Deidamia: Die letzte Oper Georg Friedrich Händels aus autobiografischer Perspektive - Heinz Baum - E-Book

Deidamia: Die letzte Oper Georg Friedrich Händels aus autobiografischer Perspektive E-Book

Heinz Baum

0,0
19,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Händels Opernstoffe scheinen auf den ersten Blick mythologische, geschichtliche oder Heldenstoffe zu sein – ohne jegliche Verbindung zu seinem Leben. Man kann jedoch davon ausgehen, dass Händel diese Stoffe nicht allein um ihrer selbst willen verwendete, sondern dass sie doch im Zusammenhang mit seiner Lebenswirklichkeit stehen. Heinz Baum blickt in seiner vorliegenden Untersuchung hinter die Kulissen des Stoffes, welcher der Oper Deidamia zugrunde liegt. Die dabei zutage tretenden biografischen Bezüge zu Händel sind faszinierend vielfältig und lassen die Stoffwahl Händels für seine letzte Oper in einem ganz neuen Licht erscheinen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 264

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



ibidem-Verlag, Stuttgart

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Über das Libretto und die Oper um 1700

Die Rolle des Librettisten zu Händels Zeit

Paolo Antonio Rolli, der Librettist der Oper Deidamia

Händel als Librettist

Zur Inszenierung

Marchese Francesco Maria Ruspoli

Mit den Gedanken von England nach Italien

Zur Oper Deidamia

Zur Vorgeschichte der Opernhandlung

Interpretation des Librettos

Erster Akt

Zweiter Akt

Dritter Akt

Eine romanartig-biografische Ergänzung zum Libretto

Zur Frage einer Elternthematik

Resümee

Anhang: Das Libretto

Erster Akt

Zweiter Akt

Dritter Akt

Literaturverzeichnis

Für Elisabeth

Einleitung

Im Booklet der unter seinem Dirigat eingespielten CD von Deidamia weist Alan Curtis auf den eigenartig verklingenden Schlusschor hin (3): „Die letzten Worte des Textes: Freudige Momente entfliehen dahin, um nie zurückzukehren, werden von einer rasch absteigenden Tonleiter heraufbeschworen [gemeint ist: begleitet, Einfügung H.B.], die im wahrsten Sinne über das Ende der Geige hinaus verschwindet [der letzte Ton der Oper ist ein leises und flüchtiges, unbegleitetes G auf der tiefsten leeren Violinsaite]. Es ist, als habe Händel gewusst, dass dies seine letzte Oper werden könnte.“

AnthonyHicks formuliert im selben Booklet: „Lykomedes‘ Bedauern in der Arie ‚Nel riposo e nel contento‘, dass seine Gebrechlichkeit ihn von der Teilnahme an der Jagd abhält, so dass seine einzige verbliebene Freude darin besteht, der Ruhe zu pflegen, wirkt erstaunlich ergreifend und vermittelt vielleicht etwas vom Fühlen des fünfundfünfzigjährigen Komponisten, der die Hektik einer Opernproduktion nicht mehr so recht genießen kann.“ Hicks geht hier ebenfalls nicht ausschließlich auf die Musik ein, sondern gibt auch dem Text Raum.

Beide Autoren nehmen also nicht nur über die Musik, sondern auch über den Text Bezug zu Händels Lebensrealität zur Zeit der Komposition. Sie weisen auf das mögliche Wissen des Komponisten um sich und seine Situation hin, womit auch seine Emotionen angesprochen sind. Man könnte sagen, dass sie von Händels Befindlichkeit sprechen, die auch über den Text der Oper zum Ausdruck kommt.Die Befindlichkeit Händels wiederum steht in direktem Zusammenhang mit seiner Biografie.

Hans Joachim Marx weist in seinem Händel-Lexikon auf die komplexen Zusammenhänge zwischen der Lebenswirklichkeit eines Künstlers und seiner Schaffensweise hin (19).

Man kann nun, angeregt und in Weiterführung dieser Aussagen, fragen, ob sich über den Text der Oper Deidamia weitere Aspekte von Händels Befindlichkeit bzw. seiner Biografie auffinden lassen.

Es ist kaum vorstellbar, dass Händel mythologische, geschichtliche oder Heldenstoffe ohne jeden Bezug zu seinem Leben in seinem Werk verarbeitete. Mit einiger Wahrscheinlichkeit hat er diese Stoffe nicht um ihrer selbst willen verwendet. Allerdings ist ein Bezug zu Händels Leben in seinen Werken über die Analyse der verwendeten Texte nicht auf den ersten Blick erkennbar. Die vorliegende Interpretation versucht, hinter die Kulissen des Stoffes zu schauen, welcher der Oper Deidamia zugrunde liegt. Warum wurde gerade dieser Stoff von Händel aufgegriffen, lautet dabei die Frage.

Man kann davon ausgehen, dass es sich beim Libretto von Deidamia um einen Text handelt, den Händel zusammen mit Paolo Antonio Rolli neu entwickelt hat. Anzunehmen ist, dass Händel interveniert hätte, wäre im Libretto etwas formuliert worden, das nicht seinen Intentionen entsprach.

Als Zugangsweg zum Libretto wurde ein empathiegeleiteter Ansatz gewählt, der versucht, sich in die damalige Situation hineinzuversetzen. Dabei gewonnene Anschauungen werden in einer romanartigen Ergänzung mit den bisher bekannten Fakten aus Händels Biografie zusammengeführt.

 

Über das Libretto und die Oper um 1700

Das Libretto kann als eigenständige Dichtung bezeichnet werden. Stets ist es eine hochkomplexe Angelegenheit, die vieles umfasst, keinesfalls ist es „nur“ ein Textbuch zur Oper.

Das Libretto bildet die Grundlage für die szenische und musikalische Struktur einer Aufführung (19). Dafür müssen Dramaturgie und Rollentypologie bestimmt sein. Bevor ein Opernstoff oder Vorlagen-Libretto ausgearbeitet wurde, musste feststehen, welche Sänger zur Verfügung stehen. Das Libretto liefert den Text für Rezitative (auch Rezitativi accompagnati) und Arien (auch Ariosi, Duette und Terzette sowie Chöre). Die Rezitativtexte sind in sogenannten „versi sciolti“ gehalten, das sind Sieben- und Elfsilbler ohne festes Reimschema. Den Arien liegen überwiegend Strophen aus Fünf-, Sechs- und Achtsilblern mit festem Vers- und Reimschema zugrunde. Besonders bei sehr langen Rezitativen obliegt es der Kunstfertigkeit des Librettisten, einen Text zu formulieren, der den Spannungsbogen nicht absinken lässt. Der Aktschluss hat jeweils besondere Bedeutung.

Die Verteilung der Arien (Ariosi, Duette, Terzette, Rezitativi accompagnati) ist festgelegt. Zahl, Position und Charakter der gesungenen Arien entsprechen Rang und Bedeutung einer Figur. Den Sängerstars kommt mehr Gewicht zu als weniger bedeutenden Sängern. In der Reihenfolge der Arien insgesamt, wie in der Reihenfolge der Arien jeder einzelnen Rolle, sollte der Affektgehalt jeweils wechseln.

Früher lieferten veränderte, ältere Vorlagen-Libretti oft den Ausgangsstoff für Nachfolge-Libretti. Üblicherweise wurde das Libretto vom Hausdramaturgen eingerichtet. Er betreute die Sänger und leitete die Proben. Bei Opernaufführungen wurden die italienischsprachigen Libretti in London zweisprachig gedruckt angeboten. Die späteren, sog. Reformlibretti (etwa ab 1700) versuchten gegen formale Virtuosität ein Ideal der Klarheit und Einfachheit durchzusetzen (11).

Die Rolle des Librettisten zu Händels Zeit

Der berühmteste und einflussreichste Librettist zu Händels Zeiten war zweifellos Pietro Metastasio. Sein Vater, Felice Trapassi, war von Assisi nach Rom gezogen, wo der Sohn 1698 geboren wurde. Er wurde 1708 in das Haus des römischen Gelehrten und Theoretikers der Accademia dell‘Arcadia, Gian Vincenzo Gravina, aufgenommen und erhielt eine umfassende Schulausbildung (13,19). Anschließend studierte er Philosophie, Rechtskunde und Theologie. Mit sechzehn erhielt er die niederen Weihen. Gravina prägte ihn entscheidend auch in künstlerischer Hinsicht. Nach Gravinas Tod ging Metastasio 1719 nach Neapel, wo er viele Kontakte knüpfen konnte. Er fand dort auch eine Förderin in der Sopranistin Marianna Benti Bulgarelli, genannt La Romanina. In ihrer Begleitung reiste er durch ganz Italien und sammelte Theatererfahrung. Mit dem Text für Didone abbandonata begann Metastasio 1724 seine überaus erfolgreiche Laufbahn als Librettist. Es folgten weitere Operntexte, u.a. für Leonardo Vinci und Nicola Porpora. 1730 erfolgte Metastasios Berufung nach Wien. Er schrieb anlässlich von Aufführungen für Hochzeiten, Geburts- und Namenstage der kaiserlichen Familie Texte für Caldara, Hasse und andere.

Metastasio weigerte sich, die Romanina mit nach Wien zu nehmen. Er wollte nicht den Eindruck erwecken, dass er von ihr ausgehalten werde. Nach ihrem Tod 1734 erbte er dennoch ihr beträchtliches Vermögen. Eine neue Gönnerin fand Metastasio in der Gräfin Marianna d‘Althann. Nach ihrem Tod fand sich in Marianna Martinez eine weitere Unterstützerin. Nicht nur seine Libretti, sagten Spötter, seien alle gleich (13). Im Alter dichtete Metastasio kaum mehr, ging auch nur noch selten in die Oper. Er starb 1782 (13).

Die Prägung der Opera seria des 18. Jahrhunderts durch Metastasio war so entscheidend, dass sie in Phasen der „vor-metastasianischen“, „metastasianischen“ und „nach-metastasianischen“ Oper eingeteilt werden kann. Metastasios Opernlibretti wurden bis ins 19. Jahrhundert immer wieder vertont, manche Texte liegen in fast 90 verschiedenen Kompositionen vor. Metastasio schuf in der Nachfolge Apostolo Zenos neue Standards der Orientierung an der Aristotelischen Poetik und am französischen Drama. Seine Handlungen sind geradliniger als in der venezianischen Oper und entfalten sich in der Regel zwischen einer Herrscherfigur, zwei Liebespaaren und einer Nebenrolle. Die Figurenhierarchie spiegelt sich dabei in der Anzahl und Position der Arien sowie der Ensembles. Metastasio verarbeitete antike historische und pastorale Stoffe, stellte die Diskussion von Tugendidealen in den Vordergrund und verzichtete auf Scene buffe. Meist mündeten seine Drammi in ein Lieto fine. Die Arie erhielt ihren Platz am Szenenende und wechselte mit Rezitativversen.

Im Laufe seiner Karriere geriet Metastasio jedoch auch in die Kritik. Ihm wurde vorgeworfen, dass seine Charaktere nicht präzise gezeichnet und nicht echt seien. Sie seien konstruiert, um die übliche moralische Kehrtwende am Ende der Oper zu ermöglichen. Mit wirklichen Menschen hätten sie nichts zu tun (13).

Liebesgeschichten nähmen in den Libretti zwar einen breiten Raum ein, seien aber, nach der Auffassung Metastasios, der politisch-ideologischen Botschaft gegenüber als nachrangig zu bezeichnen. Dies widerspricht allerdings jeder Erfahrung und auch dem, was man, wenn man in die Oper geht, kennenlernen kann. Metastasios Behauptung wirkt, als ob er von seinen eigenen Amouren hätte ablenken wollen.

Es gibt nur wenige Werke dieser Zeit, die einen eindeutigen politischen Hintergrund erkennen lassen. Und Komponisten der Barockzeit hätten wohl auch kaum Interesse daran gehabt, ihre kompositorische Arbeit durch kryptische, verschlüsselte politische Anspielungen begleitet zu sehen, die kaum jemand entdeckt, geschweige denn verstanden hätte.

Apostolo Zeno jedenfalls meinte 1729 anlässlich der Einführung einer fiktiven Person: „Sestia, die Tochter des Fabrizius, die zusammen mit anderen Römern von Pyrrhus gefangengenommen wird, ist hier eingeführt worden, damit sich eine Liebesgeschichte entwickeln kann, ohne die heutzutage kein Stück sein Glück machen kann.“ „Heutzutage“ gilt unverändert wohl noch immer.

Zu Metastasios Zeit kam dem Librettisten eine wichtige Rolle zu, wenn nicht sogar die wichtigste. Oft wurde nur sein Name abgedruckt, nicht der des Komponisten. Durch einen Brief Metastasios ist belegt, dass er als Librettist seinen Einfluss auf den Komponisten, in diesem Falle Hasse, geltend zu machen suchte (13). Ein solches Vorgehen ist uns heute kaum mehr vorstellbar. Es wird aber verständlicher, wenn man die Kunstfertigkeit früherer Libretti betrachtet. Händel hingegen entzog sich einer derartigen starken Beeinflussung seitens der Librettisten. Teilweise kam es deswegen zu Auseinandersetzungen, z.B. mit Jennens, unter anderem beim Messias.

Nur dreimal griff Händel auf Opern-Texte Metastasios zurück (Siroe (HWV 24), Poro (HWV 28) und Ezio (HWV 29)). Metastasios Texte waren zwar stringent konstruiert, waren aber für eine Aufführung in London und damit für Händel weniger gut geeignet. Händel bevorzugte ältere Libretti, meist mit komplexer Handlung und venezianischer Herkunft. Die genannten drei Libretti Metastasios wurden von Haym in den Rezitativen stark gekürzt, was auch eine dramaturgische Vereinfachung nach sich zog.

Händel arbeitete für seine Opern mit sechs Librettisten zusammen: In Hamburg mit Friedrich Christian Feustking (Almira (HWV 1), Nero (HWV 2)) sowie mit Heinrich Hinsch (Doppeloper: Der beglückte Florindo (HWV 3) und Die verwandelte Daphne (HWV 4)), in Italien mit Antonio Salvi für Rodrigo (HWV 5). Wer den Text zu Agrippina (HWV 6) verfasste, ist bislang unbekannt. In dreißig Jahren in London nahm Händel die Dienste von drei italienischen Literaten für seine Opern in Anspruch: Giacomo Rossi (drei Bücher), Paolo Antonio Rolli (fünf bis sechs Bücher) und Nicola Francesco Haym (mindestens neun Bücher). Mehrere Zuschreibungen sind bis heute strittig. Auch zu den Pasticci Händels sind Fragen offen.

Händels Librettisten hatten im Wesentlichen die Aufgabe, ältere Libretti der zu erwartenden Besetzung anzupassen. Dabei galt es, wie gesagt, darstellerische und musikalische Fähigkeiten sowie die Rollenhierarchie und oft auch noch die Wünsche der Virtuosen zu bedenken. Bei der Abfassung eines Librettos spielte neben gesellschaftlichen Belangen auch die Herrscherkonstellation eine Rolle. Auch der Theaterdirektor war zu berücksichtigen.

Paolo Antonio Rolli, der Librettist der Oper Deidamia

Als Librettist von Deidamia zeichnete der in Rom geborene Paolo Antonio Rolli (1687–1765) verantwortlich (11,19). Rolli arbeitete als Lyriker, Librettist und Übersetzer. Er war Schüler von Gian Vincenzo Gravina. Zunächst griff er in seiner Arbeit auf antike Vorbilder wie Horaz und Catull zurück. Bald orientierte er sich aber an der Lyrik des späten 17. Jahrhunderts. Vor seiner Übersiedlung nach London war er unter dem Namen „Eulibio Discepolo“ Mitglied der 1690gegründeten römischen Accademia dell‘Arcadia. Die Accademia versuchte, ein Ideal der Klarheit und Einfachheit durchzusetzen (11). In der Accademia dell‘Arcadia wurden auch Werke Händels aufgeführt (11,19). Nach einer Fehde zwischen Gravina und Giovanni Mario Crescimbeni schloss sich Rolli der von Gravina gegründeten Accademia dei Querini an, die auf Erneuerung der Tragödie nach antiken Vorbildern zielte. Im römischen Palast von Kardinal Orsini trat er mehrmals mit Vorträgen improvisierter Verse auf und wetteiferte hierbei auch mit dem jungen Metastasio.

Ende 1715/16 ließ sich Rolli als Italienischlehrer in London nieder und verfasste dort Libretti für verschiedene musikalische Gattungen. Dabei arbeitete er vor allem für Porpora und Bononcini, aber auch für Händel. In London übersetzte er Miltons Paradise Lost ins Italienische. Mit dieser Arbeit war er 15 Jahre lang beschäftigt und lieferte einen Meilenstein der Übersetzungskultur des 18. Jahrhunderts. Ebenso übersetzte er die Rime e Satire des Ariost, die er der Princess of Wales, Caroline, widmete. Nach deren Krönung zur Königin von England wurde Rolli 1727 Italienischlehrer ihrer Kinder. Rolli übersetzte auch Boccaccios Decamerone. Durch seine Übersetzungen wurde er zum Pionier des literarischen Austausches zwischen Italien und Großbritannien und zum unermüdlichen Protagonisten der italienischen Sprache im angelsächsischen Kulturkreis. Rolli galt einerseits als umgänglich, andererseits aber auch als polemisch, was wohl der Grund dafür war, dass er „the born Troublemaker“ genannt wurde (17).

1719 ernannte ihn die Royal Academy of Music, deren musikalischer Direktor Händel war, zu ihrem Sekretär (dies entspricht heute einem Dramaturgen), und er richtete neun von zehn Libretti der ersten drei Spielzeiten ein. Nur das Libretto zu Händels Radamisto (HWV 12a/b) stammte von Haym. Die Academy entließ Rolli 1722, und Haym wurde sein Nachfolger. Grund für die Entlassung soll die Sympathie Rollis für die Adelsopposition gegen das Haus Hannover gewesen sein. Dass Händel Rolli 1726/27 Einrichtungen für Libretti (Scipione (HWV 20), Alessandro (HWV 21), RiccardoPrimo (HWV 23) und möglicherweise auch Admeto (HWV 22) überließ, erscheint überraschend, da eine Antipathie zwischen den beiden bestanden haben soll. 1733 bis 1737 fungierte Rolli als Sekretär der Opera of the Nobility. 1740 arbeitete er Anfang des Jahres noch für das Operntheater von Lord Middlesex, einem Konkurrenzunternehmen zu Händel. Nach dem Zusammenbruch dieses Operntheaters 1744 habe Rolli keine Chance mehr gesehen, in London zu arbeiten, und sei deswegen nach Todi in Italien zurückgekehrt. Dort starb er im Alter von 78 Jahren.

Wir können davon ausgehen, dass Rolli in seiner Zeit in Italien sehr gut vernetzt war. Als gebürtiger Römer und Arcadier dürfte er alles gewusst haben, was es über Händel zu wissen gab. Vermutlich hatte Rolli auch Einblick in die nicht zu belegende Zeit Händels in Italien, etwa von September 1708 bis November 1709. Wie sollte es in der römischen Szene (wie man heute sagen würde) auch möglich sein, dass jemand spurlos von der Bildfläche verschwinden konnte, der in Kreisen der Kurie und des höchsten Adels lange Zeit Umgang gehabt und Aufsehen erregt hatte? Man kann Rolli als Zeitzeugen betrachten, der genau informiert war. Möglicherweise führte dieses „Insiderwissen“ Rollis zu einer gewissen Reserviertheit Händels ihm gegenüber. Vielleicht war es Händel auch ein Dorn im Auge, dass Rolli Margarita Durastante, die Sängerin, die Händel während seiner ersten Italienreise kennenlernte und mit der er in Italien möglicherweise enger verbunden war, als „elephante“ bezeichnet hatte, wobei offen ist, ob sich dies auf körperliche oder psychische Eigenschaften bezog. Rolli schmähte auch Anna Maria Strada (19), die später in London für Händel zur wichtigsten Sängerin wurde und mit der er intensiv zusammenarbeitete. Sie wurde übrigens vielerorts in unschöner Weise „the pig“ genannt. Man ist konsterniert über eine derartige Bezeichnung für eine Sängerin, deren Stimmschönheit ganz Europa beeindruckte.

Für Händel schrieb Rolli (mindestens) fünf Operntextbücher: Floridante (HWV 14), Scipione (HWV 20), Alessandro (HWV 21), Riccardo Primo (HWV 21) und Deidamia (HWV 42). Außerdem schrieb er das Libretto zu dem Pasticcio Muzio Scevola (HWV 13), zu dem Händel die Musik des III. Aktes beigetragen hat. (Die Musik zum I. und II. Akt stammt von Filippo Amadei bzw. Giovanni Bononcini.)

Floridante, zu dem Rolli ein Drama Silvanis inspirierte, ging mit Senesino und Giuseppe Maria Boschi in Szene. Als Der thrazische prinzt Floridantes wurde die Oper 1723 in Hamburg mit deutschen Rezitativen und italienischen Arien elf Mal aufgeführt.

Scipione hatte nur mäßigen Erfolg. Rolli überarbeitete dafür ein älteres Textbuch, dessen Rezitative er übernahm, die meisten Arien aber ersetzte.

Vor allem Alessandro, für das er auf ein älteres Werk zurückgriff, feierte ab 1726 Erfolge. Dies lag wohl an spektakulären Bühneneffekten sowie an der glanzvollen Besetzung mit Senesino, Francesca Cuzzoni und Faustina Bordoni. Die Oper erlebte zwölf Aufführungen.

Riccardo Primo beruht auf einer venezianischen Vorlage von 1710. Das Libretto stand kaum im Zusammenhang mit der Musik, was die Wirkung anscheinend beeinträchtigte. Nach Aufführungen im 18. Jahrhundert kam die Oper erst 1964 wieder auf die Bühne.

Nun zum Libretto von Deidamia. Rolli griff häufig auf Vorgängerlibretti zurück. Deshalb wird behauptet, dass das Libretto von Deidamia gemeinsame Züge mit Metastasios Achille in Sciro von 1736 (11) mit der Musik vonAntonio Caldara aufweise. Dies ist jedoch infrage zu stellen (19). Denn bei Metastasios Achille in Sciro tauchen in der Besetzungsliste folgende Personen auf: Licomede, Achille, Deidamia, Ulisse, Teagene: destinato sposa a Deidamia, Nearco: custode d‘Achille, Arcade, confidente d‘Ulisse. Cori. Nella machia: La Gloria, Amore, Il Tempo, Coro. Im Libretto von Deidamia wird dagegen eine andere Personenkonstellation eingesetzt (s.u. die Besetzungsliste von Deidamia), was auch ein anderes inhaltliches Geschehen zur Folge hat.

Das Deidamia-Libretto soll auch an ältere Vorbilder wie La finta pazza von 1641 (11) von Giulio Strozzi mit der Musik von Francesco Sacrati oder an Deidamia von Scipione Herrico mit der (verschollenen) Musik von Francesco Cavalli erinnern (19). Es soll außerdem noch andere Vorgänger-Libretti geben, wie L‘Achille in Sciro, von 1664, Ippolito Bentivoglio zugeschrieben, mit der Musik von Giovanni Legrenzi (11). In diesem Libretto gibt es eine Schwester Deidamias namens Cirene, die der Nerea in Händels Deidamia entsprechen soll, doch die Bedeutung beider Figuren ist unterschiedlich. Ebenso werden als Vorgänger-Libretto Achille in Sciro von 1663 von Cavaliere Ximenes mit der Musik von Antonio Draghi (24) sowie Tetide in Sciro von 1712 von Carlo Sigismondo Capece mit der Musik von Domenico Scarlatti genannt (11).

Ein Zusammenhang des Deidamia-Librettos mit der Ballad Opera Achilles von John Gay, die 1733 in London gespielt worden war, ist unsicher. Der Einfluss dürfte zumindest gering gewesen sein. Dass (wie gelegentlich vermutet) politische Bezüge, wie zum Beispiel zum Tod Kaiser Karls VI, vorhanden sind (11), gilt als wenig überzeugend.

Alle vermuteten Vorgänger-Libretti weisen kaum Gemeinsamkeiten mit Rollis Deidamia auf. Die Hallische Händel-Ausgabe lässt verlauten, es sei ungewiss, ob Rolli die Vorgänger-Libretti überhaupt gekannt habe. Seine Behandlung des Stoffes unterscheide sich radikal von allen anderen Bearbeitungen und weise keine Übereinstimmungen auf. Rolli erarbeitete für (oder besser zusammen mit) Händel eine neue Dichtung.

Hinzu kommt, dass das Libretto kaum in so kurzer Zeit entstanden sein kann (innerhalb von zwei bis dreieinhalb Wochen), wie oft angenommen wird. Es ist komplex und beinhaltet Aussagen, die einiges an Überlegung erfordern. Händel wird sich schon längere Zeit mit der Oper befasst haben und er muss gewusst haben, was er aussagen wollte. Dabei muss er auch den mythologischen Stoff genau untersucht haben. Wie seine Zusammenarbeit mit Rolli jedoch genau ablief, wissen wir nicht.

Rolli veröffentlichte seine Libretti in drei Bänden, wobei aber zunächst nur der erste Band erschien. Der zweite Band (unter anderen mit dem Libretto von Deidamia) blieb zunächst unveröffentlicht. Eine vollständige Ausgabe erschien erst 1753 (19).

Händel als Librettist

In den Jahren ab der Gründung der Royal Academy of Music soll Händel an der Entstehung der Textfassungen für seine Londoner Aufführungen beteiligt gewesen sein. Er hatte eine eigene, große Sammlung an Libretti, aus der er schöpfte. Aus seinen Manuskripten wissen wir, dass er noch während der Komposition einzelne Wörter oder Wendungen der Textvorlage änderte, kleinere Streichungen vornahm oder Zusätze machte. Gelegentlich forderte er den Librettisten auf, neue Verse zu liefern. Die musikalisch-theatralische Wirksamkeit soll er stärker beachtet haben als die literarische Qualität.

Dass Händel vor allem nach dem Tode Hayms (1729) und auch Rossis (sein Todesjahr ist unbekannt, seine Spur in England verliert sich 1732) Libretti selbst verfasste, ist wohl auch der Grund, weshalb die Libretti nach seiner Zeit bei der Royal Academy of Music meist ohne Verfasser geblieben sind.Wir können davon ausgehen, dass Händel, wenn er es Haym oder einem anderen Librettisten überlassen hat, Arientexte neu zu dichten, relativ konkrete inhaltliche Vorgaben machte (11,19). Dies kann man auch für das Libretto von Deidamia annehmen. Ihm kann somit eine besondere Aussagekraft hinsichtlich der Intentionen Händels zugesprochen werden, vor allem, wenn man davon ausgeht, dass Händel geahnt haben könnte, dass Deidamia seine letzte Oper werden könnte. Auch dies begründet und rechtfertigt eine nähere Auseinandersetzung mit dem Text.

Händel komponierte seine Opern stets für das jeweils engagierte Sängerensemble. Andere Ensembles, z.B. bei späteren Aufführungen, hatten Anpassungen zur Folge. Die Sängerbesetzung bei Händels Opern umfasste gewöhnlich sechs bis sieben Rollen. Jede Oper Händels enthält durchschnittlich 25 Arien, während Chöre relativ selten sind. Alle Londoner Opern Händels wurden, mit Ausnahme von Berenice (HWV 38) und dem Pasticcio Didone abbandonata (HWV A12), unter seiner musikalischen Leitung zur Aufführung gebracht.

Zur Inszenierung

Zu den Stilprinzipien des In-Szene-Setzens der Barockzeit gehören: Klarheit, Präzision, Abwechslung, Verzierung und der Gebrauch signifikanter Zeichen, Formeln und Topoi. Ziel war die Nachahmung der Natur. Sie war nicht realitätsnah abzubilden, sondern nach den Kriterien der Wahrscheinlichkeit sowie der Würde und der Schicklichkeit.

Das Gebot der Wahrscheinlichkeit vermittelte zwischen Realität und Kunst. Die Wahrung von Würde und Schicklichkeit entsprach dem festlich-repräsentativen Charakter einer Opernaufführung sowie der Größe und Allgemeingültigkeit der dargestellten Themen und Leidenschaften. So waren die Schauplätze von Opernhandlungen zeitlich und räumlich von der alltäglichen Erfahrung entrückt, um Kunstmittel wie Gesang und Poesie in der Darstellung akzeptabel zu machen.

Die Bühne war weniger räumlich als vielmehr tableauartig angelegt. Eine zentrale Mechanik erlaubte rasche, nur Sekunden dauernde, offene Wechsel des Bühnenbildes. Raffinierte Mechaniken sorgten für überraschende Effekte, inklusive pyrotechnischer Effekte. Die Bühnenbilder unterlagen einer gewissen Typisierung und signalisierten Inhalt und Bedeutung der Handlung. Sie funktionierten im Sinne eines emblematischen Zeichens, z.B. konnte ein Garten auf ein Liebesverhältnis, ein Kabinett auf politische Intrigen hinweisen. Die Beleuchtung erfolgte durch Wachslichter und Öllampen. Der Zuschauerraum war schwächer beleuchtet als die Bühne, aber nicht vollständig abgedunkelt.

Pressemeldungen wiesen, insbesondere im Zusammenhang mit Händels Opern, auf die Neuheit von Bühnenbildern, Kostümen und Maschinen hin. Für ihre Erstellung wurden Spezialisten aus dem Ausland engagiert, wie z.B. Joseph Goupy, dem Händel betreffend ein bösartiger Kupferstich zugeschrieben wird.

Die Kostüme waren, der Würde und Schicklichkeit entsprechend, reich verziert und auf Fernwirkung angelegt. Für männliche Personen war das „Habit romain“ verbindlich, eine Kombination von spätrömischer Feldherrenkleidung (einem rockartigen „Tonnelet“ sowie einem helmartigen Federbusch) und höfischem Galakostüm. Das Damenkostüm bestand aus bodenlangem Reifrock mit Schleppe und orientierte sich ebenfalls an der höfischen Galakleidung. Es war mit dekorativen Applikationen reich verziert. Ein Schleppenputto war oft unerlässlich, um Ungemach zu vermeiden. Die unterschiedlichen Ausstattungen kennzeichneten den Rang einer Figur. Zur eindeutigen Charakterisierung einer Rolle diente die zeichenhafte Verwendung von Accessoires wie Feldherrenstäben für Heerführer, Zauberstäben für Magier, abgelegte Degen für Gefangene.

Dekorativer Federschmuck kennzeichnete Indianer und „wilde Völker“. Orientalisch-türkische Personen waren an Turban, Leibbinde oder kaftanartigen Gewändern zu erkennen. Hautpartien wurden durch hautfarbene Trikots symbolisiert.

Aus Sicht- und Beleuchtungsgründen fanden die Bühnenaktionen nahe dem Proszenium statt. Die Aufstellung erfolgte weitgehend in symmetrischer Balance. Damen und Höhergestellte standen auf der – vom Darsteller aus gesehen – rechten Seite. Ranghohe Personen umgab ein Gefolge. Die Sänger agierten dabei in gemessenen Bewegungen. Das Berühren von Personen wurde vermieden. Die Gruppierung der Darsteller im Halbkreis markierte das Finale.

Die Charakterisierung einer Rolle durch Haltung, Gestik und Mimik wurde eigenverantwortlich von den Sängern erarbeitet. Die „körperliche Beredsamkeit“ der Gestik folgte den überlieferten Techniken antiker Redekunst. Unterschiedliche Gesten verstärkten die Aussage. Die Darsteller wurden dabei aufmerksam beurteilt, sie agierten stets dem Publikum zugewandt. Stumme Akteure traten in den Bühnenhintergrund zurück. Bisweilen regten Darsteller Änderungen in Libretto und Musik an, um erprobte darstellerische Stärken besser einbringen zu können (19).

 

Marchese Francesco Maria Ruspoli

Die Oper Deidamia führt uns, wie es den Anschein hat, nach Italien. Dort ist Händel bei seinem ersten Aufenthalt einflussreichen Persönlichkeiten begegnet, die für seine weitere Entwicklung von Bedeutung waren. Der für Händel wichtigste Förderer war zweifellos Marchese Ruspoli. Für das Verständnis der Oper ist es gut, einiges über ihn zu wissen. Er soll deshalb hier Erwähnung finden.

Ursprünglich war der am 05. März 1672 geborene Ruspoli italienischer Landadeliger bzw. Landbesitzer (17,19). Zeitlebens strebte er nach einer vollständigen Aufnahme in das Leben der römischen Aristokratie. Seine äußerst großzügige Kunst- und Musikpatronage war stark von diesem Karriereziel geleitet.

Im Laufe weniger Jahre gelang es Ruspoli, zu einer zentralen Figur des römischen kulturellen Lebens zu werden. Von einem Bruder seines Vaters nahm Francesco Maria Marescotti 1687 den Namen Ruspoli an und wurde dadurch zum Erben einer vermögenden, aus Florenz stammenden Familie. Ab 1691 war er Mitglied der römischen Accademia dell‘Arcadia. 1695 heiratete er Isabella Cesi, die Tochter des Herzogs von Acquasparta, mit der er neun Kinder hatte. Von seinem Vater erbte er 1703 das Lehen Vignanello. Durch seine Tante Girolama Bichi enterbt, verschaffte er sich 1705 in einem Gerichtsprozess Zugang zum Vermögen der Familie Ruspoli. Dabei wurde er von Kardinal Galeazzo Marescotti, einem anderen Bruder seines Vaters, unterstützt. Dieser war ein enger Vertrauter von Papst Clemens XI (1700-1721).

Mit dem immensen Familienvermögen konnte der äußerst machtbewusste und ehrgeizige Ruspoli zu einem der bedeutendsten Kunstförderer Roms werden. Dabei spielten Malerei, Architektur, Literatur und Musik gleichermaßen eine Rolle. Von 1707 bis 1711 beherbergte er in seinen Gärten die Treffen der römischen Arcadier. Ruspoli versuchte sich auch als Librettist.

Seine Musikpatronage begann 1701 mit der Aufführung von Oratorien und Serenaten. Die für ihn tätigen Komponisten und Musiker repräsentierten ein hohes internationales Niveau. Zwischen 1707 und 1708 komponierte Händel für Ruspoli neben geistlicher Musik mehr als 50 Kantaten für die wöchentlichen Conversationi in seinem Palazzo. Damit installierte Ruspoli gewissermaßen öffentliche Konzerte mit großer Anziehungskraft für Fremde. Seine Veranstaltungen waren stets höchst prunkvoll. Eine der aufwendigsten Aufführungen war das Oratorium La Resurrezione an Ostern 1708 in seinem stadtrömischen Palazzo Bonelli.

Stets nutzte Ruspoli seine Aufführungen zur Machtdemonstration und zum weiteren Aufstieg. Schon 1704 verherrlichte er Papst Clemens XI bei seiner ersten großen Oratorienproduktion. Im Spanischen Erbfolgekrieg stellte er dem Papst 1708 ein Regiment zur Abwehr kaiserlicher Angriffe bereit. Zur Huldigung an den Papst ließ er am 09. September 1708 eine von Händel vertonte Serenata aufführen. Als Dank für die militärische Hilfe erkannte ihm der Papst im Februar 1709 den Titel des principe di Cerveteri zu. Für die in der Literatur immer wieder erwähnten Machtspiele zwischen Papst Clemens XI und dem Marchese lässt sich kein genauer Anlass feststellen.

Mit der Aufhebung des Opernverbots in Rom 1709 wandte sich Ruspoli verstärkt der Oper zu und ließ schließlich 1715 im Palazzo Bonelli ein Theater einrichten. 1721 erhielt Ruspoli den Titel principe romano. Noch heute bewohnt die Familie Teile des 1776 erworbenen Palazzo Caetani in Rom sowie Güter in Vignanello und Cerveteri.

Steht man in Vignanello an der Frontseite der Gemeindekirche, die sich direkt gegenüber dem dunkel aufragenden Castello Ruspoli befindet, kündet eine groß dimensionierte Gedenktafel von der einstigen Bedeutung des Marchese. Sie zeigt auch das Sterbedatum Ruspolis in Rom an, den 12. Juli 1731. Kaum einer der Touristen, welche den berühmten Renaissancepark des Castello besuchen, scheint sie jedoch wahrzunehmen. Eher sind die Touristen von der alten Küche im Castello beeindruckt, die heute noch von der Familie genutzt wird und in diesem Zustand auch zu besichtigen ist. Italianità pur, inklusive der angebrochenen Rotweinflasche zum Kochen und den nicht aufgebrauchten Küchenkräutern für das Mittagessen. Bei ihrer Führung durch den Park erzählt die Contessa von der komplizierten Familiengeschichte, dabei sagt sie auch einige Worte zu Händel und seinem Aufenthalt in Vignanello.

Cerveteri wird wegen seiner etruskischen Nekropolen von vielen Touristen besucht, die auch das im winzigen historischen Ortskern befindliche Museum frequentieren. Gegenüber liegt der Palazzo des Marchese. Er geht mit seiner glatten Fassade auf einen älteren, von den Orsini stammenden Gebäudeteil zurück. Ruspoli ließ einen neuen Teil anfügen, der im ersten Stock mit einer großen, mit Steinsäulen geschmückten Loggia aufwartet. Das Gebäude ist unauffällig, wirkt eher schlicht. Teile davon werden heute als Ferienwohnungen vermietet; neben einer Suite Caldara gibt es auch eine Suite Hendel.

Mit den Gedanken von England nach Italien

Händel komponierte Deidamia in England. Reduziert man die Handlung der Oper auf: „Ein Mächtiger trennt ein Liebespaar“ (Odysseus trennt das Paar Achilles/Deidamia), kann man ohne Sinnverzerrung das Wort „Mächtiger“ durch das Wort „Riese“ ersetzen und gelangt damit auf direktem Weg zur Serenata „Aci, Galatea e Polifemo“ (HWV 72) (1). Zu dieser Komposition, die Händel 1708 in Neapel schuf, lässt sich ohne Weiteres formulieren: „Ein Riese trennt ein Liebespaar“. (Bei Marx wird Polyphem übrigens als „mächtiger Riese“ bezeichnet (19).) Die Oper und die Serenata haben also thematische Ähnlichkeiten. Das Thema der Oper entstammt der griechischen Mythologie (s.u.). Das Thema der Serenata entstammt dem 13. Buch von Ovids Metamorphosen: Die Nymphe Galatea, die in Acis verliebt ist, wird vom Zyklopen Polyphem umworben. Als dieser bemerkt, dass er einen Rivalen hat und die beiden Liebenden in einem intimen Moment überrascht, schleudert er voll Zorn einen Felsbrocken von einem Berg herab und tötet damit Acis. Galatea bittet daraufhin ihren Vater, den Meergott Nereus, das Blut des Geliebten in einen Fluss zu verwandeln, um ihn in seinem Lauf zum Meer in ihren Armen umfangen zu können. Polyphem bleibt nichts anderes, als die ewigen Liebesschwüre, die aus dem Murmeln des Flusses herauszuhören sind, mit anzuhören. Am Schluss wird ein Terzett auf die Treue und die Beständigkeit gesungen. Wir sind damit unversehens von England nach Italien gelangt.

In London nahm Händel Aci, Galatea e Polifemo 1718 für seine Masque Acis and Galatea (HWV 49a) wieder auf, allerdings in einer völlig neuen Vertonung. Auftraggeber für diese (Neu-)Komposition war James Brydges, Duke of Chandos. Vermutlich fand die entsprechende Aufführung im Frühsommer 1718 auf dessen Anwesen Cannons bei Edgware in Middlesex statt.

1732 griff Händel noch einmal auf die Serenata Aci, Galatea e Polifemo für eine zweisprachige Mischfassung (HWV 49b) zurück, die die besten Stücke aus ihr und der Masque zu einem Pasticcio kombinierte. Senesino und Anna Maria Strada (del Pò) waren damals als Sänger beteiligt.

Entlehnungen aus der Serenata finden sich z.B. in Agrippina, Rinaldo, Teseo und Giulio Cesare. Händel bearbeitete die Fassung der Cannons-Aufführung außerdem für Konzerte der Jahre 1739 bis 1742 in London und Dublin (19).

All dies beweist, dass Händel der Aufenthalt in Italien innerlich stets nahe war. Der Gedankenflug von England in Richtung Italien ist also nicht unbegründet.

Il Trionfo del Tempo e della Verità (HWV 46b), Uraufführung am 23. März 1737, ist eine Bearbeitung von Il Trionfo del Tempo e del Disinganno (HWV 46a), das Händel 1707 in Rom auf einen Text von Pamphilj geschrieben hatte. Mit Rücksicht auf das englische Publikum ersetzte er das Wort Disinganno (etwa: Enttäuschung) durch das verständlichere Verità (etwa: Wahrheit) (19). Eine weitere Aufführung, mit einigen Veränderungen, fand am 03. März 1739 im Kings Theatre am Haymarket statt. Auch dies ist ein Hinweis, dass sich Händel später in England mit seiner Zeit in Italien beschäftigte bzw. dass ihm diese Zeit weiterhin nahe war.

Ohne Zweifel hatte Aci, Galatea e Polifemo für Händel große Bedeutung; diese Komposition, die er am Beginn seiner Karriere in Italien schrieb. Aufgrund der kaum zu bestreitenden thematischen Verbindung der Oper mit der Serenata lässt sich vermuten, dass Händel sich um die Zeit der Komposition von Deidamia gedanklich mit seiner ersten Italienreise beschäftigte. Wer würde es Händel auch verdenken, wenn er in der krisenhaften Lage um 1740 (1737 war sein gesundheitlicher Zusammenbruch, 1741 war das Ende seiner Operntätigkeit; existenzielle Unsicherheiten und Zukunftssorgen waren zu beklagen) an die für ihn so bedeutsame Zeit in Italien zurückdachte, sie innerlich reaktivierte und noch einmal durchlebte. In seiner inneren Welt hatte er diese Zeit ohnehin nie gelöscht, wie wir gesehen haben.

Auch diese Überlegungen bilden einen Anlass, nach Spuren dieser Zeit in der Oper Deidamia zu suchen.

 

Zur Oper Deidamia

Deidamia ist Georg Friedrich Händels letzte Oper. Er begann mit der Komposition am 27. Oktober 1740 (im Autograph steht: „angefangen Montag. Oct 27. 1740“) und schloss sie am 20. November 1740 ab (im Autograph: „Fine dell‘Opera. G.F.Handel London Novemb‘ 20. Donnerstag. 1740“). Seine Arbeit unterbrach er vom 8.–13. November, er muss die Komposition also innerhalb von drei Wochen bewältigt haben. Die Premiere fand am 10. Januar 1741 im Theatre Royal in Lincoln‘s Inn Fields statt. Die zweite Aufführung erfolgte am 17. Januar 1741, die dritte und letzte Aufführung am 10. Februar 1741 (11,18,19). Dies war die letzte szenische Aufführung einer Händel-Oper in England und die Opernproduktion Händels war damit zu Ende.

Zur Vorgeschichte der Opernhandlung