Data for the People - Andreas Weigend - E-Book

Data for the People E-Book

Andreas Weigend

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Beschreibung

Was das Silicon Valley mit unseren Daten macht und welche Daten-Grundrechte wir jetzt brauchen Wir hinterlassen überall Daten - oft freiwillig. Unternehmen wie Google, Facebook und Co. nutzen sie, verarbeiten sie weiter. Aber was weiß das Silicon Valley über uns? Warum sind unsere Daten so wertvoll und werden es dank Big Data in der Zukunft immer mehr? Andreas Weigend, Ex-Chefwissenschaftler von Amazon, sagt: Es ist höchste Zeit, die Macht über unsere Daten wieder in unsere Hände zu legen. Denn er ist überzeugt: Wir profitieren davon, dass wir unsere Daten teilen, aber wir müssen wissen, was damit geschieht, und wir müssen Einfluss nehmen können! In "Data for the People" formuliert der Experte sechs Grundrechte für Daten, die wir als Bürger und Kunden einfordern sollten, und zeigt, wie digitale Unternehmen - vom Großkonzern bis zum Startup - arbeiten. Ein Sachbuch, das die Vorteile der Digitalisierung sieht und jeden Leser datenkundig macht. Mit seinen Daten-Grundrechten macht Weigend jedem ein Geschenk, dem seine Privatsphäre im Web wichtig ist - und richtet sich damit auch an Manager in innovativen Unternehmen, denen die Selbstbestimmung ihrer Kunden am Herzen liegt. Nominiert für den Deutschen Wirtschaftsbuchpreis 2017!

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Andreas Weigend

DATA FOR THE PEOPLE

Wie wir die Macht über unsere Daten zurückerobern

Aus dem Englischen von Andreas Simon dos Santos

Inhalt

VORWORT Wenn alles gespeichert wird

EINLEITUNG Die Datenrevolution

1// WIE WIR DATENKUNDIG WERDEN Essenzielle Werkzeuge für den digitalen Bürger

2// CHARAKTER UND CHARAKTERISTIKEN Das Patt zwischen digitaler Privatsphäre und digitaler Ehrlichkeit

3// VERBINDUNGEN UND GESPRÄCHE Identität und Reputation im sozialen Graphen

4// KONTEXT UND BEDINGUNGEN Der Sinn allgegenwärtiger Sensoren

5// EINBLICK IN DEN KONTROLLRAUM Transparenz für die Menschen

6// AN DEN REGLERN DER KONTROLLPULTE Handlungsfähigkeit für die Menschen

7// UNSERE RECHTE VERWIRKLICHEN Transparenz und Handlungsfähigkeit durchsetzen

EPILOG Zur Sonne

Dank

Index

Für meine Eltern, Freunde und Studenten

VORWORT Wenn alles gespeichert wird

»Wenn die Information selbst zum größten Geschäft der Welt wird, wissen Datenbanken mehr über den einzelnen Menschen als dieser selbst. Je mehr die Datenbanken über jeden von uns speichern, desto weniger existieren wir.« 1

Marshall McLuhan

1949 trat mein Vater, damals ein junger Mann von 23 Jahren, eine Stelle als Lehrer in Ostdeutschland an. In der neuen Stadt eingetroffen, musste er jemand finden, mit dem er sich ein Zimmer teilen konnte. Im Bahnhof lernte er einen Mann kennen, der ebenfalls nach einer Bleibe suchte. »Heute ist mein Glückstag«, dachte mein Vater. Doch ein paar Tage nach ihrem Einzug in ihr neues Zuhause war sein Mitbewohner verschwunden. Mein Vater war ratlos. Als die Tage vergingen, fing er an, sich Sorgen zu machen.

Nicht lange darauf saß mein Vater eines Morgens beim Frühstück, als es an der Tür klopfte. War vielleicht sein Zimmergenosse zurückgekehrt? Als er öffnete, standen mehrere ihm unbekannte Herren vor ihm und teilten ihm mit, dass er einen Lehrerpreis gewonnen habe. Es sei ein ganz besonderer Preis, der ihm nur persönlich überreicht werden dürfe, daher seien sie gekommen, um ihn zum Ort der Ehrung zu bringen. Die Einladung machte ihn argwöhnisch: Unter den gegebenen Umständen war es befremdlich, dass die Männer so mürrisch dreinschauten und alle identische Trenchcoats trugen. Doch ihm blieb keine Wahl, man brachte ihn sofort zu einem wartenden Auto, und als er eingestiegen war, entdeckte er zu seinem blanken Entsetzen, dass sich die Türen nicht von innen öffnen ließen. Er war von der sowjetischen Besatzungsmacht verhaftet worden.

Mit der Begründung, dass er Englisch sprach, wurde mein Vater beschuldigt, ein amerikanischer Spion zu sein. Keiner seiner Familienangehörigen oder Freunde wusste, wo er abgeblieben war, er war wie vom Erdboden verschluckt. Er wurde in ein Gefängnis der Sowjetbehörden geworfen, wo er sechs Jahre in Einzelhaft schmachtete. Er erfuhr nie, warum er verhaftet worden war oder was schließlich zu seiner Freilassung geführt hatte.

Persönliche Informationen zu teilen kann reale, lebensbedrohliche Risiken bergen, weil solche Daten gegen uns verwendet werden können. Tatsächlich wird mir, wenn ich mir diese Gefahren recht überlege, angst und bange, insbesondere weil ich gesehen habe, wie Daten über meinen Vater gesammelt und gegen ihn verwendet wurden.

Ein Jahrzehnt nach dem Zusammenbruch der DDR beantragte ich bei der zuständigen Behörde Akteneinsicht, um herauszufinden, welche Informationen die Stasi während und nach seiner Haft über meinen Vater gesammelt hatte. Ich war nicht der Einzige, der neugierig war, was die ostdeutsche Geheimpolizei über seine Familie wusste; beinahe drei Millionen Menschen haben seit dem Fall der Mauer Einsicht in ihre eigenen Stasi-Unterlagen oder die Akten von Familienangehörigen beantragt.2 Leider erhielt ich von der Stasi-Unterlagenbehörde Bescheid, dass die Unterlagen über meinen Vater offenbar vollständig vernichtet worden waren.

Allerdings entdeckte ich im Umschlag des Antwortschreibens die Fotokopie des Deckblatts einer anderen Stasi-Akte: meiner eigenen. Ich war baff. Es gab also eine Stasi-Akte über mich? Ich war doch nur ein junger Physikstudent. Dennoch hatten die Stasi-Agenten bereits 1979, als ich noch ein Teenager war, damit begonnen, Informationen über mich zu sammeln, und die Akte zuletzt 1987 aktualisiert, dem Jahr nach meinem Umzug in die Vereinigten Staaten. Von meiner Akte war nicht mehr geblieben als das Deckblatt; ich würde nie erfahren, welche Informationen die Stasi über mich gesammelt hatte, warum sie es getan hatte und wozu dieses Wissen, falls überhaupt, verwendet worden war.

Damals, in den Tagen der Stasi, war es ein anstrengendes Geschäft, Informationen über »Bürger von Interesse« zu beschaffen. Zunächst mussten die Daten gesammelt werden, indem man Leute beschattete, sie fotografierte, ihre Post abfing, ihre Freunde befragte und ihre Wohnungen verwanzte. Dann mussten diese Informationen ausgewertet werden, alles per Hand. Es gab so viel Material zu durchforsten, dass zur Zeit des Zusammenbruchs der DDR ein Prozent der arbeitenden Bevölkerung hauptamtlich für die Geheimpolizei arbeitete. Doch zur Informationsbeschaffung benötigte die Stasi sogar noch mehr Ressourcen.3 Laut Bundesregierung hatte die DDR schließlich annähernd 200 000 Zuträger, die als »inoffizielle Mitarbeiter« ihre Mitbürger ausspionierten.4

Deckblatt meiner Stasi-Akte

Im Vergleich dazu haben es Datensammler heute leicht. Denken wir nur an einige aufsehenerregende Fälle. Nach vielmonatigen Protesten und Gerichtsprozessen errangen Datenschutzaktivisten in den USA einen kleinen Sieg gegen die Schleppnetzüberwachung von Telefondaten durch die NSA.5 Doch nur wenige Menschen verzichteten während oder nach dem Kampf, als klar wurde, dass die Metadaten ihrer Anrufe womöglich ausgewertet wurden, auf die Nutzung ihrer Handys. Einen Fall immerhin gab es, wo eine Vertriebsmitarbeiterin gegen ihre Entlassung durch ihren Arbeitgeber klagte, weil sie eine App deinstalliert hatte, die sowohl während als auch außerhalb ihrer Arbeitszeit ihre Ortungsdaten speicherte und an ihren Vorgesetzten sandte.6 Als bekannt wurde, dass Facebook untersuchte, wie sich Stimmungen von Mensch zu Mensch verbreiten, gab es viel Empörung um die Frage, ob das Unternehmen die Gefühle seiner Nutzer »manipuliere«.7 Die tatsächliche Nutzung von Facebook änderte sich indessen kaum, und Facebook führte weiterhin ohne vorheriges Einverständnis seiner Nutzer Experimente durch, aus dem einfachen Grund, weil das Experimentieren ein wesentliches Element bei der Gestaltung von Online-Plattformen ist. Und 2015 startete Ant Financial, die Tochter des Internethandelsgiganten Alibaba, in China einen Pilotdienst namens Sesame Credit, der die Kreditwürdigkeit von Personen durch Analyse ihrer individuellen Transaktionen bewertet – so ungefähr, als würde die Kaufhistorie der Amazon-Kunden herangezogen, um zu entscheiden, ob sie sich für einen Kredit qualifizieren.8 Die Bonitätsbewertung wurde rasch in anderen Bereichen übernommen, zum Beispiel als zwar optionales, aber beliebtes Profilfeld einer chinesischen Dating-Plattform.9 Es gibt keine Bewegung, die für die Abschaffung von Mobiltelefonen, E-Mail-Adressen, Navigations-Apps, Konten bei sozialen Medien, Online-Handel oder anderen digitalen Dienstleistungen kämpft. Das Leben ist einfach bequemer mit diesen Technologien.

Der Schock, der in mich fuhr, als ich entdeckte, dass über mich eine Stasi-Akte geführt worden war, hätte mich in einen glühenden Eiferer für den Schutz der Privatsphäre verwandeln können. Weit gefehlt. Tatsächlich sind die Stasi-Unterlagen nichts im Vergleich zu dem, was ich tagein, tagaus freiwillig über mich selbst mitteile.

Seit 2006 veröffentliche ich auf meiner Website jede Vorlesung und Rede, die ich halten werde, und jeden Flug, den ich buche, bis hin zur Nummer meines Sitzplatzes.10 Ich tue dies aus der Überzeugung heraus, dass der reale, greifbare Mehrwert, den wir aus der Mitteilung von Daten über uns ziehen, die Risiken überwiegt. Daten eröffnen Chancen für Entdeckungen und Optimierung. Worauf es ankommt, ist, dass wir Wege finden, um zu gewährleisten, dass die Interessen derjenigen, die unsere Daten nutzen, mit unseren eigenen Interessen im Einklang stehen.

Wie können wir das erreichen? Indem wir verstehen, welche Daten gegenwärtig – und welche wahrscheinlich in naher Zukunft – geteilt werden und wie Datenfirmen unsere Daten analysieren und nutzen. Bei allem nötigen Respekt für Marshall McLuhan: Je mehr die Datenfirmen über jeden Einzelnen von uns speichern, desto stärker existieren wir, und desto mehr können wir über uns selbst erfahren. Die wahren Probleme bestehen darin, wie wir sicherstellen können, dass die Datenfirmen uns gegenüber so transparent sind wie wir gegenüber ihnen und dass wir ein Mitbestimmungsrecht erhalten, wie unsere Daten verwendet werden. Dieses Buch erklärt, wie wir beide Ziele erreichen können.

Anmerkungen

1 Marshall McLuhan mit Wilfred Watson, From Cliché to Archetype, Berkeley 2011, S. 13. Die erste Auflage des Buches erschien 1970.

2 Vgl. Helen Pidd, »Germans Piece Together Millions of Lives Spied on by Stasi«, The Guardian, 13. März 2011, https://www.theguardian.com/world/2011/mar/13/east-germany-stasi-files-zirndorf.

3 Vgl. John O. Koehler, Stasi. The Untold Story of the East German Secret Police, Boulder (CO) 1999, S. 8.

4 Vgl. Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik, »Was bedeutet eigentlich ›Stasi‹?«, http://www.bstu.bund.de/SharedDocs/FAQs/DE/00-was_bedeutet_stasi.html.

5 Vgl. Andrew Crocker, »EFF Case Analysis: Appeals Court Rules NSA Phone Records Dragnet Is Illegal«, Electronic Frontier Foundation, 9. Mai 2015, https://www.eff.org/deeplinks/2015/05/eff-case-analysis-appeals-court-rules-nsa-phone-records-dragnet-illegal.

6 David Kravets, »Worker Fired for Disabling GPS App That Tracked Her 24 Hours a Day«, ArsTechnica, 11. Mai 2015, http://arstechnica.com/tech-policy/2015/05/worker-fired-for-disabling-gps-app-that-tracked-her-24-hours-a-day/.

7 Den Experimenten sozialer Netzwerke widme ich in Kapitel 3 breiteren Raum. Vgl. Gregory S. McNeal, »Facebook Manipulated User News Feeds to Create Emotional Responses«, Forbes, 28. Juni 2014, http://www.forbes.com/sites/gregorymcneal/2014/06/28/facebook-manipulated-user-news-feeds-to-create-emotional-contagion; sowie Robert Booth, »Facebook Reveals News Feed Experiment to Control Emotions«, The Guardian, 29. Juni 2014, https://www.theguardian.com/technology/2014/jun/29/facebook-users-emotions-news-feeds.

8 Sesame Credit ist eines von acht Pilotprojekten, um die Kreditvergabe in dem Land bis 2020 auszuweiten. Vgl. Catherine Shu, »Data from Alibaba’s E-Commerce Sites Is Now Powering a Credit-Scoring Service«, TechCrunch, 27. Januar 2015, http://techcrunch.com/2015/01/27/data-from-alibabas-e-commerce-sites-is-now-powering-a-credit-scoring-service.

9 Celia Hatton, »China ›Social Credit‹: Beijing Sets Up Huge System«, BBC News, 26. Oktober 2015, http://www.bbc.com/news/world-asia-china-34592186.

10 Sie können meine vergangenen Aktivitäten unter http://weigend.com/past einsehen, meine künftigen unter http://weigend.com/future.

EINLEITUNG Die Datenrevolution

Wie können wir gewährleisten, dass Daten den Menschen zugutekommen?

»Jede Revolution war zuerst ein Gedanke im Kopf eines Menschen; und wenn derselbe Gedanke einem anderen Menschen kommt, ist er der Schlüssel zu diesem Zeitalter.« 11

Ralph Waldo Emerson

Um 6:45 Uhr morgens klingelt der Wecker meines Mobiltelefons. Begierig, den Tag zu beginnen, gehe ich mit meinem Handy in die Küche, während ich meine E-Mails und Facebook-Benachrichtigungen durchsehe. Die GPS- und WLAN-Adapter des Geräts registrieren jede Änderung meines Aufenthaltsorts, die Verlagerung meiner Position einige Meter nach Norden und Osten. Während ich mir eine Tasse Kaffee einschenke und richtig in Schwung komme, verzeichnet der Beschleunigungsmesser meines Handys, wie schnell ich gehe, das Barometer misst, wann ich die Treppe nach oben steige. Weil ich Google-Apps auf meinem Smartphone installiert habe, registriert Google all diese Daten.

Nach dem Frühstück bin ich bereit, mich auf den Weg zur Universität Stanford zu begeben. Die Elektrizitätsgesellschaft hat bei mir einen »intelligenten« Stromzähler eingebaut, der die Abnahme des Stromverbrauchs verzeichnet, wenn ich das Licht ausschalte und meine Mobilgeräte aus der Steckdose ziehe. Beim Öffnen der Garagentür erkennt der Zähler ihre spezifische Nutzungssignatur. So hat mein Stromanbieter, während ich den Wagen auf die Straße lenke, genug Daten, um zu wissen, dass ich nicht länger zu Hause bin. Wenn die Signale meines Handys von verschiedenen Mobiltelefonmasten erfasst werden, gilt dasselbe für meinen Telefonanbieter.

Unterwegs nimmt eine Kamera, die an einer Kreuzung installiert ist, ein Foto von meinem Nummernschild auf für den Fall, dass ich bei Rot über die Ampel fahre. Zum Glück beweise ich heute beste Manieren und werde daher in den nächsten Tagen kein Knöllchen in der Post finden. Doch auf meiner Fahrt wird mein Nummernschild wieder und wieder abgelichtet. Einige dieser Kameras gehören der Kommune, andere wurden von Privatfirmen angebracht, die mit den Daten Mobilitätsmuster analysieren – um sie an die örtliche Polizei, Erschließungsunternehmen, Stadtplaner und andere Interessenten zu verkaufen.

In Stanford angekommen, benutze ich die EasyPark-App auf meinem Handy, um meine Parkgebühr zu entrichten. Das Geld wird automatisch von meinem Bankkonto abgebucht, und die Parkraumverwaltung der Universität wird benachrichtigt, dass ich meine Schuld beglichen habe. So können sowohl die Uni wie meine Bank sehen, dass ich seit 9:03 Uhr auf dem Campus bin. Als mein Handy sich nicht mehr mit der Geschwindigkeit eines Autos bewegt, zieht Google daraus den Schluss, dass ich an dieser Stelle mein Auto geparkt habe, und speichert den Ort, damit ich es wiederfinde, falls ich später vergessen sollte, wo ich es abgestellt habe. Ich rufe die App meines Autoversicherers Metromile auf, die aus dem bordeigenen Diagnosesystem Daten über meine Fahrt gespeichert hat. Auf einen Blick sehe ich, dass mein Spritverbrauch heute weniger effizient war – 19 Meilen pro Gallone, umgerechnet knapp 12,4 Liter pro 100 Kilometer – und dass sich meine Benzinkosten für den Weg zur Arbeit auf 2,05 Dollar belaufen.

Nach meinem Tag in Stanford treffe ich mich mit einem neuen Bekannten in San Francisco. Wir haben uns »virtuell« kennengelernt, als wir beide einen Beitrag eines gemeinsamen Freundes auf Facebook kommentierten und jeder die Ansichten des anderen zum Thema mochte. Wie sich herausstellte, hatten wir über 30 gemeinsame Freunde auf Facebook, mehr als genug Gründe, uns einmal zu treffen.

Google Maps sagt voraus, dass ich um 19:12 Uhr am Wohnort meines neuen Bekannten eintreffen werde, und wie gewöhnlich ist die Vorhersage bis auf wenige Minuten korrekt. Zufällig wohnt mein Bekannter über einem Laden, der Tabakprodukte und diverses Zubehör für den Cannabiskonsum verkauft. Die Satellitenortung meines Handys unterscheidet jedoch nicht zwischen der Wohnung und dem Laden. Was meine Telefongesellschaft und Google angeht, habe ich meinen Tag mit einem Besuch im Kifferladen beendet – eine Tatsache, die sich beim Aufrufen des Wetterberichts vor dem Schlafengehen an den Werbeanzeigen offenbart, die Google mir dazu präsentiert.

Willkommen in der Datenrevolution.

Geben, um zu bekommen

Jeden Tag erzeugen über eine Milliarde Menschen soziale Daten wie die eben beschriebenen und teilen sie. »Soziale Daten«, das sind Daten über uns, etwa über unsere Bewegungen, unser Verhalten und unsere Interessen, ebenso wie Informationen über unsere Beziehungen zu anderen Menschen,Orten, Produkten und sogar Ideologien.12 Einige dieser Daten werden bewusst und bereitwillig geteilt, wenn man zum Beispiel bei Google Maps angemeldet ist und sein Ziel eingibt; für andere gilt das weniger, häufig, ohne dass wir groß darüber nachdenken, es ist einfach fester Bestandteil der Bequemlichkeit, die uns die Nutzung des Internets und mobiler Geräte verschafft. In einigen Fällen ist klar, dass die Mitteilung von Daten die Bedingung für eine Dienstleistung ist: Google kann Ihnen nicht die beste Route zeigen, wenn Sie nicht Ihren Stand- und Zielort verraten. In anderen Fällen steuern Sie vielleicht gern Informationen bei, zum Beispiel, wenn Sie den »Gefällt mir«-Knopf unter dem Beitrag eines Freundes betätigen oder die Arbeit einer Kollegin auf LinkedIn empfehlen, einfach weil Sie ihr die Hand reichen und sie in irgendeiner Weise unterstützen möchten.

Soziale Daten können hochpräzise sein, etwa unsere Position bis auf weniger als einen Meter genau angeben, häufig jedoch sind sie unscharf im Sinne von unvollständig. Zum Beispiel weiß mein Stromversorger, wann ich nicht zu Hause bin, aber sonst nichts – solange ich mich nicht bei der App anmelde, die den Stand meines Stromzählers anzeigt (zum Beispiel, um mich auf dem Weg zum Flughafen zu versichern, dass ich wirklich alle Lichter im Haus ausgeschaltet habe). Das ist eine grobe Information über meine Person, die von Nutzen für mich sein kann oder nicht. In ähnlicher Weise wurden, als ich meinen neuen Bekannten in San Francisco besuchte, zwar Längen- und Breitengrad genau übertragen, aber die daraus gezogenen Rückschlüsse über meine Aktivitäten an jenem Abend waren gänzlich falsch. Das ist sogar noch unschärfer, insofern die Daten den Anschein großer Exaktheit erweckten, aber zu einem erheblichen Teil auf Interpretation beruhten. Unscharfe Daten sind tendenziell unvollständig, fehleranfällig und – gelegentlich – durch Betrug verfälscht.13

Insgesamt wächst die Menge der sozialen Daten – ob passiv oder aktiv, erforderlich oder freiwillig, präzise oder unscharf – exponentiell. Heute beträgt die Zeitspanne, in der sich die sozialen Daten verdoppeln, 18 Monate. In fünf Jahren wird die Menge der sozialen Daten um etwa den Faktor 10 angeschwollen sein, oder eine Zehnerpotenz, nach zehn Jahren um einen Faktor von 100. Mit anderen Worten, die Menge der Daten, die wir im Laufe des gesamten Jahres 2000 produzierten, wird heute im Lauf eines Tages erzeugt. Bei unserer gegenwärtigen Wachstumsrate werden wir 2020 diese Menge in weniger als einer Stunde hervorbringen.

Es ist wichtig zu verstehen, dass »soziale Daten« nicht bloß irgendein schickes Modewort für soziale Medien ist. Viele soziale Medienplattformen wurden als Sender konzipiert. Im Fall von Twitter läuft die Kommunikation fast immer in eine Richtung, von der Berühmtheit, der Autorität oder dem Vermarkter zu den Massen. Soziale Daten sind weit demokratischer. Wir können über Twitter oder Facebook Informationen über uns selbst, unsere Firma, unsere Leistungen und Meinungen teilen, aber die digitalen Spuren, die wir hinterlassen, sind viel tiefer und breiter als das. Unsere Suchanfragen bei Google, unsere Einkäufe bei Amazon, unsere Skype-Anrufe, die minütlichen Ortungen unseres Mobiltelefons – all diese und noch viele weitere Datenquellen strömen zusammen und erzeugen ein einzigartiges Porträt von jedem Einzelnen von uns als Individuum.

Mehr noch, soziale Daten hören nicht bei uns selbst auf. Wir erzeugen und teilen Daten über die Stärke unserer Beziehungen zu Familie, Freunden und Kollegen vermittels unserer Kommunikationsmuster; wir erzeugen Daten an der Seite von Freunden und Fremden gleichermaßen – zum Beispiel, wenn wir ein Produkt beurteilen oder ein Foto auf Instagram markieren. Wir verifizieren unsere Identität, wenn wir ein Konto beim Unterkunftvermittler Airbnb eröffnen, indem wir in Ergänzung zu einem staatlichen Ausweis unser Facebook-Profil benutzen. Soziale Daten werden in Häuser mit intelligenten Thermostaten eingebettet, in Autos mit Navigationssystemen und an Arbeitsplätzen mit spezieller Software für die Gruppenarbeit. Solche Daten beginnen, eine Rolle in den Klassenräumen unserer Schulen und in Arztpraxen zu spielen. Während Mobiltelefone mit immer mehr Sensoren und Applikationen ausgestattet werden und neue Geräte anfangen, unser Verhalten daheim, beim Einkauf und auf der Arbeit zu protokollieren, kommt uns zunehmend die Fähigkeit abhanden, die Daten zu kontrollieren, die unsere alltägliche Routine beschreiben – ebenso wie unsere geheimsten Wünsche. Datenforscher werden zu Detektiven und Künstlern, indem sie aus den digitalen Spuren iterativ immer klarere Skizzen unseres menschlichen Verhaltens zeichnen.

Diese digitalen Spuren werden untersucht und destilliert, um unsere Vorlieben zu entdecken, Trends zu offenbaren und Vorhersagen zu treffen, unter anderem darüber, was ein Kunde vielleicht kaufen wird. Während meiner Zeit als Forschungsleiter von Amazon entwickelte ich zusammen mit Jeff Bezos die Datenstrategie und die kundenzentrierte Kultur des Unternehmens. Wir führten eine Reihe von Experimenten durch, um zu sehen, ob die Kunden glücklicher mit ihren Käufen waren, wenn ihnen Produktbeurteilungen von Redakteuren oder von Verbrauchern präsentiert wurden, und ob Empfehlungen auf Grundlage traditioneller demografischer Profile oder individueller Klicks erfolgreicher waren. Wir erkannten die Stärke echter Kommunikation gegenüber der Verkaufsförderung durch den Hersteller. Die Personalisierungswerkzeuge, die wir für Amazon schufen, veränderten grundlegend die Art, wie Menschen entscheiden, was sie kaufen, und wurden im elektronischen Handel zum Standard.

Seit meinem Fortgang von Amazon habe ich für Tausende von Studenten Seminare und Vorlesungen zur Datenrevolution gehalten und Studierende und Graduierte von Stanford und der Universität von Kalifornien, Berkeley, bis hin zu chinesischen Wirtschaftsstudenten an der Fudan-Universität, der China Europe International Business School in Schanghai und der Tsinghua-Universität in Peking unterrichtet. Außerdem leite ich weiterhin das Social Data Lab, eine Gruppe von Datenforschern und Vordenkern, die ich 2011 ins Leben gerufen habe. Im Lauf des letzten Jahrzehnts, bei meiner Arbeit für Unternehmen von Alibaba und AT&T bis Walmart und UnitedHealthcare sowie großen Fluglinien, Finanzdienstleistern und Dating-Websites, bin ich dafür eingetreten, die entscheidungsbildende Macht der Daten mit den Kunden und Nutzern zu teilen – mit gewöhnlichen Menschen wie Sie und ich.

Kein einzelner Mensch kann alle heute verfügbaren Daten durchforsten in dem Bestreben, über irgendeinen Aspekt seines Lebens eine, wie wir es früher genannt haben, »informierte« Entscheidung zu treffen. Doch wer wird Zugang zu den Werkzeugen haben, die notwendig sind, um den Nutzen von Daten im Dienst der Lösung unserer Probleme und Bedürfnisse auszuspielen? Werden die aus Daten extrahierten Vorlieben, Trends und Vorhersagen nur einer Handvoll Unternehmen zur Verfügung stehen, oder werden sie uns allen zur Nutzung bereitstehen? Welchen Preis werden wir zahlen, um die Dividenden unserer sozialen Daten einzustreichen?

Während wir den Wert sozialer Daten entdecken, müssen wir, wie ich glaube, unser Augenmerk nicht nur auf den Zugang richten, sondern auch aktiv werden. Wir stehen vor manchen Entscheidungen mehrmals am Tag, vor anderen nur ein Mal im Leben. Tatsächlich haben die sozialen Daten, die wir erzeugen, eine lange Haltbarkeit. Wie wir uns heute verhalten, mag Entscheidungen beeinflussen, die wir erst in späteren Jahrzehnten treffen. Nur wenige Menschen besitzen die Fähigkeit, alles, was sie tun, zu beobachten oder zu analysieren, welche Auswirkungen ihr Verhalten kurz- und langfristig auf sie haben wird. Die Analyse sozialer Daten wird es uns erlauben, die Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten besser zu identifizieren, aber die letzte Entscheidung muss bewusst fallen.

Was diese Technologien nicht vermögen, ist, darüber zu entscheiden, welche Art von Zukunft wir – als Einzelne oder Gesellschaft – möchten. Die in vielen Ländern geltenden Gesetze zum Schutz des Einzelnen vor Diskriminierung am Arbeitsplatz oder bei der Gesundheitsvorsorge gibt es vielleicht morgen nicht mehr – und in manchen Ländern bestehen sie nicht einmal heute. Angenommen, Sie vertrauen Ihre Besorgnis über einen zu hohen Cholesterinspiegel einer Gesundheits-App oder -Website an, um Ratschläge für eine bessere Ernährung und Fitnessprogramme zu erhalten. Könnte Ihre Besorgnis in irgendeiner Weise gegen Sie verwendet werden? Was, wenn es gesetzlich erlaubt wäre, Ihnen höhere Beiträge zu berechnen, falls Sie, nachdem Ihnen ein Katalog Ihrer Gesundheitsrisiken und Empfehlungen für ein gesünderes Leben präsentiert wurde, trotzdem nicht darauf verzichten möchten, frittiertes Essen zu genießen und sich auf dem Sofa zu fläzen? Was, wenn ein Manager mittels eines Dienstes das Netz nach Informationen über Sie absuchen lässt und dann, auf Grundlage seiner Erkenntnisse, beschlösse, dass Ihr Lebensstil nicht gut zu seinem Unternehmen passt und er Ihre Bewerbung daher nicht in Erwägung ziehen wird? Das sind reale Risiken.

Wären Sie selbst der einzige Mensch, der Daten über Sie erzeugt und teilt, wären Sie vielleicht in der Lage, Informationen zurückzuhalten, die Sie für riskant halten. Es würde Sie viel Bequemlichkeit kosten, aber es wäre möglich. Wir leben jedoch nicht in einer solchen Welt. Über einen großen Teil unserer Daten üben wir gar keine Kontrolle aus. Diese Tatsache wird greifbarer werden, wenn soziale Daten von Firmen und Regierungen immer stärker zur Verbesserung von Effektivität und Effizienz genutzt werden.

Weil soziale Daten so demokratisch sind, berühren die Fragen, wie man am besten mit ihnen umgeht, jeden Einzelnen von uns. Die Technologie schreitet schnell voran, und das Geschäft der Unternehmen, die unsere Daten sammeln und analysieren, besteht in erster Linie in der Erzeugung und Codierung von Information, nicht in der Schaffung und Kodifizierung von Prinzipien. Mit vielen dieser Fragen befasst man sich, wenn überhaupt, nur aus dem Stegreif. Wir sollten jedoch Entscheidungen über Prinzipien, die einen tiefgreifenden Einfluss auf unsere Zukunft haben, nicht in den Händen von Datenfirmen lassen.

Wir können zustimmen, dass all diese Daten gesammelt, kombiniert, angehäuft und analysiert werden, damit wir besser in der Lage sind, die Vor- und Nachteile unserer Entscheidungen abzuwägen. Bei der Bewertung des Pro und Kontra jeder wichtigen Entscheidung kommt es wesentlich auf die menschliche Urteilskraft an. Unser Leben sollte nicht von Daten getrieben sein, diese sollten uns vielmehr »ermächtigen«, uns handlungsfähiger machen.

Prinzipien für das Zeitalter nach dem Ende der Privatsphäre

Mit der Zeit ist uns die Rolle von Daten im Leben immer bewusster geworden, und es wurden mehrere Versuche unternommen, die Interessen der Bürger zu schützen. In den 1970er-Jahren entwickelten die Vereinigten Staaten und Europa weitgehend ähnliche Prinzipien für die faire Informationsnutzung. Den Bürgern wurde gesagt, dass sie das Recht haben zu erfahren, wer Daten über sie sammelt und wie diese Daten verwendet werden. Sie erhielten auch die Befugnis, unrichtige Daten zu ihrer Person zu korrigieren.14 Diese Datenschutzrechte sind in verquerer Weise sowohl zu stark wie zu schwach für die Welt der neuen Datenquellen und Datenanalytik, die heute errichtet wird.

Sie sind zu stark, weil sie auf der Annahme fußen, dass es möglich sei, alle Daten im Auge zu behalten, die über uns gesammelt werden. Amazon kann vielleicht in verständlicher Weise erklären, wie genau die persönlichen Daten, die das Unternehmen über uns sammelt, verwendet werden. Womöglich gelingt es dem Unternehmen sogar, dies in einer Weise zu tun, die uns zu besseren Entscheidungen verhilft. Aber all die zugrunde liegenden Informationen zu prüfen würde viel Zeit verschlingen. Wie viele von uns würden sich wohl die Zeit nehmen, alle relevanten Daten zu durchforsten? Wäre es nützlich für uns, wenn wir sehen würden, wie Amazon jede Einzelinformation gewichtet, oder würden wir eine Zusammenfassung vorziehen? 15

Gleichzeitig sind diese Schutzbestimmungen zu schwach, denn selbst wenn wir jede kleine Datenmenge über uns überprüfen könnten, die wir erzeugt und geteilt haben, werden wir kein vollständiges Bild der Daten über uns erhalten, weil dazu auch solche gehören würden, die andere – etwa unsere Familie, Freunde, Kollegen, Arbeitgeber – erzeugt und geteilt haben. Die Firmen, die wir im Internet besuchen, ebenso wie diejenigen, die wir in der physischen Welt aufsuchen, erzeugen ebenfalls Daten über uns (und geben sie zuweilen weiter). Das gilt für Fremde auf der Straße und eine Reihe anderer – öffentlicher oder privater – Organisationen und Firmen, mit denen wir interagieren. Wer entscheidet, ob diese Daten genau oder ungenau sind? Da Daten heute aus so vielen Perspektiven kommen, geht das Recht, die eigenen Daten zu berichtigen, nicht annähernd weit genug. Schließlich können selbst akkurate Daten gegen uns verwendet werden.

Angesichts der gewaltigen quantitativen und qualitativen Umbrüche in der Datenerzeugung, -kommunikation und -verarbeitung sind das Recht auf Kenntnis und das Recht der Berichtigung eindeutig ungenügend. Bislang haben sich Bemühungen, die entsprechenden Richtlinien zu aktualisieren, fast ausschließlich darauf konzentriert, die individuelle Kontrolle aufrechtzuerhalten und den Schutz der Privatsphäre zu garantieren.16 Leider ist dieser Ansatz aus Idealen und Erfahrungen hervorgegangen, die technologisch ein Jahrhundert veraltet sind. Die Kontroll- und Datenschutzstandards zwingen die Einzelnen auch zu unfairen Verträgen mit Datenfirmen. Wenn wir unsere Entscheidungen durch Daten verbessern möchten, müssen wir gewöhnlich zustimmen, dass unsere Daten zu den Bedingungen der sie erhebenden Firma gesammelt werden. Sobald wir dem zugestimmt haben, hat die Datenfirma der rechtlichen Anforderung Genüge geleistet, uns die individuelle »Kontrolle« zu geben, ganz gleich, ob wir wirklich eine große Wahl hatten oder welche Auswirkungen die Vereinbarung auf den Schutz unserer Privatsphäre hat. Wenn wir den Schutz unserer Privatsphäre wahren wollen, könnten wir stattdessen der Datensammlung die Zustimmung verweigern, würden damit aber auch den Zugang zu den relevanten Datenprodukten und -dienstleistungen aufgeben, wodurch wir den Mehrwert, den wir aus unseren Daten ziehen können, vermindern. Dann dürfen Sie Ihre individuelle Kontrolle genießen, haben aber kaum etwas davon.

Was wir heute brauchen, sind Standards, die es uns ermöglichen, die Risiken und Vorzüge des Datenteilens und -kombinierens einzuschätzen und ein Mittel an die Hand zu bekommen, um die Firmen zur Verantwortung zu ziehen. Nach zwei Jahrzehnten Arbeit für Datenfirmen bin ich überzeugt, dass die Prinzipien der Transparenz und selbstbestimmten Handlungsfähigkeit am vielversprechendsten sind, um uns vor dem Missbrauch sozialer Daten zu schützen, während sie gleichzeitig den Mehrwert steigern, den wir aus ihnen schöpfen können.

Transparenz umfasst das Recht der Einzelnen, von ihren Daten zu wissen, welcher Art sie sind, wohin sie fließen und wie sie zu dem Ergebnis beitragen, dass der Nutzer erhält. Beobachtet die Firma uns von der verborgenen Seite eines Einwegspiegels aus, oder öffnet sie uns ebenfalls ein Fenster mit Blick auf das, was sie mit unseren Daten anstellt, damit wir beurteilen können, ob (und wann) die Interessen des Unternehmens mit den unseren übereinstimmen? 17 Wie viele persönliche Daten müssen wir zur Verfügung stellen, um das Datenprodukt oder die Dienstleistung zu erhalten, die wir möchten? Historisch besteht eine starke Informationsasymmetrie zwischen den Einzelnen und den Institutionen, wobei der Vorteil auf Seiten der Institutionen lag. Nicht nur verfügen Institutionen über größere Fähigkeiten, Daten über uns zu sammeln, sie können auch Vergleiche unserer Daten mit denjenigen anderer anstellen. Für uns sollte es deshalb ein klar erkennbares Gleichgewicht geben zwischen dem, was wir hergeben, und dem, was wir dafür bekommen.

Betrachten wir, wie Transparenz zu einem festen Bestandteil des Einkaufserlebnisses von Amazon gestaltet wurde, im Vergleich mit der traditionellen Beziehung zwischen Kunde und Einzelhändler. Falls wir kurz vor dem Kauf eines Artikels stehen, sollte uns ein Händler daran erinnern, dass wir den gleichen Artikel bei ihm schon einmal gekauft haben, wodurch ihm womöglich ein Geschäft durch die Lappen ginge? Wenn Sie bei Amazon versuchen, ein Buch zu kaufen, das Sie dort bereits erworben haben, werden Sie mit der Frage begrüßt: »Sind Sie sicher? Sie haben diesen Artikel bereits am 17. Dezember 2013 gekauft.« Wenn Sie einen Song eines Musikalbums kaufen und dann beschließen, den Rest davon auch zu erwerben, wird Amazon »den Kauf abschließen«, indem es automatisch die Summe, die Sie bereits für das einzelne Lied ausgegeben haben, vom aktuellen Kaufpreis des Albums abzieht. Amazon offenbart und nutzt Daten über unsere Kaufhistorie in dieser Weise, weil das Unternehmen Wert auf zufriedene Kundschaft legt und Unzufriedenheit so weit wie möglich vermeiden will. Ebenso verschicken Vielfliegerprogramme eine Erinnerung, dass die angesammelten Meilen kurz vor dem Verfall stehen, statt sie still und leise aus den Büchern der Fluglinie zu tilgen.

Leider ist Transparenz bei weitem nicht die Norm. Nehmen wir eine allzu typische Erfahrung: einen Anruf bei Ihrem Lieblingskundendienst. Gleich am Anfang hören Sie unfehlbar die Warnung: »Dieser Anruf kann zum Zweck der Qualitätskontrolle aufgezeichnet werden.« Ihnen bleibt keine Wahl, Sie müssen die Bedingungen der Firma akzeptieren, wenn Sie mit einem ihrer Vertreter sprechen möchten. Na schön, aber warum steht diese Aufnahme nur der Firma zur Verfügung?Was bedeutet eigentlich »zum Zweck der Qualitätskontrolle«, wenn nur eine Seite der Unterhaltung Zugang zur getroffenen Vereinbarung erhält? Das Prinzip der Datensymmetrie würde auch uns, den zahlenden Kunden, Zugang zu der Aufnahme verschaffen.

Wann immer ich höre, dass mein Anruf aufgenommen werden könnte, erkläre ich dem Kundendienstmitarbeiter, dass auch ich den Anruf zum Zweck der Qualitätskontrolle aufnehmen könnte. Meistens willigen sie ein, gelegentlich jedoch hängt das Gegenüber auf. Natürlich könnte ich den Anruf auch ohne Einwilligung des Kundendienstmitarbeiters aufnehmen – was, wie ich anmerken sollte, mancherorts gegen das Gesetz verstößt. Dann könnte ich mich, falls ich die mir versprochene Dienstleistung nicht erhalte, mit dem Beweis in der Hand an einen Vorgesetzten wenden. Wenn auch das nichts fruchtet, könnte ich die Audiodatei ins Internet hochladen in der Hoffnung, dass sie sich viral verbreitet und die Firma sich genötigt sieht, die Sache rasch in Ordnung zu bringen – wie beim Kabelnetzbetreiber Comcast, als ein Kunde versuchte, den Dienst abzubestellen, aber ein ums andere Mal zurückgewiesen wurde, schließlich jedoch Erfolg hatte, nachdem seine Aufnahme auf Twitter einschlug.18

Man sollte nicht gezwungen sein, das Gesetz zu brechen, um gleiche Bedingungen für beide Seiten herzustellen. Damit Transparenz zur neuen Regel wird, brauchen wir mehr öffentliche Informationen, nicht weniger.

Aber Transparenz ist nicht genug, wir benötigen auch Handlungsfähigkeit.19Handlungsfähigkeit umfasst das Recht der Einzelnen, auf ihre Daten einzuwirken. Wie leicht wird es uns gemacht, die »Standardeinstellungen« der Datenfirma zu erkennen, und dürfen wir die Daten, aus welchen Gründen auch immer, verändern? Dürfen wir die Datenausgabe der Firma in irgendeiner Weise nach unseren Wünschen ändern, oder werden wir sachte (oder ruppig!) in Richtung einiger Optionen gedrängt – zumeist solche, die am besten für die Firma sind? Können wir mit den Parametern spielen und verschiedene Szenarien erkunden, um eine kleinere oder größere Bandbreite von Möglichkeiten anzuzeigen? Handlungsfähigkeit ist die Macht eines Einzelnen, freie Entscheidungen auf Grundlage der eigenen, durch Datenfirmen ermittelten Präferenzen und Muster zu treffen. Dazu gehört die Fähigkeit, von Datenfirmen die Bereitstellung von Informationen zu unseren eigenen Bedingungen zu fordern.

Auf einer fundamentalen Ebene bedeutet Handlungsfähigkeit, Menschen die Fähigkeit zu geben, für sie selbst nützliche Daten zu erzeugen. Amazon führte vorbehaltlos unzensierte Kundenrezensionen ein. Es spielte für das Unternehmen keine Rolle, ob die Rezensionen gut oder schlecht waren, ob sie fünf Sterne vergaben oder keinen, ob sie aus dem Wunsch heraus verfasst waren, die Zustimmung anderer zu gewinnen, oder um sich den lebenslangen Traum zu verwirklichen, Literaturkritiker zu werden. Was zählte, war ihre Relevanz für andere Kunden, die versuchten herauszufinden, was sie kaufen sollten. Rezensionen offenbarten, ob ein Kunde den Kauf bereute, auch wenn sie oder er den Artikel nicht zurückgegeben hatte. Diese Daten halfen Kunden bei der Entscheidung, ob ein empfohlenes Produkt die beste Wahl für sie war. Amazon gab den Kunden mehr Handlungsfähigkeit.

Viele Vermarkter sprechen von Zielgruppen, Marktsegmentierung und Konversion. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich möchte nicht segmentiert und zu einer Marketing-Zielscheibe werden, von einem Kunden in einen Käufer konvertiert und aus allen erdenklichen Perspektiven durchleuchtet und analysiert werden. Das sind keine Ausdrücke von Handlungsfähigkeit. Wir können nicht davon ausgehen, dass sich die Geschäftsführung jedes Unternehmens die Prinzipien von Transparenz und Handlungsfähigkeit von sich aus auf die Fahnen schreibt. Wir müssen außerdem noch über diese Prinzipien hinausgehen: Wir brauchen klar umrissene Rechte, die dabei helfen, Transparenz und Handlungsfähigkeit in fassliche, praktische Werkzeuge umzusetzen.

Wenn wir Datenfirmen dazu bringen können, einer Reihe von sinnvollen Rechten und Werkzeugen zuzustimmen, wird dies zu dem führen, was ich »Vorzeichenwechsel« nenne – die Umkehr der traditionellen Beziehungen zwischen Einzelnen und Institutionen. Amazons Entscheidung, Kunden einen Großteil der Inhalte über Produkte schreiben zu lassen, ist ein Vorzeichenwechsel, und die Datenrevolution wird noch viele weitere Gelegenheiten vergleichbarer Art bieten. Während die Einzelnen mehr Werkzeuge gewinnen, die ihnen helfen, bessere Entscheidungen für sich zu treffen, büßen die altmodischen Methoden des Marketings und der Manipulation an Effizienz ein. Vorbei die Zeit, in der Firmen ohnmächtigen Kunden diktieren konnten, was sie kaufen sollten. Bald werden diese umgekehrt den Unternehmen sagen, was sie für sie leisten und herstellen sollen. Mancherorts ist das schon heute der Fall.

Vorzeichenwechsel sind ein wichtiges Element der physikalischen Weltbetrachtung. Sie werden häufig mit Phasenübergängen assoziiert, wo eine Änderung einer externen Bedingung zu einem abrupten Wechsel der Stoffeigenschaften führt – zum Beispiel, wenn Wasser beim Kochen vom flüssigen in einen gasförmigen Zustand übergeht. Der Effekt anschwellender Datenmengen auf die Gesellschaft lässt sich mit der ansteigenden Hitze in einem physikalischen System vergleichen. Unter bestimmten Bedingungen – wenn Datenfirmen den Nutzern Transparenz und Handlungsfähigkeit bieten – wird sich ein Vorzeichenwechsel ereignen, der den Einzelnen gegenüber der Institution begünstigt; das heißt, er wird uns, den Kunden nutzen, nicht dem Unternehmen oder seinem Marketingleiter.

Wir, die Bürger, haben alle ein Interesse an der Datenrevolution. Und wenn wir von sozialen Daten profitieren möchten, müssen wir Informationen über uns teilen. Punkt. Der Mehrwert, den wir aus der Vergesellschaftung von Daten ziehen, nimmt häufig die Gestalt einer verbesserten Entscheidungsfähigkeit an, wenn wir Verträge aushandeln, Produkte und Dienstleistungen kaufen, einen Kredit aufnehmen, einen Job suchen, eine Ausbildung oder zusätzliche Gesundheitsversicherungen wählen oder uns ehrenamtlich in der Nachbarschaft engagieren. Der Preis, den wir bezahlen, und die Risiken, die wir eingehen, indem wir unsere Daten teilen, müssen durch die Vorteile, die wir erhalten, mindestens aufgewogen werden. Transparenz darüber, was Datenunternehmen in Erfahrung bringen und mit diesem Wissen unternehmen, ist von wesentlicher Bedeutung. Das Gleiche gilt für unsere Fähigkeit, über Datenprodukte und -dienstleistungen mitzubestimmen. Wie sollten wir denn andernfalls auch beurteilen können, ob das, was wir preisgeben, in einem angemessenen Verhältnis zu dem steht, was wir herausbekommen?

Eine Machtbalance herstellen

Information steht im Zentrum der Macht. Wer mehr Informationen hat als andere, zieht daraus fast immer einen Vorteil, wie der sprichwörtliche Gebrauchtwagenhändler, der einem nichts ahnenden Kunden eine Schrottkiste andreht. Heute, wo Kommunikation und Datenverarbeitung preisgünstig und allgegenwärtig geworden sind, gibt es viel mehr Daten – und ein weit größeres Risiko substanzieller Informationsungleichgewichte, da kein einzelner Mensch all die Daten, die es da draußen gibt, jemals in den Griff bekommen könnte.

Viele von den Daten, die erzeugt und geteilt werden, kreisen um unser persönliches Leben: wo wir leben, wo wir arbeiten, wohin wir gehen; wen wir lieben und wen nicht und mit wem wir unsere Zeit verbringen; was wir zu Mittag speisen, wie viel Sport wir treiben und welche Medikamente wir einnehmen; welche Geräte wir daheim nutzen und welche Themen uns bewegen. Unser Leben ist transparent für die Datenfirmen, die unsere Daten sammeln und analysieren, manchmal mit ihnen handeln und sie allzu häufig in Geiselhaft nehmen, um sie nach ihren eigenen Bedingungen allein zu nutzen. Wir müssen darüber mitbestimmen können, wie unsere Daten verändert, gehandelt und verkauft werden, und einen größeren Teil der Bedingungen festlegen können, wie sie genutzt werden. Beide Seiten – Datenerzeuger und Datenauswerter – benötigen Transparenz und Handlungsfähigkeit.

Dazu wird ein fundamentaler Wandel in der Art erforderlich sein, wie wir unsere Daten und uns selbst verstehen. Im ersten Kapitel erläutere ich mehrere der Wege, auf denen Firmen Daten analysieren, und verwende dazu die Metapher des »Raffinationsprozesses«, mit dessen Hilfe Unternehmen Rohdaten in Produkte und Dienstleistungen umwandeln. Dann, in Kapitel 2, wende ich mich den einzelnen Menschen und ihren Eigenschaften zu und wie die kumulativen digitalen Spuren unseres Lebens – unsere Suchhistorien, Klicks, Aufrufe, unser Tippen und Wischen – jede Illusion des Datenschutzes zunichtemachen, neue Konzepte der Identität schaffen und ehrliche Signale über unsere wahren Interessen aussenden, ob wir dies nun möchten oder nicht. Als Nächstes, in Kapitel 3, verlagere ich das Augenmerk vom Individuum auf die Verbindungen zwischen den Menschen und wie soziale Netzwerke im digitalen Zeitalter Vertrauen offenbaren und umformen. Kapitel 4 befasst sich sodann damit, wie unser Kontext in immer feinerer Auflösung aufgezeichnet wird, während zunehmend Sensoren aller Art – nicht nur Kameras – vernetzt und die von ihnen gesammelten Daten analysiert werden, um Rückschlüsse auf unseren Standort, unsere Gemütsverfassung und unser Aufmerksamkeitsniveau zu ziehen.

Auf dieser Grundlage lege ich die sechs Rechte dar, die meiner Meinung nach essenziell sind, um zu gewährleisten, dass in Zukunft die den Menschen gehörenden und von ihnen erzeugten Daten auch den Menschen zugutekommen. Zwei dieser Rechte – das Recht auf Datenzugang und das Recht zur Inspektion von Datenfirmen – dienen dem Zweck, die Transparenz zu erhöhen. Die übrigen vier Rechte zielen darauf, uns mehr Handlungsfähigkeit zu verschaffen durch das Recht, Daten zu ergänzen, das Recht, Daten zu verwischen, das Recht, mit Daten zu experimentieren, und das Recht, Daten zu portieren, also zu anderen Firmen mitzunehmen. Die Anwendung dieser Rechte auf unsere Daten und ihre Nutzung wird, wie wir im Schlusskapitel über die Realisierung dieser sechs Rechte sehen werden, Folgen haben für die Art, wie wir einkaufen, wie wir bezahlen und investieren, wie wir arbeiten, leben und lernen und wie wir die öffentlichen Ressourcen verwalten.

Wir stehen an einem Wendepunkt, wie die Beziehung zwischen den Menschen, die Daten erzeugen, und den Organisationen, die Datenprodukte und -dienstleistungen schaffen, definiert wird. Wir spielen nicht das alte Spiel besser, schneller und preisgünstiger, wir spielen ein qualitativ neues Spiel mit neuen Regeln, die von uns auch verlangen, die Beziehung zwischen Kunden und Händlern, Investoren und Banken, Beschäftigten und Arbeitgebern, Patienten und Ärzten, Studierenden und Lehrpersonal und Bürgern und Staat neu zu definieren. Es ist an der Zeit, Stellung zu beziehen und die Verwendung unserer Daten wirklich zu verstehen, damit wir uns die Vorteile dieser Entwicklung zunutze machen und ihre Folgen überwachen können. Dann können wir einschätzen, ob unsere Interessen mit denen der Datenfirmen übereinstimmen. Wie bei den meisten Technologien ist es nicht die Maschine, die alles verändert. Die Revolution wird stattfinden, wenn die Menschen die Maschine nutzen, ihre Erwartungen anpassen und in Reaktion ihre sozialen Normen verändern.

Die den Menschen gehörenden und die von den Menschen hervorgebrachten Daten können zu ihrem eigenen Nutzen sein – wenn wir uns der Herausforderung in angemessener Weise stellen. Ich lade Sie ein, bei dieser Revolution mitzumachen.

Anmerkungen

11 Ralph Waldo Emerson, The Prose Works of Ralph Waldo Emerson, Band 1, überarbeitete Ausgabe, Boston 1875, S. 220.

12 Ich gebe den Kurs mit dem Titel »The Social Data Revolution« (Die Datenrevolution) an der Universität Stanford seit 2008 und an der Universität von Kalifornien, Berkeley, seit 2011, doch das Konzept der »sozialen Daten« entwickle ich schon länger. In den frühesten Stadien waren soziale Daten lediglich Daten, die Menschen vergemeinschafteten, zum Beispiel Rezensionen auf Amazon und Posts in sozialen Medien.

13 Wer an einer ausführlicheren Erörterung unscharfer Daten interessiert ist, dem sei das Video eines Podiumsgesprächs auf der DataEdge-Konferenz 2013 der Universität von Kalifornien, Berkeley School of Information, empfohlen, das ich leitete: https://www.youtube.com/watch?v=BaWmQnkKrUg.

14 Der große Unterschied beim Datenschutz zwischen den Vereinigten Staaten und Europa betrifft die Art, wie die Bestimmungen durchgesetzt werden. In den USA wurde es den Unternehmen überlassen, ihre eigenen Regulierungsstellen zu schaffen, um die Privatsphäre von Privatpersonen zu schützen; in Europa sind die Bestimmungen branchenweit einheitlich. Vgl. Executive Office of the President, Big Data. Seizing Opportunities, Preserving Values, Mai 2014, S. 17 f., https://www.whitehouse.gov/sites/default/files/docs/big_data_privacy_report_may_1_2014.pdf.

15 Um einen Algorithmus zu verstehen, muss man gewöhnlich sehen, wie er reale Daten behandelt, idealerweise die eigenen Daten in Kombination mit den Daten anderer (was eine breitere Basis für Vergleiche schafft). Nach geltendem Recht dürfen die meisten Datenfirmen Ihnen nicht die Daten anderer ohne deren Zustimmung freigeben. Das begrenzt die möglichen Zugänge, um die Algorithmen in Ihrem Leben aufzuschlüsseln.

16 Vgl. zum Beispiel die vom Weißen Haus im Februar 2012 vorgeschlagene »Rechtecharta des Verbraucherdatenschutzes«, Executive Office of the President, Big Data, S. 19 f.

17 Ich bin Esther Dyson für diese Metapher des venezianischen Spiegels im Gegensatz zum Fenster zu Dank verpflichtet.

18 Falls Sie den Fall verpasst haben, können Sie den quälenden Anruf auf SoundCloud hören: Ryan Block, »Comcastic Service Disconnection (Recording Starts 10 Mins into Call)«, SoundCloud, 14. Juli 2014, https://soundcloud.com/ryan-block-10/comcastic-service.

19 Mein Freund Doc Searls, einer der Koautoren von Das Cluetrain-Manifest und Autor von The Intention Economy, tritt seit langem für die Handlungsfähigkeit der Kunden in den Beziehungen zu Unternehmen ein. Ich danke ihm für die begriffliche Anregung, subsumiert „Handlungsfähigkeit“ doch die Aspekte individueller Entscheidungsmacht, die in diesen Rechten repräsentiert werden.

1// WIE WIR DATENKUNDIG WERDEN Essenzielle Werkzeuge für den digitalen Bürger

Wie arbeiten Datenraffinerien – und was sind ihnen unsere Daten wert?

»Im 18. Jahrhundert zählte ein Mensch, der vertraute Stellen aus der Bibel oder einem Katechismus laut vorlesen konnte, als schriftkundig; heute würde jemand, der nicht mehr zuwege brächte als das, als funktioneller Analphabet eingestuft – unfähig, das Material zu lesen, das für das wirtschaftliche Überleben entscheidend ist.« 20

George Miller

Dass Daten den Menschen zugutekommen sollen, ist nicht irgendein hohles Schlagwort. Jeden Tag erhalten wir Datenprodukte und -dienstleistungen in Form von Ranglisten und Empfehlungen, die auf sozialen Daten basieren. An die Stelle der »Mad Men« 21 des Marketings, also der traditionellen Werbeleute, sind heute Datenforscher getreten, die über eine gewaltige Fülle verschiedenartiger digitaler Spuren, die tagtäglich von einer Milliarde Menschen hinterlassen werden, Algorithmen laufen lassen. Sogar noch wichtiger als das exponentielle Wachstum unserer Daten ist die Veränderung unserer Denkweise. Um uneingeschränkt an der Datenrevolution teilnehmen zu können, müssen wir unsere alte Haltung als passive »Konsumenten«, die akzeptieren, was immer man ihnen vorsetzt, überwinden und uns eine neue Denkweise zu eigen machen, indem wir uns als aktive Mitschöpfer sozialer Daten verstehen. Das Machtgleichgewicht zwischen Verkäufern und Käufern, Bankiers und Kreditnehmern, Arbeitgebern und Arbeitnehmern, Ärzten und Patienten, Lehrenden und Studierenden ist im Begriff, sich zu verschieben. In dieser Weise werden die Daten, die den Menschen gehören und von ihnen erzeugt werden, ihnen selbst zugutekommen.

Daten zum Wohl der Menschen: Das ist tatsächlich eine Forderung, die nicht wichtiger sein könnte. Daten sind der bedeutendste Rohstoff des 21. Jahrhunderts, Daten sind das neue Erdöl.22 Diese Analogie ist in vieler Hinsicht erhellend. Über ein Jahrhundert lang wurden unsere Wirtschaft und unsere Gesellschaft in starkem Maße von der Entdeckung des Erdöls und der Entwicklung von Techniken geformt, welche zur Förderung, Lagerung, zum Transport und zur Raffination dieses Rohstoffs dienen, um Produkte zu erzeugen, die von allen Menschen auf diesem Planeten genutzt werden. Heute verändert die Fähigkeit, Rohdaten in Produkte und Dienstleistungen umzuwandeln, unser Leben in einer Weise, die in ihrer Tragweite mit der industriellen Revolution wetteifern wird.

Rohöl kann nicht in seiner Rohform genutzt werden. Es muss zu Benzin, Plastik und vielen anderen chemischen Produkten raffiniert werden. Raffiniertes Öl wiederum war und ist vielfach bis heute der Treibstoff für die Maschinen des Industriezeitalters und spielt eine Rolle bei der Herstellung der meisten physischen Produkte der modernen Wirtschaft. In ähnlicher Weise sind Rohdaten für sich genommen ziemlich nutzlos. Der Wert von Daten wird erst von den Raffinerien geschaffen, die sie sammeln, analysieren, vergleichen, filtern und neue Datenprodukte und -dienstleistungen vertreiben. Statt den Apparat der industriellen Revolution zu befeuern, treiben veredelte Daten den Apparat der Datenrevolution voran.

Zum Glück unterscheiden sich Daten von Erdöl in grundlegender Weise. Die Ölmenge auf der Welt ist begrenzt, und je weniger von dieser Ressource übrig ist, desto stärker klettern die Kosten für ihre Erschließung in die Höhe. Im Gegensatz dazu nimmt die Menge der erzeugten Daten zu, während die Kosten der für Kommunikation und Verarbeitung nötigen Technologie sinken. Bis Ende 2015 besaßen über 50 Prozent der Erwachsenen ein Smartphone.23 Ein durchschnittlicher Amerikaner verbringt durchschnittlich zwei Stunden pro Tag an seinem Handy.24 Schätzungen zufolge berühren wir unsere Handys zwischen 200 und 300 Mal pro Tag – das ist mehr, als die meisten von uns ihren Partner während eines ganzen Monats berühren.25 Und jedes Mal, wenn wir unser Handy benutzen, erzeugen wir Daten. Im Gegensatz zu Erdöl werden uns die Daten niemals ausgehen.

Unsere Nutzung des Erdöls ist beschränkt durch die Tatsache, dass es knapp ist und ein physikalischer Stoff; unsere Datennutzung muss dem Umstand Rechnung tragen, dass Daten heute in Hülle und Fülle verfügbar und digital sind. Nur jeweils eine Instanz besitzt das Zugriffsrecht auf einen Lagerbestand von Erdöl oder ein daraus raffiniertes Produkt, während viele gleichzeitig auf einen Datenbestand zugreifen und viele verschiedene Produkte daraus erzeugen können. Unsere Gesetze und sozialen Normen gründen auf der Vorstellung, dass Waren ein knappes Gut sind. Zum Beispiel erfanden die Menschen in Abwesenheit reichlich vorhandener Daten die Versicherung – ein Weg, um uns gegen die Kosten und Folgen von Schadensfällen und schrecklichen Ereignisse zu schützen, die uns im Leben widerfahren können. Weil man unmöglich die Wahrscheinlichkeit kennen konnte, mit der eine bestimmte Person Opfer eines Einbruchs wird oder vom Arzt die Diagnose Diabetes erhält, teilten die Versicherungsgesellschaften die Menschen in Gruppen ein, auf die das Risiko verteilt wurde, und berechneten jedem Mitglied für die Versicherung einen durchschnittlichen Tarif. Angesichts der wachsenden Datenproduktion wird es bald möglich werden, individuelle Risikovorhersagen zu treffen – und dann auch individuelle Tarife zu erhalten. Wir können unsere Augen davor verschließen und so tun, als gäbe es die Daten nicht, oder wir können anerkennen, dass sie existieren, und darüber nachdenken, wie dies unsere Art zu leben verändern könnte. Welche Art von Welt möchten wir mit dieser neuen Ressource schaffen?

Neue Technologien können uns zu größerer Handlungsfähigkeit und Verfügungsgewalt über unser Leben verhelfen, wenn wir die Werkzeuge besitzen, sie zu nutzen. Bevor Gutenberg den Buchdruck erfand, waren Bücher knapp, und die Weitergabe von Neuigkeiten an ein weit verstreutes Publikum war kostspielig. Die Mehrheit der Bevölkerung zog keinen Nutzen daraus, viele Stunden mit dem Erlernen des Lesens zu verbringen. Vor Erfindung des Internets schrieb George Miller, damals Psychologieprofessor an der Universität Princeton, über moderne Standards der Lese- und Schreibkundigkeit. Er war besorgt, dass zu viele Schüler die Schule verließen, ohne das erforderliche fortgeschrittene Niveau der Lesefähigkeit und die notwendigen mathematischen und naturwissenschaftlichen Kenntnisse erlangt zu haben, um in der von der »Wissensindustrie« beherrschten Gesellschaft noch einen Job zu finden.26 Heute gibt es, wie ich glaube, ein weiteres, ebenso dringliches Erfordernis: Datenkundigkeit – Fähigkeiten wie das Verständnis, wie Datenraffinerien arbeiten, welche Parameter verändert und nicht verändert werden können, die Fähigkeit, Fehler zu interpretieren und Unsicherheit zu verstehen, sowie das Bewusstsein der möglichen Konsequenzen, die das Teilen unserer sozialen Daten nach sich ziehen kann. Solche Datenkundigkeit ist notwendig in einer Welt, in der wir uns bei den meisten unserer Entscheidungen von den Empfehlungen und Analysen von Datenraffinerien leiten lassen werden.

Der Prozess der Datenveredelung

Es ist nicht überraschend, dass eine der ersten bedeutenden Datenraffinerien, Amazon, im Einzelhandelssektor tätig ist. Um als Einzelhändler erfolgreich zu sein, muss man wissen, welche Produkte man für seine wahrscheinlichen Kunden ins Sortiment nehmen und vorrätig halten muss, und dazu gehört, laufend Daten über Lagerbestände, Preise, Werbung und Kaufgewohnheiten der Kundschaft auszuwerten.

Vor 200 Jahren bestand das Gros der Daten eines Ladenbesitzers im Inventar der Waren in seinen Regalen und dem Geld in seiner Kasse, eine Summe, die am Ende eines jeden Tages mit dem Federhalter in ein papiernes Journal eingetragen wurde. Standen die Kunden vor ähnlichen Produkten mit vergleichbaren Preisen, mussten sie ihre Kaufentscheidung nach der Glaubwürdigkeit der Produktversprechungen, der Attraktivität der Verpackung und der Autorität der Nachbarn, Familienmitglieder und Freunde treffen. Vor etwa 150 Jahren beglückten einige Firmen – am bekanntesten Montgomery Ward und Sears & Roebuck Company – ihre Kunden in den Kleinstädten ganz Amerikas mit Katalogen, in denen über zehntausend Waren verzeichnet waren, die man sich mit der Post nach Hause bestellen konnte. Diese innovativen Unternehmen wussten, welche Artikel ein bestimmter Kunde bestellte und wohin er sie sich schicken ließ, und sie sahen, welche Produkte sich in welchen Regionen gut verkauften. Vor 100 Jahren eröffneten die Versandhändler Ausstellungsräume und Läden und beschäftigten eine Armee von Auswertern, die alte Verkaufsdaten durchforsteten und daraus die künftige Verbrauchernachfrage prognostizierten, um ihre Lagerbestände kosteneffizient zu verwalten.27 Vor 50 Jahren änderte sich die Einzelhandelslandschaft abermals. Die Versandhändler und ihre Verkaufsstellen vor Ort konnten die amerikanischen Kunden besser charakterisieren, indem sie sich des neu eingeführten Postleitzahlsystems bedienten.28 In den folgenden Jahrzehnten gewannen die Unternehmen detaillierte demografische Erkenntnisse über die Menschen, die in diesen geografischen Einheiten lebten. Die Einführung von Kreditkarten in den Vereinigten Staaten Mitte der 1960er-Jahre bot gleichzeitig eine Methode zur effizienten Sammlung von Transaktionsdaten individueller Kunden – das Maximum personalisierter Datenerhebung vor dem Internet, durch das die Firmen herausbekamen, wer wo lebte und wo wie viel ausgab.

Der Datenhändler Acxiom, gegründet 1969, und andere Unternehmen sezierten die Daten der Haushalte bis ins Kleinste, beleuchteten sie von allen Seiten und gruppierten die Einzelnen zu Konsumentensegmenten wie »gut gebildete Mittelschichtfamilien und Eigenheimbesitzer« (»Apple Pie Families«), »reiche Vorstadtvillenbewohner« (»Blue Blood Estates«), »waffentragende Pick-up-Fahrer« (»Shotguns and Pick-ups«) oder »Vorstadtmütter mit viel Zeit für die Kinderbetreuung« (»Suburban Soccer Moms«) – neben mehreren Dutzend weiteren Etikettierungen.29 Diese Klassifizierungen – manche davon noch krassere Stereotype – wurden entwickelt, als Datenhändlern nicht mehr zu Gebote stand als behördliche Informationen und gekaufte Adressenlisten.30 Solche Datenhändler konnten zum Beispiel Bewertungen von Immobilien im Bereich einer bestimmten Postleitzahl nachsehen und in Erfahrung bringen, welcher Eigenheimbesitzer einen Swimmingpool besaß. »Segmentierungsmarketing« war zu einer Zeit, wo Konsumentendaten rar waren, für die Einzelhändler ein Segen. Zur Jahrtausendwende war Acxioms Jahresumsatz auf etwa eine Milliarde Dollar gestiegen.31

Es lag für die Datenhändler auf der Hand, die Möglichkeiten zu erkunden, die in der Ausweitung ihrer Segmentierungsanalyse auf den Online-Handel winkten. Ein Jahr bevor ich zu Amazon stieß, wurde ich von Acxiom gebeten, mit einem Team zu untersuchen, wie sich ihrer nach Postleitzahlen und Haushalten gegliederten Datenbank eine digitale Komponente hinzufügen ließe. Das große Problem der Acxiom-Manager war, wie man einem bestehenden Haushaltsdatensatz die richtige E-Mail-Adresse zuordnen sollte. Während Acxiom überlegte, einen kleinen Schritt zu tun – die Hinzufügung eines neuen Datenfelds in ihrer Datenbank –, standen Amazon und andere Firmen kurz vor einem Riesensprung nach vorn – hinein in die Fülle der sozialen Daten. Ich erinnere mich lebhaft, wie ich Acxioms Managern – sechs Jahre vor Erscheinen des ersten iPhones – zu erklären versuchte, dass Unternehmen bald in der Lage sein würden, viel mehr in Erfahrung zu bringen als das demografische Profil eines Haushalts. Einzelhändler würden die Fähigkeit gewinnen, jede Internetsuche, jeden Klick und jeden Einkauf nachzuverfolgen und jeden stehen gelassenen virtuellen »Einkaufswagen« zu erfassen. Im Besitz solcher Daten konnten die Firmen tatsächlich beginnen, ihre Produkte und Dienstleistungen an einzelne Kunden zu vermarkten – das heißt an Kundensegmente in einer Größe von einer Person.32

Amazon wird manchmal »der Allesverkäufer« genannt wegen seines Bestrebens, schier alles im Sortiment vorzuhalten, aber man könnte das Unternehmen auch, und mit noch größerem Recht, als »Allesspeicher-Geschäft« bezeichnen angesichts seiner Leidenschaft, noch die kleinsten Datenmengen über seine Kunden und Produkte zu speichern.33 Da Amazon Hunderte von Millionen Artikel vertreibt, kann es uns nicht jedes Produkt im Angebot zeigen. Die schiere Größe seines digitalen Inventars erlaubt es nicht, Seite für Seite durch den gesamten Katalog des Unternehmens zu blättern. Und wenn wir Amazon nicht sagen, wonach wir suchen, hat die Firma keine Möglichkeit, uns über passende lieferbare Produkte zu informieren. Wir müssen daher erst Daten einspeisen, um so eine Rangliste von Suchergebnissen zu erhalten. Wir haben folglich nicht länger die Option, unsere Interessen für uns zu behalten, bis wir die Kasse erreichen.

Als ich 2002 zu Amazon kam, bestand eines unserer Ziele darin, über die Ebene der Postleitzahlen hinauszugehen und jede Interaktion unserer Kunden mit der Website in vollem Umfang zu nutzen. Mein Team und ich identifizierten, ausgehend von einer Reihe von Fragen, 500 persönliche Attribute für jeden Nutzer. Machte zum Beispiel die Entfernung zwischen der Versandadresse und dem nächsten Buchladen oder der nächsten Einkaufsmeile einen Unterschied, wie häufig ein Kunde bei Amazon einkaufte oder wie viel er oder sie ausgab? Besaß die Wahl der Kreditkarte eines Kunden irgendeine Vorhersagekraft hinsichtlich ihres oder seines künftigen Kaufmusters? War ein Kunde, der in zwei oder mehr Kategorien einkaufte, in jedem gegebenen Jahr für Amazon in Verkäufen mehr wert als jemand, der nur Bücher kaufte? Ordern Kunden am Tag andere Artikel als am Abend? Unsere Analysen bildeten die Grundlage vieler Entscheidungen des Unternehmens, zum Beispiel, ob ein Dollar für das Marketing oder für Preisnachlässe verwendet werden sollte.

Unsere Analysen halfen auch zu bestimmen, was den Kunden gezeigt werden sollte, während sie sich zum Kauf entschieden. Wir entdeckten, dass die Kaufhistorie eines Kunden häufig weniger Vorhersagekraft besaß, wie wahrscheinlich ein Produkt gekauft wurde, als die Beziehung des Produktes zu anderen Artikeln. Es gibt unterschiedliche Beziehungen zwischen Artikeln, die sich in verschiedener Weise kalkulieren lassen. Auf ähnliche Produkte lässt sich durch Vergleich der Spezifikationen oder Analyse der Überlappungen von Wörtern in der Artikelbeschreibung schließen, aber die wichtigsten Daten zur Empfehlung waren, wie häufig zwei Produkte zusammen gekauft oder angesehen wurden. Wenn es ein Muster gab, dass Kunden zwei Artikel zusammen kauften, wurden diese Produkte als Ergänzungen markiert. Gab es ein Muster, dass Kunden zwei ähnliche Artikel in derselben Einkaufssitzung anklickten, wurden die Produkte als mögliche Substitute markiert. Wenn Kunden einen Artikel ansahen, wurden die Anfragen, Klicks und Käufe früherer Kunden kombiniert und analysiert, um Substitute vorzuschlagen (»Welche anderen Artikel kaufen Kunden, nachdem sie diesen Artikel angesehen haben?«) sowie Ergänzungen (»Kunden, die diesen Artikel kauften, kauften auch …«). Genauso hilfreich war jedoch die Destillierung dieser Nutzerdaten zu einer Zusammenfassung des Entscheidungsprozesses durch Mitteilung des Prozentsatzes von Leuten, die ein Produkt angeklickt und dieses (oder ein Substitut) schließlich gekauft hatten.

So entwickelte Amazon sein Empfehlungssystem mittels aggregierter Klick- und Kaufdaten. Es baute außerdem eine Plattform, über die auch Drittanbieter ihre Produkte auf der Website verkaufen konnten, und bot in seinen Lagerhallen Platz für die Produkte dieser Firmen an, was das Universum der zur Analyse zur Verfügung stehenden Daten noch zusätzlich erweiterte. Statt zig Verbrauchersegmente zu definieren – die typischen »Vorstadtmütter mit viel Zeit für die Kinderbetreuung« und die »waffentragenden Pick-up-Fahrer« der Versandkataloge –, konnte Amazon auf die kleinste Segmentgröße eingehen und die sich wandelnden Bedürfnisse und Interessen jedes Einzelnen reflektieren.34

Daten zu speichern war für sich genommen nicht revolutionär. Was Amazon zu etwas Besonderem machte, war das Bestreben, Daten in einer Weise zu raffinieren, die den Kunden auf Grundlage ihrer eigenen Interessen, Vorlieben und aktuellen Situation ihre Kaufentscheidung erleichterte. Doch zu viel Personalisierung kann Kunden auch abschrecken. Der Journalist Charles Duhigg von der New York Times führte das wunderbare Beispiel einer Jugendlichen an, deren Einkäufe die Algorithmen des US-Einzelhändlers Target dazu veranlassten, ihr Werbung für Mutterschaftsprodukte zukommen zu lassen. Der Vater war außer sich. Ein paar Tage später gestand ihm seine Tochter jedoch, dass sie schwanger war. Targets Algorithmen hatten recht gehabt.35

Amazon veränderte das Marketing, indem es alle Daten nutzte, die Kunden bei ihren Interaktionen mit der Website erzeugten. Es gab den Kunden auch die Fähigkeit, Daten in Form von Produktbewertungen zu schaffen. Dieses Experiment stellte das traditionelle Marketing mit seiner Betonung von Markenkontrolle und Produktkommunikation auf den Kopf. Die Kunden teilten bereitwillig ihre Erfahrungen mit anderen Kunden und vertrauten den Beurteilungen anderer Kunden häufig mehr als den Beschreibungen von Herstellern, Vermarktern und Verkäufern. Wenn viele einem Artikel eine niedrige Bewertung gaben, spielte es keine Rolle, wenn eine Expertin oder ein Mitarbeiter große Stücke darauf hielt. Dass es Kunden ermöglicht wurde, Beurteilungen zu schreiben, erhöhte außerdem deutlich das Informationsangebot über alles, was beim Allesverkäufer angeboten wurde, und setzte die Kundschaft in die Lage, ein ganzes Spektrum von Meinungen zu lesen, nicht nur die einer einzelnen Person. Schließlich trennte sich Amazon von seinem Redaktionsteam und setzte seine Ressourcen zur Entwicklung von Algorithmen ein, um die nützlichsten Kundenbewertungen auf jeder Produktseite zuoberst zu platzieren. Ein für Technologie und Daten ausgegebener Dollar verbesserte das Einkaufserlebnis der Kunden mehr als einer, der für die Pflege der Website aufgewendet wurde.

Amazons Datenraffinerie hat das Einkaufsverhalten von einer Milliarde Menschen verändert. 2015 begann beinahe die Hälfte aller Interneteinkäufe in den Vereinigten Staaten mit einer Suche bei Amazon.36

Genauso wie wir nicht die interne Komplexität eines Verbrennungsmotors kennen müssen, um ein Auto zu fahren, müssen wir nicht jede komplexe Windung eines Amazon-Algorithmus begreifen, um ein zu unseren Interessen und Bedürfnissen passendes Produkt zu finden. Wichtiger ist, dass wir die grundlegenden Mechanismen verstehen, wie die Maschine arbeitet, und Regeln aufstellen, um sie sicher zu betreiben. Während wir Daten aus immer mehr Quellen und Sensoren erzeugen und teilen, können wir entweder untätig zuschauen und andere über die Bedingungen ihrer Nutzung entscheiden lassen – 20 Textseiten Nutzungsbedingungen, die wir am Bildschirm durchblättern, um dann unbekümmert auf »Annehmen« zu klicken –, oder wir können uns dafür entscheiden, neue Normen der Partizipation festzulegen. Wir können Datenveredler als undurchschaubare Mysterien behandeln, oder wir werden datenkundig und fordern sinnvolle Wege, um die Datenverarbeiter zu beeinflussen, damit das, was wir dafür hergeben müssen, auch den Mehrwert lohnt, den wir von ihnen bekommen.

Was sind unsere Daten wert?

Wir verlassen uns bereits heute bei vielen alltäglichen Entscheidungen auf soziale Daten, zum Beispiel, wenn wir beschließen, ein Produkt bei Amazon zu kaufen, oder wenn wir ein Restaurant suchen und anschließend ermitteln, wie wir dorthin kommen. Da soziale Daten in immer mehr Bereichen unseres Lebens entstehen, werden wir zunehmend von Datenraffinerien abhängig sein, die uns bei einigen der größten Entscheidungen im Leben helfen: wen wir als Lebenspartner wählen, wo und wie wir arbeiten, welche Medikamente wir nehmen und wie und was wir lernen und studieren.

In vielen Fällen erweist sich der wahre Wert der Daten, die wir erzeugen, erst dann, wenn wir sie mit den Daten anderer vergleichen. Da sich die Datenmenge, die den Raffinerien zur Verfügung steht, exponentiell vergrößert, können wir nun hoffen, Antworten auf viele Fragen zu erhalten, von denen wir nie zuvor erwartet hätten, dass sie sich jemals würden beantworten lassen. Vielleicht lassen wir uns sogar zu fruchtbaren neuen Fragen inspirieren, die uns zuvor nie in den Sinn gekommen wären.

Algorithmen finden Muster, die Menschen ohne Computer nicht sehen können. Solche Muster können uns Orientierung bei unseren Entscheidungen geben. Der Mehrwert, den wir erhalten, wenn wir unsere Daten mit einer Raffinerie teilen, bemisst sich danach, wie nützlich ihre Angebote für unsere Entscheidungsfindung sind, ob wir nun Verträge aushandeln, Produkte und Dienstleistungen einkaufen, einen Kredit beantragen, nach einem Job suchen, Gesundheitsdienstleistungen oder Bildungsangebote für uns oder unsere Familien in Anspruch nehmen oder für mehr Sicherheit in unseren Gemeinden und bessere öffentliche Dienstleistungen sorgen möchten.

Darüber nachzudenken, wie die Erzeugnisse einer Datenfirma uns nützen, markiert einen bedeutenden Wandel in der gewohnten Debatte, wie, wann und warum Unternehmen und Regierungen unseren »digitalen Ausstoß« sammeln – also die Daten, die wir tagein, tagaus erzeugen. Manche argumentieren, dass heute längst zu viele Daten gesammelt werden und es am besten wäre, wenn die Menschen weniger über sich mitteilen würden – oder sich für die Daten, die sie erzeugen und teilen, bezahlen ließen. Unser Fokus auf das, was wir selbst einspeisen, verstellt uns jedoch den Blick auf die möglichen Vorteile. Ich bin der Meinung, wir sollten im Tausch gegen unsere Rohdaten etwas weitaus Wertvolleres fordern als ein geringfügiges Entgelt: Wir sollten einen Platz an den Kontrollpulten der Datenraffinerien verlangen – um die Chance zu erhalten, ihre Erzeugnisse nach