Deeskalation in der Pflege - Marian Rohde - E-Book

Deeskalation in der Pflege E-Book

Marian Rohde

4,8

Beschreibung

Gewalt kommt in allen Pflegebereichen vor: Psychiatrie, Somatik, Behinderten- und Altenpflege. Neben Polizei und Sicherheitsgewerbe gehört die Pflege zu den Berufsgruppen mit den meisten körperlichen Übergriffen. "Deeskalation in der Pflege" zeigt, wie Sie Gewalt verhindern oder abschwächen können. Kommunikationstheorien, Deeskalationsstrategien, Vorbeugungsmaßnahmen, Sicherheitshinweise, Fixierungs- und Befreiungsgriffe sind Themen, die in diesem Buch praxisnah vermittelt werden.

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BaER® Akademie Essen

Bewältigung aggressiver Emotionen & Reaktionen

Deeskalation, Gewaltprävention und Coaching

Inhaltsverzeichnis

VOR(HER)-WORTE

1. KOMMUNIKATION

1.1 Allgemeines

1.1.1 Definitionen

1.1.2 Aggressionstheorien

1.1.3 Kommunikationstheorien

1.1.4 Körpersprache

1.1.5 Distanzen

1.2 Sie selbst

1.2.1 Wahr-nehmung

1.2.2 Filter und Bedürfnisse

1.2.3 Die Mimik

1.2.4 Inneres Team

1.2.5 Konstruktive Konfliktlösung

1.3 Techniken

1.3.1 Kommunikationsfehler

1.3.2 Deeskalierende Kommunikation

1.3.3 Aktives Zuhören

1.3.4 Gewaltfreie Kommunikation

1.3.5 Statuswippe

2. DEESKALATION

2.1 Grundvoraussetzungen

2.1.1 Geistes-Haltung

2.1.2 Selbst-bewusst-sein

2.1.3 Gewaltprädiktoren

2.1.4 Ihr Bauchgefühl

2.2 Stress

2.2.1 Stressbiologie

2.2.2 U(h)rzeitmodell

2.2.3 SOR- oder ABC-Modell

2.2.4 Kurzfristige Erleichterung

2.2.5 Längerfristige Stressbewältigung

2.3 (De-)Eskalationstufen

2.3.1 Visuell

2.3.2 Verbal

2.3.3 Taktil

2.4 Deeskalationsstrategien

2.4.1 (Eigen-)Deeskalation

2.4.2 Hawa–Mahal–Strategie

2.4.3 Zivilcourage

2.4.4 (Fremd-)Deeskalation

2.5 Berufliche Deeskalation

2.5.1 Arbeitgeberpflichten

2.5.2 Gewaltvorbeugung

2.5.3 Berufliche Deeskalations-kommunikation

2.5.4 Rechtliche Grundlagen

2.5.5 Krankheiten

2.5.6 Kollegen(-team?)

2.5.7 Sexuelle Belästigungen

2.5.8 Waffen und Uniformen

2.5.9 Nachsorge

2.6 Pflegebereich

2.6.1 Arbeitsbereiche der Pflege

2.6.2 Risikofaktoren

2.6.3 Ernährung

2.6.4 Totale Institution

2.6.5 Gewaltarmes Milieu

3. KÖRPERLICHE DEESKALATION

3.1 Prävention

3.1.1 Sicherheitshinweise

3.1.2 Vorbeugung

3.1.3 Check-Liste

3.2 Befreiungsgriffe

3.2.1 Einhandbefreiung

3.2.2 Zweihandbefreiung

3.3 SaFE-Techniken

3.3.1 SaFE-Riegelgriff

3.3.2 SaFE-Riegelgriff zu zweit

3.3.3 SaFE-Kopfgriff

3.3.4 SaFE-Beintriangel

3.3.5 SaFE-Umklammerung

3.3.6 SaFE-Klammergriff

3.4 Fixierung

3.4.1 Rechtliches

3.4.2 Techniken und Taktik

3.4.3 Gefahren

3.4.4 Allgemeines

ZUSAMMENFASSUNG

4. INFORMATIONEN

4.1 Literaturempfehlungen

4.2 Weiterführende Literatur

4.3 Internetseiten

4.4 Autoren

Vor(her)-Worte

„Tu was du kannst, mit dem was du hast, wo immer du bist.“

Theodor Roosevelt

Nach verschiedenen Studien wurden zwischen 72 und 78% der Mitarbeiter in Gesundheitseinrichtungen verbal angegriffen. Zwischen 42 und 56% waren beruflich körperlicher Gewalt ausgesetzt. 28% der Pflegekräfte in Deutschland erleben mindestens einmal im Monat massive Gewalt von Patienten oder Angehörigen. Stress und Gewalt scheinen das Pflegepersonal beruflich überall zu begleiten. Die NEXT-Studie zeigt, dass 18,4% der Pflegenden über einen Berufswechsel nachdenkt. Der Großteil gibt besonders belastende Situationen als Grund an. Dies war für uns ein wichtiger Grund, um nach dem allgemeingültigen Buch „Kommunikative Deeskalation“ ein eigenes Deeskalations-Buch für den Pflegebereich zu schreiben.

Besonders die Psychiatrie und die Notaufnahmen sind von körperlichen Übergriffen betroffen. Die Gewalt in der Altenpflege und bei Rettungsdiensten wurde lange unterschätzt und auch auf Neugeborenen-Stationen kommt es zu Übergriffen (natürlich nicht mit den Neugeborenen, sondern eher mit deren Angehörigen.)

Dabei gibt es keine Universallösung beim Thema Deeskalation. Die Reaktion, die einmal richtig war, kann in der nächsten Situationen falsch sein. Deshalb gibt es bei dem Thema Deeskalation eigentlich kein richtig oder falsch. Es gibt nur Reaktionen, die die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass es nicht zu einer Eskalation kommt. Doch mit diesem Buch oder einem Seminar ist diese Thematik natürlich nicht abgeschlossen.

Für die Deeskalation ist, wie in vielen Bereichen, ein ganzheitliches und lebenslanges Lernen notwendig. Durch den Kauf dieses Buches haben Sie Ihr „Wollen“ (Herz) signalisiert; wir möchten das „Wissen“ (Kopf) mit diesem Buch an Sie weitergeben und das „Können“ (Hand) bekommen Sie durch Ihre Erfahrungen und bestenfalls im gesicherten Rahmen eines Seminars vermittelt.

Dies ist ein Praxisbuch und keine Doktorarbeit und wir möchten auch nicht Bundespräsident oder Minister werden. Deshalb haben wir manchmal nicht zu 100% wissenschaftlich gearbeitet, damit der Text leicht zu verstehen und lesbar ist. Wir haben die ganze Zeit versucht, klar, deutlich und deutsch zu schreiben. Fremdwörter haben wir weitestgehend vermieden. Wörter, auf deren Stamm und deren Bedeutung wir besonders hinweisen möchten, haben wir durch einen Bindestrich getrennt und verbunden.

Humor (gerade schwarzer Humor) ist unsere Art mit schlimmen Themen (z.B. Gewalt) umzugehen. Es ist für uns eine innere Reinigung (Katharsis) und verschafft uns Abstand zu dem Thema. Humor ist durch Kursivschrift gekennzeichnet und ist für das Verständnis des Textes nicht wichtig.

Liebe Leserinnen, bitte fühlen Sie sich auch angesprochen, wenn wir im Folgenden nur die männliche Form verwenden. Die Gründe dafür sind die bessere Lesbarkeit, die sprachliche Einheitlichkeit und weil wir Machos sind.

In dieser Auflage haben wir den Bereich der körperlichen Techniken erweitert. Wir hatten die Nase voll von den „Polizeispezialeinheitenhebeln“ und wollten „menschenfreundlichere“ Techniken in der Pflege haben. Mit Kollegen aus verschiedenen Kampfkünsten (WingTsun, Krav Maga, Jiu Jitsu, Grabbling, Mixed Martial Arts, Karate) und aus verschiedenen Berufsgruppen (Polizei, Justiz, Jugendhilfe und natürlich dem Pflegebereich) entwickelten wir deshalb die SaFE-Techniken (Schmerzarme Festhalte- und Eingriffs-Techniken). In diesem Buch sind einige dieser Techniken beschrieben.

Vielen Dank für Anregungen, Kritiken und Korrekturen an: Sibylle Bärsch, Frank & Thomas Müller, Andreas Rähl, André Karkalis, Ralf-Erik Posselt, Emanuel Kellert, Judith Schönebeck, David Schröder, Caro Deschzyk und Maren Robertz

Viel Spaß beim Lesen und wir hoffen, dass Sie neue Informationen erhalten und sich vielleicht sogar selbst weiter entwickeln. Bei Fragen und Anregungen stehen wir Ihnen gerne zur Verfügung. Unsere Kontaktdaten finden Sie hinten im Buch.

Tim Bärsch & Marian Rohde

1 Kommunikation

„Bewahre mich vor dem naiven Glauben, es müsse im Leben alles gelingen. Schenke mir die nüchterne Erkenntnis, dass Schwierigkeiten, Niederlagen, Misserfolge, Rückschläge eine selbstverständliche Zugabe zum Leben sind, durch die wir wachsen und reifen.“ Antoine de Saint Exupéry

Nach dem österreichischen Kommunikationswissenschaftler Paul Watzlawick (1921-2007) teilt sich jeder Mensch immer mit („Man kann nicht nicht kommunizieren.“). Kommunikation ist ein wichtiges Thema, weil Gewalt eine (Ab-)Art des sich Mitteilens ist. Der Sender (Schläger) sendet nicht-sprachlich eine Nachricht (Schlag) zum Empfänger (Geschlagenen).

1.1 Allgemeiines

„Aus Fehlern wird man klug, also ist einer nicht genug!“

Fernsehsendung Klimbim

Damit Sie überhaupt wissen, wovon wir schreiben, definieren und erklären wir allgemeine Ansätze zum Thema Deeskalation. Vielleicht ist nicht jeder Ansatz für Sie interessant. Jedes Kapitel kann aber auch für sich alleine stehen, d.h. Sie können Kapitel überspringen und den Rest des Buches trotzdem verstehen.

1.1.1 Definitionen

„Das Leben ist schön und wenn es grad mal nicht schön ist, dann mach ich ´s mir schön. Und wenn es dann immer noch nicht schön ist, dann red ich´s mir schön.“ Farin Urlaub – Band „Die Ärzte“

Kommunikation (lat. Communicare: teilen, mitteilen, teilnehmen lassen, gemeinsam machen, vereinigen) bezeichnet auf der menschlichen Alltagsebene den wechselseitigen Austausch von Gedanken in Sprache, Gestik, Mimik, Schrift oder Bild. Hier eine Aufzählung nicht-sprachlicher (nonverbaler) Kommunikationen:

Kommunikation durch Blickverhalten (Blickkontakt)

Kommunikation durch Gesichtsausdruck (Mimik)

Kommunikation durch Körperhaltung u. Körperbewegung (Pantomimik)

Kommunikation durch Berührung (Taktilität)

Kommunikation durch räumliche Distanz zum anderen Kommunikationspartner (Regulierung des sozialen Raums)

Kommunikation durch tönende (vokale) nicht sprachliche Zeichen: Stimmqualität, Stimmhöhe, Stimmführung, Lautstärke, Klangfarbe, Artikulation, Sprechgeschwindigkeit (Paralinguistik)

Kommunikation durch Beiwerk: Kleidung, Statussymbole, Gestaltung des Raumes usw.

Kurzdefinition für dieses Buch: Kommunikation ist der Austausch von Informationen auf verschiedenen Wegen.

Das Wort Aggression leitet sich aus dem Lateinischen ,,aggredi“ ab. Es bedeutet ein aktives Herangehen oder Heranschreiten und stellt somit das Gegenteil zur Passivität da. Das Lexikon beschreibt Aggression als: „Angriffsverhalten, gereizte Einstellung, offene Feindseligkeit“. Auch im alltäglichen Sprachgebrauch hat der Begriff Aggression einen negativen Klang im Sinne von Begriffen wie „Störung, Verletzung, Verdrängung oder Vernichtung“. Umgangssprachlich bezeichnet Aggression ein widerspenstiges bis wütendes Verhalten sowie Gefühle, die zu solchen Verhaltensweisen führen. Bei Aggressionen kann es sich auch um ein Symptom von Erkrankungen und Persönlichkeitsstörungen handeln.

Kurzdefinition für dieses Buch: Aggression ist ein negatives Gefühl (auch Wut, Ärger, Zorn, Hass), welches zu gewalttätigem Handeln führen kann.

Aggressivität ist die erhöhte Bereitschaft eines Individuums zur Aggression (sowohl genetisch angelegt als auch erworben). Der Hang einer Person zu ständigen Aggressionen kann krankhaft sein.

Kurzdefinition für dieses Buch: Aggressivität ist der Hang zu Aggressionen.

Es finden sich zahllose Definitionen des Wortes „Gewalt“ und jeder beschreibt es ein wenig anders. Jemanden „aufschlitzen“ ist Gewalt. Doch wie ist es, wenn es sich um einen Chirurgen handelt, der eine lebenswichtige Operation durchführt? Ist es wirklich Gewalt, wenn Sie Ihr Kind gewalt-sam festhalten, damit es nicht auf die Straße läuft? Ist es Gewalt, wenn ein gewalttätiger Diktator ermordet oder ein Krieg für Menschenrechte geführt wird? Dies definiert jeder Mensch für sich selbst.

Laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) ist Gewalt „der absichtliche Gebrauch von angedrohtem oder tatsächlichem körperlichem Zwang oder physischer Macht gegen die eigene oder eine andere Person, gegen eine Gruppe oder Gemeinschaft, die entweder konkret oder mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Verletzungen, Tod, psychischen Schäden, Fehlentwicklungen oder Deprivation (Zustand der Entbehrung) führt.“

„Gewalt zerstört“ lautet die kurze und prägnante Definition des Bielefelder Pädagogen Wilhelm Heitmeyer.

Treffend formulierte der Konfliktforscher Johan Galtung, Gewalt liege dann vor, „wenn Menschen so beeinflusst werden, dass ihre aktuelle somatische und geistige Verwirklichung geringer ist als ihre potentielle Verwirklichung“.

„Gewalt tut weh“, sagen die Deeskalationstrainer der Gewalt Akademie Villigst. Kurzdefinition für dieses Buch: Gewalt ist ein Verhalten, welches andere schädigt.

1.1.2 Aggressionstheorien

Jeden Tag wird das Häschen mit der roten Mütze vom Bär und dem Fuchs verprügelt. Eines Tages denkt sich der Fuchs, „das ist doch langweilig, wir brauchen einen Grund.“ Am nächsten Tag wird es verprügelt, weil es eine rote Mütze auf hat. Dann denkt sich der Fuchs, „der Grund ist doof, wir fragen morgen nach einer Zigarette. Wenn es uns eine mit Filter gibt, hauen wir es, weil es uns den Geschmack versauen will. Gibt es uns eine ohne, schlagen wir es, weil es uns vergiften will.“ Am nächsten Tag kommt das Häschen wieder an dem Bär und dem Fuchs vorbei. Sie halten es auf und fragen nach einer Zigarette. Darauf antwortet das Häschen: „Wollt Ihr welche mit oder welche ohne Filter?“ Fuchs und Bär schauen sich dumm an, dann schubst der Bär den Fuchs mit dem Ellenbogen und sagt: „Du, es hat immer noch eine rote Mütze auf!“

Die Gründe für Gewalt sind für Opfer und Zuschauer nicht immer nachvollziehbar. Um Aggression und daraus resultierende Gewalt verstehen zu können, ist eine Betrachtung der möglichen Ursachen sinnvoll. Die drei am häufigsten genannten werden hier genauer erläutert, mit Blickwinkel auf die Relevanz bezüglich der Vorbeugung (Prävention).

Triebtheorie

Auch wenn die Psychoanalyse und die Verhaltensforschung auf den ersten Blick wenig gemeinsam zu haben scheinen, verbindet sie doch ihr Erklärungsansatz bezüglich Aggression und Gewalt. Sowohl der Psychoanalytiker Sigmund Freud (1856-1939) als auch der Verhaltensforscher Konrad Lorenz (1903-1989) gingen davon aus, dass Aggression ein normaler, angeborener Trieb eines jeden Wesens (und somit auch des Menschen) ist. Der Trieb der Aggression kann sich aufstauen und zu einer spontanen unkontrollierten Entladung führen. Somit handeln alle Menschen in bestimmten Situationen und in bestimmten Zeitabständen aggressiv, was allerdings eine lebensnotwendige Eigenschaft sei, die für Kampf und/oder Flucht (fight or flight Reaktion) in dementsprechenden Situationen unabdingbar ist. Für die Prävention ergeben sich so folgende Aspekte:

aggressive Triebe müssen umgelenkt werden (Sport, körperliche Arbeit)

das Ausleben emotionaler Spannungen muss ermöglicht werden

der Raum für Aktivitätsbedürfnisse muss bestehen können

Frustrations-Aggressions-Hypothese

Aggression wird als Reaktion auf äußere, frustrierende Ereignisse (Enttäuschung, negative Erfahrung, Entbehrung oder Provokation) gesehen. Eine Frustration führe dann zu einer Aggression, wenn diese Wut oder Ärger auslöst.

Die Frustrations-Aggressions-Hypothese fußt auf vier Grundsätzen:

Frustration führt zu aggressiven Verhaltensformen.

Die Aggressionsstärke ist proportional zur Frustrationsstärke.

Bei der Katharsis (innere Reinigung) wird durch aggressives Verhalten aggressive Energie abgeführt und die Aggressionsbereitschaft reduziert.

Wird die Ausübung der Aggression gehemmt, kommt es zu einer Verschiebung. Andere Personen (Sündenböcke) oder Objekte werden angegriffen.

Ausgehend von diesem Modell ergibt sich für die Gewaltprävention:

Ärgergefühle müssen verbalisiert werden

die Interpretationsweisen der Frustrationsauslöser muss verändert werden

Entwicklung von Frustrationstoleranz und Affektkontrolle

Anwendung von Entspannungsübungen

Modellernen

Der kanadische Psychologe Albert Bandura (*1925) geht davon aus, dass Menschen durch Imitation und Nachahmung lernen. Experimente mit Kindern bestätigten, dass diese Ansicht auch auf aggressives Verhalten zutrifft.

Bandura folgert, dass die Nachahmung eines aggressiven Modells am wahrscheinlichsten ist, wenn:

das Modell erfolgreich ist.

es Macht ausstrahlt („Schlüsselgewalt“, Lehrer, Richter, Polizist usw.).

die Aggression moralisch gerechtfertigt wird.

eine positive Beziehung zwischen Modell und Nachahmer besteht.

der Nachahmer frustriert ist.

Ist das Modell unmittelbar anwesend, ist die Nachahmungswahrscheinlichkeit laut Bandura am größten. Ein „latent aggressives“ Grundklima kann so zum Abbau von Hemmungen oder zum Erwerb neuer Verhaltensweisen führen.

Bandura merkt an, dass Aggression ein erlerntes Verhalten sei und man dieses auch wieder verlernen könne. Mögliche Präventionsansätze:

Kritik an aggressiven Modellen wecken

erwünschtes Verhalten verstärken, unerwünschtes Verhalten hemmen

Aufzeigen alternativer, prosozialer Verhaltensweisen

1.1.3 Kommunikationstheorien

„Reden lernt man durch reden.“ Marcus Tullis Cicero

Anschaulich gemacht wird das Prinzip der Kommunikation durch das so genannte Sender-Empfänger-Modell des britischen Soziologen Stuart Hall (1932-2014).

Zwischen Sender und Empfänger wird eine Nachricht ausgetauscht. Dazu bedient sich der Sender (bewusst oder unbewusst) eines Kanals. Dieser Kanal kann die Sprache sein oder auch Gestik, Mimik, Schreiben usw.

Der Empfänger „decodiert“ die auf dem jeweiligen Kanal gesendete Nachricht und sendet seinerseits eine Nachricht als Rückmeldung (Feedback). Dieses Modell wird auch als Rückmeldeschleife bezeichnet.

Die Botschaft einer Nachricht bestimmt hauptsächlich der Empfänger und nicht der Sender. Die Wirkung einer Botschaft ergibt sich dabei nur zu etwa 7 Prozent aus ihrem sprachlichen Inhalt. Zu 38 Prozent bestimmen Betonung und Sprechweise unsere Aussage, zu 55 Prozent sind es unsere Gesten und Bewegungen (Untersuchungen von Albert Mehrabian). Stimmen diese drei Bereiche überein, so sind sie kongruent (deckungsgleich). Sie wirken vertrauenswürdig und authentisch (echt).

Der Kommunikationswissenschaftler Friedemann Schulz von Thun (*1944) entwickelte das Vier-Seiten-Modell. Wir sprechen und hören bei jedem Kontakt zu einem anderen Menschen auf vier verschiedene Weisen:

Der

Sachinhalt

ist das, was durch gesprochene Worte ausgedrückt wird, also wort-wörtlich.

Der

Appell

einer Botschaft oder einer Handlung drückt die unausgesprochenen Wünsche und Sehnsüchte aus bzw. das, was der Partner davon auf sich bezieht.

Im

Beziehungshinweis

wird ausgedrückt bzw. aufgenommen, wie das Verhältnis der beiden Personen empfunden wird.

Die

Selbstoffenbarung

umfasst verborgene Werte, Emotionen und Triebe. Dieser Teil der Botschaft ist oft nicht-sprachlich.

Die vier Seiten einer Nachricht machen zwischenmenschliche Kontakte spannungsreich und anfällig für Störungen. Insbesondere Beziehungs- und Appellebene enthalten ein enormes Konfliktpotential. Denn möglicherweise decodiert der Empfänger die gesendete Nachricht auf einer völlig anderen Ebene, als diejenige, auf der sie gesendet wurde. Interessant sind Theorieeinheiten (auch für Jugendliche) mit greifbaren Beispielen, z.B. die Nachricht „Willst Du noch mit hoch kommen, einen Kaffee trinken?“ um fünf Uhr morgens nach einem Discobesuch. Auch die Nachricht „Hurensohn!“ auf der Straße hat meist nicht die Absicht, Sie zu informieren, dass Ihre Mutter für körperliche Liebe Geld nimmt.

1.1.4 Körpersprache

„Gehen lernt man durch stolpern.“ Bulgarisches Sprichwort

Der Körper verständigt sich und ist „der Handschuh der Seele“. Gebärden (Gestik) und Gesichtsausdruck (Mimik) sind das oft nicht zu kontrollierende Ventil, durch das Gefühle und Konflikte nach außen dringen. Dies zu deuten und eventuell zu beeinflussen ist heute eine wichtige Sache geworden, z.B. im Verkauf oder in der Politik. (Woran erkennen Sie einen lügenden Politiker? – Er bewegt die Lippen!) 250.000 verschiedene Gesichtsausdrücke und fast 1.000.000 nichtsprachliche Signale werden unterschieden. Interessant ist, dass die Körpersprache und das eigene Befinden sich gegenseitig beeinflussen. Wenn ich glücklich bin, sehe ich fröhlich aus. Und wenn ich glücklich schaue, fühle ich mich wohler.

Die Haltung spiegelt die Haltung (Körper- und Geisteshaltung)!

Die Körpersprache hat viele Ausprägungen:

Berühren, Streicheln, Schulter klopfen, aber auch Schlagen (Kinästhetisch)

Winken, Nicken, Augenaufschlag (Visuell)

Husten, Räuspern, Fuß stampfen, Klatschen (Auditiv)

Duften, Schwitzen, Eigengeruch, Parfüm (Olfaktorisch)

Küssen, Lecken (Gustatorisch)

Gesichtsausdruck, Augenausdruck, Mundform (Mimik)

Bewegung und Haltung der Hände (Gestik)

Blickkontakt, Kopfneigung, -bewegung (Kopf-haltung)

Körperneigung, -bewegung, Beinhaltung (Körper-haltung)

Beinkreuzen, Winkel zum Gegenüber, Vor- oder Zurückbeugen

Die Körpersprache ist sehr entscheidend und Sie können in allen Kulturen eine Gemeinsamkeit wieder entdecken: „Groß ist besser als klein“. Im Deutschen heißt es: Sie sind „mickerig“, „kleinmütig“, „niederträchtig“, „kleinlaut“, ein „Kleingeist“, haben „niedere Instinkte“ oder kommen aus der „unteren Schicht“. Um dem Gegenüber Respekt zu erweisen, machen wir uns kleiner. Sie nehmen zur Begrüßung den Hut ab, verbeugen sich („Einen Diener machen“) oder machen sogar einen Knicks. Die „Vogelperspektive“ (von oben nach unten) wird beim Film eingesetzt, um zu zeigen, dass Sie als Zuschauer groß und auch überlegen sind.

Dem gegenüber stehen die aus der „Froschperspektive“ gesehenen „hohen Herren“ (auch „Hoheit“ genannt), die „großen Tiere“ oder die „Großen dieser Welt“, die auf dem Treppchen „oben“ stehen. Sie stehen „über“ den anderen und können diese „überzeugen“, „überreden“, „übertrumpfen“ oder einfach „überragen“. Die Götter wohnen oben im Himmel oder auf dem Olymp. Die Symbole der Macht und des Erfolges sind auch schon immer groß gewesen, z.B. die Pyramiden, die Kirchen oder Wolkenkratzer. Obwohl körperliche Länge nicht notwendig ist, um in unserer Gesellschaft erfolgreich zu sein, sind die beruflich erfolgreichen Menschen im Durchschnitt größer als der Bevölkerungsdurchschnitt. (Beispiel: Nach Schätzungen von Studenten waren ihre Professoren größer als sie wirklich sind und Mitstudenten kleiner.) Der erfolgreiche Mensch macht ausladende Bewegungen, hat ein riesiges Büro, geht raumgreifenden Hobbys (Golf, Segeln) nach, fährt ein großes Auto, hat „viel“ Grundstück, eine Villa mit vielen Zimmern (auch unnötigen wie z.B. dem Geschenkeinpackzimmer). Ansehen zeigt sich in Größe. Besonders beim Mann ist die Größe der PS-Zahl wichtig. (Wobei einige noch rätseln, ob PS für Pentium-, Potenz-, Penis-, Playmate-rumkrieg- oder Promillestärke steht.) Um die Größe auszugleichen, richten wir uns in Streitsituationen auf. Wir machen uns breit und plustern uns auf, um Stärke zu zeigen. Tiere haben zusätzlich Federn und Haare, die sie zur Vergrößerung einsetzen können. Die Gorilla stellen ihre Haare an den Schultern auf, damit sie noch breiter und stärker wirken. Das haben unsere menschlichen Armeen und Polizeikräfte weltweit übernommen und zeigen ihre Stärke in Form von Sternen und anderen Zeichen auf ihren Schultern. Auch die breite Brust des Gorilla spiegelt sich wieder in der ordenbehangenen „Heldenbrust“.

Gewalttäter sind Meister im Lesen der Körpersprache. Sie erkennen innerhalb weniger Sekunden, ob sie ein „ängstliches Opfer“ oder eine „selbst-bewusste Person“ vor sich haben. Um ein Gefühl der Macht zu haben, muss der aggressive Gewalttäter einen Sieg er-ringen und sucht sich deshalb ein „Opfer“ zum Zweikampf. In diesem Text gehen wir kurz und stark vereinfacht auf diese drei Typen (ängstlich, aggressiv, selbst-bewusst) ein und erläutern deren Körpersprache.

Der „Ängstliche Typ“ strahlt seine Unsicherheit in Gestik und Mimik aus. Der Begriff Angst kommt aus dem lateinischen und bedeutet soviel wie „Enge“. Der Gang und die Bewegungen wirken „eingeengt“ furchtsam und der Gesichtsausdruck scheint besorgt zu sein. Die Haltung ist gebückt, die Beine stehen eng zusammen, die Arme befinden sich vor dem Körper, die Schultern und der Kopf sind nach vorne gebeugt. Der „Ängstliche“ schützt alle seine empfindlichen Körperteile, die sich auf seiner vertikalen Mittellinie befinden (Nasenbein, Kehlkopf, Solarplexus, Magengegend und Tiefbereich). Es wirkt so, als würde er sich wie ein Igel zusammenrollen oder sich der Embryonalstellung annähern. Er ordnet sich der anderen Person „unter“ und macht sich klein.

Der „Aggressive Typ“ möchte das Gefühl der Überlegenheit spüren und Macht ausüben. Dass das Gegenüber dem Täter unter-legen ist, zeigt „Mann“ am deutlichsten, wenn das Gegenüber ohn(e)-mächtig „unter“ ihm liegt. Aus diesem Grund sucht der Aggressive sich ein Opfer und keinen Gegner, weil er sonst selbst unter(n)-liegen könnte. Das Beeindrucken des Gegners durch seine aggressiven Gesten hat sich seit Tausenden von Jahren nicht geändert. Ähnliche Gebärden kann man heute bei verschiedenen Tieren im Zoo, in den Wäldern oder in der Wüste genau so gut beobachten wie bei unseren Artgenossen in der Eckkneipe, auf einer Kirmes oder beim Schützenfest. Der Stand ist mehr als schulterbreit und die Arme sind nach unten zur Seite gestreckt, um der Öffentlichkeit zu zeigen, wie breit und mächtig man ist. Dies ist sehr gut bei „Möchte-gern-Bodyguards“ vor einigen Diskotheken zu bewundern. Der Kopf ist angehoben und damit wird der Kehlkopf freigelegt. Die vertikale Mittellinie ist völlig ungeschützt, um dem Gegenüber die empfindlichen Körperpunkte zu präsentieren. Diese Haltung gab es schon bei den Revolverhelden des Wilden Westen: „Ich zeige dir meine Schwachstellen (Kehlkopf, Tiefbereich usw.) und habe meine Waffen unten (Fäuste / Pistolen). Trotzdem hast du keine Chance gegen mich!“ Der aggressive Typ wird gerne von Gleichgesinnten als Gegner und als Herausforderung genommen, um ihm zu zeigen, dass er nicht der Stärkere ist.

Der (sich) „Selbst-bewusste“