Das Zerwürfnis der possierlichen inneren Emigration - Roman Seite - E-Book

Das Zerwürfnis der possierlichen inneren Emigration E-Book

Roman Seite

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Beschreibung

Umgeben von blumenreichen Almwiesen liegt die kleine Stadt Bagnères du Gore inmitten malerischer Zweitausender der Haute Provence, die im 14. und auch im 19. Jahrhundert noch nicht von Skipisten zerfurcht sind. Dennoch verlaufen tiefe Gräben zwischen den Einwohnern, die schwer an Verkehrslärm durch lautes Pferdegetrappel zu leiden haben. Die zerstrittene Stadtverwaltung und die sittlich verwahrlosten kirchlichen Würdenträger sind weit davon entfernt, die Probleme in den Griff zu bekommen, und schrecken dabei weder vor Gurkensalat noch vor Travestiedarbietungen in unmodischen knetteiggefertigten Schuhen zurück. Im Gegenteil.

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Seitenzahl: 426

Veröffentlichungsjahr: 2022

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AUTOR

Roman Seite, aufgewachsen im leidlich schönen Karl-Marx-Stadt, wo sich Hase und Igel „Gute Nacht“ sagen, schien seine Zukunft im väterlichen Schleifmittelkombinat vorbestimmt. Doch es kam anders und so wurde der Welt ein einzigartiger Künstler geschenkt, dessen unverständliches Werk monolithisch herausragt aus der Flut gut geschriebener, geschmackvoller Bücher.

Trotz seines in Fachkreisen großen Bekanntheitsgrades, weiß man im Grunde nicht viel über diesen medienscheuen Ausnahmeschriftsteller, der sein Privatleben rigoros abschottet und nur wenige Dinge herausdringen lässt, wie etwa sein Aquarianerhobby und seine „Gespräche mit Fischen“-Tagebücher. Michael Pathfinder: A journey through the mind of Roman Seite. Hemstedt Books, Saatzburg 2021

BUCH

Fünfzehn Jahre nach dem Erscheinen seines Erstlingswerks „Warenhaus der Möglichkeiten“ präsentiert Roman Seite, das Enfant terrible der Literaturszene, sein neues Erstlingswerk.

Nicht nur den Reichen und Schönen präsentiert er es, sondern auch den Minderbegüterten, äußerlich Unattraktiven und schlichteren Zeitgenossen, die auch reich und schön sein können oder über wenig finanzielle Ressourcen verfügen, aber dafür einen ressourcenschonenden Mode de Vie pflegen. Kurzum, ein Buch für die Zielgruppe.

Nach dem Mega-Erfolg von „Warenhaus…“ stürzte sich Seite ins Nachtleben der Haute Société, jettete um den Globus, kaufte sich eine Luxusjacht in Andorra und erhielt zwei Tage später einen Anruf seines Agenten, dass leider der Tresor mit den gesamten Erlösen aus dem Buchverkauf auf dem Weg nach Andorra vom Umzugs- LKW gekippt wäre und seither als verschollen gilt. Die Telefonverbindung brach kurz darauf ab und konnte à jour nicht wieder aufgebaut werden.

Seite, nunmehr mittellos, erreichte diese Hiobsbotschaft, als er gerade auf einem OP-Tisch lag, um sich endlich zurückoperieren zu lassen. Die OP wurde daraufhin erfolgreich abgebrochen. Seitdem nennt sich Seite Romana oder Winona.

Eingedenk der Worte seiner fürsorglichen Eltern: „Junge, nun schreib doch mal was Ordentliches!“, griff er zu Papier und Bleistift und nach drei Jahren voller schöpferischer Krisen vollendete er 2018 sein Opus magnum „Das Zerwürfnis der possierlichen inneren Emigration“.

Leider benötigte das Redigieren des Manuskripts beinahe einen ebenso langen Zeitraum, da Seite aus Geldmangel an einen Lektor geriet, der bereits für Jesus Christus gearbeitet hatte und der bis heute am Ursprungstext des Neuen Testaments feilt, während sich die Menschheit mit den vier Plagiaten herumärgern muss. Nur auf massiven psychologischen Druck hin und unter Androhung physischer Gewalt konnte das Lektorat zu einem glücklichen Abschluss gebracht werden und liegt uns heute in ganzer Pracht und Schönheit als Buch vor.

VORWORT

Der folgende Roman soll euch einen Überblick verschaffen über den weiteren Verlauf der Handlung und all diese Dinge.

Wie mir zu Ohren gekommen ist, plane ich bis zum Jahr 2042 noch ganze sechseinhalb Romane zu verfassen, also 0,325 Stück pro Jahr und somit 27.941 Wörter jährlich. Man darf also gespannt sein.

Möge uns diese Ankündigung wie eine Laterne den Weg leuchten, damit wir auf den letzten Metern nicht die Orientierung verlieren.

Roman Seite

St. Moritz im Jänner 2022

INHALT

Teil 1: Ein einst beschaulicher Ort

Bagnères du Gore

Eine Kutsche aus Südtirol

Von Ahnen und Fröschen

Politik, Macht und Rechenschieber

Ein Routineflug

Verbissene Schoßhunde

Zurück zur Kirche!

Exorzismus zur Teestunde

Der richtige Kandidat

Ein Bürgerkeller sieht dich an

Teil 2: Attentate und andere Kleinigkeiten

Die WISPRIWO-Methode

Is hier ’ne Pferdetränke in der Nähe?

Veroli meets Rilke

Alle lieben Ferluzi

Das „ENDE vom 1. Bums“

Freiheit der Liebe, Freiheit der Kunst

Hugo „Hugo“ Batignon

Sepp Seppgruber Inc.

Le Moulin du Gore

Ein würdevoller Abschied

Teil 3: Mutterkraut und Metamorphosen

Besuch einer Ausstellung

„Le Grand Petit“, fini!

Ein Kommissar im Fälleparadies

Unser Mann in Andorra

MetamorpHasen

Die Sebetzung

Lucy auf Leistungskurs

Die Rache stirbt zuletzt

Drei Geburten und ein Gurkensalat

Eine Nanny schlägt zurück

Teil 4: Blick zurück nach vorn

Das Auge des Gesetzes

Besuch eines Straßenlokals

Dick Tittrich stößt eine Entwicklung an

Zwei Freunde

Der Tourist

Ein Kellner durch die Zeiten

Die Vernunft der reinen Kritik

Raus aus den Zeitschulden!

Ne Montez Pas

Nomen non est Omen

Personenregister

Ortsregister

Teil 1: Ein einst beschaulicher Ort

Bagnères du Gore

Wir schreiben das Jahr 1835 oder 1326 A. D. Eine bitterkalte Osternacht stand draußen vor dem Supermarché in der Innenstadt von Bagnères du Gore. Man konnte das Klirren von Pferdegeschirr auf eisigem Kopfsteinpflaster vernehmen, wenn man nur nahe genug an die Pferde herantrat.

Nichtsdestotrotz und unbenommen der Tatsache, dass es sich um hochadelige Tiere altkatholischer Herkunft handelte, war der Umstand unleugbar, dass man es tatsächlich mit Vierbeinern zu tun hatte.

Bereits seit Gründonnerstag berieten sich einige Stadtälteste zur aktuellen Krise. Nach den gewaltsamen Ausschreitungen der vergangenen Wochen, die von dem Hörgeräteakustiker Gisbert de Montagne angeführt wurden und in deren Folge mehrere Pferdeunterstände in Brand geraten waren, hatte man sich zu einer nichtöffentlichen Anhörung entschlossen. Ein Volksbegehren aufgrund einer angeblichen Lärmbelästigung durch Pferdehufgetrappel war wegen der zu geringen Teilnehmerzahl gescheitert. Einige Hardliner ließen sich jedoch nicht davon abhalten, ein Gutachten über die Infraschall-Emission von Pferdegeschirr einzufordern. Die ganze Sache war verfahren.

Jean-Claude Perdu war einer dieser Hardliner. Seit seiner Kindheit fast taub, stand er den Verursachern solcher Emissions-Verbrechen in Bagnères du Gore beratend zur Seite. Sein ebenfalls beinahe tauber und äußerst pferdeliebhabender ideologischer Ziehvater Gisbert unterstützte ihn dabei ohne Unterlass. So war es den beiden im vergangenen Jahr gelungen, einige Pferdebesitzer davon zu überzeugen, eine Amputation eines Beines der Pferde vorzunehmen und nur jeweils eines der verbleibenden Beine mit einem Hufeisen zu versehen. Der von diesen „Dreibeinern für Arme“ ausgehende Lärm konnte somit zwar zeitweilig deutlich reduziert werden, nur konnten die Bewohner sich angesichts der zahlreichen achtlos weggeworfenen, verwesenden Pferdebeine nicht so richtig über die neu gewonnene Stille in der Stadt freuen. Also musste dringend dieses Gutachten her! Doch es sollte alles ganz anders kommen. Oder auch nicht.

In diesen Tagen voller Missgunst, Neid und Anfeindung in Bagnères war es nicht leicht, Freund und Feind auseinanderzuhalten. Selbst in den entlegensten Seitentälern war das närrische Gezänk der Nachbarn zu hören, welches von den schroffen Berghängen zurückprallte und ins Tal donnerte. Die Einwohner dieses vormals beliebten Luftkurortes hatten sich in reizbare, übermüdete Untote verwandelt.

Im Laufe der nächsten Wochen schien das Wohl der Bewohner immer mehr von dem noch nicht ausgestellten Gutachten abzuhängen, welches das Pferdeproblem endlich am Schlafittchen packen und reelle, anstatt willkürliche und blutrünstige Maßnahmen nach sich ziehen sollte. Da war auch der Pfarrer Ferluzi mit seinem pseudomodernen Wirken in seinem Kirchendomizil für alle kein wirklicher Trost.

Ferluzi war 1814 oder 1305 A. D. aus Südtirol in diese einst ruhige und malerische Stadt emigriert. Ursprünglich nur als Urlaub geplant, fraß er schließlich einen Narren an diesem Gotteshaus, zog hierher und mobbte kurzerhand den bisherigen Pfarrer Veroli, ebenfalls Ex-Urlauber aus Tirol, weg vom Altar. Da war vielleicht etwas los… man hätte es nicht geglaubt, wenn man es nicht erlebt hätte… Scheiß die Wand an… Alter ey… So richtig mitbekommen hat das allerdings kaum jemand.

Na ja… Wo sind wir stehengeblieben?… Ah ja… Pfarrer Ferluzi saß gerade in seiner Sakristei und blätterte im Köchelverzeichnis, welches er liebevoll als „Knöchelverzeichnis“ bezeichnete, da er vor einigen Jahren, es mag 1827 oder 1318 A. D. gewesen sein, darüber gestolpert war und sich einen Knöchel gebrochen hatte. Dumm gelaufen, aber ’ne geilere Eselsbrücke für die Bezeichnung seines Lieblings-Verzeichnisses hätte es für ihn nunmal nicht gegeben!

Plötzlich, beinahe schon unerwartet, eilte Uschi Buschmann, seine Gespielin und Ministrantin, zu ihm in die Sakristei. Es schien sie etwas zu beunruhigen.

„Du, Uschi“, sagte Uschi zu Ferluzi, der sich gerade die Wimpern grünblau tuschte – sie nannte alle Menschen „Uschi“, denn sie glaubte nicht, dass irgend jemand außer ihr selbst existierte – „ich glaube, die Kaffeefilter sind alle.“

„Ja, gut“, entgegnete der 58-jährige Theologe knapp, wie es seiner Art entsprach. Seelsorgerisch tätig für eine Gemeinde mit siebenhundertdreißig Einwohnern, war er dennoch kein Mann mit ausgeprägten rhetorischen Fähigkeiten oder auch nur einer Spur von Mitteilungsdrang und manche argwöhnten, ob er denn überhaupt so etwas wie Sprachvermögen besäße.

Liebe und Tod, Macht und Verrat, der passende Auftritt und unmodische Schuhe. Das waren die Themen, um die sich in Bagnères alles drehte.

Ferluzi besaß diese Schuhe und erntete damit allenthalben neidvolle Blicke, jedenfalls interpretierte er diese als solche. „Reichlich neidvoll“, sagte er zu sich. Interpretation hatte er auf der Schule gelernt. Zuerst auf der „Scuola primaria di Tirolo“, später auf dem „Lycée Casserole“, damit hatte es sich aber auch, was seine Schulbildung anbetraf. Ach so, auf irgendeiner Provinz-Uni hatte er noch Theologie studiert, was er sein Leben lang nicht bereute.

Apropos „ernten“. Seit ungefähr drei Jahren hatte die Region um Bagnères mit katastrophalen Missernten zu kämpfen. Ein Umstand, der bei den jährlichen Miss Erntedankfest-Wahlen abgehandelt wurde – wie, weiß ich auch nicht. Da es also im Grunde überhaupt keine Waren hin- und herzutransportieren gab, außer Schuhen und hässlichen Fichtenholz-Schreibtischen für Heranwachsende, wurden die armen Pferde vollkommen sinnlos über die eisigen Kopfsteinpflaster getrieben. So etwas wie Work-Life-Balance kannte man in diesem Kaff noch nicht.

Uschi stand an einem Fenster der Sakristei und schaute auf den Dorfplatz.

„Das Leben hier ist die Hölle“, stellte sie nüchtern fest, „und in einem Kommentar habe ich gelesen, dass schon Betty Page, DIE Pin-up-Ikone der Fünfziger, in ihren wahnhaften, psychotischen Phasen…“ – damit kannte sie sich aufgrund ihres speziellen persönlichen, inneren (geistigen) Koordinatensystems ganz gut aus – „… auf diesen Zusammenhang hingewiesen hat.“

„Uschi…“, hauchte Ferluzi ihr nach etlichen Stunden Dorfplatzgeglotze und Herumsinnerei schließlich zu, „keine Kaffeefilter bedeuten mir nichts!“ Er hatte wohl in seiner beschränkten Art nicht darüber nachgedacht, dass er ihr mit seiner Äußerung im Umkehrschluss ein außerordentlich schlechtes „Manko-an-Kaffeefilter“-Gewissen bereiten würde. Zudem hatte er sich gerade, während ihrer geistigen Abwesenheit, unbewusst seine unmodischsten Schuhe angezogen, was Uschis Neid und Aggression nur noch verstärkte.

„Meinst du die Kaffeefilter der Größe 4, mein Schatz, die in ihrer DIN-Norm am weitesten verbreitet sind und dem High-Tech-Standard moderner Kaffeevollautomaten Genüge tun?“

„Ja“, entgegnete Ferluzi ihr, sichtbar überfordert mit seiner ausschweifenden Antwort.

„Dann hol dir deinen Scheiß aus dem Kaffeefilter-Laden doch selbst, du Teilzeit-Theologe, die Schuhe dafür hast du ja schon an… und komm mir nicht wieder mit so ’ner Uschi an, die du mit deinem Fußschmuck bezirzt hast!“ Uschi fing an zu weinen und vergaß, irgendwann auch irgendwie mal wieder damit aufzuhören… Weiber.

Nun muss man aber auch sagen, dass Ferluzi die unmodischsten und damit begehrtesten Schuhe überhaupt besaß und jetzt sogar auch noch anhatte, was an gesellschaftlicher Frechheit kaum zu überbieten war. Sie waren während jahrelanger Kinderarbeit entstanden und aus holzvermoderten Grassoden gefertigt. Eine Fersen-Verstärkung mit Moosbett-Implantaten und ein Fußbett mit pilzfreundlicher Reflexzone rundeten das Gesamtbild dieses Schuhwerkes ab. Es stammte aus altem Südtiroler Familienbesitz der Ferluzis und datierte aus einer früheiszeitlichen Periode um 11500 a. Chr. Die Schuhe waren damals noch unisex und wurden wechselweise von allen Familienmitgliedern getragen. Bei diesem Paar handelte es sich allerdings um ein Import-Modell, was sich unschwer an dem seitlich applizierten skelettierten Babykrokodil erkennen ließ. Vermutlich billig in Vorderägypten gefertigt.

Tja, im real life gab es die tollsten Dinge. Das wirkliche Leben. Damals noch die angesagteste Daseinsebene. Es war ja geradezu verrückt, wie verblüffend echt, fast überreal die Wirklichkeit wirkte. „Real Life“, so sollte 200 oder 709 Jahre später ein exklusiver Nachtklub heißen, dessen Ausstattung einschließlich des Mobiliars als Attraktion, als Gag sozusagen, aus, festhalten, r-e-a-l-e-n, dreidimensionalen, Tischen, Stühlen, Gläsern usw. bestand!

Über artifizielle Welten, Virtualität und solches Zeug machten sich die Bagnèrer tatsächlich eher wenig Gedanken, wenn sie aus existenzieller Not wie blöde ackerten, im Schweiße ihres Angesichts ihre Pferdekarren ölten, einander anbrüllten und bespuckten oder auch mal, meist am Wochenende, Lynchjustiz übten an einem Schelm oder so.

Die Uschi stand, „Gott sei Dank“ muss man sagen, nicht mehr an diesem dämlichen Fenster, sondern saß nun auf einer der Holzbänke der Sakristei und schnitzte da mit einem Messer irgend etwas hinein. Moment, ich schaue gerade einmal nach… ah, ja: „Fick dich, du Fotze!“ Nun, das galt wohl ihrem „Ferlu“, den sie ja, wie gesagt, „Uschi“ nannte und den die wenigen verbliebenen Freunde dieses selbst für Bagnèrer Verhältnisse ungewöhnlichen Paares liebevoll auch „Luzi“ riefen. Luzi sollte später der erste bekennende Transsexuelle Frankreichs werden. Allerdings nicht lange, etwa einen halben Tag, aber das ist eine andere Geschichte. Wenn ihr artig eure Hausaufgaben macht, liebe Kinder, erzähle ich sie euch vielleicht irgendwann einmal.

Der eskalierende Streit um die Kaffeefilter (was mögen das damals noch für grobschlächtige Haushaltsartikel gewesen sein, ich wage es mir nicht vorzustellen) zeigte wieder einmal exemplarisch, wie unterschiedliche Vorstellungen über die perfekte Gestaltung des gemeinsamen Frühstücks eine Partnerschaft belasten und in einen Rosenkrieg münden konnten. So etwas wie Paartherapie-Angebote gab es in diesem hinterwäldlerischen Kaff natürlich noch nicht.

Uschi saß nach ihrer Schnitzarbeit einfach so da und summte leise ein Lied vor sich hin. Da wurde ihr plötzlich bewusst, dass die Zeit verging mitsamt allen Dingen und auch nicht wiederkehrte. Dass die Zeit verging und in den erstaunlichen See der Erinnerung destillierte.

Ferluzi wiederum, der sich nach seiner Schminkarbeit, der Wahl der unpassendsten Schuhe und dem Anlegen des Ornats für die heutige Predigt endlich äußerlich gewappnet fühlte, vor die Türe zu treten, rief ihr beim Hinausgehen noch zu:

„Tschüß!“

Er schloss leise die Haustür und verriegelte sie mit einem Sicherheitsbolzen aus dem Hause Securveritas, die mit dem Original-Dreizack auf der Unterseite. Er hörte nicht mehr, wie sich seine dreijährige Tochter Lucy-Verena noch von ihrem Papi verabschieden wollte. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als an das dreifach verglaste Sicherheitsfenster zu trommeln und das Kreuzzeichen zu machen. Papi hatte mal wieder seinen Kruzifixus in der Ecke stehen lassen, als er sich für den Dienst fertigmachte.

Lucy-Verena war für ihr Alter recht weit entwickelt, manch einer der Dorfbewohner mag sie wohl auf neunzehn Lenze geschätzt haben.

Kurz vor dem Kaffeefilter-Fachgeschäft bemerkte der 58-jährige Ferluzi seinen Fauxpas und legte im übertragenen Sinne den Rückwärtsgang ein. Auf halbem Wege fiel ihm ein, dass er eigentlich bei der Gelegenheit noch ein paar Kaffeefilter hätte einholen können. Er kehrte also abermals um und näherte sich dem Geschäft erneut. Hielt an einer Ecke kurz inne und überlegte: „Welcher Tag ist heute?“ Er erinnerte sich, dass der von ihm vor einundzwanzig Jahren aus dem Amt gemobbte Veroli einen Tag in der Woche als Assistent des Lehrlings in dem Laden tätig war. Begegnungen mit seinem Vorgänger waren ihm äußerst unangenehm und er fühlte sich irgendwie unterlegen.

So murmelte er vor sich hin und bemerkte nicht, wie zahlreiche Bewohner von Bagnères auf dem Weg zur Kirche an ihm vorübergingen, ihn grüßten, die Kinder Ringelreihen um ihn tanzten und sich Tauben auf seinen Schultern niederließen.

Er war mal wieder „festgefroren“ und nur eins konnte ihn aus dieser Starre befreien und dies war nicht etwa ein besonderes Biskuit, welches in dem entlegenen Bergdorf San Vincente di Vincente in einer heruntergekommenen Traditionsbäckerei seit nunmehr 123 Jahren von der Familie K. hergestellt wurde und welches u. a. Wachteleier, Thymian-Honig und, so wurde gemunkelt, auch zerstoßene, rostige Krampen und sogar Schweineschmalz enthielt und von dem seine achtundneunzigjährige Tante Alfredo in einer alten Blechdose noch ein paar schimmelige Keksreste für den Ernstfall aufbewahrte, sondern die letztendliche Entscheidung für ganz besondere Predigten ab dem heutigen Tage.

„Ja, ich habe einen Job zu erledigen… ja, ich trage Verantwortung für die Gemeinde… und ja, ich bin bereit, mich zu ändern… und nein, ich will nicht mehr so wortkarg und einsilbig meinen Gefolgsleuten gegenübertreten, sondern ab sofort nach der ‚WISPRIWO-Methode‘ predigen, abgeleitet von ‚witzig, spritzig, wortreich‘ nach Freiherr Ronny von Bumsenkötter… und ja, ich liebe Uschi trotzdem… und nein, was zerspringen gerade jetzt meine Schuhe in tausend Moosfasersplitter… und vielleicht… benutzen wir ab sofort keine Kaffeefilter mehr… und nein, jetzt hat mir ’ne Taube auch noch auf die Schulter geschissen“, dachte Ferluzi und fuhr mit einem, nicht am Fahrradständer angeschlossenen Dreirad schnurstracks und entschlossen zurück zur Kirche, um vor den Kirchgängern da zu sein.

Schnell eilte er, kaum eingetroffen, hinter den Kirchentresen und sammelte sich, bevor das Gotteshaus schließlich bis auf die letzten 500 Plätze voll besetzt war. Dann sprach er:

„Gegrüßet seist du, Maria, voll der Gnade, der Herr ist mit dir, du bist gebenedeit unter den Frauen, und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes, Jesus. Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder jetzt und in der Stunde unseres Todes. Amen.“

Am Altar stehend, sah Ferluzi, der gerade die eucharistische Liturgie einleiten wollte, im Augenwinkel Uschi mit Lucy-Verena auf dem Arm von der Sakristei herüberkommen und sich durch die Reihen der Gläubigen zu ihm nach vorn bewegen. Besorgt gab er dem Organisten ein Zeichen, er solle irgendetwas spielen…

Eine Kutsche aus Südtirol

Zur selben Zeit traf Susje Sutrichs (26), nach langer, beschwerlicher Reise von Südtirol kommend, mit der Kutsche auf dem Marktplatz von Bagnères ein, an dessen Stelle viele Jahre oder Jahrhunderte später, 1867, mit dem Bau des Bahnhofs „Gare du Bagnères du Gore“ begonnen werden sollte, der nach seiner Fertigstellung 1872 nicht von de Gaulle eingeweiht wurde, denn weder war zu diesem Zeitpunkt J. de Gaulle bereits Bürgermeister dieses Ortes, noch war sein späterer Namensvetter Charles de Gaulle Präsident der Fünften Republik beziehungsweise geboren.

Susje Sutrichs, Verolis in Bozen unehelich geborene Tochter aus dessen Affäre mit der Magd Leni Kaufmann und ihres Zeichens gelernte Schreinerin und Mitglied der Holzfacharbeitergewerkschaft Sarntal/Südtirol, war angereist, um ihren Vater zu rächen und so das Trauma der Familie Veroli endlich zu überwinden: Diese Schmach und Schande, die der Landsmann „F.“ (der Name Ferluzi wurde bei den Verolis seitdem nicht mehr ausgesprochen) den Verolis zugefügt hatte, indem er den Herrn Papa seines Amtes und seiner Würden beraubt hatte.

Alfons Veroli war seinerzeit mit der vierjährigen Susje und Leni, damals offiziell noch seine „Hausangestellte“, Dienstmagd und Köchin und nicht, wie später nach dem jetzt wohl schon dreißigmal erwähnten Verlust des Arbeitsplatzes, seine Ehefrau, Dienstmagd und Köchin, nach Bagnères du Gore gezogen, um einerseits hier das Priesteramt auszufüllen, nachdem der bisherige Amtsinhaber Gustave Rechaud gerade frisch verstorben war, und um andererseits unliebsamen Nachforschungen in Bozen seitens der Kirchenobrigkeit zu entgehen, die bereits in die Wege geleitet worden waren, obwohl insbesondere Mutter und Tochter Bagnères als einen Ort der Verbannung empfanden, als ungeliebtes Exil. Ein Jahr nach der Sache mit Ferluzi kehrte die inzwischen verehelichte Leni Veroli mit der sechsjährigen Susje nach Südtirol zurück. Dem Mädchen kam diese Rückkehr in die bitterlich vermisste Heimat, den Sehnsuchtsort ihrer ersten Kinderjahre, wie der Beginn eines neuen Lebens vor. Alfons sollte, so war es geplant, später nachkommen. Er fand jedoch bald eine Anstellung in einem der miesen, kleinen Geschäfte von Bagnères und blieb.

Folgendes Szenario war nun denkbar, ja wahrscheinlich: Die 26-jährige Südtirolerin Susje Sutrichs, geborene Veroli, hätte, wenn es ihr gelungen wäre, sich schnell zu orientieren, schnurstracks zur Kirche spazieren, in die heilige Messe platzen und Ferluzi mit der Tat seines 21 Jahre zurückliegenden Mobbings konfrontieren – ich kann es nicht mehr hören! – oder gar seine sexuellen Präferenzen zum Thema machen, ihn so öffentlich bloßstellen und damit möglicherweise einen Shitstorm weit über die Grenzen dieses Kaffs hinaus auslösen können, denn natürlich wusste sie durch den Briefverkehr mit ihrem Vater davon.

Der Priester befand sich nun wahrlich in einer misslichen Lage, die er vielleicht als dräuend Ungemach am Horizont erahnen, in seinem ganzen Umfang und Ausmaß jedoch noch nicht erkennen konnte. Summa summarum drohte also erstens mit Uschis unberechenbarem Herannahen mitten im Gottesdienst die bislang mühsam geheim gehaltene Beziehung zu seiner Ministrantin inklusive der bereits dreijährigen Tochter aufzufliegen. Und zweitens würde, wie gesagt, mit Susjes Eintreffen die alte Geschichte mit Veroli todsicher wieder aufgekocht werden. Ferluzi musste überdies auch noch befürchten, in seiner Freizeit nicht einmal mehr gepflegt mit Blümchenkleid, Stöckelschuhen und ordentlich Rouge zum Bäcker oder ins Wirtshaus gehen zu können, ohne dass jetzt getratscht und getuschelt werden würde.

Da stand sie nun also, die Susje, mit ihrem Koffer, eben auf dem Marktplatz mit der Kutsche angekommen und schaute sich stirnrunzelnd um.

„Ist doch wieder mal typisch, keine Sau holt mich hier ab!“

Da kam ein Pferd mit Kutschwagen unter höllischem Getöse angetrappelt. Der Kutscher zwang das Tier zum scharfen Bremsen, um neben Susje zum Stehen zu kommen. Susje, die auffallend gefühllos war und deswegen über ein umso schärferes Gehör verfügte, erschrak kurz, aber wirkungsvoll. Man hätte meinen können, dass den quietschenden Bremsklötzen ein Verstärker vorgeschaltet war, so scheiße laut war diese von diesem Vollpfostenkutscher eingeleitete Bremsaktion. Idiot.

„Gnädiges Fräulein, steigen Sie ein, Sie sind schön und außerdem ist die Fahrt kostenfrei, ohne versteckte Gebühren! Im Rahmen der Aktion ‚Sinnvollereinsatzvonpferdendiebisherohnesinnnurlärmverursachenunddasbeibisher-nochnichtvorliegendemgutachten‘ heiße ich Sie prefakto an Bord herzlich willkommen. Steigen Sie ruhig ein und beruhigen Sie sich endlich! Wo darf ich denn mit Ihnen hintrappeln, Schöne?“

Susje nahm ihre Kopfhörer aus den Ohren, schmiss dem Bremser einen süffisanten Blick zu und ihren Koffer in die Kutsche. Beim gekonnten Sich-Hineinschleudern-in-den-Fahrgastraum (sie besaß seit ihrer Volljährigkeit das heißbegehrte „Diplom für schleudertraumatisiertes Einsteigen in Fortbewegungsmittel“) zischte sie dem Kutscher zu:

„Fahr mich direkt in die Kirche dieser einst ruhigen und malerischen Stadt!“

Der kutschierende Aktionskünstler ließ daraufhin unaufgefordert dem Pferd die Zügel frei, fuhr wenig später hemmungslos direkt durch das Kircheneingangstor, welches vorsorglich aus Watte bestand, und hielt schließlich im Mittelgang zwischen den Gläubigen, so ungefähr zwischen Reihe 19 links und Reihe 54 rechts. Der Krach, der dabei entstand, wer hätte das gedacht, war mal wieder zum Ficken schön…

Nach dem Abklingen des Widerhalls in dieser göttlichen Räumlichkeit, der ungefähr 4 Minuten und 37 Sekunden M.E.Z. dauerte, stieg Susje graziös aus der Kutsche und präsentierte sich den Anwesenden.

In dem kurzen Moment der Stille, der nun eintrat, richteten sich alle Augen auf Susje Sutrichs. Der Organist hielt es nun für angebracht, musikalisch zu diesem Hochamt etwas beizutragen. Nachdem er sich zunächst unschlüssig ob der Tonart des zu spielenden Stückes war, entschloss er sich, das selbstkomponierte Werk in der 11-Ton-Variante darzubringen.

„Wir hören nun das Lied: ‚Ich brauche alle Liebe, die ich kriegen kann‘ in der Extended Version.“

Es war mal wieder mächtig was los im Gottesdienst. Wenn das Papst Johannes XXII. bzw. der Gegenpapst Nikolaus V. gewusst hätte, mein lieber Herr Gesangsverein!

Daran wagte Ferluzi in diesem Moment nicht zu denken. Vielmehr beschäftigte ihn die Frage, ob sich in diesem Tohuwabohu nicht vielleicht eine Möglichkeit für ihn auftäte, unbemerkt zu verschwinden, denn ein Fortfahren mit der Liturgie erschien unter diesen Umständen vollkommen aussichtslos. Da geschah, was geschehen musste, und Ferluzi erlitt einen vorübergehenden vollständigen Hörsturz, das heißt, er hörte für zwei bis drei Minuten erst einmal außer einem mittellauten Pfeifton komplett rein gar nichts mehr. Und während er im Folgenden wie benommen durch den Mittelgang des Kirchenschiffs taumelte, sah er die vielen verschiedenen, ihm jedoch überwiegend bekannten Gemeindemitglieder in sein Blickfeld kommen, wild gestikulieren, scheinbar hitzige Wortgefechte miteinander austragen oder irgendwelche irren Aktionen vollführen.

Dies alles sah und erlebte er wie durch Watte, wie durch trübes Glas. Er sah, wie seine Tochter Lucy-Verena versuchte, Susje gegen die Schienbeine zu treten, wie der notorische Unruhestifter, Hobbyprozessierer und Wortführer aller sich in ihrer Ruhe gestört fühlenden Gutachtenbefürworter, Jean-Claude Perdu, angefeuert von Gisbert de Montagne, begann, sich mit dem Kutscher zu prügeln und wie Uschi Buschmann, mit verklärtem Blick und offenbar entrückt, etwas zu singen schien. Das Pferd hatte sich unterdessen aus der Schere des Einspänners befreit und bäumte sich, nachdem es aus dem Taufbecken getrunken hatte, wild wiehernd vor den Streithähnen auf. Noch begriff Ferluzi die Chance nicht, die für ihn in diesem Chaos lag und die darin bestand, dass keiner der möglichen Vorwürfe, die gegen ihn vorgebracht werden konnten, bei einem derartigen Geschrei und Gezappel auch nur im Entferntesten hätte verständlich artikuliert werden können.

Einige Gottesdienstbesucher hatten derweil die örtliche Gendarmerie verständigt und eine Amtskutsche mit mehreren Flics brauste heran und bremste scharf vor dem Eingangsportal der Kirche. Drei Uniformierte sprangen dynamisch heraus, wurden jedoch sogleich von einer unbestimmten Anzahl aus dem Haupttor herausstürmender Kirchgänger umgerannt. Der überwiegende Teil der hysterischen Menschenmenge hielt sich aber nach wie vor in dem Gebäude auf.

Wie konnte das Auge des Gesetzes, wie konnten die Gendarmen so schnell vor Ort sein, ja, wie wohl? Bestimmt nicht, indem die Leute mit ihren Smartphones auf der Wache anriefen, vielleicht auch noch ein Foto sendeten oder sogar ’ne Liveschalte, ihr kleinen Kretins, sondern indem sie ihre Kinder dort hinschickten: „Lucien, Jacques, Marie! Lauft schnell zur Gendarmerie und holt Hilfe! Sagt dem Mann am Tresen im Eingangsbereich, dass in der Kirche gleich eine Massenschlägerei losbrechen wird. Könnt ihr euch das merken? Na, dann los, geschwind!“ Jetzt auch als App zum Runterladen: Lucien, Jacques, Marie! Lauft schnell zur Gendarmerie! unter: bagnères.apps.com.

Im Kircheninneren war jedenfalls nach wie vor der Teufel los. Lucy-Verenas Versuch, die Schienbeine von Susje sanft mit ihren Springerstiefeln zu touchieren, endete mit einem dreifachen Bruch derselben. Selber Schuld, was kommt die blöde Göre auch unverhoffter Dinge nach Bagnères du Gore, sie hätte vor ihrer Abreise ja mal googeln können, was hier in den nächsten Tagen so los sein wird. Und der Spruch „Mein Rechenschieber mit Nylondrahtverbindung hierher ist morsch“ wäre zwar eine mögliche, aber eher unwahrscheinlich klingende Ausrede gewesen.

Jean-Claude und Gisbert hingegen versuchten es, plötzlich reumütig geworden, mit Wiederbelebungsversuchen an dem von ihnen selbst blutig geschlagenen Kutscher, dessen Eingeweide mittlerweile stinkend und unlogisch verknotet aus dem Bauchraum drangen. Währenddessen kotzte das Pferd das Taufwasser gewissenhaft wieder in das Becken, weil wohl das mittlere Haltbarkeitsdatum schon abgelaufen war. Und dabei heißt es doch immer so schön, man solle das Denken den Pferden überlassen. So’n Quatsch!

Uschi erkannte nach ihren Gesangsversuchen, dass sie an einem Casting nicht vorbeikommen würde, und Ferluzi entschied sich letztendlich für eine Flucht in die Kirchengruft.

Nun spazierten auch die letzten Flics gemütlich in die Kirche. Sie mussten einstimmig feststellen, dass hier mal die Putzkolonne durchwischen sollte. Und dabei bildeten die Hinterlassenschaften des Pferdes noch den kleineren Teil der Verunreinigungen dieses eigentlich als sakrale Weihestätte gedachten Ortes.

Von Ahnen und Fröschen

Ferluzi hockte auf dem kalten Steinfußboden der Kirchengruft, in die er geflohen war, und versuchte, sich zu sammeln und wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Der Lärm von oben drang nur gedämpft hierher, fühlte sich aber dennoch schmerzhaft an in seinen Ohren mit ihrem wiederkehrenden Gehör. Sein Hörvermögen war bereits zu 78,2 Prozent zurückgekehrt. Dieser Wert sollte in der nächsten halben Stunde noch auf 92,8 Prozent steigen.

Der Priester kaute auf seinen Nägeln. Dabei rasten die Gedanken wild in ihm hin und her: „Was, wenn sie mich doch noch drankriegen wegen Verletzung des Arbeitsrechts, Zölibatsbruch und sittenwidrigem, weil sexuell abweichendem Verhalten?“

An höherer Stelle hatte man vermutlich ganz andere Probleme, als sich um halbe Zölibatsverstöße irgendeines provenzalischen Provinzpfarrers zu sorgen. Ferluzi ahnte dies und dachte bei sich: „Der Johannes und der Nikolaus haben jetzt bestimmt ganz andere Probleme.“ Wie sich später herausstellte, hatten sie wirklich ganz andere Probleme. Ferluzi rühmte sich noch Jahre später wegen dieser seiner Voraussicht und ging vor allem der Hörakustiker-Seilschaft damit sowas von auf die Nerven. Von oben aus der Kirche drang nach wie vor tumultartiges Getöse in die Gruft.

„Jetzt einen Frosch!“, dachte Ferluzi. „Der beruhigt die Nerven und macht die Haare schön.“ Bereits vor Jahren hatte er in einer Nische einen Froschautomaten aufstellen lassen, der wöchentlich von der Firma „Vögel-Futter pour Nous“ befüllt wurde. Damals wurden Frösche, ähnlich wie Pinguine und Hasen, der Gattung der Vögel zugerechnet.

Und genau die Dinge waren es: starke Nerven, und ganz wichtig… na ja… schöne Haare… für den, der’s mag vielleicht, die Ferluzi gerade jetzt in diesem geheimnisvollen Refugium brauchte, ja beinahe schon benötigte, denn immerhin war er hier den Gräbern irgendwelcher Urahnen von Amtsvorfahren und Stadtfürsten, die er weder kannte noch gemocht hätte, am nächsten. Zielstrebig tastete er sich zum Froschautomaten vor, der ja, wie gesagt, ein Nischendasein fristete. Der Vergleich zu den diversen sogenannten „Ladenhütern“ späterer Kaufmannsfamilien drängte sich hier förmlicherweise auf. Lästig, bei der eigentlichen ursprünglichen Bedeutung dieses Automaten.

Mit einem wiedererlangten Gehör mit Spitzenwerten bis zu 243 Prozent, aber einer gefühlten und zum Himmel schreienden Nachtblindheit, erfühlte Ferluzi mit einer Hand den Münzeinwurf, griff mit der anderen in eine der Taschen seines Leibchens und warf keine Münze ein, da er keine besaß. Aber da war doch noch ein Schein in seiner Brieftasche, oder? Glück gehabt! Denn in weiser Voraussicht und mit sofortiger Wirkung hatte er der besagten Vögelfutter-Firma einst den Auftrag erteilt, einen Scheineinzug nachrüsten zu lassen. Frohlockend, genüsslich und gekonnt führte er den Schein in die Scheineinzugsscheide ein, mit dem Ergebnis, dass er im Froschausgabefach nur Schleim von abgelaufenen Fröschen empfing. Da er erwartungsvoll hineingegriffen hatte, stand die Enttäuschung tief verfurcht in sein Gesicht geschrieben, hätte man es nur in diesem faden Dämmerlicht sehen können.

Da es aber keiner sehen konnte, ging es ihm anscheinend sehr gut. So bewegte er sich frohen Mutes direkt auf die größte Grabkammer in dieser Gruft zu und begann, sie mit seinem Amtsdietrich zu öffnen. Schließlich hatte er ja momentan nichts anderes zu tun und die Ablage hatte Uschi vergangene Woche ja auch schon erledigt. Erleichtert seufzte Ferluzi auf.

Es handelte sich hier übrigens um die Kammer von „Jean-Jacques Bedürftig“, dem Stadtältesten vor rund 178 Jahren, weswegen er ja auch hatte sterben dürfen. Ferluzi blickte amüsiert hinein und erahnte einen niedlich zusammengekauerten skelettierten Körper. Das hob sich jetzt aber mal wirklich von seinem Alltag und Liebesleben ab, mein lieber Mann!

Ein leichtes Unbehagen überkam ihn angesichts des verständlicherweise etwas modrigen Geruchs. Dieser war aber im Vergleich zu der Option, jetzt dort oben zu sein, wo man, so legten es die nach unten in die Gruft gelangenden Geräusche nahe, zwar im Beisein der Ordnungshüter von einer von roher physischer Gewalt geprägten Art der Auseinandersetzung auf eine Ebene verbalen Schlagabtauschs umgeschwenkt, ansonsten aber keinerlei Zugeständnisse in der Sache einzugehen bereit war, war also verglichen damit Chanel No 5.

Was war denn in der Grabkammer eigentlich sonst so drin? Ein weiterer Automat mit irgendwelchem Klimbim? Oder vielleicht eine andere Art Wirklichkeit jenseits von kurzlebigem Automatentrost und flüchtigen Froschdrogen? Ja tatsächlich, die Gebeine dieses Altvorderen aus der Reihe der Ahnen und Urahnen, jener dummen Popanze und eitlen Pfauen, halfen ihm nun im richtigen Moment, sein Denken straight zu bekommen.

Mehr noch, der Raum schien eine Art multidimensionaler Hotspot zu sein, ein Kanal, eine Brücke, was auch immer, denn kurz nachdem er eingetreten war, bemerkte Ferluzi, wie sich sein Denken (und sein Geist) gleichzeitig auf verschiedenen Ebenen bewegte und abspielte. Und er hatte vielschichtige Visionen. Ferne Zeiten, vergangene und zukünftige, blitzten in ihm auf. Kurzzeitig erschien ihm beispielsweise jener Jean-Jacques Bedürftig, der immer noch mit seinem einstigen Schicksal haderte, dann sah er Musikantinnen und die Worte „Growing up in Springfield“ tanzten mit einem Mal in seinem Kopf. Er konnte nicht wissen, dass dies ein Titel der US-Band „Team Dresch“ war, fragte sich aber, was das verfickt nochmal zu bedeuten hätte.

Plötzlich trat der Pater in dem schummerigen Licht auf etwas Weiches, das sogleich lauthals quiekte. Ratten? Nein, es handelte sich um Nacktmulle (Heterocephalus glaber), die offenbar durch ein Loch in der Wand in den Raum gefallen und damit gefangen waren. Aber kamen diese pelzlosen, staatenbildenden Nager nicht ausschließlich in Afrika vor? Und konnte er seinen Sinnen hier in dieser Umgebung überhaupt noch trauen?

Derweil legte sich das Durcheinander im Kirchenschiff ein wenig. Jeder braucht schließlich mal ’ne Pause. Die Frauen traten vors Kirchenportal und steckten sich eine an. Man lästerte über die Mannsbilder, die sich wie Tiere aufführten. Die dreijährige Lucy-Verena war die Wortführerin. Die Damen der höheren Gesellschaft von Bagnères du Gore legten sich schon mal heimlich ihre Schienbeinschoner an, eingedenk der Springerstiefel des Mädchens, während die Herren der göttlichen Schöpfung schlaff über und unter den Kirchenbänken hingen. Man rief den Verletzten aufmunternde Worte zu: „Das wird wieder, wir finden deinen Arm schon.“

Man sandte Lucien, Jacques und Marie wieder aus, um vom Apotheker ein wenig „Gedärmgehzurück“ für den armen Kutscher zu holen. Er protestierte zwar („es geht mir schon viel besser, ich hab doch eine Tasche dabei“), weil er die Kosten nicht tragen wollte, aber man bestand darauf.

Die Gendarmen befragten die noch vernehmungsfähigen Reste der Gläubigen zum Hergang der Geschehnisse und ließen es sich nicht nehmen, eine Inventur der Messweinbestände durchzuführen. Uschi Buschmann und Susje waren ganz hingerissen von den Uniformen der Gendarmen und man kam überein, in den Beichträumlichkeiten noch etwas Rommé spielen zu wollen. Sittlichkeit und Anstand trafen sich an diesem Ort in den französischen Alpen. Wo ringsherum die Welt in Chaos und Niedertracht zu versinken schien, schien hier wenigstens die Sonne. Manchmal regnete es zwar wochenlang, monatelang, oder hagelte drei Tage am Stück, aber wenn dann wieder die Sonne zwischen den Wolken hervorblitzte und eine lang ersehnte Schönwetterperiode ankündigte, waren alle happy. Ab und an fielen auch Steinböcke, Murmeltiere und Schneemäuse vom Himmel, was wohl in Zusammenhang mit der alpinen oder voralpinen Lage dieses einst beschaulichen Ortes stand und die wohl ein plötzlicher Bergwind an einer Stelle heruntergefegt und an einer anderen abgeworfen hatte.

Politik, Macht und Rechenschieber

Doch wenden wir uns nun für einen kurzen Moment vom Wetter in und um Bagnères du Gore und den ganzen bis hierhin erzählten Geschehnissen ab und den politischen und sozialen Verhältnissen zu.

Thema Nr. 1 war nach wie vor der Streit um eine angebliche oder vorhandene Lärmbelästigung durch Pferdehufgetrappel. Innerhalb dieser Auseinandersetzung gab es zum einen die „Gutachtenbefürworter“ um Jean-Claude Perdu und Gisbert de Montagne. Deren Anhänger entstammten größtenteils dem Bürgertum und der Oberschicht. Sie waren einflussreicher in der Politik, in Wirtschaft und Gesellschaft, waren erfahrener und routinierter auf dem Society-Parkett und ihre Kriegskasse war besser gefüllt.

Aber auch ihre Gegner hatten sich inzwischen formiert und organisiert. Sie waren untereinander jedoch zerstritten und zogen nicht an einem Strang. Da gab es Klangpuristen, Lärmanarchisten, High-End-Freaks, „Pferdefreunde e. V.“ und die, von Jérôme Uferkamp angeführte, antibürgerliche, antimonarchistische und prämarxistisch-leninistische Splittergruppe „Schall Für Alle“ (SFA), die die bestehenden Tonmachtverhältnisse in Frage stellte und damit die herrschende Klasse herausforderte, ergo das System angriff. Nach Ansicht der SFA herrschte und beherrschte, wer die Klangproduktionsmittel und -stätten besaß, wer also über die Tonquellen verfügte, und das waren in unserem Fall, wen wundert’s, Adel, Klerus und reiches Bürgertum. Keinesfalls besser war nach Überzeugung der SFA das Marx’sche „Lumpenproletariat“ all jener mittellosen Hörer und Klangarbeiter, das nur danach gierte, selbst aktiver Geräuschproduzent zu werden und sich damit gleichsam mit seinen Ausbeutern solidarisierte, ohne die Tonverhältnisse als solche zu hinterfragen. In seinen theoretischen Schriften wies der SFA-Vorsitzende Uferkamp auch auf den von Karl Marx später so bezeichneten „Fetischcharakter“ der Ware Klang hin, der also die Entstehung der Töne durch mühsame Geräuscharbeit verschleiere und zu einem entfremdeten und scheinbar magischen Produkt mutieren lasse.

Nicht unerwähnt bleiben soll auch der im Untergrund agierende, sektenähnliche Geheimbund „Les Puristes“. Hierbei handelte es sich nicht etwa, wie der Name nahelegen könnte, um einen religiösen, puritanischen Reinheitsbund nach englischem oder schottischem Vorbild, sondern um eine durchaus säkulare Bewegung, die sich Stilbewusstsein, oder das, was sie dafür hielten, auf die Fahnen geschrieben hatte, ja zum obersten Gesetz und Dogma erhob. Menschen mit, ihrer Meinung nach, schlechtem Geschmack wollten sie bekehren und umerziehen. Oder töten, wenn ihnen letzteres nicht gelang. In ihren nächtlichen Guerilla-Aktionen tauschten sie u. a. öffentliche, als hässlich empfundene Lampen aus oder bedrohten, natürlich vermummt, Passanten und zwangen sie, ihre Schuhe auszuziehen, um ihnen „bessere“, nämlich italienische aufzunötigen, was natürlich in Bagnères ein heißes Eisen war, wie wir wissen. Bezüglich der Frage, wer ihre Mitglieder waren oder hätten sein können, brodelte also die Gerüchteküche auf hoher Flamme.

Dennoch waren die meisten Bürger von Bagnères du Gore zu dieser Zeit politisch recht verdrossen. Die mannigfaltige politische Landschaft war zerklüftet, unwegsam und von daher der großen Masse schnurzpiepegal. Aber da eine umfassende latente Sympathie mit der „Perdu/de Montagne-Fraktion“ nicht zu verleugnen war, warteten viele nur noch auf das Gutachten, um endlich das Pferdegetrappelproblem (All Rights Reserved) vernünftig geregelt zu bekommen.

Es gab nur eine riesige Hürde bei der Übermittlung der begehrten Information: Die beauftragte Gutachtenfirma mit Hauptsitz in Grassière de la Mer ließ seinerzeit ihren Nylondraht, ausgehend von einem morschen Rechenschieber, unvorteilhaft nach Bagnères verlegen. Das führte dazu, dass viele Reiter ohne sinnvolles Ziel (sogenannte „Sonntagschevaliere“), die zwischen diesen Orten kreuzten, von dem stark gespannten Verbindungsdraht stranguliert wurden. Wer Glück hatte, wurde gleich geköpft. Und was das Schlimmste dabei war: Der stets erneuerte, aber immer wieder morsche Absender-Rechenschieber zerbrach durch die gewaltige Zugkraft bei derartigen Unfällen jeweils in viele Teile, was ein lustiges Umherkullern der dadurch freigesetzten bunten Kugeln bewirkte.

So passierte letztendlich natürlich nichts. Nichts kam an und niemand wollte noch länger auf das Gutachten warten. Drum waren jetzt Lucien, Jacques und Marie wieder gefragt, diese heißen Zeilen aus dem nur 238 Kilometer entfernten Grassière de la Mer per pedes zu beschaffen. Wieder einmal kein Problem für die Bagage, die mit nur 3 Riegeln Kinderschokolade ausgestattet loszog und erst nach 16 Tagen freudestrahlend, aber entnervt in Bagnères erwartet wurde.

Und Schwupp, da war es (franz. „schwûpe, c’est ça“), das geile Gutachten, welches Jean-Claude und Gisbert nun in den Händen hielten. Ernüchtert brachen beide in Tränen aus, als sie es lasen. Da war sie also, die lang ersehnte Lösung für die hiesige problembehaftete Bourgeoisie, die da lautete:

„Alle Traber sind von ihren Haltern per sofort zu aufrecht gehenden Zweibeinern umzuerziehen, um die Emission um 50 % zu reduzieren! Basta! Die Kosten für veterinäre Physiotherapeuten sind der örtlichen Portokasse zu entnehmen! Der Rechtsweg ist ausgeschlossen und alle Angaben sind ohne Gewähr! Sehen sie nun in unserer Spätausgabe noch unser Politmagazin…“

Jean-Claude und Gisbert konnten nicht mehr weiterlesen, so gerührt waren sie. Mit jeweils einer Träne im Knopfloch sahen sich beide zufrieden an und wussten: „Die Kuh ist vom Eis!“

Wenige Tage darauf beantragten die zwei Nachbarschaftsterroristen, berauscht von ihrem Erfolg, der natürlich sowohl in der Durchsetzung des Gutachtens als auch in dessen Ergebnis bestand, in der Gemeinderatsversammlung ein weiteres Gutachten, zu dem es, nebenbei gesagt, niemals kam und welches die vermeintlichen oder realen Defizite der bisherigen, aber auch der neuen Art der Nachrichtenübermittlung mit den erwähnten, teils blutigen Folgen untersuchen, dokumentieren und Lösungsvorschläge erarbeiten sollte. Denn obwohl die IT-Branche hier wortwörtlich „noch in den Kinderschuhen“ steckte, wollten sich viele nicht mehr auf die herkömmliche, traditionelle Weise des Informationsaustauschs zwischen den Gemeinden, Kantonen und Départements per Postkutsche oder, bei gebotener Eile, berittenem Kurier (mit den bekannten Lärm-Emissionsproblemen) verlassen.

Auf die Frage von Lokalreportern, was für eine Schnelligkeit er sich bei der neuartigen, drahtgebundenen „Weiterleitung von Neuigkeiten“ denn vorstelle, antwortete Perdu etwas in der Art wie: „Na ja, so an circa zehn Terrabyte pro Minute hatte ich da eigentlich schon gedacht…“, was bei den meist morschen Rechenschiebern (oder notfalls eingesetzten Kinderkurieren) eine, nun ja, knifflige Aufgabe darstellte, selbst wenn viele von diesen Holzrechnern einst in handwerklich sehr guter Schnitzarbeit in Tirol hergestellt und via „Veroli Im- und Export“ im Alleinvertrieb hier an den Mann und an die Frau gebracht worden waren (und selbst wenn das Geschwisterpaar Lucien, Jaques und Marie jederzeit einsatzbereit war). Und die überirdisch verlegten Schnüre und Nylondrähte konnte man nun beim besten Willen auch nicht gerade als „Glasfaserkabel“ bezeichnen.

Mit der wiederholten Beantragung diverser Gutachten wollte sich Jean-Claude Perdu darüber hinaus im Bereich der Lokalpolitik erneut ins Spiel bringen und es kursierten bereits seit langem Gerüchte, er beabsichtige sogar, für das Bürgermeisteramt zu kandidieren.

Und genau das tat er auch. Gisbert, sein von langer Hand geplanter Freund und Mitstreiter, war daraufhin erfüllt von Neid (eine Todsünde) und kandidierte ebenfalls für das Amt (Ätschmannbätsch), was die Bagnères-Bürger nun endgültig verunsicherte. Kaum beruhigt von den Vorkommnissen in der unter normalen Umständen haltgebenden Kirche, unter Hinzunahme der Tatsache, dass Ferluzi nicht auffindbar war, Predigten ausblieben, die Putzkolonne just now streikte und es noch wie Sau in der heiligen Stätte aussah und roch, stand nun unvermittelt die Bürgermeisterwahl an und die Bagnèrer mussten sich nun auch noch für einen Heilsbringer entscheiden. Meine Güte… als hätte man nichts anderes zu tun… (ein forcierter und suggerierter Entscheidungszwang und die Abwälzung eines politisch motivierten, aber egomanischen Kompetenzgehabes auf das Volk waren schon damals Grundpfeiler für die „gewollte Autoritätsunterwürfigkeit mit schlechtem Ausgang für bescheidene Normalsterbliche, die ja immer gleich ein schlechtes Gewissen wegen Aufbegehrens bekommen würden“).

Gisbert lud Jean-Claude nach Bekanntwerden der Kandidaturen schließlich zu einem Sondierungsgespräch ins „Café Embrassé“ nahe der nordsüdlichen Stadtgrenze ein. Trinken wollten beide… und reden. Und letzteres ging dem Kellner dermaßen auf die Klüten…

„Wir müssen reden!“, eröffnete Gisbert das Gespräch.

„Wenn ich mal muss, gehe ich auf die Toilette!“, konterte Jean-Claude gekonnt.

„Ich will auch den Posten, der dir als innehabend in spe angedacht wird!“ Gisbert fummelte mit gesenktem Haupt an seinen Fingern.

„Kinder mit einem Willen kriegen was auf die Brillen!“ Diese Kriegserklärung von Jean-Claude setzte nun neue Maßstäbe.

„Ich finde dich doof!“ Gisbert fing an, mit den Füßen zu trampeln.

„Ich finde dich zwar nett, aber nicht ganz so toll, wie ich mich finde!“ Diplomatisch…, ja so empfand Jean-Claude sich dabei.

Der genervte Kellner, der seine Speise- und Getränkekarte einfach nicht loswurde, wartete noch geduldig eine gefühlte halbe Stunde. Doch der Dialog setzte sich leider fort…

Um diesen Zwist unter Freunden und Berufskollegen zu verstehen, müssen wir an dieser Stelle ein wenig in die Vergangenheit zurückblicken.

Ein Routineflug

Rückblende: Wir richten unser Augenmerk auf das Jahr 2.401.003.001 v. Chr. Der Einfachheit halber im Folgenden 2,4 Mrd. v. Chr. abgekürzt. Kommandant Uupoosalamäki-HartmutC002, genannt „Flocki“ flog einen Routineeinsatz der Südtiroler Luftwaffe über der Lavasee vor Prä-Pangaea. Südtirol war damals die führende Supermacht auf der Erde und die Südtiroler betrachteten sich als das auserwählte Volk Gottes.

Zum Unwort des Jahres war gerade das Wort „Unwort“ von einer hochrangigen Jury gewählt worden und die „South-Tyrolean Knickerbockers“ standen wie jedes Jahr als einzige Mannschaft im Endspiel und gewannen es schließlich auch.

Die Bewohner Prä-Pangaeas waren in ihrer Physis dem heutigen Homo Sapiens weit überlegen. Das „schwache Geschlecht“ erreichte eine Schulterhöhe von 3,20 m, während es der durchschnittliche männliche Teil der Bevölkerung auf immer noch stattliche 3,18 m brachte.

So fortschrittlich die Zivilisation in technischer Hinsicht auch war, umso mehr muss es erstaunen, dass der einfache Zusammenhang zwischen der Größe eines Körpers und der damit korrespondierenden Größe z. B. von Damenoberbekleidung nicht verstanden wurde. So nimmt es nicht wunder, dass Kommandant Flocki in einem für seine Ausmaße viel zu kleinem Fluggerät saß.

Die speziellen thermischen Gegebenheiten über vulkanisch aktivem Gebiet erfordern fliegerische Kenntnisse und Fähigkeiten, die sowohl der Pilot Flocki, als auch die 1. Offizierin und Co-Pilotin Sörensen-Gisela7878, kurz „Sörensen“ genannt, nur bedingt besaßen. Und heute war man ein wenig von der üblichen Route abgewichen und flog über hoch eruptivem Gelände…

„Was steht denn in der Betriebsanleitung über die richtige Vorgehensweise in so einem Fall? Schauen Sie mal nach, nun machen Sie schon!“, bellte Flocki zur Seite. Die Thermik schüttelte die Maschine durch und die Hitze wurde in der drangvollen Enge des Cockpits langsam geringfügig unangenehm. Sörensen kramte unter dem Sitz ein telefonbuchdickes, stark abgenutztes Druckwerk hervor, aus dem auch noch mehrere lose Seiten halb heraushingen, und stieß sich beim Hochkommen den Kopf an der niedrigen Decke. Nachdem sie circa drei bis vier Minuten mit schmerzverzerrtem Gesicht ihre frische Beule (die dritte auf diesem Flug) gerieben und anschließend das ölig-verdreckte Manual ein paarmal durchgeblättert hatte, sagte die zweite Pilotin achselzuckend:

„Tja, ich weiß nicht, wo soll man da nachschaun?“

„Herrgott, geben Sie her! Muss ich denn hier alles alleine machen?“ Berufsbedingter Burn-out war auch 2,4 Mrd. v. Chr. bereits ein häufiger Grund für Krankschreibungen. Der 38-Jährige versuchte, seine eingeknickten Beine anders zu lagern. „Da schaut man im Inhaltsverzeichnis nach, falls Ihnen ein solches geläufig ist, unter dem Stichwort ‚Überfliegen von Lavaseen‘, aber so etwas lernt man heutzutage auf der Kadettenschule ja wohl offensichtlich nicht mehr!“

So einen Abschnitt gab es tatsächlich. Ein Satz darin fiel dem halbbärtigen Commander (halbe Bärte über eine vertikale Gesichtshälfte waren modisch im Kommen, nachdem ein 67 Jahre alter Froschlurch dies scheinbar verkündet hatte, jedenfalls wurde der übriggebliebene Matsch – näher will ich darauf nicht eingehen – so gedeutet), ein Satz fiel ihm also sofort ins Auge:

„Seen aus basaltischer Schmelze, sogenannte Lavaseen, sind generell nicht zu überfliegen und ihnen sollte weiträumig ausgewichen werden! Zuwiderhandlungen haben disziplinarische Folgen.“

„Diese Klugscheißer!“, versuchte Flocki von seinem Fehler abzulenken, denn dieser lag eindeutig bei ihm und in seiner Verantwortung.

„Sie eitler, unfähiger Dilettant. Sie bringen uns ja um!“ Sörensen, die nicht nur um ihr Leben, sondern auch noch um ihre Karriere bangte, war jetzt richtig wütend und kurz davor, dem Kommandanten eine reinzuhauen, denn darauf kam es nun, angesichts des gar nicht mehr so weit unter ihnen brodelnden Magmas, auch nicht mehr an.

Die angestaute Aggression im Cockpit verhielt sich äquivalent zur tobenden Lavasee unter ihnen. In ihren viel zu engen Schafswoll-Fliegeruniformen transpirierten die beiden nach Herzenslust.

Flocki: „Mein Gott, ich hätte jetzt Lust auf einen Kaffee, Sie nicht auch?“

Er hoffte, die vergiftete Atmosphäre zwischen ihnen durch Liebenswürdigkeit abzukühlen.

Sörensen: „Wir rasen in den Tod und Sie egoistischer Schweinepriester denken nur an sich! Aber von mir aus, bestellen Sie sich doch, was sie wollen.“

Flocki fummelte an dem berührungsempfindlichen Glattflächenbefehlsgerät und versuchte, mit seinen Schwitzehändchen den Sensor für Bestellungen in der Bordgastronomie zu erwischen. Abgesehen von ein paar hässlichen Schlieren auf der Oberfläche, führten seine Bemühungen zu keinem Ergebnis. Puterrot im Gesicht vor Anstrengung griff er schließlich hinter sich und zog eine Schiebeklappe auf. Dahinter lag im Heckteil der Maschine zusammengekrümmt der Bordkellner und popelte gerade in der Nase.

„Können Sie nicht anklopfen!“, raunzte er den Kommandanten an.

„Wir müssen reden!“, warf Sörensen ein.

„Wenn ich mal muss, gehe ich auf die Toilette!“, konterte Flocki gekonnt.

„Ich will auch den Posten, den Sie innehaben, und alle Posten, die Ihnen in spe angedacht werden!“ Sörensen fummelte mit gesenktem Haupt an ihren Zehen.

„Kinder mit einem Willen kriegen was auf die Brillen!“ Diese Kriegserklärung von Flocki setzte nun neue Maßstäbe.

„Ich finde Sie doof!“ Sörensen fing an, mit den Füßen zu trampeln.

„Ich finde Sie zwar nett, aber nicht ganz so toll, wie ich mich finde!“ Diplomatisch…, ja so empfand Kommandant Uupoosalamäki-HartmutC002 sich dabei.

Der genervte Kellner, der seine Speise- und Getränkekarte einfach nicht los wurde, wartete noch geduldig eine gefühlte halbe Stunde. Doch der Dialog setzte sich leider fort…

„He, Commandante…“, entfuhr es Sörensen, „ich glaube, ich habe gerade ein Alpendohlenpaar.“ So nannte man damals ein Déjà-vu. „Mir kommt das alles so bekannt vor, unser Gespräch meine ich, als hätten wir’s schon geführt. Sie haben nicht zufällig vor, als Zonen-Supervisor zu kandidieren?“

Die ganz Schlauen ahnen es bereits. Gemeint ist hier das Amt des Bürgermeisters. Uupoosalamäki lehnte sich im Sitz zurück, soweit es eben ging, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und schaute entspannt an die Cockpitdecke.

„Naja, daran gedacht habe ich schon, aber man hat ja immer soviel anderes um die Ohren.“

„Entschuldigen Sie, dass ich mich einmische“, unterbrach der Bordkellner, „aber könnten Sie das eventuell zu einem späteren Zeitpunkt klären, denn zum einen habe ich in einer halben Stunde Feierabend, könnte aber gleichwohl jetzt noch Ihre Bestellungen entgegennehmen, und zum anderen werden wir voraussichtlich in wenigen Augenblicken geschmolzen sein, so scheint es mir jedenfalls, wenn ich aus dem Fenster blicke, da wir nur noch ein, zwei Dutzend Meter von der rotflüssigen See entfernt sind.“

„Dann hätte ich gerne einen ‚Vulkanteller à la Bordelaise-Grundière‘ mit Mach 3-Magma-Soße und ein Fliegen-Pils vom Fass… und das Ganze ein bisschen plötzlich, Sie zusammengekrümmter Heckteil-Kellner.“ Uupoosalamäki „Flocki“ Geruhsamdottir, wie dieses Fliegerass bei der Fangemeinde der „Zurück-in-die-Zukunft-Nebenhandlungsgroschenroman-Kopie“ gerne genannt wurde, verstand bei Bestellungen kurz vor dem Dahinschmelzen einfach keinen Spaß!

„Sehr sehr gerne, der Herr… und was darf es für Ihre Begleitung sein?“ Der Heckteil-Kellner wurde langsam hektisch, da seine Füße bereits verkohlt waren und es um seine Unterschenkel nicht minder schlecht bestellt war.

Doch bevor Sörensen „Isch wöll de Körrywuscht mit Pommet-Schranke…“ äußern, geschweige denn ihren Getränkewunsch mitteilen konnte, verglühte die gesamte Mischpoke nebst Fluggerät über der Lavasee. Na bitte… Das Leben ist halt vergänglich.

Um diesen misslichen Ausgang für die Freunde und Berufskollegen, Gott hab’ sie selig, zu verstehen, müssen wir das ganze beschissene Zeitrad wieder mühsam nach vorne in Ausgangsposition drehen:

„He, Jean-Claude…“, entfuhr es Gisbert, „ich glaube, ich habe gerade ein Déjà-vu.“ So nannte man damals ein Alpendohlenpaar. „Mir kommt das alles so bekannt vor, unser Gespräch meine ich, als hätten wir’s schon geführt.“

Der Kellner, der nun irgendwie wesentlich kleiner wirkte, als wären ihm die Füße und Unterschenkel quasi „weggebrochen“, schmiss den beiden scheißfreundlich die Bestellkarten auf den Tisch.

„Brauchen wir nicht, wir wissen nämlich, was wir wollen, Sie Ungeduldstropfen“, waren sich hier Jean-Claude und Gisbert einig. „Wir wollen Burger und Bier… und wir wollen gemeinsam Bürgermeister werden… per Jobsharing… und das Leben kann übrigens jederzeit zu Ende sein!!!“

Ihr Miteinander war zu diesem Zeitpunkt unkaputtbar. So fegten beide die besagten Karten vom Tisch, die daraufhin am Boden verglühten. Der kleine Kellner wackelte demütig davon und zerfiel auf Höhe der Großküche zu Staub.

Verbissene Schoßhunde

Schwer und drückend lag der Frühnebel in den kiefernbewaldeten Tälern und Anhöhen um Bagnères du Gore und tief hingen bald auch schon wieder Regenwolken scheinbar bewegungslos am Himmel über diesem doch im Grunde so trostlosen und heiteren Ort, dessen Bewohner den ganzen lieben langen Tag „Böses schafften wie die Bienen Honig“, wie es der britische Schriftsteller William Golding im Hinblick auf den Menschen einmal so treffend formulierte.

Und während die beiden Kandidaten des bürgerlichen Lagers Versöhnung feierten, der Dorfpfarrer Ferluzi nach seiner Flucht in die Kirchengruft als verschollen galt und seine Gemeinde sich langsam von dem Kirchengemetzel erholte, ließen dessen Urheberin die vergangenen Ereignisse hingegen nicht so leicht los:

Susje Sutrichs, die sich seit ihrem verpatzten Rachedebüt im Gotteshaus lustvoll mit Selbstvorwürfen quälte und an der schon wieder (mein Gott!) das Heimweh nagte, saß auf einer Bank vor dem Ticketschalter des Fremdenverkehrsamts am Marktplatz und überlegte allen Ernstes, was sie dann letztendlich doch nicht tat, ohne ihren Vater Veroli wenigstens einmal besucht zu haben in die nächste Kutsche nach Südtirol zu steigen und zu ihrem Gemahl zurückzueilen. Ab: 10.50 Uhr Marktplatz Bagnères-Mitte. An (ca. drei Wochen später): 17.30 Uhr Zentraler Kutschenbahnhof Bozen-Süd.

Es sei an dieser Stelle gestattet, einen kurzen Blick zu werfen. Am besten erneut nach hinten.

Vielleicht ist es für den einen oder anderen interessant zu erfahren, dass durch den Absturz der Flugmaschine vor 2,4 Mrd. Jahren ein Teil der an Bord befindlichen Overkill-Bomben detonierte und ca. ein Fünftel der Erdscheibe abplatzte und den späteren Erdtrabanten bildete, auf dem heute die fettesten ’80er-Partys gefeiert werden.

Schlimmeres wurde nur durch das bereits gezapfte Glas Fliegenpils verhindert, das sich über einen Teil der weltenzerstörenden Waffen ergoss und die Aufschlagzünder aus Zuckerguss auflöste. Man mag sich gar nicht ausmalen, was da alles hätte passieren können. Vielleicht würden wir heute noch zugekokst in kurzen Lederhosen Charleston tanzen un plattdütsch schnacken. Das war echt oldschool, irgendwie.

Sage noch einer, Geschichte würde sich nicht wiederholen. Ist es nicht die Geschichte, die sich permanent wiederholt? Ist nicht gerade der Umstand, dass es Geschichte gibt, die Voraussetzung für ihre Wiederholung? Was soll sich denn sonst wiederholen, wenn nicht die Geschichte? Und gibt es Geschichte überhaupt oder ist das nur ein Konzept, dass ich mir gerade als erster Mensch ausgedacht habe?

Solche und noch eine andere Frage gingen Susje durch den Kopf, während sie auf die flüsterleise Schnellkutsche wartete, die wahrscheinlich schon ohne sie abgefahren war.

Und Gott sei’s gedankt, die Kutsche fuhr ohne sie ab. Aber warum „Gott sei’s gedankt“… und wieso überhaupt… und was ist das Bedeutung von dies?

Antwort A: Sie bemerkte die Kutsche nicht, aufgrund der flüsterleisen Betriebsgeräusche.

Antwort B: Sie wollte die Kutsche bewusst ignorieren, weil sie sich ohnehin unsicher war, die Stadt zu verlassen, zumal sie Lucy-Verena ebenfalls noch einen mehrfachen Bruch der Schienbeine schuldig war.