Deathbound - Jessica Iser - E-Book

Deathbound E-Book

Jessica Iser

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Beschreibung

* Nominiert für den SERAPH 2022: "Bester Independent-Titel" * Sterben ist ihr Schicksal. Töten ist seine Bestimmung. Sie sind durch den Tod verbunden. Niemand überlebt die Begegnung mit einem Todbringer. Doch als Letifer das Leben der jungen Alys verschont, ahnt er noch nicht, welchen Sog aus Leidenschaft, Hexerei und Gewalt er damit entfesselt. Denn er ist nicht der einzige Todbringer - und Alys nicht die, für die sie sich ihr Leben lang gehalten hat. Während ihre Welt aus den Fugen gerät, muss sie erkennen, dass der Eingriff in ihr Schicksal finstere Konsequenzen hat. Der Überlebenskampf beginnt ... Ist Liebe wirklich stärker als der Tod?

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Inhaltsverzeichnis

ImpressumProlog1. Der Wandel2. Auf der Schwelle3. In den Schatten4. Die Augen der Nacht5. Der zweite Mond6. Todgeweihte7. Vom Erinnern und Vergessen8. Im Auge des Sturms9. Umarmung des Todes10. Cirrhol11. Blut und Erde12. Hexenprozess13. Kalte Gräber14. Oktobermond15. Heimgesucht16. Heimkehr17. Abendlied18. Herr der Finsternis19. Zum klappernden Krug20. Feuer und Blut21. Requiem22. Orcus23. Der Hirte24. ExitusEpilogDanksagungÜber die AutorinInhaltswarnungen

Sämtliche Figuren dieses Romans sind frei erfunden. Alle Ähnlichkeiten mit lebenden und verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Lektorat: Melina Conigliowww.melinaconiglio.de

Korrektorat: Lily Magdalenwww.lily-magdalen.de

Satz: Sabrina Milazzowww.design.sabrinamilazzo.net

Illustrationen: Jessica Iserwww.jessicaiser.de

Covergestaltung: Désirée Riechertwww.kiwibytesdesign.com unter Verwendung von Adobe Stock © Kevin Carden, #126776830 © sema_srinouljan, #182702340 © ddukang, #212224815

© 2021 Jessica Iser

Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand, Norderstedt ISBN: 9783754329719

Achtung! »Deathbound« enthält Schilderungen, die ggf. Reizauslöser für Betroffene sein können. Eine alphabetische Auflistung der Inhaltswarnungen findet sich auf der letzten Seite des Buches.

Für den Grünen Mann Peter Steele.

Prolog

Eine kalte Nebelhand legte sich um Leifs Nacken, als er das Haus verließ. Er schauderte bei der flüchtigen Berührung des dichten Schleiers, der ihn umgab.

In der nächtlichen Stille fiel die Tür hinter ihm etwas zu laut ins Schloss, und ein Fluch entfuhr dem alten Weingärtner. Schwer atmend sah er sich um, aber das Dorf ließ sich nicht bei seinem Schlummer stören. Hinter den beschlagenen Fenstern der umliegenden Häuser blieb es dunkel. Die einzige Bewegung kam von dem Nebel, der die Stadtmauern Kralls bedrängte und im schwachen Mondlicht grünlich über den Sümpfen schimmerte. Die Kröten überboten sich mit ihrem Quaken, eine vertraute Geräuschkulisse.

Leif zog sich die Hutkrempe tiefer in die Stirn und ging mit wackeligen Beinen um seine Hütte herum, wo bereits sein Pferd mitsamt der Kutsche auf ihn wartete. Der Rappe schnaubte leise, als er seinen Herrn erblickte. Das Tier wirkte unruhig, woraufhin Leif ihm die Nüstern tätschelte.

»Ganz ruhig, alter Junge«, murmelte er. Er musste aufstoßen und blinzelte ein paar Mal, bis die Welt vor seinen Augen wieder stillstand. Verdammter Alkohol. »Bald wird es hell. Wir machen uns früh auf den Weg durch den Wald, dann sind wir heute Abend ganz sicher auf der anderen Seite im Städtchen.«

Leif warf einen prüfenden Blick auf die kostbare Ware in seinem Kutschwagen. Gekelterter Wein, den er in seinem eigenen Garten anbaute und von dessen wohlschmeckender Note er sich nur zu gern selbst überzeugte. Die Fässer verkaufte er für gutes Geld in den nächstgelegenen Orten weiter. Doch dafür musste er den Ewigen Wald durchqueren – ein Unterfangen, das die meisten Dorfbewohner scheuten.

»Dann los«, sagte Leif mehr zu sich selbst als zu seinem Pferd und hievte sich auf den Kutschbock. Mit einem Schnalzen ließ der Winzer die Zügel knallen und fuhr über die gepflasterte Hauptstraße zum Stadttor hinaus. Die schützenden Mauern blieben hinter ihm zurück und schier undurchdringlicher Nebel empfing ihn.

Zieht Nebel übers nächtlich’ Land, nimmt der Tod die Sense in die Hand, schoss es dem alten Mann durch den Kopf.

In Krall galten neblige Nächte als ein böses Omen. Und zu Recht ängstigten sich die Menschen, die dort lebten. Mehrmals im Jahr, wenn es von den Sümpfen besonders stark nebelte, brach der Tod über sie herein, schlich sich an, ungesehen. Dennoch kursierte die Legende eines monströsen Schattens, größer als jeder Mann im Dorf, der in den Todesnächten umging. Doch niemand derer, die so vehement beteuerten, ihm begegnet zu sein, konnte sagen, wie er ausgesehen hatte. Die einen behaupteten, er habe die Gestalt eines Menschen, andere wiederum glaubten, dass es sich um ein gesichtsloses Ungeheuer handelte. In einem waren sich allerdings alle einig: Sie fürchteten ihn.

Leif schüttelte die Gedanken an das alte Sprichwort und den Aberglauben seines Dorfes ab. Er konnte kaum sein Pferd sehen, obwohl neben ihm am Kutschwagen eine Laterne in ihren Scharnieren hin- und herschwang. Fast hatte es den Anschein, als zöge sich die Kutsche von selbst durch Nacht und Nebel. Nervös ließ der Winzer die Zügel knallen, woraufhin das Pferd in einen schnellen Trab fiel. Dann wurde die Kutsche endlich von den ersten Bäumen des Waldes umringt; hier war der Nebel weniger dicht und Leif atmete auf. Stattdessen ging hin und wieder ein leichter Wind und die frische Luft ließ seine Gedanken aufklaren, indem sie allmählich die Wirkung des Weins vertrieb.

Dafür verdichteten sich die nächtlichen Geräusche, je tiefer er in den Ewigen Wald vordrang. Das entfernte Rufen einer Eule schallte stetig zwischen den Bäumen hindurch und hier und da raschelte es im Gestrüpp, während der Wind die Blätter über Leifs Kopf erzittern ließ. Der Herbst war nah.

Nach einer Weile fragte sich der Weingärtner, wie viel Zeit wohl schon vergangen war. Er hatte das Gefühl, sich bereits dem Herzen des Waldes zu nähern. Doch das war unmöglich; die Morgendämmerung war noch fern. Um ihn herum wuchsen die Pflanzen wild und unzugänglich, aber der Pfad wurde nach wie vor spärlich von der alten Laterne beleuchtet und Leif hielt den Blick stur geradeaus gerichtet. Er hatte diese Kutschfahrt schon so oft hinter sich gebracht, zwar immer mit Unbehagen, doch unbeschadet. Warum sollte es diesmal anders sein?

Im Augenwinkel erhaschte er eine Bewegung. Reflexartig riss Leif an den Zügeln. Sein Pferd wieherte schrill, bäumte sich auf und kam schließlich mitsamt der Kutsche zum Stillstand.

Nervös sah Leif sich um; nichts regte sich außer den Blättern im Wind. Er hätte nicht schon wieder einen über den Durst trinken sollen. Vor allem nicht jetzt, da er den Wald durchqueren musste. Mit einer Hand – schwitzig von seinem zu festen Griff um die Zügel – wischte er sich übers Gesicht und versuchte den trüben Schleier wegzublinzeln, den der Alkohol vor seinen Augen hinterlassen hatte. Ein Schatten erhob sich auf dem Pfad vor ihm.

Mit dem nächsten Augenaufschlag war er verschwunden.

Leif erschauderte. Noch war es nicht zu spät, umzukehren. Sein Blick fiel auf die Weinamphoren im Kutschwagen und er schüttelte den Kopf. Von lächerlichen Hirngespinsten würde er sich nicht zurück ins Dorf jagen und zum Gespött der Leute machen lassen.

Der Winzer trieb sein Pferd erneut an, das Tier jedoch schritt nur zögerlich voran.

»Na komm, mein Junge«, sagte Leif in beruhigendem Ton, woraufhin der Rappe die Kutsche widerwillig vorwärtszog.

In den Schatten, die die Äste auf den Waldboden zeichneten, glaubte der Weingärtner unheimliche Symbole zu erkennen. Er blickte rasch geradeaus, wo sich der zunehmend unwegsame Pfad in die Finsternis hineinwand. Leif versuchte sich zu beruhigen. Keine Höllengestalten sprangen ihn aus dem Dickicht heraus an, und um ihn herum war alles still.

Zu still. Der Ruf der Eule war verstummt und selbst der Wind hatte sich gelegt.

Ohne dass Leif es gemerkt hatte, war seine Kutsche wieder zum Stehen gekommen. Das Pferd wieherte leise und wollte rückwärtsgehen – denn vor ihnen versperrte eine Gestalt den Weg. Als Leif diesmal blinzelte, verschwand sie nicht.

Einige Meter von der Kutsche entfernt stand die zwei Meter große Erscheinung reglos auf dem Pfad. Ein Umhang verhüllte die Gestalt und das Gesicht lag im Schatten der Kapuze. Leif überlegte, ob er dem Mann zurufen sollte, doch seine Stimme und sein Atem stockten vor Angst.

Der Fremde hob den Kopf und sah ihn an – mit den düstersten Augen, die der Winzer je gesehen hatte. Dann reflektierten sie das schwache Licht der Laterne und verwandelten sich in eine Höllenglut.

Leif erschauderte und unterdrückte den Drang, aufzustehen und davonzulaufen, einzig und allein, weil es nichts gab, wohin er hätte fliehen können. Die Bäume umzingelten ihn. Dahinter lagen nur lauernde Schatten und Dunkelheit.

Und vor ihm hatte die Nacht Gestalt angenommen.

Der unheimliche Mann hob seinen Arm und in seiner Hand erkannte Leif ein seltsames Objekt; es sah aus wie eine Sanduhr – doch statt Sand schwappte etwas Dunkles, Dickflüssiges darin herum.

Blut.

»Deine Zeit ist um«, dröhnte die unheilvolle Stimme des Mannes durch den Wald und im selben Atemzug wendete er seinen makabren Glasbehälter. Die rote Flüssigkeit schien rasend schnell durch die schmale Mitte zu laufen.

Die Gestalt verschwand und Leif zweifelte augenblicklich an seinem Verstand. Doch ehe er sich aus seiner Schockstarre reißen und davonfahren konnte, bemerkte er, dass jemand neben ihm auf dem Kutschbock saß. Leif wandte den Kopf und schrie auf, als er sich dem Nachtgeschöpf gegenübersah. Es hob einen Finger an die Lippen und im nächsten Moment glänzte eine scharfe Klinge in seiner Hand. Kein Laut kam Leif über die Lippen, als der Mann ihm das Schwert in die Brust rammte. Fast genauso schnell zog er es wieder heraus und der Weingärtner stürzte quälend langsam vom Kutschbock. Das panische Wiehern des Pferdes schrillte noch in seinen Ohren. Und als sich der todbringende Schatten des Fremden über ihn warf, sah Leif zu, wie der letzte Tropfen Blut durch die Taille der gläsernen Uhr fiel.

1

Der Wandel

»Das Gewand des Todes ist schwärzer als die dunkelste Nacht.«

Alys schmunzelte, als sich Zareshs Stimme zu einem Flüstern senkte. Die staubigen Flaschen, die als Kerzenhalter auf dem Tisch dienten, wurden von jahrealten Wachsschichten eingehüllt. Ein frischer Tropfen schmolz unter dem Docht und das dunkelrote Kerzenwachs rann beinahe bis auf das Holz hinunter. Im Halbdunkel der Schenke wirkte er wie Blut.

»Wenn es draußen finster wird, kommt und holt er sich die Seelen der Alten, Schwachen und Sünder«, fuhr Zaresh theatralisch fort, sein Blick wanderte bedeutungsvoll zu den beschlagenen Fenstern, vor denen allmählich die Abenddämmerung einsetzte. »Ihr solltet euch lieber vorsehen, wenn ihr zu später Stunde nach Hause geht.«

Ein verächtliches Lachen entfuhr Kasia neben ihm. »Willst du etwa damit sagen, nur weil wir Frauen sind, gelten wir als leichte Beute?«

Alys’ Blick wanderte zu Kasia, die sich auf ihrem Platz zurückgelehnt hatte, um Zaresh von der Seite einen abschätzigen Blick zuzuwerfen.

Sie gaben schon ein seltsames Trio ab – der Schafhirte, die Schmiedin und die Gerberin. Während Alys erst später mit Kasia und Zaresh angebandelt hatte, waren die beiden schon von der Wiege auf so unzertrennlich wie streitlustig gewesen. Es führte nicht selten dazu, dass sich Alys wie das fünfte Rad an der Kutsche fühlte. Sie teilte mit ihnen nicht die gleiche Verbindung wie die beiden zueinander – und bedauerte es.

Flüchtig dachte Alys daran zurück, wie sie Kasia und Zaresh kennengelernt hatte. Bereits vor vielen Jahren hatten die beiden sie gegenüber Arwulf, dem Sohn des Bürgermeisters, verteidigt. Seine Schikanen waren die eines verzogenen Burschen gewesen und hatten jeden getroffen, der nicht dem verblendeten Weltbild seiner wohlhabenden Eltern entsprach. Er hatte sich über ihr kurz geschorenes fuchsrotes Haar, ihre schmächtige Gestalt und ihr Dasein als Waise lustig gemacht. Die ehemals verbrannten Haare fielen Alys inzwischen bis zur Taille hinab, die drahtige Silhouette war weiblichen Rundungen gewichen. Nur der letzte Umstand würde sie ihr Leben lang verfolgen. Der Tod begleitete Alys seit Kindertagen wie ein Schatten.

Sie zwang ihre Gedanken zurück in die Gegenwart, wo Zaresh versuchte, Kasia zu beschwichtigen. Alys war davon überzeugt, dass die beiden eines Tages heiraten würden. Ob sie sich dann wohl noch immer regelmäßig in der Schenke trafen? Der Sumpfkessel war nichts Besonderes mit seinen alten Eichentischen und -bänken. Die heruntergekommene Theke und der ergraute Wirt dahinter hatten auch schon bessere Tage gesehen. Dennoch war der Sumpfkessel der einzige Ort in Krall, an dem man jederzeit einkehren konnte. Jung und Alt trafen sich hier, und in den Abendstunden stieg der Geräuschpegel deutlich an. Auch an diesem Abend hallten zahlreiche Stimmen und Lacher durch die Schenke.

»So war das gar nicht gemeint«, rechtfertigte sich Zaresh, »und das weißt du auch.«

Kasia schnaubte und warf ihre schwarze Mähne über die Schultern zurück. »Das hoffe ich für dich. Ich möchte dich nur ungern schon wieder daran erinnern, wer hier den Hammer schwingt.«

Zaresh verdrehte die Augen und Alys lachte leise. Sie bewunderte die schöne, starke Kasia für ihre Schmiedekunst. Daneben kam ihr das Gerben fast lächerlich vor. Kasia schuf Waffen. Alys verarbeitete Tierhaut zu Leder. Mit einem tiefen Schluck aus dem Bierkrug ertränkte sie ihre trüben Gedanken.

»Wisst ihr, Todbringer machen keine Unterschiede zwischen Mann, Frau und allem dazwischen«, sagte Zaresh.

Er schien das Thema nicht ruhen lassen zu wollen. Alys runzelte die Stirn. All die Legenden hatte sie bereits unzählige Male gehört. Es handelte sich meist um finstere Nachtgeschichten für Kinder, damit sie ihr Bett bis zum Morgen nicht mehr verließen, oder geflüstertes Halbwissen an sterbenden Lagerfeuern, das für wohlige Schauer und mehr Nähe untereinander sorgte.

»Wenn ihr auf deren Liste steht, dann gibt es kein Entkommen. Sie jagen euch so lange, bis ihr vor lauter Angst darum bettelt, dass sie euch töten.«

Zaresh erntete einen skeptischen Blick von Kasia. »Wo hast du das nur wieder her?«

»Ich habe meine Quellen«, behauptete Zaresh, wobei er besserwisserisch grinste und die Arme vor der Brust verschränkte. »Aber eins ist ja wohl sicher: Die Begegnung mit dem Tod ist eine einmalige Sache.«

»So?«, sagte Alys und grinste. »Dann haben dir wohl die Toten davon erzählt.« Kopfschüttelnd schaute sie zu Kasia, die in ihr Lachen einstimmte.

Bevor Zaresh etwas erwidern konnte, öffnete sich die Tür zur Schenke mit einem Klingeln. Es wurde deutlich stiller im Raum, woraufhin Alys sich umsah. Ein Fehler. Sie hätte ahnen müssen, dass nur die Ankunft von jemandem mit hohem Rang eine dämpfende Wirkung auf das allgemeine Durcheinander in der Schenke hatte. Arwulfs Anwesenheit ließ nicht nur schlagartig die Lautstärke im Schankraum, sondern auch ihre Laune sinken.

Dennoch konnte sie sich bei ihrem nächsten Gedanken ein spitzbübisches Lächeln nicht verkneifen.

»Nun«, sagte sie mit einem Augenzwinkern an ihre Freunde gewandt, »es wäre schön, wenn auch die Begegnung mit Arwulf eine einmalige bliebe.«

Kasia und Zaresh prusteten hinter vorgehaltenen Händen, als schwere Stiefel auf den Holzdielen Arwulfs Näherkommen ankündigten. Sie versuchten halbherzig, eine ernste, gleichgültige Miene aufzusetzen, doch Zareshs Mundwinkel zuckten weiterhin verdächtig. Währenddessen bemühte sich Alys, den Neuankömmling bis zum letzten Moment zu ignorieren.

»Guten Abend«, grüßte er sie. Er würdigte Kasia und Zaresh nur eines kurzen Blickes, dann wandte er sich direkt an Alys. »Eine junge Frau sollte zu später Stunde nicht mehr allein in der Schenke sein.«

Langsam hob Alys den Kopf und fixierte Arwulf für die Dauer eines Atemzuges, ehe sie sich wieder ihrem Krug widmete. »Ich bin nicht allein, wie Ihr seht.«

»Lass mich dich nach Hause begleiten.«

Es klang mehr nach einem Befehl als nach einem Angebot. Was erlaubte er sich? Alys hasste es, dass er sie so direkt ansprach – als seien sie vertraut miteinander. Bisher hatte sich Alys immer geweigert, ihm den Gefallen zu erwidern und die förmliche Anrede gegen ein freundschaftliches Du zu tauschen.

Kasia und Zaresh verfolgten den Wortwechsel schweigend, aber es sah ganz danach aus, als läge der Schmiedin eine spitze Bemerkung auf der Zunge. Alys kam ihr zuvor.

»Ich finde den Weg auch allein, danke«, gab sie mit einem gezwungenen Lächeln zurück.

Arwulfs Nasenflügel blähten sich auf. Nun sprach er wieder an die ganze Runde gewandt. »Der Winzer ist verschwunden.«

»Leif?«, hakte Kasia überrascht nach. Sie wechselte einen besorgten Blick mit Zaresh. Alys hob neugierig den Kopf.

»Genau der«, bestätigte Arwulf. Es klang nicht danach, als kümmerte ihn der Verbleib des alten Winzers. Unter dem Tisch ballte Alys die Hände zu Fäusten.

»Was ist geschehen?«, fragte sie widerwillig. Der Ewige Wald war für seine Gefahren bekannt. Wenn einen die Räuber nicht holten, dann der Tod, so sagte man. Alys konnte sich nicht vorstellen, dass Leif den Räubern zum Opfer gefallen war. Im Dorf war bekannt, dass er seit Jahren eine Art Abkommen mit ihnen hatte – zwei Fässer Wein im Tausch gegen die sichere Durchfahrt.

»Wer weiß. Von seinem letzten Handelsausflug ist er nicht zurückgekehrt. Aber wir wissen ja alle, dass er gern mal zu tief ins Glas geschaut hat, also …« Arwulf ließ den Satz unbeendet in der Luft hängen und zuckte mit den Achseln.

Alys starrte ihn einen Moment lang schockiert an und wandte sich dann wieder ihren Freunden zu. Sie bezweifelte zwar, dass sich Arwulf so leicht abwimmeln ließ, hoffte aber darauf, dass er sich nicht weiter die Blöße geben wollte, hier vor allen Leuten von einer Frau abgewiesen zu werden.

»Ich rate dir, lieber bald nach Hause zu gehen.«

Mit einem Ruck drehte sich Alys zu ihm herum. »Wer seid Ihr – mein Vater?«

Arwulf stutzte. Seine Augen verrieten, dass auch er sich daran erinnerte, wie er sie mit dem Tod ihrer Eltern geärgert hatte. Damals waren sie noch Kinder gewesen, nichtsdestotrotz hatte Alys ihm nie verziehen.

Mit einem Räuspern versteifte sich Arwulf. »Nun denn«, sagte er kurz angebunden, »gebt auf sie acht.«

Kasias Blick war vernichtend. Aber der Sohn des Bürgermeisters hatte sich bereits abgewandt und verließ mit langen Schritten die Schenke.

»Widerling«, murmelte Kasia. Zaresh nickte und nahm einen Schluck aus seinem Krug. Währenddessen seufzte Alys erleichtert und ihr Körper entspannte sich ein wenig.

»Was glaubt ihr, was mit Leif geschehen ist?«, fragte sie ihre Freunde.

Zaresh öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber Kasia schnitt ihm mit einer energischen Handbewegung das Wort ab.

»Wag es ja nicht«, sagte sie mit geschlossenen Augen, »jetzt wieder mit deinen Todbringern anzufangen.«

Statt etwas zu erwidern, nippte Zaresh mit einem Schmunzeln noch einmal an seinem Krug und zwinkerte Alys über den Rand hinweg zu. Sie lachte leise in sich hinein. Doch während sich ihre beiden Freunde wieder unbeschwerteren Themen zuwandten und den Winzer vergaßen, verdunkelte Arwulfs düstere Nachricht Alys’ Gedanken. Irgendetwas tief in ihrem Inneren versuchte, ihr etwas zuzuflüstern. Wie eine dunkle Vorahnung, die sie nicht greifen konnte.

Als Alys an sich hinabblickte, zog sich eine Gänsehaut über ihre Unterarme und in ihren Fingern machte sich ein nervöses Kribbeln bemerkbar. Auf dem Tisch hatte das Kerzenwachs eine unansehnliche rote Lache gebildet.

Durch die dräuenden Wolken schien die Sonne gnädig auf das Dorf Krall und seine Bewohner, die an diesem Vormittag wie üblich ihren Geschäften nachgingen. Auf den kopfsteingepflasterten Hauptstraßen reihten sich bunte Stände verschiedenster Marktleute aneinander: Kräuter und Gewürze, Fisch, Fleisch, Felle sowie Kupferschmuck und anderer Trödel wurden hier feilgeboten, und die Verkäufer versuchten, sich mit Sonderpreisen, die sie den passierenden Bewohnern zuriefen, gegenseitig zu unterbieten.

In den abzweigenden, ungepflasterten Gassen führten die Farmer ihre Ziegen und Schafe durch den Schlamm und ein paar ärmliche Gestalten boten ihre Waren in den Schatten an, da sie sich keinen Stand auf den großen Straßen leisten konnten.

Alys beobachtete die Stände auf der Hauptstraße und wartete auf Kundschaft. Während sich die anderen Verkäufer heisere Kehlen holten, begnügte sie sich zumeist damit, Barens Felle und Lederwaren nach Farben zu sortieren. Sie wusste, dass Baren sie nicht nur mit den besten seiner Felle beschenkte, weil er ihr Onkel war, sondern vor allem, weil sie die Waren am eigenen Leib besonders gut zur Schau stellte.

An diesem Tag war Alys dankbar für den wärmenden Wolfspelz um ihre Schultern und dass sie allein den Marktstand beaufsichtigen durfte. Zwar liebte sie in gewisser Hinsicht ihren Onkel und ihre Tante, immerhin hatten die beiden sie großgezogen. Doch kam sie nicht umhin, zu bemerken, dass sich die beiden nun, da Alys zur Frau gereift war, anders verhielten. Mit allen Mitteln versuchten sie, das Geld, das sie für ihre Erziehung eingebüßt hatten, wieder einzuholen. Sei es, indem sie Alys bewusst mit den Waren auf dem Markt platzierten oder indem sie planten, sie schnellstmöglich an einen Mann zu verheiraten – bevorzugt mit den Taschen voller Gold.

Mit einem Fernweh, das sie sich nicht erklären konnte, dachte Alys oft darüber nach, wie es wohl in anderen Landteilen Omras, in Städten fern von Krall zuging. Nur einmal, als sie dreizehn gewesen war und ein besonders trockener Sommer geherrscht hatte, hatte Baren sie auf seinem Wagen mit nach Vargund genommen – eine Stadt, die auf direktem Weg etwa einen Tagesmarsch entfernt angesiedelt war. Auf dieser Reise hatte ihr Onkel seine besten Waren an reiche Händler verkauft. Alys hatte über die verwinkelten Gassen und die unzähligen Steinhäuser gestaunt, die sich an den Berghängen aneinanderreihten. Auch die Menschen, die dort lebten, schienen anders zu sein, auffälliger, wagemutiger. Abgesehen davon kannte sie nur das Sumpfland, das eine Reise nach Vargund so riskant machte, wenn nicht gerade ein glückliches Jahr mit den Gezeiten anstand und die Wege trocken genug waren, um sie mit etwas Geschick unbeschadet passieren zu können. Von Krall aus konnte man bei gutem Wetter die Berghänge sehen, die sich scharf vom Horizont abzeichneten und zu deren Füßen Vargund im Schatten lag.

Und dann gab es noch den Wald, der sich in der entgegengesetzten Richtung direkt hinter Krall erstreckte. Alys ging tiefer in den Wald hinein, als die Mehrheit des Dorfes guthieß. Oft wanderte sie darin umher, um Pilze und Kräuter zu sammeln – eine Leidenschaft, die sie laut Tante Velia von ihrer Mutter geerbt hatte – oder dem Alltag zu entkommen. Manchmal verbrachte sie viele Stunden dort, doch sie war klug genug, sich vom dunklen Herzen des Waldes fernzuhalten.

Die Leute auf der Straße wichen plötzlich respektvoll zur Seite, als sich Arwulf seinen Weg an den Marktständen vorbeibahnte. Eine Welle der Abneigung überkam Alys bei seinem Anblick.

Es ergab nicht viel Sinn, ihn zu ignorieren, indem sie vorgab, ihn nicht gesehen zu haben. Nur allzu oft kam er auf dem Markt zu ihrem Stand, belästigte sie mit seiner Anwesenheit und demonstrierte allen anderen, dass sie ihm gehörte. Wut stieg bei dem Gedanken in Alys auf. Nein, noch nicht. Sie gehörte niemandem.

Mit seinem üblichen arroganten Halblächeln schlenderte Arwulf auf sie zu. Der Ledermantel, den er bei ihrem Onkel erstanden hatte, war zurückgeschlagen, um, mit einer Hand auf dem Knauf, das edle Schwert an seiner Seite zu entblößen. Im Dorf eine Waffe mit sich zu führen, war im Grunde unnötig, aber Arwulf genoss die Zurschaustellung.

»Guten Tag, schöne Frau«, grüßte er sie und ein Grübchen formte sich in seiner linken Wange, als er schief grinste. »Wie laufen die Geschäfte?«

Alys schenkte ihm ein falsches Lächeln. »Ich glaube, Ihr habt meine Kundschaft vertrieben«, sagte sie, ohne das Desinteresse in ihrer Stimme zu verbergen.

Arwulf schnaubte und gab sich amüsiert. »Mit mir als Kunde brauchst du die anderen gar nicht, Alys.«

Sie hasste seine Großspurigkeit. Beiläufig warf sie ihr langes Haar zurück und begann, ein paar Fellwesten zu sortieren, ohne auf Arwulfs Worte einzugehen.

Dessen Lächeln erlosch und er griff stattdessen ein neues Thema auf. »Ich hatte gerade ein interessantes Gespräch mit Baren.« In seiner Stimme lag ein Lauern, das Alys erstarren ließ. »Nach langer Überlegung hat er endlich eingewilligt. Du wirst meine Frau.«

Ein ungläubiger Atemzug entwich Alys, als sie schließlich aufblickte. Hatte Baren sie tatsächlich einfach so weitergegeben? Verkauft? Wie einen Gegenstand – und das auch noch hinter ihrem Rücken.

»Du solltest also in Zukunft vielleicht lieber netter zu mir sein«, schloss Arwulf und das verhasste Lächeln kehrte auf seine Lippen zurück.

Alys starrte ihn fassungslos an. Die Gefühle von Schock, Wut und Hilflosigkeit versuchten, sich gegenseitig zu übertrumpfen. Am liebsten hätte sie Arwulf für seine Selbstgefälligkeit ins Gesicht gespuckt. Sein gut aussehendes Gesicht, wie selbst Alys zugeben musste. Mit den durchdringenden blauen Augen, dem dunkelbraunen Pferdeschwanz und seiner edlen Statur war Arwulf das Objekt der Begierde unter den ledigen Frauen des Dorfes – nicht zuletzt auch aufgrund seines Standes. Doch alles, was Alys in ihm sah, war der hochmütige Widerling hinter der schönen Maske. Lieber riss sie sich ihr Herz heraus, als so etwas wie Zuneigung für ihn zu empfinden.

Arwulf hob fragend die Augenbrauen. »Was ist los, Alys? Du bist doch sonst auch nicht auf den Mund gefallen.«

Mühsam schluckte Alys die Beleidigungen, die ihr auf der Zunge lagen, hinunter und erwiderte bissig: »Mir fehlen die Worte, um meiner Freude angemessen Ausdruck zu verleihen.«

Der unterdrückte Zorn war selbst für Arwulf nicht zu überhören. »Du bist verärgert. Das verstehe ich«, sagte er ernst. Fast hätte sie ihm geglaubt. »Ich werde mich zurückziehen und später nach dir sehen.«

Mit der Andeutung einer Verbeugung wandte sich Arwulf um und verschwand im Marktgetümmel. Alys’ Hände krallten sich so fest in eine der Fellwesten, dass es schmerzte. Sie unterdrückte einen wütenden Aufschrei, als sie die Weste mit aller Kraft in den Dreck schmiss. Einige Leute wandten sich irritiert nach ihr um, doch Alys bemerkte ihre Blicke gar nicht.

Wie konnte er es wagen, zu behaupten, er verstünde sie auch nur im Geringsten? Ohne einen Blick zurück ließ Alys den Stand hinter sich – sollte jemand dumm genug sein, etwas zu stehlen, würde sich der Dieb spätestens beim Tragen der unverkennbaren Fell- und Lederwaren selbst entlarven. Natürlich würde Baren sie dennoch dafür schelten, aber das war Alys im Moment vollkommen gleichgültig.

Der Saum ihres Kleides sog sich mit Schlamm voll, als sie durch die unbefestigten Gassen den kürzesten Weg nach Hause einschlug. Zwischen den anderen aus Holz und groben Steinen errichteten Häusern war das Gestell vor dem Eingang ihres Zuhauses der einzige Unterschied. Dort gerbte Baren für gewöhnlich die Felle. Heute jedoch fand Alys ihn an der Feuerstelle vor, als sie die Tür aufschlug und ins Haus stürmte. Als sie in das Gesicht ihres Onkels sah, schien er bereits zu ahnen, weshalb sie so aufgebracht war, doch sie ließ ihm keine Gelegenheit, sich zu erklären.

»Wie konntest du mir das hinter meinem Rücken antun?«, fuhr sie Baren an.

»Alys …«, begann er, doch sie unterbrach ihn.

»Er hat mich gerade auf dem Markt völlig überrumpelt. Wieso hat er es zuerst erfahren? Warum konntest du mir nicht vorher von deinen Plänen erzählen?«

Baren seufzte. »Weil ich genau wusste, dass du so reagieren würdest. Es spielt doch gar keine Rolle. Hätte es etwas geändert, wenn du als Erste davon erfahren hättest?«

»Es hätte mir die Erniedrigung durch meine Unwissenheit erspart«, gab Alys bitter zurück.

»Alys, du musst verstehen, welche Vorteile diese Verbindung mit sich bringt«, sagte Baren eindringlich. Auch Tante Velia erschien nun mit einem Lappen zwischen den Händen in der Küchentür und beobachtete die beiden mit zusammengepressten Lippen.

Alys gab ein verächtliches Schnauben von sich. »Ja, Vorteile für euch.«

»Du weißt nicht, wovon du redest«, warf Baren ihr vor, Zorn schwang in seiner Stimme mit »Auch für dich hat es Vorteile. Du wirst dich in Zukunft um nichts sorgen müssen.«

»Um nichts sorgen?« Alys schrie fast. »Arwulf ist ein verabscheuungswürdiger Mann und ich soll den Rest meines Lebens mit ihm verbringen. Lieber gebe ich mich dem Tod hin als ihm!«

Die Ohrfeige kam völlig unerwartet und obwohl nicht viel Kraft darin lag, glaubte Alys, der Kopf würde ihr von den Schultern gerissen.

»Du wirst nie wieder so reden, hast du verstanden?«

Alys sah ihren Onkel nicht an. Nie zuvor hatte er sie geschlagen. Ihre Wange brannte, doch der Schmerz über diese Erkenntnis saß tiefer. War sie wirklich zu weit gegangen?

Ihr Schweigen ließ Barens Stimme wieder erweichen. »Verzeih mir.« Es schien ihm ehrlich leidzutun, doch Alys konnte ihm nicht in die Augen sehen. »Ich habe diese Entscheidung nicht getroffen, um dich zu quälen. Deine Tante und ich haben uns immer um dich gekümmert, aber du bist nun schon einige Jahre erwachsen und es ist an der Zeit, dich deinen Pflichten als Frau zu stellen.«

In diesem Augenblick hasste es Alys, eine Frau zu sein. Aber noch mehr hasste sie es, dass diese Worte solche Gefühle in ihr auslösen konnten. Von ihrer Tante hatte sie keine Hilfe zu erwarten; Alys wusste, dass Velia derselben Überzeugung war wie Baren. Sie schluckte schwer und sagte nichts.

»Ich hoffe, dass du das einsiehst«, schloss Baren. Es klang, als sei die Diskussion damit für ihn beendet.

Für Alys jedoch noch lange nicht. Trotzdem machte sie sich gleich auf den Weg in ihr Zimmer, ohne ihren Onkel noch einmal anzusehen. Die hölzernen Treppenstufen knarrten unter ihren Stiefeln und es kostete Alys einiges an Überwindung, die Tür nicht hinter sich zuzuschlagen. Sie warf sich auf ihr Bett und sah abwesend aus dem Fenster. Wütend und verletzt blinzelte sie die Tränen fort, die sich in ihren Augenwinkeln sammelten. Tiefhängende Wolken zogen am sonst blauen Himmel vorbei wie die Schatten, die ihren Geist und ihr Herz verdüsterten. Sie wusste nicht, wie viel Zeit verging, während sie einfach nur so dalag.

Alys spielte mit dem Gedanken, das Dorf zu verlassen und nie mehr zurückzukehren. Doch wohin würde sie gehen? Sie war sich nicht sicher, ob sie es allein durch die Sümpfe oder den Wald schaffen würde.

Ein leises Knarzen verriet ihr, dass jemand die Treppe zu ihrem Zimmer heraufstieg. Kurz darauf folgte ein Klopfen und Alys überlegte, es zu ignorieren. Dennoch stand sie auf und ging zur Tür, um sie zu öffnen – eine Entscheidung, die sie sogleich bereute, denn vor ihr stand ausgerechnet Arwulf. In seiner Schwerthand trug er einen Strauß Blumen.

»Was wollt Ihr hier?«, platzte es aus Alys heraus. Es gelang ihr nicht, die Wut, Überraschung und Feindseligkeit aus ihrer Stimme zu verbannen.

»Ich möchte mich für vorhin entschuldigen«, sagte Arwulf. Der leise Triumph in seinem Tonfall stand in krassem Kontrast zu seinen Worten. »Ich habe dich wohl ein wenig überwältigt. Hier.« Er streckte ihr die Blumen hin, wunderbaren roten Klatschmohn und lieblich weiße Schafgarbe.

Alys unterdrückte den Drang, sie ihm aus der Hand zu reißen und vor ihm mit ihrer Stiefelsohle zu zertreten. Stattdessen nahm sie sie vorsichtig entgegen und zwang ein Lächeln auf ihre Lippen. »Ihr seid zu gütig.« Es klang noch nicht ganz glaubwürdig. Sie räusperte sich. »Ich hoffe, Ihr versteht, dass ich etwas Zeit für mich brauche.«

Da es die Wahrheit war, klang es nicht einmal wie eine faule Ausrede, um ihn loszuwerden. Arwulf schien dennoch verstimmt, dass sie ihm nicht länger ihre Gunst schenkte. Aber auch ihm schien bewusst zu sein, dass Baren und Velia vermutlich unten standen und lauschten. Selbst wenn er vorhatte, sie zu heiraten, würden sie ihn nicht zu lange mit ihr allein lassen. Er verabschiedete sich mit einem Nicken und stieg die Treppe wieder hinunter. Rasch schloss Alys die Tür hinter sich, warf die Blumen in einen Flechtkorb und bedeckte sie mit einem Tuch. Ihre Fingerspitzen begannen zu kribbeln, als würden ihr hunderte Nadeln unter die Haut stechen; ein Gefühl, das Alys oft überkam, wenn sie aufgewühlt war. Sie musste hier raus.

Mit dem Korb in der Hand stieg sie auf ihr Bett und öffnete das Fenster. Eine Überdachung unterhalb des Fensters erlaubte es, mit etwas Geschick bis auf die Straße auf der Rückseite des Hauses hinunterzuklettern. Eigentlich diente die Überdachung der Gasse zwischen den beiden Häusern Barens Fellen, die er dort oft mehrere Tage zum Lüften aufhängte, um sie vor Regen zu schützen. Aber Alys hatte diesen Weg schon mehrmals genutzt, um sich aus dem Haus zu schleichen.

Sie klemmte den Griff des Korbs in ihre Armbeuge, raffte ihren Rock und schwang ein Bein über die Fensterbank, um mit der Stiefelspitze die Überdachung zu ertasten. Dann zog sie das andere Bein hinterher und ließ sich auf den stabilen Holzgrund nieder. Sicheren Schrittes ging sie bis zum hinteren Ende des Dachs, wo sie den Korb auf den Boden der darunterliegenden Gasse fallen ließ. So hatte sie die Hände frei und konnte sich mühelos mit den Armen am Rand hinunterlassen.

Alys sah sich kurz um und als sie sichergestellt hatte, dass niemand sie beobachtete, griff sie nach dem Korb und ließ die Gasse und das Haus ihres Onkels schnell hinter sich. Ein Sonnenstrahl kämpfte sich durch die Wolkendecke und fiel auf das Tor, das aus Krall hinausführte. Alys blinzelte in das helle Licht und zog ihren Wolfspelz enger. Vielleicht war dies ein Zeichen. Sie holte tief Luft und ging ermutigt weiter. Kaum hatte sie Krall verlassen, verdunkelte sich der Himmel wieder.

2

Auf der Schwelle

Alys musste nicht weit gehen, bis die ersten Bäume des Waldes sie umschlossen. In Orange, Braun und Gold kleideten sich die Baumkronen und die gefallenen Blätter sprenkelten das grüne Moos mit ihren bunten Farben. Kaum war Krall außer Sichtweite, schien eine Last von Alys’ Schultern abzufallen. Die friedliche Stille verscheuchte ihre trüben Gedanken und das unangenehme Kribbeln in ihren Fingerspitzen ließ allmählich nach. Jeder Schritt weg vom Dorf hatte etwas Befreiendes, also ging sie immer weiter, bis der Pfad zunehmend schmaler wurde. Nicht viele Leute wagten sich so tief in den Ewigen Wald hinein.

Ab und zu erhaschte Alys zwischen Blätterdach und Wolken einen Blick auf die Nachmittagssonne. Bald würde sich der Mantel der Nacht über den Wald legen. Doch sie dachte nicht daran, umzukehren. Wenn sie nur lange genug lief, würde vielleicht alles hinter ihr verschwinden. Sie wusste, dass es nicht so einfach war.

Alys bemerkte, dass sie mittlerweile abseits der Wege ging. Nur kurz blieb sie stehen, um zu überprüfen, wo sie hergekommen war. Weit zurück, zwischen den Bäumen, konnte sie noch den verwucherten Pfad erkennen. Sie marschierte weiter, bis sich eine kleine Lichtung vor ihr auftat. Dort lag das vorabendliche Licht wie ein goldener Schleier über dem Gras.

Lächelnd betrat Alys die Lichtung und stellte den Korb neben sich ab, bevor sie sich hinkniete und die Blumen herausholte. Sanft strich sie mit den Fingern über die weichen Blütenblätter des Mohns, aber der Tod war ihr bereits zuvorgekommen und streckte seine Hand nach den welkenden Blumen aus. Dennoch kam sie nicht umhin, zu bemerken, wie hübsch sie eigentlich waren – bis sie wieder Arwulfs Gesicht vor Augen hatte. Mit einem Knurren zerriss sie die Blumen. Wieder und immer wieder, bis nur noch kleine Fetzen übrig blieben. Dann warf sie sie fort und blieb schwer atmend sitzen. Es fühlte sich gut an, gleichzeitig spürte sie Verzweiflung über ihre Machtlosigkeit in sich aufsteigen. Wenn sie Krall verlassen wollte, musste sie es bald tun.

Trotz allem wurde Alys traurig bei dem Gedanken, ihren Onkel und ihre Tante ohne ein Wort des Abschieds zurückzulassen. Denn sie konnte es ihnen nicht erzählen. Sie es nicht einmal erahnen lassen, sonst würden sie womöglich jeden ihrer Schritte im Auge behalten. Und damit wären alle Fluchtpläne zunichte. Sie sollte besser bald zurückgehen, bevor Baren und Velia ihre Abwesenheit bemerkten und Verdacht schöpften.

Alys erhob sich schweren Herzens, um die Lichtung in die Richtung zu verlassen, aus der sie gekommen war – da tauchte ein riesiger Schatten zwischen den Bäumen auf.

Der Tod hatte ihn entsandt, um eine weitere verdammte Seele zu sich zu holen. Wie bedeutungslos. Das erbärmliche menschliche Leben war ohnehin von kurzer Dauer; ein Wimpernschlag in seiner Ewigkeit.

Der Wald um ihn herum sprühte trotz des nahenden Herbstes vor Leben, doch wo seine Stiefel den Boden berührten, hinterließen sie Abdrücke verwelkten Grases. Auch die Blätter schienen in seiner Anwesenheit schneller von den Bäumen zu fallen. Der Herbst schritt unaufhaltsam voran und er auch. Es war seine liebste Jahreszeit, wenn die Witterung ihren Tribut forderte und das Leben aus der Erde selbst sog. Nun war er an der Reihe, Leben zu nehmen.

Der Todbringer hatte ein obskures Schwert über seinen Rücken gespannt. Zwischen dem knöchernen Griff und der geschwungenen Klinge saß ein menschliches Herz, verhext oder verflucht von den finsteren Mächten, die diese Waffe einst erschaffen hatten. Blutzunge war ihr Name und sie machte ihm alle Ehre; im Laufe der Jahrhunderte hatte sie unzählige Liter Blut getrunken. Doch sie war nicht die tödlichste Waffe, die er bei sich trug.

An seiner Seite hing mit Lederschnüren befestigt das Artefakt, das ihn zum Todbringer machte: eine Blutuhr, ein sanduhrförmiges Glas, das mit Blut gefüllt war. Er brauchte sie einfach nur herumzudrehen und sein Opfer starb, sobald der letzte Tropfen des Lebenssafts durch die Taille der Uhr geflossen war. Der Todbringer überlegte, sein Opfer auch diesmal wie so oft vor Ablauf der Zeit zu töten, um Blutzunges Durst zu stillen und weil er sich an der Herausforderung ergötzte.

Vor ihm machten die Bäume Platz und er sah eine schmale Gestalt auf dem Boden einer Lichtung kauern. Um ihre Schultern war ein Wolfspelz geschlungen, dessen buschiger Schwanz sich auf dem Laub hinter ihr ausbreitete. Sie gab wütende Laute von sich, während ihr ganzer Körper zitterte. Der Todbringer sah zu, wie sie einen Haufen zerfledderter Blumen von sich warf und regungslos sitzen blieb.

Währenddessen ertönten hinter ihm Schritte im Unterholz und flüsternde Stimmen, die nichts Gutes bedeuteten. In diesem Moment erhob sich die Gestalt auf der Lichtung und drehte sich zu ihm herum. Aber ihr Blick galt nicht den Geräuschen sich nähernder Menschen. Nein, die hatte sie vermutlich noch gar nicht vernommen. Ihr Blick galt ihm.

Die junge Frau sah erschrocken aus; mehr Überraschung als Furcht weitete ihre Augen, golden wie flüssiger Honig. Ungewöhnlich genug angesichts seiner einschüchternden Gestalt. Doch das Entscheidende war, dass sie ihn sehen konnte. Nur Todgeweihte konnten einen Todbringer sehen.

Die Schritte hatten ihn nun erreicht und vier Männer gingen achtlos an ihm vorbei. Sie wirkten grob und schmutzig und er sah, wie sich die Überraschung auf dem Gesicht der Frau in Angst verwandelte, als die vier Männer die Lichtung betraten.

»Na, was haben wir denn da?«, sagte einer von ihnen mit lauernder Stimme.

Die junge Frau wich vor ihm zurück, doch ein anderer mit blonder Mähne war schon neben ihr und rieb eine Strähne ihrer rötlichen Haare zwischen den Fingern.

»Hast du dich verlaufen, Kleine?«, fragte er und seine Hand wanderte von ihren Haaren zu ihren Schultern. Das Mädchen schlug seinen Arm weg, woraufhin die Räuber dreckig lachten.

»Oh, sieh an, sie ist wehrhaft«, sagte der erste und entblößte seine krummen Zähne zu einem Grinsen. »Gefällt mir.«

Der Todbringer beobachtete, wie die Augen der Frau in seinen nach Hilfe suchten.

»Bitte«, keuchte sie. »Helft mir.«

Die Räuber folgten verwundert ihrem Blick, doch konnten sie den Todbringer nicht erkennen.

»Was redet sie da?«

»Versuchst wohl, uns abzulenken, hm?«

»Ich glaube, die Kleine hat nicht mehr alle Vögel im Käfig.«

Widerliches Gelächter.

Verwirrt sah die junge Frau von den Räubern zum Todbringer. »Aber …«, begann sie, doch einer der Männer zog einen Dolch hervor und richtete ihn auf ihre Brust.

»Jetzt hört mal zu, Kleine, wir lassen uns nicht für dumm verkaufen, klar?!«

Der Blonde riss ihr den Flechtkorb aus der Hand und warf das Tuch, mit dem er abgedeckt war, achtlos in den Dreck. »Da drin ist nichts!«

Der Erste sah unzufrieden drein und widmete seine Aufmerksamkeit wieder der Frau.

»Hm«, brummte er, wobei er die Klinge des Dolchs langsam über die Knöpfe ihres Kleides gleiten ließ. »Wenn du keine Münzen für uns hast, musst du deine Anwesenheit hier wohl mit etwas anderem bezahlen.« Mit einem Ruck durchschnitt er die Lederbändchen ihres Mieders und die junge Frau schnappte erschrocken nach Luft. Die drei anderen Räuber lachten anzüglich, als ihr Unterkleid und die blasse, nackte Haut zum Vorschein kamen. Rasch hob sie die Hände, um den Stoff zusammenzuziehen. Sie schaute wieder zum Todbringer, doch er rührte sich nicht. Es war ihm nicht gestattet, einzugreifen und ihr einen schnellen Tod zu gewähren.

»Bitte«, flehte sie ihn an.

Der Räuber mit dem Dolch schaute sich noch einmal kurz um, doch als er nichts sah, knurrte er wütend: »Jetzt reicht es aber!« Er packte eines ihrer Handgelenke und versuchte, sie zu Boden zu schleudern, aber die junge Frau wehrte sich. Mit ihrer anderen Hand ließ sie ihr Kleid los und schlug ihm ins Gesicht. Der Faustschlag saß und Blut strömte dem Mann aus der Nase. Er taumelte verwundert zurück, die übrigen Räuber hatten die Frau aber schon umringt und stießen sie zu Boden. Das trockene Laub raschelte, als sie versuchte, davonzukriechen. Der Blonde beugte sich über sie, wirbelte sie herum und zerrte ihr den Wolfspelz von den Schultern. Die junge Frau schrie auf und wand sich unter seinem Körper, als er dazu ansetzte, ihr auch noch das Kleid vom Leib zu reißen.

Der Todbringer wusste, es hätte ihn nicht kümmern sollen, doch Abscheu gegenüber diesen Männern keimte in ihm auf und er verspürte den Wunsch, sie zu töten.

Verzweifelt schlug Alys um sich, versuchte, sich aus dem Griff dieser widerlichen Hände zu befreien. Die blanke Gier stand in den braunen Augen des Mannes, der auf ihr saß und sie bändigen wollte. Seine blonden Haare hingen ihm wirr ins Gesicht und in seinen Mund, während er die Zähne fletschte. Alys schrie; sie schrie um Hilfe und fragte sich, warum der Mann in dem schwarzen Umhang ihnen vom Rand der Lichtung aus bloß zusah. Gehörte er zu ihnen? Sie war zu tief in den Wald vorgedrungen. Niemand würde ihre Schreie hören.

»Nein!«

Das vertraute Kribbeln schien ihren gesamten Körper einzunehmen. Sie bäumte sich auf und rammte dem Mann ihr Knie in den Schritt. Er stöhnte vor Schmerz und Wut, ließ jedoch nicht von ihr ab. Stattdessen verpasste er ihr eine schallende Ohrfeige, woraufhin das Gelächter der anderen Männer und Blitze vor ihren Augen explodierten. Etwas Heißes tropfte ihr über Kehle und Gesicht. Es benetzte ihre Lippen und sie schmeckte, dass es Blut war. Alys glaubte, es sei ihr eigenes, bis sie ihre Augen öffnete und die blutüberzogene Klinge eines Schwertes nur Millimeter über ihrer Brust schweben sah. Das Lachen der Männer war verstummt und auch der Räuber, der immer noch über ihr war, starrte mit weit aufgerissenen Augen auf die Schwertspitze, die ihm zwischen den Rippen hervorragte. Blutige Fäden hingen aus seinem halb geöffneten Mund und trieften zähflüssig auf sie herab. Ein Laut entfuhr Alys, eine Mischung aus Wimmern und Schluchzen.

Die Klinge zog sich aus dem Körper des Mannes zurück und er kippte zur Seite. Endlich frei, kroch Alys von ihm weg, um noch mehr Abstand zwischen sich und diesen abscheulichen Mann zu bringen. Doch ihre Aufmerksamkeit galt dem Toten nicht lange, denn sie sah, wie der Fremde im schwarzen Umhang schattengleich umherwirbelte und mit seinem Schwert mühelos zwei weitere Männer aufschlitzte. Dann war er bei dem Räuber mit dem Dolch angekommen. Dieser wich zitternd vor dem Dunklen zurück, der ihn um fast zwei Köpfe überragte.

»Wer … wer bist du?«, stammelte er angsterfüllt.

Der Dunkle hob etwas in die Höhe – etwas, das aussah wie eine Sanduhr – und antwortete mit grollender Stimme: »Deine Zeit ist um.« Er holte mit dem Schwert aus und schlitzte ihm beinahe lautlos die Kehle auf. Nur noch ein Röcheln und der dumpfe Aufprall des leblosen Körpers echoten über die Lichtung, dann war es still. Totenstill. Alys’ Herz hingegen schien unfassbar laut in ihrer Brust zu hämmern. Lauf!, schrie eine Stimme in ihrem Hinterkopf, aber sie konnte sich nicht bewegen.

Einen Moment lang betrachtete der Dunkle sein Werk, dann wandte er sich um und schritt über die Toten hinweg auf sie zu. Seine mächtige Gestalt stand dräuend über ihr, hüllte sie in ihren finsteren Schatten.

Alys’ Blick heftete sich auf das Schwert – ein groteskes Ding, das in seiner Hand zum Leben zu erwachen schien – und Furcht lähmte sie.

Er hat mich gerettet, versuchte sich Alys zu beruhigen. Oder war sie nun als Nächste an der Reihe?

Seine langen, rabenschwarzen Haare fielen weit über seinen Rücken hinunter und ein paar Strähnen hüllten sein Antlitz in Düsternis, sodass Alys es nicht genau erkennen konnte. Aber seine Augen. Seine Augen waren die Nacht; dunkel und voller Versprechen von Schrecken, Geheimnissen und Lust.

»Du … hast mich gerettet«, brachte Alys schließlich hervor und hoffte, dass die Worte der Wahrheit entsprachen. Würde es überhaupt etwas nützen, davonzulaufen?

Statt zu antworten, starrte der Mann sie weiterhin an. Das blutige Schwert lag noch in seiner Hand und sie fragte sich, ob er wohl darüber nachdachte, wie er sie am besten umbringen sollte. Das Herz – es war tatsächlich ein Herz – am Schaft des Schwertes pulsierte aufgeregt, als wäre es sich des frischen Blutes an seiner Klinge bewusst.

Ein Dämon?, fragte sich Alys schaudernd, denn diese albtraumgleiche Waffe war sicher nicht von Menschenhand gemacht. Lauf. Lauf weg!

Und doch konnte sich Alys nicht dazu bringen, davonzulaufen. Sie fühlte sich gefangen in seinem Schatten, seinem Blick und ihrer Angst. Nachdem sie gesehen hatte, wie schnell und mühelos er gerade vier Männer umgebracht hatte, war sie davon überzeugt, sowieso nicht weit zu kommen.

»Danke«, sagte Alys. Ihre Stimme war brüchig, aber aufrichtig und sie zitterte bei dem Gedanken daran, was beinahe mit ihr passiert wäre. »Ich danke dir.«

Der Dunkle legte den Kopf schief, ein leises Rauschen ging durch die Wellen seines schwarzen Umhangs. Dann hob er sein Schwert und Alys schloss die Augen, um auf den tödlichen Hieb zu warten. Doch er kam nicht. Vorsichtig schlug sie die Lider wieder auf. Er war fort. Lautlos verschwunden wie ein Schatten, den die Sonne verschluckt hatte. Alys sah ungläubig in den Wald hinein. Und die Schatten wurden länger.

Er wusste, dass er sie töten musste; er hatte sie vor dem Tod bewahrt und ganz gleich ob er diesem dafür vier andere Seelen geopfert hatte, der Tod ließ sich nicht betrügen. Aber er konnte ja einen der anderen Todbringer die Drecksarbeit erledigen lassen.

Er beobachtete, wie die Frau schnellen Schrittes durch den Wald eilte und sich immer wieder umwandte. Allerdings machte sich der Todbringer keine Sorgen, dass sie ihn entdecken könnte, dazu wusste er sich zu gut zu verbergen.

Womöglich geriet sie noch einmal in einen Räuberhinterhalt und dann müsste er sich nicht mehr selbst darum kümmern, sie zu beseitigen. Aber er sollte es tun, um seinen Fehler zu tilgen.

Sie stand auf der Schwelle des Todes, gefangen zwischen den Welten. Und alles nur, weil er sie nicht getötet hatte. Nicht töten konnte. Diese Art von Dankbarkeit war ihm fremd; er kannte sie nur von Menschen, die Höllenqualen litten und für die der Tod eine Erlösung war. Er hatte jemanden verschont. Damit hatte er das Gesetz gebrochen.

Die Abenddämmerung brachte Nebel mit sich und tauchte den Wald in geisterhafte Schleier. Das Mädchen war mit einigem Vorsprung verschwunden. Aber der Todbringer würde sie nicht entkommen lassen.

3

In den Schatten

Es war ihr egal, ob Baren und Velia sie bemerkten, als sie nach Hause kam. Sie musste aus dem befleckten und zerrissenen Kleid raus. Das Blut auf ihrer Haut hatte sich Alys notdürftig an einem Ausläufer des Sumpfes am Rande des Dorfes abgewaschen. Zum Glück schenkte ihr niemand groß Beachtung, als sie in den Schatten des Dorfes nach Hause schlich.

Doch als sie das Haus betrat, war es still. Niemand kam ihr entgegen. Alys eilte die Treppe hinauf und schob als Erstes den hölzernen Riegel vor. Normalerweise tat sie das nicht; ihr Onkel mochte keine verschlossenen Türen im Haus und es war auch nicht nötig, denn weder er noch seine Frau hatten jemals ihre Privatsphäre gestört. Doch nach dem, was im Wald geschehen war, fühlte sich Alys sicherer bei dem Gedanken, dass erst jemand die Tür aufbrechen musste, um zu ihr vorzudringen. Sie glaubte, noch immer die rauen Hände auf ihrer Haut zu spüren und bekam eine Gänsehaut.

Alys ließ ihren Wolfspelz und den Korb achtlos fallen, dann schälte sie sich zitternd aus dem Kleid. Als es auf dem Boden landete, sah es so aus, wie sie sich fühlte: ein Häufchen Elend zu ihren Füßen. Es war hinüber.

Erschöpft streifte sich Alys die Stiefel ab, stieg ins Bett und zog sich die Decke über den Kopf. Sie wollte nur noch schlafen, damit dieser unglückselige Tag endlich ein Ende hatte. Aber sie fürchtete sich vor den Albträumen, die sie womöglich heimsuchen würden, sobald sie die Augen schloss. Nackt und zusammengekrümmt unter der Bettdecke fühlte sie sich ausgeliefert. Rasch schnappte sich Alys ihr Nachtgewand und schlüpfte hinein.

Vor ihrem Fenster hielt bereits die Nacht Einzug. Der aufgehende Mond war halb voll und ließ die Wolken und den Nebel leuchten. Gespenstisch griff das silbrige Licht nach den Dächern Kralls.

Umso mehr wurde sich Alys der Dunkelheit in ihrem Zimmer bewusst, in den Ecken, die der Mondschein nicht erreichte. Unter anderen Umständen bereitete sie ihr keine Angst, doch in diesem Moment verspürte sie das dringende Bedürfnis, Licht zu entzünden. Doch dafür müsste sie erst hinunter zum Kamin gehen und das Zündeisen holen. Sie betrachtete die ungleichen Silhouetten der drei Kerzen auf ihrem Nachttisch. Das Wachs, das auf dem dunklen Holz klebte, zeugte von vielen Abenden bei sanftem Flackern. Es war absurd, hatte ihr doch das Feuer ihre Eltern genommen. Aber die Kerzen brachte sie mit Velia in Verbindung, die ihr in deren Lichtschein vorgelesen hatte, als sie noch ein Kind gewesen war. Alys versuchte, sich an ihre Eltern zu erinnern, an mehr als die kurzen Momente, in denen ihr einfiel, wie das Lachen ihrer Mutter geklungen oder wie die Augen ihres Vaters in derselben Farbe geglänzt hatten wie die ihren, wenn sie sich selbst im Spiegel betrachtete. Vergeblich. Selbst die Erinnerungen an ihr Heimatdorf Orsian waren verblasst.

Seufzend sah Alys aus dem Fenster und betrachtete den Mond. Unten im Haus erklang das Knarren der Wohnungstür, das Alys zusammenzucken ließ, bis sie kurz darauf die Stimmen ihres Onkels und ihrer Tante erkannte, die sich leise unterhielten. Alys bemerkte, dass sie kurz die Luft angehalten hatte. Erleichtert atmete sie aus und fragte sich, wo die beiden wohl gewesen waren. Vielleicht haben sie mit Arwulfs Familie um meine Mitgift gefeilscht, ging es ihr durch den Kopf. Sie war jedoch zu sehr mit den Geschehnissen des Tages beschäftigt, um den Gedanken weiter zu verfolgen.

Sie wandte sich wieder dem Fenster zu – und fuhr schlagartig im Bett hoch. Auf dem gegenüberliegenden Dach ragte ein etwa zwei Meter großer Schatten vor dem Mond auf. Es fühlte sich an, als würde sie von der Nacht selbst beobachtet. Alys glitt aus dem Bett und wich vor dem Fenster zurück, aus dem Blickfeld der unsichtbaren Augen.

Sofort dachte sie an den Mann im Wald – sofern er denn ein Mann war. Alys zweifelte daran, dass es sich bei ihm überhaupt um einen Menschen handelte. War er ihr hierher gefolgt? Sie dachte an all das Blut auf der Lichtung, an die erstarrten Pupillen der Toten, die noch von Grauen erfüllt gewesen waren. Und doch fürchtete sich Alys nicht so sehr vor dem Schatten auf der anderen Seite des Fensters wie vor den Räubern, die sie überfallen hatten. Schließlich hatte der große Fremde sie gerettet. Auch wenn diese Rettung vielmehr einem Massaker gleichkam.

Es gab so viele Dinge, die sie nicht verstand. Sie hatte die Gedanken daran nicht zulassen wollen, seit sie den Wald verlassen hatte. Nun aber dachte sie unweigerlich daran, dass die Männer den Schatten am Rande der Lichtung nicht gesehen hatten, bis er mit tödlicher Gewalt über sie gekommen war. Warum konnte sie es?

Vorsichtig spähte Alys aus dem Fenster. Er war verschwunden. Schon wieder. Vielleicht begann sie auch zu halluzinieren. Das zerrissene Kleid auf dem Boden war allerdings echt, ebenso das eingetrocknete Blut, das noch sichelförmig unter ihren Nägeln klebte. Und all die furchterregenden Fragen, die ihr Denken überschwemmten.

Graue Dunstschleier stiegen aus dem scheinbar endlos tiefen Krater auf, der sich durch die Unterwelt zog und sie in zwei Hälften trennte, von denen eine so trostlos war wie die andere. Der Todbringer wandelte auf dem schmalen Grat zwischen der Schlucht und der pechschwarzen Felswand. Jeder seiner Schritte wirbelte Staubwolken auf; Staub, entstanden aus jahrhundertelang zermahlenen Knochen. Auch jetzt noch knackten frische Schädel und andere Teile menschlicher Körper unter den Sohlen seiner schweren Stiefel.

Eine halbkreisförmige Öffnung tat sich in der Wand auf und der Todbringer betrat den Gang dahinter. Er zog sich lang und finster durch das kohlschwarze Gestein und war von Stalagmiten und Stalaktiten durchwachsen. Es gab keine erkennbaren Lichter, nur von den Wänden selbst schien ein sanftes dunkelgrünes Strahlen auszugehen, das unauffällig pulsierte.

Ein kaum hörbares Stöhnen rumorte durch den Gang und im nächsten Augenblick fühlte sich der Todbringer am Knöchel gepackt. Er sah nach unten in die halb verweste Fratze eines der Untoten, die die Unterwelt bevölkerten, dazu verdammt, auf ewig an diesem Ort der Finsternis dahinzusiechen. Diesem abstoßenden Exemplar fehlte der Unterleib, sodass es sich nur noch mit den Armen über den Boden ziehen konnte. Bisweilen fraßen sich die Untoten gegenseitig auf.

Unter angewidertem Fluchen schüttelte der Todbringer die verknöcherte Hand ab. Ohne der kriechenden Gestalt noch einmal Beachtung zu schenken, marschierte er weiter den Gang entlang und dachte an das Mädchen, das er bis ins Dorf verfolgt hatte. Die junge Frau glaubte, die Wände ihres Hauses könnten sie vor ihm schützen. Er sah sie noch vor sich, wie sich der kühle Mondschein auf der Haut ihres sterblichen Körpers brach und sie in den Schleier einer Lichtgestalt hüllte. Es hatte eine Weile gedauert, bis sie ihn auf dem benachbarten Dach entdeckt hatte. Sie hätte ihn nicht sehen sollen, aber er hatte zu lange dort verweilt. Ob er es getan hatte, um ihr Angst einzujagen oder sein Opfer zu studieren – er wusste es selbst nicht genau. Doch als ihr Blick an ihm hängengeblieben war, hatte ihm die Furcht darin eine gewisse Genugtuung gegeben. Und dennoch war er gegangen. Er hätte es schnell und sauber erledigen können – die Blutuhr herumdrehen und auf ihren Tod warten. Stattdessen hatte er sich gesagt, dass ihr plötzliches Verscheiden zu viel Aufsehen erregen würde. Die Dorfbewohner waren ohnehin schon seit Jahren auf der Hut. Nicht, dass es sie in irgendeiner Weise retten konnte. Aber dem Tod gefiel es nicht, wenn die Menschen zu viel über ihn herausfanden.

Oder gab es noch einen anderen Grund?

»Letifer!«

Der Todbringer stockte, als eine Stimme die Dunkelheit durchbrach. Er musste sich nicht erst herumdrehen, um zu wissen, von wem sie stammte.

»Wohin des Weges, Letifer? Mit verdrießlichem Schimpfen wie immer kündigst du dein Kommen an und versuchst doch ständig, dich hier vorbeizuschleichen. Was ist der Grund für dein brodelndes Gemüt?«

Letifer drehte den Kopf und gewahrte einen Mann, dessen weiße Haare ihm bis zu den Schulterblättern reichten. Rein äußerlich schien er im mittleren Alter zu sein, doch Azef war ebenfalls ein Todbringer und die Jahrhunderte konnten seiner Hülle nichts anhaben. Das blutrote Cape schleifte über den Boden, als er auf Letifer zukam. Der Rest seiner hochgewachsenen Silhouette war in tiefstes Schwarz gehüllt.

»Ist dir die Made da hinten etwa entgangen?«, knurrte er zur Antwort und nickte zu dem untoten Etwas, das einmal ein Mensch gewesen war. »Dieses dreckige Gesindel weiß offenbar nicht mehr, wo sein Platz ist. Ständig erwische ich welche von ihnen in den Gängen.«

Ein kaltes Lächeln verzog Azefs Gesicht. Seine dunklen Augen zeigten keinerlei Regung. »Ein Mensch ist dir entwischt. Du wirst ihn noch töten müssen.«

Entwischt … Besser hätte es wohl entkommen lassen getroffen.

»Niemand vereitelt ungestraft den Plan des Todes«, fuhr Azef fort, als Letifer nicht antwortete. »Vielleicht sollte einer der anderen Todbringer dieses … Missgeschick beseitigen.«

»Nein«, sagte Letifer ungerührt. Sie war sein Opfer. »Morgen kehre ich zurück, um den Menschen zu töten.«

»Sofort«, korrigierte Azef ihn scharf. »Und kehre besser nicht zurück, ehe du das Problem aus der Welt geschafft hast. Des Todes Missgunst trifft uns alle, obgleich es dein Versagen ist.«

Letifers Mimik verdüsterte sich. Niemand hatte ihm Befehle zu erteilen. Niemand außer dem Tod.

»Ich warte nur darauf«, knurrte es in den Schatten, »dass du versagst.« Ein weiterer Todbringer trat auf Letifer und Azef zu. Retsinis. Unter den insgesamt sieben Todbringern genoss er seine Aufgabe am meisten und grausamsten.

Letifer wandte sich zu ihm um und sah, wie Retsinis beiläufig mit einem Messer spielte und ihn mit seinem rechten, erdfarbenen Auge musterte; sein linkes war weiß, blind und von einer unschönen Narbe überzogen, die seine Augenbraue in zwei Hälften spaltete. Nur der Tod selbst konnte ihnen solche bleibenden Wunden zufügen.

Letifer presste die Kiefer zusammen und kehrte den Todbringern den Rücken zu. Er konnte deren Gesellschaft noch nie ausstehen. Wenn es nach ihm ginge, war der Tod ein einsames Geschäft.

Ohne sich zu verabschieden, ging Letifer den Gang zurück, den er gekommen war. Er hörte, wie Azef sagte: »Lass ihn ziehen.« Doch er wusste, dass Retisinis ihm früher oder später Ärger bereiten würde. Die Unterwelt wurde so schnell eintönig, während die Welt der Menschen Leid, Blut und Tod versprach.

Der Gang und das grünliche Licht blieben hinter Letifer zurück, als er zur Schlucht zurückkehrte. Das Tor in die Welt der Lebenden.

Der Todbringer stellte sich rücklings zur Felsspalte, sodass seine Fersen über die Kante ragten und breitete die Arme aus. Dann ließ er sich in die Finsternis fallen.

Eine Hand packte Alys an der Kehle und sie würgte. Das Gesicht des Räubers nahm ihr ganzes Blickfeld ein und sie versuchte, zu schreien, aber ihre Lungen versagten ihr den Dienst. Vor ihren Augen explodierte ein Sternenmeer, die Luft wurde immer knapper und die freie Hand des Mannes zückte ein Messer –

Mit einem lauten Keuchen schrak Alys in ihrem Bett aus dem Schlaf hoch. Ein Traum. Nur ein böser Traum.

Ihr Nachtgewand klebte an ihrem Rücken, trotzdem fror sie. Ein Luftzug erfasste sie und ließ ihre Haare flattern. Beunruhigt stellte sie fest, dass das Fenster offen stand. Sie konnte sich nicht erinnern, es geöffnet zu haben. Fröstelnd schlug Alys die Bettdecke zurück, als sich ihre Augen allmählich an die Dunkelheit gewöhnten und – sie erstarrte.

Am Fußende ihres Bettes ragte ein massiver Schatten auf, der eindeutig nicht dort hingehörte. Ihr Blick wanderte hinauf, wo das Gesicht der Gestalt unergründlich von der Nacht eingehüllt wurde. Der Fremde hob einen Finger an seine Lippen.

Shhh.

Sie hätte nicht schreien können, selbst wenn sie es gewollt hätte. War dies ein weiterer düsterer Traum, der sie quälen sollte?

Der Schattenmann trat lautlos um das Bett herum und kam auf sie zu. Ihre Gedanken bäumten sich unter dem Fluchtinstinkt auf. Aber Alys rührte sich nicht. Sie war wie gefesselt. Genau wie bei ihrer Begegnung im Wald.

Er setzte sich auf die Bettkante und streckte eine Hand nach ihr aus. Die fahle Haut schien im schwachen Mondlicht, das sich durch das Fenster ergoss, zu glühen. Alys wartete auf den Moment, in dem sie aufwachen und die Traumgestalt verschwinden würde. Stattdessen erwachte ihr Fluchtinstinkt. Doch bevor sie sich bewegen konnte, berührten seine Fingerspitzen ihre Stirn. Ein heißkaltes Kribbeln überschwemmte Alys’ Körper, etwas schien sie von innen heraus zu blenden, aber ihre Angst verschwand schlagartig. Die Finger des Fremden glitten über ihre Augenbrauen hinab, als er ihre Lider schloss. Dann wurde sie von der Dunkelheit verschlungen.

Zärtlich küsste das Licht der Sonne sie wach. Durch die milchigen Vorhänge hingen die Strahlen wie ein Schleier über dem Bett.

Alys blinzelte gegen das Tageslicht an und genoss das Gefühl, sich auf den weichen Laken zu räkeln. Sie hatte geschlafen wie ein Stein und gähnte zufrieden. Ein Blick aus dem Fenster zeigte, dass es ein schöner, sonniger Herbsttag werden würde.

Das geschlossene Fenster.

Schlagartig war Alys hellwach und fuhr hoch. Jetzt fiel ihr alles wieder ein. Das offene Fenster, der Schatten an ihrem Bett … Instinktiv griff sie an ihre Stirn, dort, wo ihr nächtlicher Besucher sie berührt hatte. Nichts deutete darauf hin, dass außer ihr in der Nacht noch jemand hier gewesen war. Sie versuchte, sich zu erinnern, musste aber feststellen, dass sie nach der Begegnung nicht einmal mehr geträumt hatte. Wahrscheinlich war die Begegnung selbst nicht mehr als ein Traum gewesen.