fuß hat, dann soll er die Finger davonlassen, es gibt ja genug Bücher auf der Welt.

Eben. Da stimme ich eigentlich mit Ihnen überein. Es gibt nur diese leise Stimme in mir, die sagt, da ist aber schon was dran an der Sache mit dem Zentralen. Du hast so viel Zeit damit verbracht, es klarzukriegen, und bist mit so vielen Menschen durch den Prozess ihrer Wahrheitsfindung gegangen, dass es doch schade wäre, wenn das überhaupt nicht vermerkt und dokumentiert wird. Und dann vielleicht eines Tages ganz und gar verschwunden ist. Und auch da können Sie wieder sagen, schön und gut, aber die Welt wird’s schon verwinden.

Ja. Das sehen Sie sicherlich richtig. Sie merken, dass ich meinen Narzissmus nicht ganz aus dem Spiel lassen kann. Narzissmus hat eben immer ein Oben und ein Unten, ein „Oh, wie herrlich und einzigartig“ und ein „Meine Güte, musste das auch noch sein?“. Deswegen ist für mich die einzig authentische Rechtfertigung das sehr ernst gemeinte Angebot, dass Sie, wenn Sie dieses Buch überhaupt lesen, es als Spielform, als Anstoß benutzen sollten. Meine Wahrheit steht da als Impetus, als Werkzeug, als Verkehrsmittel. Worum es nur geht, ist, dass Sie über diesen Weg Ihre eigene Wahrheit finden.

Das sage ich auch deswegen mit solchem Nachdruck, weil Ihnen, wenn Sie sich tatsächlich auf die ganze Sache einlassen wollen (auf die heikle Sache, Ihr eigenes Zentrales kennenzulernen), durchaus eine Reihe von schmerzlichen, schambesetzten, traurigen Momenten (oder Perioden) bevorstehen könnten. Die Freude, sich selbst zu finden, ist zwar letztlich gemeinhin größer als die Mühsal und die peinigende Plackerei, aber sofern Sie sich nicht selbst etwas vormachen wollen, kommen Sie nicht wirklich voran, wenn Sie Schmerzen vermeiden wollen.

Niemand kann Ihnen sagen, was Ihren eigenen Glanz ausmacht. Aber, verstehen Sie bitte, deshalb sind Sie hier, deshalb leben Sie überhaupt: um sich zu erinnern, wer Sie wirklich sind. Wie könnte jemand anderes sich an Ihrer statt erinnern?

***

Halten Sie es für möglich, Ihre eigene Geschichte hinter sich zu lassen? Dass Sie sich aus jahrzehntealten, lebenslangen Angewohnheiten lösen könnten? (Ich bezeichne es hier ein bisschen provokant als Angewohnheiten, man könnte es auch das Drama des Lebens nennen.) Sagen wir, aus Ihrer Art, wie Sie sich schmollend zurückziehen, wenn man Sie gekränkt hat oder die Dinge nicht so laufen, wie Sie es gern hätten? Oder Ihre ganz individuelle Art, wie Sie sich selber immer wieder fertig machen? Wie Sie allzu leicht verletzt sind, wenn jemand anderes etwas an Ihnen bekrittelt, oder wie Sie in die Luft gehen, wenn jemand Sie an Ihrem wunden Punkt trifft? Dass Sie in gewissen Fragen unendlich halsstarrig, eng und unnachgiebig sein können? Und dass also all das aufhören könnte, allmählich, aber spürbar, verebben, ausklingen, vorbei sein (bevor Sie diese Erde verlassen): Halten Sie das für möglich?

Denn es sind doch alles nur Haltungen, Gedanken, Bewegungen, Gefühle, die Sie sich angewöhnt haben. Auch wie Sie Sex haben, wie und was Sie essen, wie Sie auf Menschen zugehen, wie Sie sich auf Partys fühlen, wie Sie über Gott denken und wie Sie in vielen Angelegenheiten pingelig sind – alles Formen, mit dem Leben umzugehen, mit denen Sie nicht auf die Welt gekommen sind, sondern die Sie sich angewöhnt haben. Haben Sie sich das jemals ausgesucht? Es kann ja gut sein, dass Sie als erwachsene Person mit sich experimentiert, dass Sie sich erforscht und ausprobiert haben, und glauben deshalb, einen gewissen Einfluss auf sich selbst nehmen zu können – aber als Kind, haben Sie da entschieden, ob Sie so oder so am Tisch sitzen wollen? Ob Sie Angst beim Einschlafen haben? Wie Sie darauf reagieren sollen, wenn Vater Ihnen Vorhaltungen macht oder wenn er Sie ignoriert?

Also – da sind wir uns hoffentlich einig: Nie und nimmer haben Sie da so etwas wie eine Wahl gehabt (obwohl Sie als Kind sicher meinten, eine zu haben – und vielleicht meinen Sie’s ja rückblickend heute noch). Sie haben vielmehr reagiert, Sie sind drauf eingegangen – auf das, was man mit Ihnen gemacht hat, und zwar immer so, dass Sie einigermaßen sicher sein konnten, dass man Sie noch lieb hatte (oder dass man Sie nicht verstieß – je nach häuslichen Verhältnissen).

Und jetzt haben Sie sie am Hals, Ihre Angewohnheiten, beziehungsweise laufen damit durch Ihr geordnetes Leben, jeden Tag, jede Woche. Vielleicht haben Sie sich’s so zurechtgelegt, dass Sie relativ überzeugt sind, eine ansprechende Persönlichkeit zu sein. Vielleicht freuen Sie sich über Leute, die verkünden, sie würden ihr Leben noch mal ganz und gar genauso leben, wenn sie die Wahl hätten, und die glauben, mit dieser eher leichtfertigen und etwas gehaltlos-flachen Aussage etwas Freundliches über sich gesagt zu haben.

Jedenfalls haben Sie’s da nun. Und ziehen vielleicht niemals in Erwägung, dass all das, das ganze Sammelsurium (Ihre Geschichte), nichts weiter ist als ein Wust von Angewohnheiten. Aufgeschnapptes Zeug nur, gelernte Mechanismen. Vielleicht denken Sie – ganz tief unterhalb der Mitteilungsebene – dass all die Kriege, die ganze korrupte Maßlosigkeit, der Dreck, die ausgebeutete Erde, die Gewalt und Unterdrückung, der Terror, dass all das nicht wirklich was mit Ihnen zu tun hat, schließlich sind Sie doch (wenn Sie ehrlich sind), was man einen mehr oder weniger guten Menschen nennen würde.

Mir geht es da nicht anders.

Aber das ist – sage ich zu Ihnen und zu mir – das ist, mit Verlaub, ein erheblicher Patzer. Wir haben das alle zusammen gemacht, die einen im Größeren, die andern auf scheinbar privatere Weise. Denken Sie doch nur, wie viel sogenannten Kleinkrieg Sie im letzten Monat geführt haben – mit diesen Menschen in Ihrer Umgebung, die’s einfach nicht kapieren wollen. Oder der ganze Kleinkrieg zunächst auch und vor allem mit sich selbst. Das reicht ja eigentlich schon.

Denn wissen Sie, so wie Sie mit sich selbst umgehen, so gehen Sie auch – ohne jede Frage – mit der Welt um. Das ist eine Art kosmisches Gesetz, es geht gar nicht anders. Wenn Sie schlecht drauf sind, dann sind Sie schlecht drauf, in die eine wie in die andere Richtung.

Zur Welt hin sieht’s vielleicht anders aus, weil Sie sich da stärker verkleiden. Aber denken Sie nur an all diese Gedanken, die Sie andauernd haben: „Was rede ich da wieder… Was der für einen Geschmack hat… Die hat ja noch eine Menge zu lernen… Wie komisch die Leute heute drauf sind… Warum lächle ich so verklemmt, wenn ich rede… Ein bisschen höflicher könnte der ja schon sein…“ Und so weiter.

Es ist unglaublich, was Sie und ich da täglich für einen überheblichen und/oder selbstdemontierenden Schrott zusammendenken. Wie unfreundlich und – auch wenn es kaschiert bleibt – feindselig das daherkommt, uns selbst gegenüber und entsprechend zur Welt hin. Man hat sich einfach so sehr daran gewöhnt, dass es einen nicht einmal mehr erschrocken und beschämt auffahren lässt, falls man es bemerken sollte.

Ich habe lange gemeint, na, so sind wir halt, und wir müssen nicht den Moralischen spielen. Aber glauben Sie mir, das ist ganz und gar nicht mehr meine Ansicht.

Es wird da so deutlich, wie kriegslüstern wir alle sind. Sie möchten einwenden, dass es zwei Paar Stiefel sind, ob ich hämisch über meinen Nachbarn denke oder Bomben über einem feindlichen Land abwerfe. Ehrlich gesagt, sehe ich darin keinen so großen Unterschied. Wenn wir im Rahmen unserer gelernten Angewohnheiten leben, sind wir weitgehend mechanische Wesen, die von ihrer Umgebung und ihren Verhältnissen abhängig sind. Wenn mir jemand was Nettes sagt, erhellt sich die Stimmung; wenn er an mir rummäkelt, verdüstert sie sich. Wenn ich für ein ganzes Land und seinen Schutz verantwortlich zu sein glaube, dann schmeiße ich halt eine Bombe auf das Land, das an uns rummäkelt.

***

Sie merken vielleicht schon, dass ich – solange wir über menschliche Beziehungen im Rahmen von Angewohnheiten reden – wenig freudige Erwartungen habe. Vielleicht hatte ich sie mal. Aber ich bin im Laufe meines Lebens mit zu vielen Menschen in die Tiefe ihrer gelernten Programme hinabgestiegen, als dass ich noch glauben könnte, dass da große Flexibilität bestünde. Sie werden vielleicht entgegenhalten, dass ich ja auch mit Menschen arbeite, die mit dem Leben nicht zurechtkommen (und sich deshalb in Therapie begeben). Aber da würde ich Ihnen widersprechen. Ich glaube, alles steht in unserer Welt auf dem Kopf. Und wer in diesen Tagen noch nie mit dem Gedanken gespielt hat, sich selbst mithilfe eines anderen Menschen gründlicher anzuschauen (ob nun „therapeutisch“ oder sonst wie), der wird mit großer Wahrscheinlichkeit bis zu seinem Tode im Spektrum seiner Angewohnheiten verharren. Gewohntes Leben verändert man meist nur, wenn man zu sehr an ihm leidet.

Man muss ja auch nicht. Es kommt schließlich immer darauf an, was die eigene Seele mit einem vorhat.

Ich nehme gerne diesen „toleranten“ Standpunkt ein, muss Ihnen aber auch sagen (und kann das bitte unter uns bleiben), dass es mich mehr und mehr graut, über längere Zeit mit durchgehend selbstzufriedenen Menschen zusammen zu sein. Mit Menschen, die „sich gerne akzeptieren, so wie sie sind“ und die „alles haben, was sie brauchen“. Ich weiß, meine Ablehnung klingt hanebüchen, denn natürlich ist das auch in erlöster Form genau das, wo wir hinwollen. Aber wenn es zum mechanischen Repertoire gehört, dann ist es oft einfach nervend langweilig, sich mit jemandem zu unterhalten, der immer weiß, wie die Dinge laufen und was recht und was unrecht ist. Es ist ein bisschen grusig (wie die Schweizer sagen), Menschen gegenüberzusitzen, bei denen die Evolution sich entschlossen zu haben scheint, an ihren Endpunkt gekommen zu sein. Oder die zumindest dieser Meinung sind. Ich glaube auch, ehrlich gesagt, nie, dass das so ganz stimmt. Ich meine, auch für die Menschen selber nicht. Es stimmt, wenn sie eine Meinung über sich selbst haben, aber es stimmt ganz und gar nicht mehr in gewissen Stunden, wenn – und vielleicht nur in minimaler Form – so etwas wie ein Geschichtsbewusstsein durchdringt: ein Bewusstsein von der eigenen Geschichte. Dann kommen merkwürdige Sehnsüchte und Traurigkeiten, seltsam kitschige Träumereien von „wenn doch“ oder „hätt’ ich doch“, kindisch spirituelle Unausgegorenheiten wie „Da muss es doch noch was Größeres geben“ und „Das kann doch nicht alles sein“. Sehr oft natürlich schwebt über dem Ganzen die Angst vor dem Tod.

Wir alle haben eine Geschichte, im doppelten Sinne des Wortes. Wir haben eine Vergangenheit, eine Historie, etwas, das war und vorbei ist, und wir leben in unserer eigenen Erzählung, unserer ureigenen Geschichte: mit einem Anfang, einem romanhaften Verlauf und einem Ende. Und immer, wenn wir mit unserem Bewusstsein auf diese Roman-Ebene gehen, dann geschieht etwas in unserer Selbstwahrnehmung. Dann treten wir nämlich in eine Art köstlicher Distanz zu uns und der Gesamtheit unseres Romans. Das ist der Moment, in dem wesentliche Veränderungen möglich werden. Wir treten plötzlich heraus aus dem selbstverständlich gewordenen Ablauf unserer täglichen Mechanik und wachen kurz auf für die Möglichkeit der Freiheit. Es kann einfach so, aus dem Nichts heraus, geschehen, wenn das, was wir wirklich sind (hinter allen Angewohnheiten), sich unerwartet in Erinnerung bringt. Man kann aber auch lernen und trainieren, solch Geschichtsbewusstsein immer öfter herbeizuführen.

Dann verstehen wir mehr und mehr, dass die ganze Geschichte nur eine Geschichte ist, ein Vorwand sozusagen, eine Vorlage, aus der wir uns lösen und nach Hause kommen können – nach Hause zu dem oder der, die wir wirklich sind.

Das ist meist ein langer, schöner und oft schmerzlicher Weg, und davon handelt dieses Buch.

TEIL I

DAS ALTE ZENTRALE

Alles ist immer im Gleichgewicht (oder versucht es zumindest)

Alles, was lebendig ist, lebt in einem Gleichgewicht; überall finden Sie zwei Seiten, die sich die Waage halten. Deshalb leben wir alle auch in einer Art neurotischen1 Balance: Alles, was irgendwie schräg ist in unserem Leben, muss sich ziemlich bald etwas suchen, das einen Ausgleich dazu schafft – und das dann gleichermaßen schräg ist, nur auf der anderen Seite. Wenn Sie zum Beispiel putzsüchtig sind, haben Sie sich auf jeden Fall irgendwo in Ihrem Leben einen anderweitig gleichwiegenden Ausgleich geschaffen, und natürlich gibt es da zahlreiche Möglichkeiten. Vielleicht gehen Sie es auffallend schlampig und widerborstig an, in gewissen emotional beherrschten Bereichen ihres Beziehungslebens Klarheit zu schaffen. Vielleicht können Sie sich bei kleinsten Lappalien nicht „sauber“ entscheiden. Vielleicht erleben Sie eine geheimnisvolle Genugtuung, in Ihrem Liebesleben ein dreckiges Luder zu sein… Was immer es sein mag, es hat zu tun mit den Schwerpunkten in Ihrer Geschichte. Was das „Erste“ war – welche Seite der Balance als erste da war – und was der Ausgleich ist, ist selten leicht zu entscheiden.

Warum das am Ende des Tages so ist mit dem neurotischen Gleichgewicht, dazu kann ich nicht wirklich etwas sagen. Es scheint mir nur so, dass Gott damit eine gewisse Dynamik im Sinn hat, die entsteht, wenn zwei Gegensätze miteinander zurechtkommen müssen.

(Wenn ich übrigens von Gott rede, dann meine ich damit eine Instanz in mir – oder besser: auch in mir –, die einen größeren Überblick hat als ich. Sie ist also quasi auch ich, aber nicht der, den ich beschreiben würde, wenn ich „ich“ sage. Gott hat für mich keinerlei Eigenschaften, wie strafend, eifersüchtig, rächend oder gütig, verzeihend oder erlösend, er ist auch nicht männlich oder weiblich, „er“ (?) ist lediglich in einem unbegreiflichen Ausmaß intelligenter. (Ich bleibe mal bei „er“, vielleicht aus alter Angewohnheit. „Es“ geht ja nun gar nicht.) Ich rede vernünftigerweise ziemlich viel mit Gott – da ich danach immer mehr weiß als vorher und mich eigentlich auch immer besser fühle.)

Falls spirituelle oder religiöse Perspektiven Sie nicht unberührt lassen, dann haben Sie sicherlich auch immer wieder Schwierigkeiten mit der Frage, warum Leben so abläuft, wie es abläuft, warum Sie sich anstrengen mussten, mit jahrelangem Aufwand das ganze Zeug zu lernen, das Sie jetzt wieder versuchen „loszulassen“. Warum muss man aus dem Paradies raus, um dann wieder zurückfinden zu sollen?

Ich verstehe das mehr und mehr als eine Sache des sich immer neu bildenden Gleichgewichts. Sie bauen sich (oder es baut sich) zunächst eine relativ verkorkste Geschichte auf und leben innerhalb dieser Geschichte mit einer fragwürdigen und sich immer ein bisschen verwandelnden Sucht nach Ausgleich. Dann aber werden Sie aus irgendwelchen Seelengründen angehalten, das Ganze wieder rückgängig zu machen – und dies jetzt mit zunehmenden Pendeleien zwischen erhöhten Anfällen von Lebensfreude und vertieften Phasen von Schwermut.

Vielleicht ist ja dieser ganze Prozess von Auf und Ab der optimale Weg, den Leben geht, um sich seiner selbst bewusst zu werden. Die Intelligenz, die intelligenter ist als ich, versteht sicherlich auch besser, warum gerade diese nicht immer intelligent erscheinende Durchführung eine geniale Methode der Evolution darstellt. Kreativ und spielerisch, wie sie ist, macht sie auch nicht so viel Gedöns um die sogenannten Schläge des Schicksals, wie wir es gemeinhin zu tun pflegen, sondern sieht vielleicht alles eher als eine große Lustigkeit. Humor ist, wie wir wissen, eine der höchsten Stufen von spiritueller Entwicklung. Vielleicht verweilt Gott auf einer Ebene des Humors, die wir nur mit großer Überwindung als solche erkennen können.

***

Alles scheint also auf dieser rätselhaften Balance zu beruhen, die offenbar immer in der einen oder anderen Form existieren muss. Leben droht vor allem dann zu scheitern, wenn die Balance auch in neurotischster Form nicht mehr hergestellt werden kann. Dann kommt man in die Klinik. (Dort helfen sie einem dann oft, die neurotische Balance wieder aufzubauen, die man gerade versucht hat, hinter sich zu lassen.)

Bei so viel Basisdrang zum Gleichgewicht: Liegt es nicht auf der Hand, in jeder Form der Selbstentwicklung auch eine höchste Ausgewogenheit (der Balance) zu berücksichtigen? Eine „Therapie“, die vorwiegend aufdeckt, was schiefläuft und was Sie falsch machen, ist dann ebenso einseitig wie eine, die vorwiegend die spirituelle Hingabe, die Liebe zu allem Lebendigen, eine Herzensbeziehung zu Gott und die Hinwendung zum Licht im Fokus hat.

Jede einseitige Vorgehensweise hat ihre Logik. Wenn ich der werde, der ich gerade bin, sagt zum Beispiel die Gestalttherapie, dann verändere ich mich. Da ist was dran – mehr noch: Es ist sicher unausweichlich und nötig, dass Sie sich ganz und gar auf das einlassen, was Sie nicht an sich mögen, damit es sich verändern kann. Wenn Sie sich rundum erlauben zu sein, wie Sie „abstoßenderweise“ sind, dann hört der Krieg in Ihnen auf, dann kehrt oft eine tiefe Ruhe ein, und nicht selten löst sich der Zwang, so sein zu müssen, wie Sie abstoßenderweise waren.

Aber deswegen leben Sie noch lange nicht, wer Sie wirklich sind, Ihre Individuelle Essenz, Ihr wahres Selbst, und was es da alles für Begriffe gibt. Das scheint mir eine naive Vorstellung zu sein, die vor einem halben Jahrhundert aufkam: dass Sie das, was Ihr innerstes Wesen verhindert, nur tief genug erkennen, erfahren und dann loslassen müssen, und schon tritt Ihr leuchtendes Sein von alleine auf die Bühne.

Und eben mindestens genauso naiv (aber weitaus ärgerlicher) ist die Vorstellung, dass Sie nur Ihre spirituellen Tugenden pflegen müssten, und Ihre gelernten Formen der Manipulation würden sich von selbst auflösen. Dies ist eine immer noch weitverbreitete (hilflose) Vorgehensweise in manchen spirituellen Kreisen und ähnelt dem Unterdrückungsgebaren organisierter Religionen. Auch die fördern ja nur selten den tieferen Weg der individuellen Selbsterforschung, haben ihn über lange Zeiten hinweg sogar direkt oder indirekt unter Strafe gestellt oder tun es immer noch. Sich selbst kennenlernen bedeutet auch immer das Wagnis, konkrete Erfahrungen einzugehen, die man sich bisher verboten hatte.

Eine vergangenheitsorientierte Therapie verbietet natürlich solche Schritte nicht, aber sie hat in der Regel nichts Besseres zu bieten als die Wiederherstellung einer gut funktionierenden Mechanik (auch wenn sie es wahrscheinlich nicht so nennen würde). Dass es ganz etwas anderes in uns gibt, das weit über durchschnittliches Wohlsein hinausgeht und das in seiner außergewöhnlichen Leuchtkraft den gängigen bürgerlichen Vorstellungen von Bescheidenheit riskant widerspricht, das ist selten Bestandteil im Repertoire traditioneller personaler Therapien. Wie können sie das auch in den Mittelpunkt stellen: Zwar macht jeder Mensch über die Zeit seines Lebens hin mehrmals (meist kurze) Erfahrungen seines eigentlichen Selbst, aber oft eher unfreiwillig, nur in Momenten also, in denen dieses Selbst die gewohnte Schutzmauer der gelernten Selbstunterdrückung durchbrechen kann. Man spricht dann vonpeak experiences oder Momenten der Gnade, also Ereignissen, auf die man selbst keinen Einfluss hat. Und wie kann ein Therapeut mit solchen Einstellungen dann helfen, Einfluss darauf zu nehmen.

Mein Vorschlag also für Sie ist, auch das im Gleichgewicht zu halten: sich kennenzulernen auf der einen Seite, in Ihren Angewohnheiten, in Ihrem alten System – bis in die subtilst gelebten Details Ihrer gelernten Geschichte. Die haben, wie gesagt, in der gelebten Form wenig damit zu tun, wer Sie wirklich sind, auch wenn Sie sich völlig darin wiederfinden und „ich“ dazu sagen. Und auf der anderen Seite den Schritt zu wagen, in das unbekannte Land zu gehen, in dem Sie paradoxerweise zu Hause sind.

***

Wir dürfen dabei einen unangenehmen Aspekt nicht außer Acht lassen: dass Sie nämlich in Ihrer gelernten Mechanik suchtabhängig sind. Falls Sie das nicht glauben, reagieren Sie bitte ganz anders beim nächsten Streit mit Ihrem Mann oder Ihrer Frau. Sie könnten auch versuchen, ohne Stress zu leben, wo Sie normalerweise in Hetze und Unruhe geraten. Oder hören Sie einfach mal auf, Ihre mühlenartigen Gedanken zu denken, beziehungsweise Ihre üblichen Gefühle zu fühlen, wenn Sie mal wieder „nicht gut genug“ waren.

Darf ich es mit Nachdruck noch einmal reinreiben: Sie sind suchtabhängig. Genauso wie die meisten von uns. Und wie fast alle Suchtabhängigen haben Sie zudem noch irgendeine kitschige Sehnsucht, dass sich eines Tages das eine oder andere mirakulös verändern wird. Also dass Sie eines Tages keinen Alkohol mehr trinken werden wollen, dass Sie eines Tages gelassener sein werden, dass Sie eines Tages mit einer ganz anderen Präsenz den Raum betreten werden usw. Alle Süchtigen haben diese Kitschvorstellungen.

Aber Tatsache ist: Süchtige brauchen, um clean zu werden, etwas (konkret) Besseres als die Sucht. Deshalb auch hier grundsätzlich die Idee von einer schrittweisen neuen Balance: Lernen Sie im Laufe dieser Lektüre Ihr Altes Zentrales (worauf wir sofort sehr viel näher eingehen werden) unter jedwedem Gesichtspunkt gedanklich, emotional und körperlich kennen, und fangen Sie im gleichen Maße an, sich an sich selbst zu erinnern. (Auch davon, und wie Sie das machen können, wird ausführlich die Rede sein).

Wenn ich also sage, dass Süchtige etwas Besseres als ihre Sucht brauchen, um sich aus ihr erlösen zu können, dann meine ich Erfahrungen. Sehr konkrete Erfahrungen mit etwas Besserem. Nicht die Sehnsucht danach.

1 Den Begriff neurotisch würde ich gerne in einem sehr weiten Sinne verstanden wissen. Wir sind alle neurotisch, die Charakterstruktur ist ein neurotisches System. Jemand, der nicht neurotisch ist, kann Guten Kontakt zu sich und Anderen machen und halten, ohne sich selbst verleugnen oder anspannen zu müssen. Jede chronische Anspannung im Körper deutet erst mal an, dass ich vergessen habe, wer ich bin.

Haben Sie ein Bewusstsein davon, dass Sie in einer Geschichte leben?

Alle Geschichten, von denen ein guter Erzähler weiß, dass er wenig Gefahr läuft, seine Zuhörer zu langweilen, handeln vom Zentralen. Niemand würde eine Geschichte hören wollen, in der die Hauptfigur mal nach Paris fährt, mal ihren Onkel trifft und sich schließlich beim Schlittschuhlaufen das Bein bricht, ohne dass es da zwischen den verschiedenen Situationen einen gewissen Zusammenhang gäbe. Warum würde man sich das antun, einer Serie von relativ belanglosen Lebensepisoden zu folgen, die jeglichen roten Faden vermissen lassen? Es gab und gibt immer wieder mal Filme, deren Absicht es war, das Leben realistisch widerzuspiegeln, in denen die Darsteller mal dieses und mal jenes machen, mal hier sind und mal dort, weil eben so eine Zusammenhanglosigkeit das Leben realistisch widerzuspiegeln scheint. Ich finde die meisten dieser Filme nicht nur abtörnend langweilig, sondern auch alles andere als realistisch.

Ebenso finde ich Therapiesitzungen langweilig, wenn mal von den Schwierigkeiten am Arbeitsplatz die Rede ist, mal davon, dass der Vater geprügelt hat, und schließlich von immer wiederkehrenden Erektionsschwächen des Klienten am Anfang jeder neuen Beziehung. Wenn die Arbeit auf diesem fragmenthaften Niveau bleibt, dann kann man nur versuchen, Lösungen für die jeweiligen Situationen zu finden. Also, wie er sich besser gegen die hämische Nachrede der Kollegen zur Wehr setzen und wie er vielleicht mit der nächsten Freundin weniger so tun kann, als wäre er Superman.

Solche Vorgehensweisen haben ihren Platz, aber für meine Arbeit finde ich sie eher uninteressant. Ich erinnere mich auch, dass ich in meinen ersten Jahren als Therapeut nicht selten gegen eine überwältigende Müdigkeit anzukämpfen hatte. Ich glaube, ich wäre auch schon lange nicht mehr Therapeut, wenn ich weiterhin versucht hätte, mit meinen hilfesuchenden Klienten in dieser Form Lösungen zu finden.

Auf wirklich realistische Weise würde sich das Leben doch eigentlich erst darstellen, wenn mein (oben fiktiv erwähnter) Klient und ich verstünden, dass sein Vater versuchte, einen Kerl aus ihm zu machen, die demütigenden Prügel aber das Gegenteil bewirkten. Dass er ihm immer wieder sagte und ihn mehr und mehr glauben ließ, er sei ein Weichei und eine Null und ein Schlappschwanz. Und dass wir schließlich verstehen, dass er genau das im Büro ausstrahlte – und zwar gerade wegen all seiner grimmen Bemühungen, auf keinen Fall wie ein Versager zu wirken. Es gibt das vermaledeite Gesetz Nr. 25a, das da lautet: Du kriegst immer das, was du mit großem Einsatz versuchst zu vermeiden.2 Und genau das Gleiche passiert mit seiner Freundin, auf die er möglichst heldischen Eindruck zu machen versucht. Nur spielt sein (männliches!) Glied da nicht mit, weil solches Theater unter seiner Würde ist.

(Der Penis ist übrigens eines der intelligentesten Körperteile des Mannes, und jeder Mann tut gut daran, ein freundschaftliches und aufrichtiges Verhältnis mit ihm zu pflegen.)

Die Sache hört an dem Punkt auf, langweilig zu sein, wo der Klient erkennt, dass mit seinem Vater, im Büro und mit der Freundin die gleiche Geschichte abläuft. So ein sich überall wiederholendes Leitmotiv nenne ich das Alte Zentrale. Denn erst wenn er sich eingestehen kann, dass er sich grundsätzlich in der Welt als bedeutungslos empfindet und gleichzeitig mit vorgeschobenen Formen von Mannhaftigkeit (neurotische Balance!) diesen Tatbestand vor der Welt und vor sich selbst zu verbergen versucht – erst dann kann eine wirklich fruchtbare und dynamische Entwicklung beginnen.

Noch einmal: In vielen Situationen ist es notwendig und vielleicht auch angebracht, für eine problematische Lebenslage eine vordergründige Lösung zu finden. Wenn Sie mit Ihrer Nachbarin seit Jahren in wortlosem Kriegszustand leben, ist es wohl keine abwegige Idee, mal den Mut zu fassen (oder den Stolz zu überwinden), auf sie zuzugehen und mit ihr zu reden. Das ist vernünftig.

Also, wenn Sie es nicht besser wissen, dann ist es gut, es einfach so zu machen. Es gibt allerdings auch hier schon einen Haken. Solche Stückwerkreparaturen sind oft nicht sehr effektiv. Sie halten vielleicht für eine Weile, bröckeln dann aber allmählich wieder, da irgendwas Wesentliches weder verstanden noch angesprochen wurde.

Wenn Sie hingegen mit Geschichtsbewusstsein (d.h. einem Bewusstsein für Ihre eigene Geschichte) an die Sache herangehen, erhöht sich die Möglichkeit für eine grundsätzlich veränderte Beziehung zu Ihrer Nachbarin beträchtlich.

***

Bleiben wir noch einen Moment bei der Stückwerklösung. Nehmen wir an, der Mann, von dem die Rede war, schafft es, sich im Büro erfolgreich gegen die Häme der Mitarbeiter zur Wehr zu setzen (indem er zum Beispiel den Betriebsrat einschaltet oder auch, indem er sich ein paar Mal durch energisches Auftreten „Respekt verschafft“). Kann er dann glauben, dass sein Leben sich verändert hat?

Vielleicht.

Sie sagen, er hat doch endlich etwas getan, wozu ihm vorher der Mut fehlte? Und dass solch ein Schritt wahrscheinlich auch Rückwirkungen auf sein Selbstbewusstsein hat?

Vielleicht.

Ich würde sagen, sein Leben hat sich dann verändert, wenn auch sein Penis sich anders verhält. Dann hat sich die ganze neurotische Balance verschoben. Dann wird er nicht mehr versuchen, kein Versager zu sein. Er wird sich erlauben, einer zu sein.

Dann ist kein Krieg mehr.

Dann freut sich sein Penis.

2 (Alles steht auf dem Kopf.)

Der mechanische Mensch ist immer Opfer

Halten Sie sich für einen mechanischen Menschen?

Natürlich nicht.

Ich mich auch nicht.

Das geht zu sehr an die Grenze des Erträglichen. Mechanisch, das heißt, dass ich nur so kann und nicht anders. Je abstrakter ich darüber nachdenke, umso mehr halte ich mich für einen freien Menschen. Das geht Ihnen wahrscheinlich ähnlich.

Allerdings: Wenn mein Email-Programm nicht funktioniert und keiner da ist, der es mir sofort repariert… Wenn ich also, sagen wir, drei Tage keine Mails empfangen kann (die ganze Welt aber meint, dass ich es kann), dann gerate ich in eine große innere Unruhe.

Ich habe viel meditiert in meinem Leben, ich kann die Arbeit meiner Chakren beeinflussen, ich kann mich in eine tiefe Ruhe bringen – aber wenn ich dann aufstehe und das Email-Programm geht immer noch nicht, ist die Unruhe in wenigen Sekunden wieder da. (Das mag Ihnen überhaupt nicht so gehen, Sie können das vielleicht völlig gelassen hinnehmen. Das heißt aber noch gar nichts. Es heißt lediglich, dass Sie anders gestrickt sind als ich. Oder ich kann auch sagen: dass Sie ein anderes Zentrales haben als ich.)

Sie waren dabei, sich auf die Frage einzulassen, ob Sie ein mechanischer Mensch sind oder nicht. Darf ich es noch einmal sagen: Mit „mechanisch“ meine ich, dass Sie nicht anders können, selbst wenn Sie wollten. Und zwar in Ihrem normalen Alltagsleben und nicht, wenn sie gerade auf der Titanic sind.

Ich biete Ihnen noch ein paar andere Alltäglichkeiten:

Falls Sie gerne (!) fernsehen: Können Sie den Apparat mitten in einem guten Film abschalten, wenn sich jemand mit Ihnen unterhalten möchte?

Falls Sie gerne Süßigkeiten essen: Können Sie heute damit aufhören? (Dito: Wein, Bier, Kaffee, Fleisch, Rauchen, Kiffen usw.). Es geht nicht darum, was besser für Sie wäre. Nur, ob Sie aufhören könnten.

Falls Sie eifersüchtig sind: Können Sie morgen großherzig werden, wenn Ihr Liebling auf ungewohnt charmante Weise mit dieser anderen Person da plaudert?

Falls Sie Ihre Frau prügeln: Können Sie damit aufhören (wenn sie, in Ihrer Sicht, gerade wieder die letzte Stufe ausgereizt hat)?

Falls Sie jeden Tag Sex haben wollen: Können Sie die Möglichkeit in Betracht ziehen, sich auf die Bedürfnisse Ihres Partners oder Ihrer Partnerin einzustellen? (Wirklich einstellen, nicht nur als Kompromiss.)

Falls Sie seit drei Jahren keinen Sex in Ihrer Beziehung hatten und wollten: Können Sie heute Abend wieder anfangen?

Falls Sie regelmäßig die Sportschau ansehen: Können Sie ein paar Wochen darauf verzichten?

Falls Sie markant ordentlich sind: Können Sie anfangen, Dinge ein bisschen rumliegen zu lassen und heute nicht abzuwaschen?

Falls Sie sich ständig Sorgen um Ihre Kinder machen: Können Sie sie in einer Situation, die Sie für bedenklich halten, unbevormundet lassen?

Falls Sie die Angewohnheit haben, Ihren Gesprächspartnern ununterbrochen durch „Hm“ und Kopfnicken zuzustimmen: Können Sie das abstellen?

Falls Sie in bestimmten Begegnungen zur Unsicherheit neigen: Können Sie gelassener auftreten?

Falls Sie seit Jahren jeden Tag meditieren: Können Sie das für eine Weile sein lassen?

Falls Sie immer lächeln und nett sind: Können Sie für eine Woche immer, wenn Sie etwas nicht wollen, nein sagen, vielleicht sogar mit Zornesfalten auf der Stirn?

Ich könnte die Fragereihe noch lange fortsetzen. Und Sie können sich ja auch eigene Situationen basteln, Sie kennen sich selbst am besten. Suchen Sie sich nicht Beispiele raus, wo Sie’s können. Natürlich können Sie vieles, weil es nicht in den Bereich Ihres Alten Zentralen fällt. Und halten Sie sich nicht mit der moralischen oder philosophischen Frage auf, ob das eine besser wäre als das andere. Darum geht es, wie gesagt, überhaupt nicht. Es geht nur darum, ob Sie ein freier Mensch sind. Wenn Sie nur so sein können, wie Sie meinen zu sein, dann sind Sie’s nicht. Denn das macht ihr Altes Zentrales: Es hält Sie im Gefängnis des Immer-Gleichen und des Gewohnten. Ob Sie das so sehen oder nicht.

Ihr Altes Zentrales ist ein System von Anpassungen, mit dessen Hilfe Sie gelernt haben, als Kind in Ihrer Umgebung am besten zu überleben. Jede Anpassung erfordert, dass Sie sich selbst in gewisser Weise im Stich lassen. Kinder tun dies (wie man überall sehen und hören kann) nur mit größtem Widerwillen, aber da sie abhängig sind, müssen sie sich früher oder später fügen und selbst verleugnen. (Und man hört immer wieder von Kindern, die mit vier oder sieben das Haus verlassen, um nie mehr wiederzukehren. Dass die Polizei sie dann noch am selben Tag zurückbringt, ist – in ihrem kindlichen Verständnis – ein unerfreulicher Missbrauch von staatlicher Gewalt.)

***

Jetzt kommen wir zu einem heiklen Punkt. Da Sie als Kind dieses heikle System von Anpassungen natürlich weder freiwillig noch bewusst in sich etabliert haben, lief der ganze Vorgang (auch bei möglicher Empörung) quasi im Hintergrund des Betriebssystems ab.

Diese Verwandlung wurde zwar mit Ihnen gemacht, doch Sie haben sie erlebt, als hätten Sie sie selbst vorgenommen.

Das ist die Krux. Der heikle Punkt.

Wenn Sie von Folterern gezwungen werden, sich auf eine Weise zu äußern, wie Sie es selbst nie tun wollten, dann kennen Sie (in der Regel) danach immer noch Ihre eigene Wahrheit. Wenn das Gleiche in einer Umgebung passiert, wo niemand wirklich weiß, was er oder sie tut (man spricht meist von normalen Verhältnissen), dann geht – bis etwa zur Pubertät – die von außen wirkende Verfremdung so nahtlos in Sie über, dass Sie meinen, Sie hätten den Verwandlungsprozess selber vorgenommen, auch wenn Sie sich dagegen gewehrt haben. Und deshalb glauben Sie noch heute, dass Sie Sie selbst sind und nicht das gelernte Resultat eines aufgezwungenen Verfremdungsprozesses.

Und selbst wenn Sie alle diese Abläufe theoretisch durchschauen und mit dem Verstand begreifen, denken Sie (gefühlt) immer noch, dass Sie Sie sind.

***

Es ist alles so geordnet, dass Sie nicht durcheinanderkommen. Da gibt es zum einen das ganze gelernte Arsenal von Denk-, Fühl- und Verhaltensformen, das Sie ausmacht (wie Sie meinen): die Art, wie Sie reden, wie Sie Kontakt machen, wie Sie auf das, was auf Sie zukommt, reagieren usw. Zu all diesen Angewohnheiten sagen Sie „ich“.

Und dann gibt es vielleicht auch dieses gänzlich Andere, diese momentan völlig andere Welt in Ihnen. Die haben Sie, falls Sie sich ihrer bewusst sind, unter „außergewöhnliche Bewusstseinszustände“ oder „ungewöhnliche Erfahrungen“ rubriziert und archiviert. Und sich dadurch gegen alles verunsichernde Hinterfragen gefeit und geschützt.

Denn natürlich hatten Sie solche Erfahrungen: Momente, in denen Sie völlig aus allem alltäglichen Kram und Gewohnten hinausgetreten waren (ohne bekifft zu sein), Momente, in denen ohne jede Frage die Welt und die Dinge anders aussahen. Und wenn die Erfahrungen Sie nicht zu sehr erschreckt hatten, dann war da meistens auch das Gefühl oder ein tiefes Wissen, dass alles gut war.

Das haben Sie, wie gesagt, strategisch umsichtig abgespeichert unter „Das bin nicht wirklich ich“. Sie haben es auf die äußeren Umstände zurückgeführt: eine ganz besondere Situation in Ihrem Leben, einen überwältigenden Sonnenuntergang, einen völlig unerwarteten Glücksfall. Dann waren Sie quasi raus aus dem Schneider, mussten sich nicht verwirren lassen von dem, was da in Ihnen ablief.

***

Was lässt Sie so sicher sein, dass jene Erfahrungen von außen getriggert wurden? Ich kenne Ihr Leben nicht, aber nehmen wir an, Sie waren eines Tages mit jemandem, der Ihnen nahestand, in den Bergen. Sie waren ziemlich hoch oben, oberhalb der Baumgrenze, karge, raue Felsen, eine andere Luft und vor allem eine unfassbare Stille, die so intensiv und beglückend fremdartig war, dass plötzlich das dringende Verlangen da war, nicht einfach weiterzugehen, sondern sich dafür bereitzumachen, „die Welt anzuhalten“.

Weshalb Sie sich beide auf einen warmen Felsen setzten.

Dann geschah das Unbeschreibliche: Irgendetwas war plötzlich weg – oder da. Etwas war weg, und dadurch konnte etwas anderes da sein. Eine Art Filter, durch den Sie normalerweise die Dinge und Menschen wahrnehmen, schien nicht mehr zu existieren, und deshalb hatten Sie jetzt eine Wahrnehmung, die Sie verwirrte und glückselig machte. Dieser kleine Bach dort, ein paar Schritte unter Ihnen, hatte unversehens eine solche Leuchtkraft und Intensität, dass Sie vielleicht dachten, jetzt auf glücklichste Weise verrückt zu werden. Und als Sie dann hochschauten, da hatten auch die Felsen und Berge, die Büsche, der Himmel, eine ganz unbekannte Eindringlichkeit, einen Glanz und eine ungewohnte Erstmaligkeit. Und Sie fühlten sich mit dem, was Sie da sahen, bei aller Unvertrautheit auf eine eigenartige, berührende Weise nahe und eins.

***

So. Und wahrscheinlich haben Sie später gesagt, dass es die außergewöhnliche Landschaft oder der luftig-blaue Himmel waren, die solch eine Wahrnehmung in Ihnen ausgelöst hatten. Vielleicht auch die Nähe zu der anderen Person, mit der Sie dort oben waren. Nur merkwürdig: Diese andere Person, als Sie sie am Abend auf die außergewöhnliche Erfahrung ansprachen, nickte lächelnd und sagte: „Ja, es war wirklich ein netter Tag heute“.

Sie wollten dann vielleicht die Einzigartigkeit Ihres Erlebens nicht wahrhaben und haben’s deshalb lieber als symbiotisches Glück archiviert. Und haben darauf nur noch ein bisschen geschwärmt und ließen es gut sein. Aber wenn Sie mehr hätten drüber nachdenken wollen, dann hätten Sie ganz klar und ohne zu zögern gemerkt, dass nur Sie diese außergewöhnliche Erfahrung hatten. Und dann kämen Sie wieder in den Bereich der Krux: Wenn nur Sie die Welt anders gesehen haben, dann kann’s doch nicht von außen gekommen sein. Dann waren es mitnichten die Berge und die Luft und der Himmel, sondern es war irgendetwas in Ihnen, das lebendig wurde oder aufwachte und durchbrach und was Ihre Wahrnehmung veränderte.

Als mechanischer Mensch wollen Sie (irrsinnigerweise) händeringend daran festhalten, dass Sie immer und überall nichts weiter als eine Reaktion sind. Sicher, das macht die Sache auf verquere Weise bequem, wenn Sie mal beschieden haben, sich als Opfer fühlen zu wollen. Dann müssen Sie sich nicht in der Verantwortung sehen für das Üble, das gerade geschehen ist. (Ich glaube, es ist fast so etwas wie ein Ur-Instinkt, in einem Streit zum Beispiel reflexartig zunächst dem Anderen die Schuld zuzuschieben. Selbst wenn Sie laut sagen, dass es natürlich mal wieder nur Ihre Schuld sei.)

Aber verquer und abstrus wird es doch, wenn Sie’s auch in den Bergen machen. Hier würden Sie sich wohl nicht als Opfer ausrufen, aber es läuft aufs Gleiche hinaus, auf eine Form der Abhängigkeit: Sie würden es vielleicht einen Augenblick der Gnade nennen – eine Gunst, die Ihnen irgendwie von irgendwoher unerwartet zuteilwurde. Es ist auch nichts dagegen zu sagen, für eine solche Erfahrung dankbar zu sein – nur: An wen richten Sie den Dank?

Was gäbe es da für Möglichkeiten? An die Natur? An Gott? Oder aber… an sich selbst? Nicht an Ihr gewöhnliches Ich, das an dem Morgen beschlossen hatte, in die Berge hinaufzusteigen. Dieses Ich kann solche exquisiten Erfahrungen zwar ersatzweise erdenken und sich behelfsmäßig ausmalen, es kann aber nie solches Erleben auslösen, wie Sie es da oben hatten. Das kann nur eine andere Instanz in Ihnen, die hinter Ihrer gelernten Mechanik wohnt und wartet.

Der Gedanke schockiert zunächst, aber ich möchte an dieser Stelle und für den Rest des Buches vorschlagen: Diese andere Instanz sind Sie. Ihr Ich. Ihr wirkliches Wesen. Wer Sie in Wahrheit sind. Alles andere – das, von dem Sie meinen, dass Sie es sind – ist nur gelerntes Zeug. Das Ihnen mal geholfen hat, zu überleben und geliebt zu werden, das Sie heute aber nur weitgehend hindert, das Leben zu leben, an das Sie denken, wenn Sie heimlich seufzen, dass das doch nicht alles gewesen sein kann… (Was Sie, wenn Sie ehrlich sind, in der einen oder anderen Form mit einiger Regelmäßigkeit tun.)

Denn zu den Leuten, die alles haben und denen nichts fehlt, die ihr Leben fraglos noch einmal genauso leben würden, gehören Sie sicher nicht.

(Das sind, unter uns gesagt, auch die allerschwierigsten Therapieklienten. Es „fehlt ihnen nichts“, sie sind froh und zufrieden, es war nur der Hausarzt, der sie „wegen der Sache mit dem Herzen“ mal zum Therapeuten geschickt hat. Sie selbst, nein, sie wissen nicht, was sie da sollen.)

Es ist sicher kein Gesetz, aber es scheint mir in der Regel (wie ich schon mal sagte) so zu sein, dass nur die Leute, die heftiges Leid erfahren, sich auf die Suche nach sich selbst machen. (Das ist trotzdem ein harter Satz. Ich überlege wirklich, ob ich so was schreiben soll. Ich lasse es jetzt mal so stehen.)

Mein Vorschlag also an Sie ist, sich (mit mir) auf die Suche zu machen nach Ihrem wahren Ich. Ihre gelernte Geschichte allmählich und mit ein bisschen Anleitung immer mehr hinter sich zu lassen und es behutsam anzugehen, Ihr wahres Ich – wenn Sie erst mal einen Geschmack davon bekommen haben – kennenzulernen, es wachsen zu lassen, es zu begießen und zu ernähren.

Denn letztlich sind Sie das, was Sie in sich ernähren.

Das Wesen des Alten Zentralen

Das Alte Zentrale ist so etwas wie eine Grundatmosphäre, die in Ihnen fast immer da ist. Mit kleinen Varianten, mal fröhlicher, mal düsterer. In der Regel erleben Sie sie als „normal“. Das Alte Zentrale geht wie ein roter Faden durch Ihren Alltag, wie eine gleiche Musik, die sich wieder und wieder spielt.

Da Sie sich nicht als mechanischen Menschen sehen wollen, halten Sie sich vermutlich eher mit der Unterschiedlichkeit Ihrer einzelnen Wesensaspekte auf als mit dem, was sie gemein haben. Das macht die Sache kompliziert. Die Gemeinsamkeit zu sehen, vereinfacht das Verständnis von sich selber.

Ich möchte Sie jetzt darin unterstützen, mit Ihrem eigenen Zentralen in Kontakt zu kommen. Frage mich aber auch, wie wir da am besten vorgehen. Es wäre definitiv von Vorteil, wenn Sie mir gegenübersäßen, wenn Sie mit Ihrem Körper und Ihren Gefühlen anwesend und mit mir in einem Raum wären, denn auf jeden Fall macht sich das Ganze zu zweit besser. Das liegt zum einen daran, dass man in gewisser Weise für sich selbst relativ fremd ist – blind, wenn Sie so wollen. Man ist sich zu vertraut geworden über die Jahre, es fehlt der frische Kontrast der ersten Begegnung.

Und es wird noch ein bisschen seltsamer. Es scheint fast so, als wolle man sich gar nicht wirklich kennenlernen – und schon gar nicht auf eine Grundtendenz, das Alte Zentrale, reduzieren lassen. Sie sind doch eine komplexe Persönlichkeit, mit vielen unterschiedlichen Lebenserfahrungen, wie kann man da Ihre ganze Geschichte auf einen einzigen roten Faden zurückführen wollen?

Man kann. Warum das so ist, ist nur zu vermuten. Wir sprechen ja dabei eigentlich nicht über Sie, wer Sie wirklich sind, sondern über Ihre gelernte Geschichte. An dieser Geschichte haben unzählige Ihrer Ahnen mitgestrickt; hinter Ihnen stehen zwei lange Reihen von Frauen und Männern, sie alle haben ihr jeweiliges Altes Zentrales weitergegeben an ihre Kinder – und die wieder an ihre Kinder.

Die Kinder haben sie aufgenommen, vielleicht fraglos übernommen oder – was häufig passiert – dagegen rebelliert und versucht, nicht wie ihre Eltern zu sein. Aber es ging immer um das tradierte Thema (das selten als solches erkannt wurde) – und ob man jetzt als Kind dafür oder dagegen ist, spielt erst mal keine allzu große Rolle. Je älter die Kinder wurden, umso mehr merkten sie, dass sie doch wieder partiell wie Vater und Mutter lebten (wenn sie es merkten). Mit Variationen und Erweiterungen natürlich, und vielleicht mit Elementen der neurotischen Balance (Vater war geizig, Kind gibt sich ausschweifend). Aber immer war da dieselbe Grundthematik. Der mechanische Mensch bleibt immer, über Generationen hinweg, in der überlieferten Mechanik, auch wenn es nicht so aussieht. Nur der freie Mensch kann sie hinter sich lassen.

Es ist eine bewegende spirituelle Vorstellung, dass jetzt alle – oder viele – Ihrer Ahnen mit all ihren unterschiedlichen und doch ähnlichen Geschichten hinter Ihnen versammelt sind und mit Hoffnung oder Bangen oder Vertrauen auf Sie schauen, wie Sie da ganz vorne stehen und wie die Sache jetzt an Ihnen ist. Denn egal, mit welcher Geschichte und mit welcher Bewusstheit sie gelebt haben, für sie alle ging es auch immer mal wieder um die Frage der Befreiung, obwohl sie das zu Lebzeiten vielleicht gar nicht wussten.

Ihr Urgroßvater versuchte sich darin, indem er zur See ging, Ihre Ururgroßmutter, indem sie sich als eine der ersten für die Rechte der Frauen einsetzte. Einer im 18. Jahrhundert hat sich vielleicht geweigert, den Hof des Vaters zu übernehmen, eine ganz ferne Urfrau hat es versucht, indem sie sich den Weg in eine Schule erkämpfte, obwohl das nichts für Mädchen war.

Und eine andere war ihr Leben lang eine unterwürfige Dienstmagd, die sich nur in ganz seltenen Stunden erlaubt hat zu weinen und an ihrer Abhängigkeit zu leiden. Ein anderer war ein gehorsamer Soldat unter Friedrich dem Großen und galt in seiner freien Zeit als zurückgezogen und schwermütig.

Aber alle haben, offen oder ganz insgeheim, immer mal wieder mit sich gehadert.

Also, (vielleicht) ist es so, dass jetzt viele Ihrer Ahnen hinter Ihnen stehen und auf Sie schauen. Alle wissen jetzt, dass sie (von einer sehr hohen Warte aus) die Wahl hatten, in die ihnen mögliche Freiheit zu gehen oder die Unfreiheit qualvoll zu leben. Wie viele es geschafft haben, wissen nur Ihre Vorfahren selber. Aber (vielleicht) liegt ihnen viel daran, dass Sie es ein Stück weiter schaffen.

(Ich weiß nicht, ob das so ist mit den Ahnen. Aber es ist eine schöne Vorstellung, sie tut gut und hilft weiter.)

***

Ich habe vorhin unterstellt, dass die schwierigsten Klienten die sind, die sich vorbehaltlos glücklich fühlen und denen „nichts fehlt“. Und ich habe auch gesagt, dass ich nicht glaube, dass es solche Menschen wirklich gibt. Zudem zeigt sich bei solchen Menschen häufig (manchmal direkt zu Beginn der Therapie), dass sie sich dieses Pseudo-Bild nur über die Jahre hinweg gebastelt haben, oft aus einer tiefen Resignation heraus. Vielleicht, weil gar nichts anderes mehr ging.

Glückliche Menschen gibt es wohl kaum. Es gibt lebendige Menschen, die von Zeit zu Zeit glücklich sind und mindestens ebenso oft verzweifelt. Und es gibt natürlich viele, die sich’s einreden möchten.

Denen sollte man, wie gesagt, ihren Glauben nicht wegnehmen wollen.

Also: Wie kann ich Ihnen, obwohl Sie mir nicht gegenübersitzen, helfen, Ihr Altes Zentrales kennenzulernen?

Niemand kann Ihnen sagen, was Ihr Altes Zentrales ist. Ich könnte es auch nicht, wenn Sie mir gegenübersäßen. Ich könnte nach einer Weile des Kennenlernens Vermutungen haben, Ahnungen. Aber letzten Endes müssen Sie selber draufkommen. Denn nur Sie wissen die präzise Klausel, und wenn Sie sie gefunden haben, dann werden Sie durchatmen, und alles in Ihnen wird zustimmen.

Anstatt Sie mit vielen theoretischen Gedanken zu quälen, könnte ich Ihnen meine eigene Geschichte erzählen und wie ich zu dem zentralen Thema darin gefunden habe. Ich denke, so werden wir es machen. Dann haben Sie eine konkrete Vorlage, die Sie zu eigenen Fragestellungen führen wird. Ich will Ihnen nicht mein Leben erzählen, das ist nicht nötig. Ich werde Ihnen erzählen, was mich dahin geführt hat, mein eigenes Altes Zentrales zu begreifen:

Ich wurde gegen Ende des Zweiten Weltkrieges geboren. Mein Vater war im Krieg in Russland und meine Mutter zog es vor, mich nicht in Berlin, auf das täglich die Bomben fielen, zur Welt zu bringen, sondern im Riesengebirge in Schlesien, wo meine Großmutter herstammte und noch Verwandte hatte.

Mit mir im Bauch und mit ihrer Mutter im Schlepptau (die sehr hysterisch war, bei der kleinsten Sache rumschrie und mit der sie sich noch nie verstanden hatte) machte sie sich auf die Reise nach Schlesien. Was in jener Zeit, wie Sie sich denken können, keine einfache Sache war.

Meine Mutter hatte vor mir ein Kind abgetrieben, auch einen Jungen, wie sie sagte. Sie hatte ihn nicht zur Welt gebracht, weil sie sich noch nicht fähig fühlte, Mutter zu werden. Mich wollte sie unbedingt in die Welt bringen. Ihre Ehe hatte zwar noch Bestand, wie es hieß, aber sie wusste schon damals, dass sie mit meinem Vater nicht das große Glück finden würde. Deshalb wollte sie unbedingt einen Sohn haben, der ihr die Erfüllung ihres Lebens brächte. Sie freute sich ungemein auf mich und hatte die ganze Schwangerschaft über Angst. Ihr Mann war im Krieg, Berlin lag in Trümmern, keiner wusste, ob er den nächsten Tag erleben würde.

Sie kennen vielleicht das folgende Wiegenlied:

Maikäfer, flieg, der Vater ist im Krieg, Mutter ist in Pommerland, Pommerland ist abgebrannt, Maikäfer, flieg.

Als ich vier, fünf war, kannten alle Kinder in meiner Straße dieses Lied. Ich weiß, dass ich es oft gesungen habe, ohne auch nur im Mindesten zu verstehen, wovon es erzählte. Das wurde mir erst 30 oder 40 Jahre später deutlich.

Es ist ein merkwürdiges Schlaflied. Ich weiß, dass ich es immer mochte, dass es jedes Mal etwas in mir angestoßen hat. Ich glaube, es beschreibt sehr nachdrücklich und inständig meine ersten neun Monate. Und wohl auch das erste Jahr nach meiner Geburt, mit dem Unterschied allerdings, dass ich da aus dem Bauch raus war und nicht mehr die seltsame Geborgenheit des Wiegenliedes erlebte, wie ich sie trotz aller Gefahren im Bauch meiner Mutter wahrscheinlich immer wieder verspürt hatte.

So also bin ich entstanden. Da war immer Angst und Sorge in meiner Mutter – vor allem, glaube ich, die Angst um mich, dass mir etwas zustoßen könnte und dass vielleicht die Erfüllung ihres Lebens gar nicht das Licht der Welt erblicken könnte. Ich kann noch immer ohne Schwierigkeiten ihre feste Entschlossenheit fühlen, mich ins Leben zu setzen, koste es, was es wolle. Fraglos habe ich diese rigorose Entschlossenheit damals immer wieder im Bauch gespürt.

Als ich geboren war, mussten wir ziemlich bald vor den Russen aus Schlesien fliehen. Meine Mutter hat mir immer wieder Geschichten von dieser Flucht – zurück ins kaputte Berlin – erzählt: wie wir fast verhungert wären, wie sie jeden Abend in dem Ort, zu dem wir es gerade geschafft hatten, von Haus zu Haus betteln ging. Ob sie vielleicht eine Kartoffel hätten für zwei Frauen und ein kleines Kind. Mich nahm sie immer mit, weil ich Mitleid provozieren sollte. Und immer wieder hörte ich später mit schrecklich-wohligem Schaudern, wie uns der fiese Bauer, mit einem fetten Schinkenbrot in der Hand, die Tür vor der Nase zuschlug.

Auch da war dieser eherne Wille, uns am Leben zu erhalten – und wie gesagt, vor allem mich. Ich habe schon als Kind gespürt, dass sie um sich selbst nicht so viel Aufheben gemacht hätte. Ihr eigenes Leben war zwar nicht furchtbar, aber auch nicht der Mühe wert, unter allen Umständen erhalten zu bleiben. Das betonte sie indirekt immer wieder. Doch das Leben ihres Sohnes, das hätte sie gegen ein ganzes Regiment Russen verteidigt.

So also war die Atmosphäre, in der ich entstanden bin. Eine Atmosphäre, die, wie Sie beim Lesen sicherlich merken, nicht nur wegen des Krieges nicht zum Jubeln einlädt. Diese Mutterliebe bewirkt auch jetzt, wenn ich darüber schreibe, dass sich in meinem Zwerchfell eine Spannung aufbaut. Die Angst, die eiserne Entschlossenheit und die triumphierende Mutterliebe, das sind die stärksten Gefühle, die ich als erste in meinem Leben erfahren habe.

Exerzitie 1: Begleiterscheinungen Ihrer Entstehung

Unter welchen Umständen sind Sie entstanden?

Wie war die Beziehung Ihrer Eltern?

In welchem sozialen, in welchem politischen Feld wurden Sie „ausgetragen“?

Mit welchen Gefühlen wurden Sie erwartet?

Wie war dann Ihre Geburt? Was fällt Ihnen sonst noch ein, das vor, während und nach Ihrer Geburt passierte?

Wie war die Atmosphäre um Sie herum in der Zeit Ihrer Entstehung?

Meine Geburt fand in diesem kleinen schlesischen Gebirgskaff statt, mit einer alten Hebamme im Haus, die nach 20 Stunden völlig verzweifelt meiner Mutter androhte, dass sie sie ins Kreiskrankenhaus bringen müsste, wenn es in den nächsten zehn Minuten nicht klappen würde.

Es klappte. Meine Mutter machte später immer den Witz, dass ich mich nur bei vorgehaltener Pistole auf den Weg gemacht habe. (Erst als ich schon in der Mitte meines Lebens war, habe ich verstanden, dass es mit großer Wahrscheinlichkeit so gewesen ist.)

Am Anfang werden alle Weichen gestellt. Sie können das nachvollziehen, nicht wahr? Vor allem auch für Ihre eigene Geschichte? Zu Beginn ist da nichts weiter als ein gewisses Genmaterial. Das spielt sicherlich eine Rolle für Ihre individuelle Besonderheit, mit der Sie mit dem, was dann sein wird, umgehen werden. Aber dann kommt etwas ganz Einschneidendes hinzu: Ihre ersten, Ihre allerersten Erfahrungen.

Führen Sie sich bitte vor Augen, wie es auch heute noch ist, nach all den Jahren, die Sie schon hier sind, wenn etwas sehr Außergewöhnliches passiert, wenn Sie eine sehr außergewöhnliche Erfahrung machen. Nicht wahr – Sie wissen, welch tiefe Spuren das in Ihnen hinterlässt, wie sehr es Sie in Ihrer Sicht auf die Dinge prägt und beeinflusst? Ihre Geburt: Das ist doch fraglos eine einschneidendere Erfahrung als alles andere, was Ihnen in den Jahren danach passiert ist, oder meinen Sie nicht? (Was war das Außergewöhnlichste, das Ihnen in Ihren letzten Lenzen begegnet ist?)

Um die mögliche Welt damals im Bauch zu verstehen: Gehen Sie zurück und machen Sie sich ganz leer, ganz neu und grün. Sie kennen nichts weiter als ein gewisses behagliches Getragen- und Ernährtwerden. Dann dringt aber plötzlich etwas für Sie Unerhörtes zu Ihnen durch, etwas, das Sie weder verstehen, geschweige denn in irgendeiner Weise verarbeiten können, zumal Sie sich ja ohnehin nicht als getrenntes Wesen empfinden. Ich glaube, das ist für alle „Bauchbewohner“ so, es geht gar nicht anders, es sei denn, Ihre Mutter lebte im Paradies. Da ist, zum Beispiel, mit einem Male eine Art Missstimmung, etwas, das nicht zur gewohnten Behaglichkeit passt; eine Angst, die Ihre Mutter empfindet, etwas Bedrohliches, das von einer Person ausgeht, mit der Ihre Mutter zusammen ist – oder überhaupt irgendetwas, was da draußen passiert und mit dem Ihre Mutter nicht so einfach klarkommt.

Das macht etwas in Ihnen, das stellt schon mal auf eine erste Weise die Weichen, es sind Ihre ersten Erfahrungen mit einer Welt, die nicht nur Geborgenheit zu bieten scheint.

Oder es kann auch sein, dass da plötzlich eine entsetzlich störende, gefährliche Strömung, Stimmung, Atmosphäre auf Sie eindringt; Gedanken und Gefühle sind mit einem Male in Ihrer Mutter, die über alle Maßen verwirrend und erschreckend sind. Und weil Sie noch nicht unterscheiden können zwischen sich und der großen Weiblichkeit um Sie herum, sind diese Gefühle auch für Sie erschreckend: Empfindungen vielleicht und Gedanken, dass alles, alles, alles sich aufzulösen droht. Das ist dann Ihre erste große, schlimme Erfahrung. Viele Jahre später erhalten Sie vielleicht die Information, dass Ihre Mutter in dieser Zeit mit dem Gedanken spielte, sich zu trennen und Sie abzutreiben. Ich habe mit vielen Menschen gearbeitet, die das sofort als einen wesentlichen Teil ihrer inneren Grundatmosphäre wiedererkannten, eine tiefe Unsicherheit und fundamentale Skepsis darüber, ob die Welt sich freut, wenn sie den Raum betreten.3

Glauben Sie, dass es etwas über alle Maßen Irritierendes gab, während Sie da in Ihrer Mutter vor sich hinträumten?

Wie Sie einen Raum betreten, ist übrigens Teil Ihres Zentralen, hat damit zu tun, wie Sie auf die Welt zugehen und wie Sie zum ersten Mal mit ihr in Kontakt gekommen sind. Es steht also damit in Zusammenhang, wie Sie Ihr Leben im Bauch und außerhalb des Bauches begonnen haben. Und so, wie Sie in ein Haus, in einen Saal, hineingehen, so wird im Großen und Ganzen auch sein, was Sie dort erleben werden. Eine Frau erzählte mir einmal: „Ich betrete jede neue Situation mit Vorsicht und quasi auf Zehenspitzen (sie war Engländerin und benutzte den Ausdruck tiptoeing). Ich halte mich erst einmal für lange Zeit zurück und beobachte. So habe ich es immer gemacht, in jeder neuen und insofern „gefährlichen“ Situation. Später habe ich in meiner Verhaltenstherapie gelernt, mir eine „sichere“ Person zu suchen, mit der ich dann andere Möglichkeiten ausprobieren konnte.“

Sie wurde mit einem Kaiserschnitt geboren. Es war ihr sofort ganz leicht verständlich, dass sie die erste revolutionäre Erfahrung, sich den Weg in die Welt zu bahnen, nicht gehabt hatte. Sie hatte nicht gelernt zu kämpfen, sich durchzubeißen, sie war einfach plötzlich da und wusste quasi nicht, wie ihr geschah. Das ließ sie zutiefst vorsichtig werden.4 Insofern war vielleicht der Trick mit der sicheren Person ein Schritt in die richtige Richtung, allerdings machte sie das jetzt seit 10 Jahren und betrat immer noch auf Zehenspitzen den Raum. Mit anderen Worten: Sie hatte nicht verstanden, dass sie anfängt, ihre Welt zu erschaffen, wenn sie anfängt, den Raum zu betreten. In diesem Moment sehen sofort alle, wer da reinkommt und machen sich ihren jeweiligen Reim darauf, reagieren mit ihren eigenen Geschichten. Und dann hat sie erstmals wieder die Grundatmosphäre, die sie hatte, als sie geboren wurde: Was passiert hier? Was geschieht mit mir? Wo bin ich? Will ich hier sein? Will ich hier wirklich sein? Wie kann ich das rausfinden?

Ein Mann kam immer lärmend-fröhlich in die Therapie, locker und „gut aufgeräumt“, wie er zu sagen pflegte. Das hielt die ersten fünf Minuten an, bis er zu dem überging, was ihn heute tatsächlich beschäftigte. Dann wurde er stiller, ernster und oft ein bisschen verzagt.

Er wurde als Erbfolger