Georg Friedrich Händel als Patient - Heinz Baum - E-Book

Georg Friedrich Händel als Patient E-Book

Heinz Baum

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Beschreibung

1759 verstarb Georg Friedrich Händel 74-jährig. Um den Tod und die Erkrankungen des berühmten Komponisten ranken sich etliche Spekulationen: Rheuma soll ihn geplagt haben, auch einen Schlaganfall soll er, ähnlich wie seine Mutter, erlitten haben. In den letzten Lebensjahren habe ihn eine Erblindung beeinträchtigt. Schließlich soll er einem Tumorleiden erlegen sein. Heinz Baum macht sich in seinem vorliegenden Buch auf Spurensuche. Dabei stützt er sich auf zeitgenössische Quellen und überprüft die aus Händels Zeit stammenden Diagnosen anhand moderner wissenschaftlicher und medizinischer Maßstäbe. Denn im 18. Jahrhundert verschrieb sich die Medizin noch der Humoralpathologie – der Säftelehre –, und auf dieser Grundlage gestellte Diagnosen halten heutigen medizinischen Standards nicht stand. Baum stellt die für Händel in Frage kommenden Krankheitsbilder ausführlich dar und wägt sorgfältig ab, an welchen Händel gelitten haben könnte. Der Leser erhält Einblick in den Gang der Diagnostik und kann die sich ergebenden Resultate gut nachvollziehen. Dabei kommt Baum zu einem ganz anderen Schluss, als es die herkömmlichen Diagnosen vermuten lassen.

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Seitenzahl: 356

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ibidem-Verlag, Stuttgart

„Große Müdigkeit und Enttäuschung beeinträchtigten ihn so sehr, dass er dieses Frühjahr (1737) von der Lähmung getroffen wurde, welche ihm den Gebrauch von 4 Fingern der rechten Hand vollständig nahm und ihm das Spielen völlig unmöglich machte.“

Earl of Shaftesbury, 1760

Jugendbildnis Georg Friedrich Händels (gegen 1710)Pastellrekonstruktion von Luzie Schneider, nach einer Miniatur vonChristoph Platzer

Inhaltsverzeichnis

Zu diesem Buch
Ein Blick auf Händels Epoche
Medizin zu Händels Zeit
Wenn einer eine Reise tut
Die Familie Händel und ihre Geschichte
Ein Fleck auf der Weste
Händels Erkrankungen
„Rheumatismus“ und „Schlaganfall“ bei Händel: Was wir wissen
Rheuma
Rheumatoide Arthritis (seropositive chronische Polyarthritis)
Reaktive/Postinfektiöse Arthritis
Direkte Gelenkinfektionen
Kristallinduzierte Arthritiden
Die Gicht (Chondrokalzinose)
Arthrosen
Krankheiten der Muskeln
Weitere Erkrankungen
Musikermedizin
Wie ist der „Rheumatismus“ Händels zu beurteilen?
Schlaganfall
Allgemeines zum Schlaganfall
Wodurch ist ein Schlaganfall gekennzeichnet?
Was ist zu einem Schlaganfall Händels zu sagen?
Die angeblichen Schlaganfall-Rezidive Händels
Wurzel-, Plexus- und Nervenläsionen
Definition von Lähmung
Wurzelläsionen (Radikulopathien)
Plexusläsionen (Plexopathien)
Nervenläsionen
Blei-Intoxikation
Syphiliserkrankung
Allgemeines zur Syphilis
Zur Krankheit selbst
Hatte Händel eine Syphilis?
Augenerkrankung
Die „Chronik der Ereignisse“ und einige Bemerkungen
Einiges zur historischen Entwicklung der Augenheilkunde
Moderne Augenheilkunde und Händels Augenerkrankung
Differenzialdiagnostische Überlegungen
Die akuten und chronischen Erkrankungsmöglichkeiten im Überblick
Was ist Blindheit?
Dissoziative Störungen
Ein kurzer Aufriss zu Händel
Psychiatrische Diagnosen
Die nachlassende Schaffenskraft
Resümee
Literatur

Zu diesem Buch

Georg Friedrich Händels Erkrankungen geben nach wie vor Rätsel auf. Dabei scheint es sich doch,folgt manden Quellen, umeindeutigeDingezu handeln: Rheuma, Schlaganfall und Erblindung. Bei genauerem Hinsehenhält diese anfängliche Eindeutigkeitjedoch nichtstand.

Unklarheitenergeben sich schonallein deshalb,weilzu Händels ZeitendieHumoralpathologiein der Medizinmaßgeblich war.Im Gegensatz zu anderen gesellschaftlich wichtigen Bereichen hatte sich die Medizin (und mit ihr die Humoralpathologie) seit Langem wenig verändert.Naturwissenschaft spielte, anders als in der heutigen Medizin,nochkaum eine Rolle.Medizinisches Handeln war von der Säftelehre bestimmt. Ihr zufolge wirkten im KörpervierSäfte unterschiedlicher Zusammensetzung und Temperatur. Aus Veränderungen resultierten die Erkrankungen des Menschen. In diesem Modell gab es nurwenigeDiagnosen, die dann aberoftverwendet wurden.Eine dieser Diagnosenwar zum BeispielFieber. Sie wurde immer dann gestellt, wenn eine Verschiebung des normalerweise herrschenden Gleichgewichtes zwischen den Säften hin zu einem Überwiegen der warmen Säfte angenommen wurde. Die Diagnose Fiebervon damalsdarf nicht mitderheutigenVerwendung desBegriffesFieber gleichgesetzt werden,mit demein Symptom und nichtetwaeine Diagnose bezeichnetwird. Das zunächst einfache Modellder vierSäfte wurde im Laufe der Zeit verfeinert und ausgebaut, genügt aber heutigen Anforderungenan eine Diagnostikbei weitem nicht.

Ein weiteresProblemderGlaubwürdigkeit von Diagnosen, die zu Händels Zeiten gestelltwurden,besteht indermedizinischenAusbildung, diesich grundlegend von der heutigen unterschied. Die Wundärzte erlernten ihre Tätigkeit außerhalb der Universität ganzüberwiegendpraktischvon ihren Meistern, während die Ausbildungder (para?)universitär ausgebildeten Heilkundigen ganzüberwiegendtheoretischfundiertwar. Die medizinisch-anatomischen Vorstellungen orientierten sich dabei an den veralteten und unzutreffenden Lehren Galens. Funktionszusammenhänge waren weitgehend unbekannt. Technische Untersuchungsmöglichkeiten oder Labormethoden fehlten völlig, weithin wurdeHarnschauals diagnostische Methode betrieben.

Eine verlässlicheDiagnostikwar unter diesen Bedingungen kaum möglich. Damalige Diagnosen können deswegen nichteinszueinsin die heutige Zeit übertragen, sondern müssen mit Skepsis betrachtet werden.In der RezeptionHändelsund seiner Krankheiten werden dieca. 250 Jahre alten Diagnosen aberso betrachtet, alsseiensie heute gestellt worden.

Wenn man sich mit ErkrankungenhistorischerPersonen befasst, bedeutet dies häufig, mit(neueren)Diagnosen konfrontiert zu sein, ohne zu wissen, wiediesezustande kamen.Dasist wenig zufriedenstellend. Ein Anliegen dieses Buches besteht deswegen darin, Diagnostik transparent werden zu lassen.

Die in Frage kommenden Krankheiten Händels werden aus Sicht des jeweiligen medizinischen Fachgebietes (Rheumatologie, Innere Medizin, Dermatologie, Augenheilkunde, Psychosomatische Medizin, Psychiatrie) untersucht.Folgend wird abgewogen, ob Händel die jeweilige Krankheit wirklich hätte haben können. Natürlich richtet sich dieses Vorgehen vor allem an Mediziner; aber auch Nichtmediziner können diese Überlegungennachvollziehen, da die Krankheitsbilder so dargestellt werden, dass sieauch für Laien zu verstehen sind.

Der Leserkannausführlichere Darstellungenverschiedener Krankheiten übergehen und lediglich die zusammenfassenden Abschnitte lesen.Bei vertieftem Interesse kann er dannaufdie weiterführendenDarstellungenzurückgreifen.

Sollten sich die alten der Humoralpathologie entstammenden Diagnosen als unstimmig erweisen,muss geklärt werden, ob es andere Erklärungen für die Erkrankungen Händelsgibt.DiesesBuch bringt Erkenntnisse, die zu ganz neuenBetrachtungenführen und damit neue Diagnosen nahelegen.

Ein Blick aufHändels Epoche

Die Zeit,in der Georg Friedrich Händel lebte, erscheint den meisten von uns weit entfernt. Wir haben kaum mehr eine Vorstellung davon. Von einem vielleicht vermuteten ruhigen Ablauf dieser Zeit ist bei genauem Hinsehen allerdings wenig zu erkennen. Damals war in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen ein erstaunlicherWandelmit weitreichenden Veränderungen im Gang. Gegen Ende des Jahrhunderts rumorte es sogar kräftig. Ausgerechnet in der Medizin aber veränderte sich lange Zeit nur wenig. Überkommene Anschauungen waren tradiert und prägten das Bild; es herrschte nahezuStagnation.

Diesen Wandel einerseits und die Stagnation andererseits aufzuzeigen ist das Anliegen der beiden nächsten Kapitel. Dabei richtet sich der Blick zunächst überwiegend auf Bereiche der Kunst, diese sind aber für die Barockzeit nicht unwesentlich. Danach wird die barockzeitliche Medizin dargestellt. Die Zeit des Barock und auch Händel können uns damit wieder ein Stück näher kommen.

Wenige Jahre bevor Händel am 23. Februar 1685 in Halle an der Saale geborenwurde, war derDreißigjährige Krieg(1618-1648) zu Ende gegangen. Mehr noch als Prager Fenstersturz und WestfälischerFriede prägten sich die Grausamkeiten ein, diesichwährend des gesamten Kriegesereigneten. Stellvertretend für jene Geschehnisse sei an dieGräueltatenbei der Zerstörung des von den Schweden besetzten Magdeburgs durch den FeldherrnderLigaundkaiserlichen GeneralleutnantTilly(1559-1632) erinnert. Ein literarisches ZeugnisdesKrieges gab, gewissermaßen aus erster Hand,Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen(1622-1676), der den Krieg als vaterloser Jungemiterlebte (10), mit seinem „SimpliciusSimplicissimus“(32).Heinrich Schütz(1585-1672) komponierte seine „Kleinen Geistlichen Konzerte“unter dem Eindruck des Krieges(80). AuchHeinrichIgnaz Franz Biber(1644-1704)beschäftigte sichin seiner „Battaglia“mitKriegsgeschehen(9).Friedrich Schiller(1759-1805) nahm mit seinem „Wallenstein“ gleichfallsauf diesen Krieg Bezug (77).DieAuswirkungendieses Kriegessindauchdaranzu ersehen,dassAlfred Döblin(1878-1957) noch 300 Jahre später ein umfangreiches, komplex geschichtetes Werk, ebenfalls mit dem Titel „Wallenstein“,herausbrachte (17).Die anhaltende Zahl von Veröffentlichungen zu diesem Krieg belegt seine Bedeutungdarüber hinaus.

Ökonomisch lag Europa nach dem Krieg am Boden. Die Bevölkerung war dezimiert, die Ernährungslage war nach ausgedehnten Verwüstungen lange Zeit unsicher. Hungersnöte waren schon während des Krieges aufgetreten und hatten die Anfälligkeit für Erkrankungen erhöht. Die großen Seuchen wüteten: Pocken, Pest und Cholera fanden viele Opfer, ganze Landstriche verödeten. Pocken waren zu Händels Zeit die Todesursache Nr. 1, wobei es scheint, dass Händel selbst nie an Pocken erkrankt war (75). Auch Tuberkulose war häufig (72). Es dauerte lange, bis die Kriegsfolgen einigermaßen überwunden waren und die Bevölkerung sich erholte.

Die Erschütterungen dieses Krieges waren noch nicht vergessen, als 1683 die Türken vor Wien standen. Als nächstes überzog der spanische Erbfolgekrieg (1701-1714) Europa. Der österreichische Erbfolgekrieg (1740-1748) sowie der siebenjährige Krieg (1756-1763) schlossen sich an. Alle diese Kriege hatten europäische Schauplätze, manche wirkten sich bis nach Indien oder Amerika aus. England war in alle Kriege verwickelt (92). Die Kräfteverhältnisse in Europa verschoben sich, die politischen Spannungen wirkten im Alltagsleben.Seitden noch an die Renaissance gemahnenden Söldnerheeren desDreißigjährigen Krieges hattensichWaffentechnik und Kriegsführung weiterentwickelt, warennoch verheerender geworden. Die Bevölkerung musste nahezu ständig unterBedrohungenundÄngstenleiden. Beides waren bestimmende Themen der Zeit.Händels Herkunftsfamilie wird davon nicht unberührt geblieben sein.Auch die weiter zurückliegende Migration (s. Familiengeschichte) dürftebesondere Belastungenfür die Familiemit sich gebracht haben.

Widrige ökonomische Verhältnisse bilden keinen guten Boden für künstlerische Produktion. Während und nach demDreißigjährigen Krieg war diebildende Kunstnahezu zum Erliegen gekommen. Sie erholte sich wieder; um 1700 kam es dann zu einem erkennbarenStilwandel. Als Beispiel kannClaude Lorrain(1600-1682) genannt werden, dessen schwerer (Barock-)Stil abgelöst wurde vom leichteren, lebhaften (Rokoko-)StilAntoine Watteaus(1684-1721).Jan Weenix(1642-1719) spielt in seinen feinst ausgeführten Arrangements das gesamte Repertoire barocker Metaphern durch.Nicolas de Largillière(1656–1746) ist zwar dem Rokoko verpflichtet, in einigen seiner an Verfeinerung kaum zu übertreffenden Bilder kündigt sich aber schon, darüber hinausweisend, ein neues, vom Individuum bestimmtes Menschenbild an. Ein Besuch in der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe, in der die beiden letztgenannten Künstler ausgestellt sind, lohnt sich. Der ästhetische Reiz der Bilder dürfte auch diejenigen ansprechen, die auf neuere Kunst eingestellt sind.Übrigenswarauch Händel an bildender Kunst interessiert, in seinem Nachlassbefanden sich zum Teil bedeutende Bilder, unteranderenzweiGemälde von Rembrandt.Sie sind spurlos verschwunden.

Nicolas de Largillière:Bildnis eines jungen Edelmannes im Jagdkostüm.© bpk / Staatliche Kunsthalle Karlsruhe / Wolfgang Pankoke

In derArchitekturist derWandelin berühmten Zentren wie Versailles, Wien oder Würzburg ablesbar. Er wird aber auch an anderen, bei uns etwas weniger bekanntenSchlossbautenerkennbar. InČeský Krumlov (Krumau/Böhmen) steht eine der größten Adelsresidenzen Europas (71). Hier kann derStilwandelanmehreren Baukörpernnachvollzogen werden. Einzigartig ist der vonJosephLederer1748im Inneren eines älteren Gebäudes im Rokokostil ausgemalteMaskensaal.Seine Bühne ist als Spiegel gestaltet. In ihm kann sich jeder, je nachGusto,als Schauspieler bewundern oder erkennen. DieGartenanlageder Residenz breitet sich in mehreren terrassenartig hintereinander gestaffelten Ebenen aus. Sie ist in ihrer Ursprünglichkeit weitgehend erhalten. Das Glanzstück des Gartens bildet eineBrunnenanlage, die mit ihren übereinander angeordneten Kaskadenbecken die Mehrstufigkeit des Gartens wiederholt. Im Sommer lädt sie mit ihren Fontänen und lebhaftem Wasserspiel beim Rundgang zum Verweilen. Daselegante, im Rokokostil umgebauteLustschlösschen„Bellaria“mit seiner Freitreppe wurde in den hinteren Gartenteil eingefügt, wirdheutzutageaber zur Theaterkulisse degradiert. In seinem entlegensten Teil verfügt der Garten über einenFischteich mit Insel, seine Wasserfläche ist heute mit einem dekorativen Teppich aus Seerosen überzogen. Das inallen Teilenoriginal erhalteneTheater(erbaut 1766-1767) war in jüngster Zeit Drehort für die Filmaufnahme einer neu inszenierten Barockoper. DasMusikarchivrundet die Schlossanlage ab.

Kaum weniger bedeutsam ist das von den ItalienernFiliberto Lucchese(1606-1666) undGiovanni Pietro Tencalla(1629-1702) erbauteerzbischöflicheResidenzschlossKroměříž(Kremsier/Mähren). Hier besticht einBlumengartenim französischen Stil mit zugehörigen Kolonnaden. Deruntere Schlossgartenist im englischen Stil als Landschaftsgarten angelegt. Was in WürzburgGiovanni Battista Tiepolo(1696-1770) leistete, vollbrachte in diesemSchlossFranzAnton Maulbertsch(1724-1796) mit derAusmalung desLehensaals. Den elegantenRokoko-Speisesaalbrachte Milos Forman in seinemMozart-Filmzu überragender Wirkung (71). Überhaupt ist ja das Rokoko eherinder Innenarchitekturzu finden.

Entlang derOberschwäbischenBarockstraßetreffen wir erneut aufFranz AntonMaulbertsch, der,in Langenargen am Bodensee geboren (Museum), in Wien als kaiserlicher Hofmaler reüssierte. Man muss einmal im Winter, wenn die Touristen weg sind, durch den kleinen Ort gehen, um zu ermessen, was dies bedeutet. An dieser Straße finden sich ebenfalls Beispiele sowohl des barocken Stils wie auch des Rokoko (83). Wer die Reise zur richtigen Zeit unternimmt, kann in Weingarten Europas größte auf die Barockzeit zurückgehendeReiterprozessionerleben. Bei der zugehörigen Flurbegehung weitetsich der Blick in einmaliger Weise über den Bodensee und das hügelige Alpenvorland. Zu einer etwas früheren Reisezeit kannder Reisende, so er denn möchte,beispielsweise in Bad Waldsee in ein Spektakel der besonderen Art eintauchen, das ebenfalls barocke Wurzeln aufweist:dieschwäbisch-alemannischeFasnet.

Ein nahezu unbekanntes Rokokobeispiel findet sich ganz in der Nähe. In derKartause BuxheimistDominikusZimmermann(1685-1766) um 1740 mit dem Umbau derAnnakapelleein Kabinettstück im Wortsinn gelungen. Wer den kleinen Raum betritt,glaubt, inmitten der spartanisch anmutenden, auf das Mittelalter zurückgehenden Klosteranlage seinen Augen nicht zu trauen. Sein Bruder,Johann Baptist Zimmermann(1680-1758), schuf übrigens das zugehörige Altarblatt für die Kapelle.

Gothaverfügt mitSchloss Friedensteinüber eine wuchtige frühbarocke Flügelanlage, erbaut 1643-1654, kurz vorEnde des Dreißigjährigen Krieges, als Residenz der Herzöge von Sachsen-Gotha-Altenburg. Auch hier kann der Wandel an einigen Baukomponenten abgelesen werden. Im Inneren finden sich Räume vom Frühbarock bis zum Rokoko. Derenglische Landschaftsgartenist noch in großen Teilen erkennbar, trotz Zerstückelung durch städtebauliche Maßnahmen mit Straßen und neuem Wegenetz. Ein großerKarpfenteichmitHalbinselhat sich in einem etwas abgesonderten Teil erhalten. Andere zum Gartengehörende Architekturkomponenten, wie dieOrangerieund derMerkurtempel, haben schlechtere Zeiten ebenfalls überstanden. DieSchlosskirchemitGrablege, eineBibliothekundKasemattenvervollständigen die Anlage.

Die große Besonderheit bildet allerdings dasältesteBarocktheaterder Welt(Ekhof-Theater, benannt nach dem TheatermannConrad Ekhof, 1720-1778), mitoriginaler und bespielbarer Bühnentechnik. Eingebaut in einen Turm des Schlosses wurde es zwischen 1681 und 1687. Der oft mitGlöckchenangekündigteKulissenwechselalleinsorgt mitetwasBewegungsgeräuschen, aber überraschender Schnelligkeit für einen Theatereffekt besonderer Art. „Hat es auch schön gerumpelt?“,ist die allseits geäußerte Frage im ganzen Land, wenn man auf das Theater zu sprechen kommt.

Nebenbei bemerkt ist die original erhaltene Premierenrobe Ekhofs, in leuchtend rotem Samt ausgeführt, für textilhistorisch Interessierte ein Prachtstück.

In derLiteraturbildet sich einStilwandelebenfalls ab, wobei im Barock scharfe Kontraste vorherrschen. Leben und Tod, Vergänglichkeit und Ewigkeit,Weltgenussund religiöse Ekstase sind Themen.Andreas Gryphius(1616-1664) („Catharina von Georgien“) ist einVertreter jener Epoche. Den Wandel hin zur Frühaufklärung repräsentierenChristian Fürchtegott Gellert(1715-1769) („Die Betschwester“) undJohann Wilhelm Ludwig Gleim(1719-1803) („Fabeln“). Die Emanzipation des Denkens bevorzugte neue Themen wie Nächstenliebe und Genügsamkeit, Freundschaft und Vertrauen. Einige Werke Gellerts wurden übrigens vonLudwig van Beethoven(1770-1827) als Lieder vertont.

DerMusikstilveränderte sich ebenfalls während des 18. Jahrhunderts. Ab etwa 1730 transformierte sich dasGeneralbasszeitalterin RichtungWienerKlassik. Zu Händels Zeit spielten, um Schlagworte zu nennen, dieEmpfindsamkeitund derGalante Stil(in Italien) eine Rolle, mit Komponisten wieCarlPhilipp Emanuel Bach(1714-1788) (Württembergische Sonaten) oderGiovanni Platti(1697?-1763) (Cembalosonaten).Vor der eigentlichen Klassik waren Komponisten wieJohann Christian Bach(1735-1782) (Sinfonien) oderJohannStamitz(1717-1757) (Mannheimer Sinfonien) tätig.Christoph Willibald Gluck(1714-1787) (Iphigènie en Aulide) undJoseph Haydn(1732-1809) (frühe Streichquartette und erste Sinfonien) eroberten vorWolfgang Amadeus Mozart(1756-1791) das Terrain (90). Dieopera seriafand ihre Nachfolgerin in deropera buffa.Dasdeutsche Singspielgewann Raum. Neben anderem entwickelten sichSinfonie,SolokonzertundStreichquartettzu ihrer bekannten Form. Als eigentlicher Opernreformer ist dabei nicht Gluck, sondernTommaso Traettazu betrachten (49).

Natürlich hat jeder Komponist seine individuelle Entwicklungslinie, mit der er auch anderenStilrichtungen zugeordnet werden kann. Überhaupt war diese Zeit des Umbruchs wechselhaft und zunächst ohne deutliche Richtung.Was die Änderung des Musikstils für Händel mit sich brachte, wirdin einem späteren Kapitelnoch zu besprechen sein.

Auch die Zeit der berühmten Gesangskastraten des Barock ging unwiderruflich zu Ende.Es gibt unterschiedliche Meinungen zu der Frage, ob sie tatsächlich kastriert waren, oder ob andere Gesangstechniken zur Anwendung kamen (6,37). Händel hatte zweifellos ein besonderes Verhältnis zur Singstimme, sowohl zur weiblichen als auch zur männlichen falsettierenden Stimme. Von„Kastraten“sprachHändel, soweit bekannt ist, nicht. Er schreibt in einem seiner wenigen Briefe lediglich von „Contralto“(60).

Schon damalswardie hohemännlicheSingstimmeein strittiges Thema. DenFalsettisten, die sich gegen den Verdacht wehren müssen, kastriert bzw. unmännlich zu sein, widmetesich schon der aus Venedig stammende DichterCarlo Goldoni(1707-1793). Er war einprofunder Kenner nicht nur der Theater-, sondern auch der Opernszene. Neben seinen heute noch gespielten Theaterstücken hat er zahlreiche Opernlibretti geschrieben. InseinerTragikomödie „Der Impresariovon Smyrna“, die sich mit dem Schicksal einer Opernkompagnie befasst, erfährt derFalsettistheftige Ablehnung seitens des Impresario, der keinen Mann will,der eigentlich eine Frau ist und auch so singt, woraufhin Goldoni den Falsettistenenergisch bestreiten lässt,kastriert zu sein.

(Nebenbei bemerkt hat es sich auchMarcello Mastroianninicht nehmen lassen, Charaktere des in Italien heute noch sehr beliebten Goldoniam Theater darzustellen. In diesen Rollen agierte erallerdingsohne seineberühmteFilmpartnerinSophia Loren).

Händel war ein überaus kreativer Mensch, neue Einflüsse hat er offenbar sehr geschätzt. Er war aufgeschlossen, variierteoft, obwohl ihm immer wieder das Gegenteilunterstelltwird. ImFolgendennureinige Beispiele: Er verwendete in seinen Opern sowohl einen eher gravitätisch-eleganten Stil (Radamisto) als auch einen eher beschwingt-leichten Stil (Faramondo). Die zu Unrecht gescholtene Da-capo-Arie hat er immer wieder abgewandelt (Atalanta, Lassa! Ch’io t’ho perduta).In jüngeren Publikationen erscheint die Da-capo-Arie übrigens wieder in einem neuen Licht (48,95).In Xerxes lässt ereineArie vonzweirivalisierenden Protagonisten singen. InAci und Galathea(1732) lässt er die englischen Sänger in englischer Sprache singen, die italienischen Sänger hingegen in ihrer italienischen Muttersprache.Auch französische Einflüsse lässt Händel in seinem Opernschaffen wirksam werden (Teseo).In einige seiner Opernfügteer Ballettszenen in solchem Umfang ein, dass man von „Ballettopern“ spricht (z.B.Ariodante). Erengagiertedie aus Frankreich stammende TänzerinMarie Sallé(1707?-1756), die schon 1734 Aufsehen damit erregte, dass sie in dem Ballett „Pygmalion“ nicht mit dem üblichen Barockkostüm, sondern mit einer Tunika und mit offenen Haaren auftrat, was nicht nur einen Skandal auslöste, sondern auch einen bleibenden Kostümwandel nach sich zog (11). Das Duett, in welchem sich die innere Bezogenheit zweier Menschen offenbart, hat in Händels Opern einen zentralen Stellenwert; oft ergibt sich der Eindruck, dass das gesamteGeschehendarauf zuläuft. Auch hier variiert er.InSiroe, Re di Persiaverzichtet er völlig auf das Duett.InArminiostellt er ein zusätzlicheszweitesDuett ganz an den Beginn.Ein drittes Duett, zwischen zwei seelenverwandten weiblichen Protagonisten, findet sich in der Mitte.Von lebenszugewandter Heiterkeit (Partie des Elviro inXerxes) bis zu abgründiger, unaufgelöster Traurigkeit (Schlusschor inTamerlano)drücktHändel in seiner Musik Emotionen aus. Die Spannweite korrespondiert mit der Anzahl der Protagonisten, jede Figur hat ihr eigenesemotionales Leben.Das ThemaAggression fehlt bei ihm nicht. Er kann Konflikte auf die Spitze treiben, bis es um Leben und Tod geht. Gleichzeitigbesitzt er die Fähigkeit, Lösungen für ein aggressionsärmeres, humanes Zusammenleben aufzuzeigen, veranschaulicht z.B. im Schlusschor desGiulio Cesarein der Inszenierung 2012 an der MET (57).DerSchlusschorscheintin vielen Opern HändelseinenKulminationspunkt zu bilden, mit dem Konflikthaftigkeit wieder ins Lot gebracht wird; womit aber nicht die Vorstellung verbunden ist, dass jegliche Konflikthaftigkeit damit aus der Welt geschafftsein sollte. Damit er, mit welcher Begründung auch immer,einfachweggelassen wird,komponierteHändel den Schlusschor jedenfalls nicht.

Händelwarsich seines Könnens und seines Wertes durchaus bewusst. Vom Sohn eines Hallenser Wundarztes zum Weltstar aufzusteigen, am Hof des englischen Königs als gefeiertes Mitglied der Hofgesellschaft zu leben, kennzeichnete natürlich auch schondamalseine beispiellose Karriere. Seine OpernkomponierteHändel weitgehend zeitunabhängig.Andem Gewoge der verschiedenen musikalischen Neuorientierungsversuchewirkteer nicht deutlich erkennbar mit. Aber wasbedeutetees für ihn, mitten in seiner größten Schaffenskraft als veraltet bezeichnet, gar verspottet zu werden? Dies muss zwangsläufig sein Selbsterleben berührt haben, kann kaum ohne Auswirkungen geblieben sein. Die Fallhöhe für ihn war groß, wie man heute sagen würde. Inwieweit seine Gesundheit dadurchbeeinträchtigtwurde, darauf wird zurückzukommen sein.

Der Wandel der Zeit zeigte sich neben all dem bisherGenannten beispielsweise auch im ökonomischenBereich des Handels.Verliefder Fernhandelfrüherzumeist über Venedig, brachte seine massive Ausweitung eine Globalisierungvon bis dahin nicht gekannten Dimensionen. Venedig verlor nahezu völlig an Bedeutung, andere Zentren entstanden. Neue Finanzierungsmodelle waren notwendig. Aktien gewannen eine enorme Bedeutung. Händel, als zeitoffenerMensch, investierte sein Geld in Aktienpapiere.Diese Anlageform birgt bekanntermaßen Risiken.Ob er Geld verloren hatund dadurchbelastet war,mag offen bleiben.Letztendlich zahlte sichdas Investmentfür ihnaber wohl aus. Bei seinem Tod war eräußerstvermögend.

Die technischen, wirtschaftlichen, sozialen und sonstigen gesellschaftlichen Veränderungen ab etwa 1750 führten zurindustriellen Revolution(93). Ausgegangen waren siegrößtenteilsvon England, wo Händellebte. Die Zeit der großen Entdeckungen und technischen Erfindungen kam. Genannt sei nur die Dampfmaschine. Alle Naturwissenschaften erlebten einen ungeahnten Aufschwung.

Wenig bekannt ist, dass der bis weit ins17.Jahrhundert zurückreichende Walfang einen wesentlichen Grundpfeiler dieser neuen industriell-technischen Entwicklungen bildete. Er begann,enorm aufzublühen.HermanMelvillesMoby DickrepräsentiertdieZeit,zu derzahlreiche amerikanischeWalfänger, dieoftjahrelang auf allen Weltmeeren unterwegs waren, von New Bedford ausin See stachen.Zwar wurden die Tiere fast ausgerottet, wie sich heute zeigt,und können nur mit energischen Maßnahmen gerettet werden,dieaufkommenden neuen Maschinenaberkonnten, bevor erste synthetische Öle entwickelt wurden,zunächstnur mit Öl betrieben werden,das aus dem Waltran gewonnen wurde. Die rasante technische Entwicklung wäre ohne dieses, von den WalenstammendeÖl nicht möglich gewesen.Das aus dem Tran der Wale gewonneneÖl brachteaußerdemauchzunehmendHelligkeit in die Wohnungen. Zunächst zwar kaum effektiver als diebisherigeKerzenbeleuchtung waresaber bedeutend billiger, so dass auch weniger betuchte Leute sich eine Beleuchtungleisten konnten.Auf die Rolle der Beleuchtungsqualität wird beiden Ausführungen zuHändels Augenerkrankungeinzugehensein

Noch zu Händels Zeit zeichneten sichweitreichendepolitische Veränderungenab, der Absolutismus begann sich seinem Ende entgegen zu neigen. Die Zeit der Fürsten ging vorüberund damit auch das, was wir unter Barockzeit verstehen. Um die Mitte des 18. Jahrhunderts kündigten sich gesellschaftliche Veränderungen größten Ausmaßes an. Der Vorabend derfranzösischen Revolution (1789-1799) war angebrochen. Die Neuzeit machte sich bemerkbar, die Aufklärung veränderte das Denken.VincentCroninentwickelt in seinerBiographieLudwigs des XVI. und Marie-Antoinetteseineganzeigene, unorthodoxeSicht auf die Geschehnisse.

Medizin zuHändels Zeit

BeiallenVeränderungen und Umbrüchenwährend der Barockzeitist es erstaunlich, dass sich in derMedizin des 18. Jahrhunderts lange Zeit so gut wie nichts veränderte oder entwickelte. Bis weit über die erste Hälfte des Jahrhunderts blieb die Medizin bei ihren überkommenen Anschauungen, war wenig in der Lage, Linderung oder Heilung von Krankheiten zu bewirken, wie wir das heute kennen. Wesentliche Einzelkenntnisse waren zwar vorhanden, neue kamen noch hinzu, in ein Gesamtkonzept aber, das ein schlüssiges Diagnose- oder Therapiekonzept ermöglicht hätte, konntensie nicht integriert werden.Die Konsequenzenbekamen die Patienten zu spüren, die von der Medizin nicht wirklich Hilfe erwarten konnten.

Zu denEinzelkenntnissengehörte zum Beispiel, dass diewichtigstenOrganedes Körpers bekannt waren. Hervorzuheben ist dasNervensystem, dasin seinen Grundzügen schon vonAndreasVesalius(1514-1564) beschrieben worden war (86). DurchWilliam Harvey(1578-1657) war der makroskopischen Anatomie die Entdeckung desBlutkreislaufsgelungen.Gaspare Aselli(1581-1674)entdecktedasLymphsystem. Die mikroskopische Anatomieerfuhr,nachdemvan Leuwenhoek(1632-1723) das Mikroskop entwickelt hatte, einen Aufschwung undließviele Organe infeineren Strukturenerkennbar werden.MarcelloMalpighi(1628-1694)beschriebdenFeinbauvon Lunge, Gehirn, Nerven, Nieren, der Netzhaut und der Tastorgane. Erentdeckte1661 übrigens auch schon dieLungenkapillarenundliefertedamit das Beweisstück für Harvey.NielsStenon(1638-1686)unterschiedLymphknotenvonDrüsen.John Mayow(1643-1679) undRobert Boyle(1627-1692)führtenerste qualitativeBlutgasanalysendurch.Stephen Hales(1677-1761)wurdeauf denBlutdruckaufmerksam (29).

In ihrem Denken war dieMedizinaber weiterhinGalen(129-216) und seinen nicht zutreffenden Vorstellungen verpflichtet. Trotz vieler Entdeckungen,die in der frühen Neuzeit gelangen, war es nicht möglich, diese in Beziehung zueinander zu setzen. Die lange noch wirkendeHumoralpathologiemitihrerSäftelehrewar nicht in der Lage,dieOrgansysteme inZusammenhängenzu untersuchen und zu verstehen. Erst ab der zweiten Hälfte des Jahrhunderts ging esdannnicht mehr um Einzelerkenntnisse, sondern umFunktionszusammenhänge,und esvollzog sich eine Änderung in der Medizin, hin zu einer verbesserten Diagnostik und Behandlungsmöglichkeit. Einganzheitliches Konzeptmit weit reichenden Konsequenzen in der praktischen Ausübung der Medizin konnte sich entwickeln. Die Patienten konnten nun von der Medizin wirklich profitieren.

DieSäftelehrekannte zunächstvierSäfte unterschiedlicher Qualität (29). Zur Erläuterung sei ein Schema angefügt. Dieses wurde zwarweiterentwickeltunddifferenziert, blieb in den Grundzügen jedoch gültig.

Qualitäten der Säfte

warm

kalt

trocken

Gelbe Galle

Schwarze Galle

feucht

Blut

Schleim

Quelle:Wikipedia; Eintrag: Humoralpathologie

Physiologischebzw.pathophysiologischeFunktionszusammenhängeim Körper, die zum Erkennen und Heilen von Krankheiten notwendig sind, konnten damitaber, wie gesagt,nicht erfasst werden.Demzufolge war noch zu Händels Zeitim Bereich derInneren MedizindasdiagnostischeInventarweitgehendvon der Harnschau bestimmt, während dietherapeutischenMöglichkeitenkaum über Aderlass,Purgativaund Allheilmittelhinausgingen.

Im Bereich derChirurgieverhinderten,mangelsKenntnis vonKeimenund den von ihnen ausgelöstenInfektionen, vor allemnicht therapierbareWundinfektioneneine nennenswerte Entwicklung (72). Keime waren zwar mit Mikroskopen gesehen, in ihrer Bedeutung jedoch nicht erkannt worden. Eine effektiveAsepsis(Keimfreiheit)bzw.Antisepsis(Unschädlich-Machen von Keimen) war unbekannt. Operationen im Bauchraum und im Brustkorb, mit Beteiligung des äußerst infektionsanfälligen Bauch- bzw. Brustfells, waren deshalb nicht zu bewältigen. Zwar wäre manches technisch, zumindest im Bauchraum, möglich gewesen (man kann es am Instrumentarium ablesen),aber die Operationen forderten viele Todesopfer und niemand wusste,warum. Die Wundinfektion(z.B. alsPeritonitis)grassierte,eineErklärungfür ihre Ursachenkannte manjedochnicht.

Erst nachdemSemmelweis(1818-1865) das Kindbettfieber alsinfektionsbedingterkannt und wirksame antiseptische Maßnahmen entwickelt hatte, kamen Fortschritte auf dem Gebiet der Asepsis/Antisepsis in Gang (86).Robert Koch(1843-1910), der Färbemethoden für Keime erforschte, mit deren Hilfe diese dann identifiziert werden konnten, leistete weitere unschätzbare Dienste. Langsam kamen wirksame antibiotische Therapien auf.

Allgemeinchirurgisches Instrumentarium. Aus: „Laurentii Heisters Chirurgie“ von 1763.Technisch gesehen sind die Instrumente den heutigen verblüffend ähnlich

Gleichzeitig waren wegenungenügenderAnästhesie, die keine Schmerzfreiheit erreichte,größere, länger dauernde chirurgische Eingriffe unmöglich. Zwar war Äther schon lange bekannt, er wurde aber nicht für Narkosen eingesetzt. Erst gegen Ende des Jahrhunderts trugen Fortschritte in der Anästhesie dann zur weiteren Entwicklung der Chirurgie bei, so dass auch größere, längerdauernde Eingriffe erfolgen konnten.

Infolge fehlender Anästhesie und des zwingend notwendigen schnellen Operierens war eine subtileBlutstillung, als eine der wesentlichen Voraussetzungen, um der Wundinfektion den Boden zu entziehen, nicht möglich. Allenfalls große Gefäße konnten unterbunden werden, dies allerdings auch nur mit unsterilem Material. Aus den kleineren Gefäßen blutete es ungehindert weiter. Der Wundinfektion war somit aus mehreren Gründen Tür und Tor geöffnet.

Aber auch nochanderefehlende Kenntnisse vonFunktionszusammenhängenim Körper wirkten sich neben der schon erwähnten fehlenden Kenntnis vonAsepsis/Antisepsis und der fehlenden wirksamenAnästhesiehemmend auf den chirurgischen Fortschritt aus (6). Manwusste beispielsweise noch kaum etwas vonpräe- oder perioperativen Zusammenhängen.

Ein weiteres Hemmnis in der Entwicklung der Medizin war dieAusbildungder Heilkundigen,die in vielen Aspekten fragwürdig war. Zur Barockzeit waren die Heilkundigen inzweiGruppen aufgeteilt. Zureinen GruppierungzähltendieuniversitärausgebildetenMediciunddie(parauniversitär ausgebildeten?)Chirurgen. Auf die Ausbildung der Medici wird hier nicht näher eingegangen. Die Chirurgen wurden lange Zeitnur theoretischdurchdasLesen und Diskutieren alter Meister ausgebildet,auch in Anatomie. Dabei hatten sie keinen praktischen Unterricht. Sie konnten also kaum wirklich operieren. Sie waren übrigens auch lange Zeit von den Medici deutlich getrennt. DiezweiteGruppierungstellten dienicht universitärausgebildetenWundärztedar (74) (aufdie sogenannten volksnahen Heiler wird hier nicht weiter eingegangen). Diese Wundärzte hatten keinen theoretischen Unterricht, sondern lernten,rein handwerklich-praktischdie Tätigkeit ihrer Lehrherren weiterzuführen. Man spricht deshalb auch von„Handwerkschirurgen“. Zum Abschluss ihrer Ausbildung legten sie eine wie auch immer geartete Prüfung ab, die sie aber oft umgingen. Diese Wundärzte waren, wie Handwerker, in Zünften organisiert. Sie konnten sowohlsesshaftals auchfahrendsein. Sesshafte Wundärzte gab es (zunächst) nicht sehr viele, sie waren zudem eher in den Städten angesiedelt. Die fahrenden Wundärzte waren oft Scharlatane und Betrüger, meist ohne Prüfung. In der Versorgung, wenn man es so nennen wollte, vor allem der ländlichen Bevölkerung nahmen sie eine herausragende Stellung ein. Sie waren es, welche weitverbreitet (unzureichende)chirurgischeMaßnahmen durchführten. Sie zogen übers Land und machten zuvor mit Handzetteln oder ähnlichem auf ihr Kommen und ihre Stände, an denen sie „behandelten“, aufmerksam. Oftmals verkauften sie illegal Medikamente, was eigentlich nur den Medicis erlaubt war (67). Es gab deswegen viele Prozesse der Obrigkeit gegen sie. Die Qualität ihres Tuns insgesamt mag dahingestelltbleiben. Die ökonomische Situation dermeistenWundärzte war nicht besonders gut. Oft wurden sie mit Naturalien bezahlt.

Über diegenauenAusbildungsinhaltebeider Gruppierungen ist nur sehr wenig bekannt (74). Die im Mittelalter herrschenden Verhältnisse wurden wohl bis in die frühe Neuzeit hinein tradiert.

Lange Zeit blieb es in der Chirurgie bei kleinen Eingriffen wie etwa Abszesseröffnungen und Fistelspaltungen. Größere Operationen wie Leistenbruchoperationen wurden zwar immer wieder durchgeführt, hatten aber ein enormes Risiko. Ein noch wesentlich höheres Risiko hatten Harnblasensteinoperationen wegen nahezu zwangsläufig auftretenderDarmverletzungen. Meist starben die Patienten. Wenn nicht, zogen die „Operationen“ oft schlimmste Folgen nach sich (67,72). Auch Gliedmaßenamputationen oder Amputationen der weiblichen Brust waren mit einem sehr hohen Risiko behaftet. Die Wundärzte übernahmen auch Zahnbehandlungen, allerdings ebenfalls oft mitwenig zufriedenstellendenResultaten. Meist wurden die Zähne lediglich herausgerissen, große Teile verblieben und trugen zu Infektionen bei.

Die damaligen „Operateure“ bewältigten die Operationen noch nicht. Sie traumatisierten mehr, als dass sie operierten. Man muss sich noch einmal klar machen, dass diejenigen,die operierten, nämlich die Wundärzte, von Anatomie keine Vorstellung hatten, während diejenigen,die(unzureichenden)Anatomieunterricht erhalten hatten, die Chirurgen, vom wirklichen Operieren lange Zeit kaum etwas verstanden.

DasunheilvolleZusammenwirken all dieser Bedingungen war äußerst nachteilig für die damalige Heilkunde und damit für die Patienten. Eine wirkliche Veränderung hin zur modernen Medizingab eserst gegen Ende des 18. Jahrhunderts im Gefolge des naturwissenschaftlichen Aufschwungs. Grundlegend warauchdie längst fällige Aufhebung der zuvor bestehenden Trennung zwischen universitärer (Innerer)Medizin und Chirurgie. Im Laufe der Zeit wurde dann füralle Zweige der Heilkunde eine universitäre Ausbildung zur Pflicht. Ein erstes entsprechendes GesetzausPreußen stammt von 1852. Die Wundärzte verschwanden nach und nach.Es greift allerdingszukurz,festzustellen,sie seien von den studierten Ärzten aus pekuniären Neidgründen verdrängt worden. Ausbildungund damit Befähigung spielten ebenfalls eine Rolle.

Auch heute noch zieht die Medizin oft erst ausvorangehendennaturwissenschaftlichen Errungenschaften ihren Nutzen. Man denke nur an Entwicklungen wie dieComputertomographie(CT) und dieMagnetresonanztomographie(MRT) nach Einführung digitaler Techniken in die Medizin. Heute sind damitdiagnostischeEinblickein den menschlichen Körper und seineFunktionszusammenhänge möglich, an die in der frühen Neuzeit nicht einmal mit Hilfe einer Sektion gedacht werden konnte. Auch die Fortschritte im GefolgemolekularbiologischerForschung, z.B. durchWatson(1928)undCrick(1916-2004), diedieDoppelhelixentdeckten, müssen hier genannt werden (3).Die daraus bzw. aus der Stammzellenforschung resultierendentherapeutischenMöglichkeiten gelangen in völlig neue Dimensionen.Noch unabsehbare Folgen dürfte die Entwicklung dermolekularbiologischen Schere CRISPR-Cas9 haben. Mit ihr lässt sich dasGenomschnell und zielgenau völlig neu zusammenstellen.

Wenn einer eine Reise tut

Besonders eindrücklich ist der Stand der damaligen Medizin am Reisen abzulesen. Zu Händels Zeit war Reisen eine risikoreiche Angelegenheit. Kindern und Alten wurde dringend davon abgeraten (79). Trat eine ernsthafte Erkrankung auf, geriet der Betreffende leicht in eine lebensgefährliche Situation. An eine schnelle Rückreise in die Heimat war nicht zu denken. Die Tagesetappen von Kutschen zwischen den einzelnen Poststationen waren unterschiedlich lang. Eine Tagesetappe betrug meist um 30 km.

Für die StreckeAugsburg–Venedigwurdeninsgesamt 117 Stunden (ca. 18 Tage) angesetzt. Dabei schwankte die Zeit, d.h. der Abstandzwischen den einzelnen angesteuerten Poststationen, zwischeneiner StundeundneunStunden (61). Bekanntermaßen waren die Kutschen in Oberitalien besonders langsam. Wer die alte, damals übliche Route nach Venedig entlang der Brenta durchsSuganatalfährt, kann sich eine Vorstellung davon machen. Die in den kleinen Straßendörfern, z.B. inOspedalettooderGrigno, rechteng undgewunden verlaufende Streckelässtnoch ahnen, wie langsam damals das Reisen vonstattenging.Außerhalb der OrtschaftenverliefendieunbefestigtenWege einspurig. Der Höhergestellte hatteWegerecht, der andere musste ausweichen, was ein zeitraubendesund je nach Wegverhältnissen auch riskantesManöver sein konnte.DieaufwendigenFassaden der Palazzi entlang der Hauptstraße, in Orten wieBorgo,vermittelnauch einen Eindruck davon, wieviel Geld schonfrühermit Fremden zu machen war.Manche Bausubstanz stammt noch aus Händels Zeit.Da sich das Ortszentrum mittlerweile meist verlagert hat,mussman diese überraschendreichgestalteten früheren Hauptstraßen manchmal zwar etwas suchen, wie beispielsweise inPergine, wird dafür aber mit dem prächtigen Anblick belohnt.InCismon del Grappaöffnet sich die Straße zu einem dreieckförmigen, mit zentralem Brunnen ausgestatteten Hauptplatz, der den Blick auf die dahinter liegende nahe Felswand in dem engen Tal in atemberaubender Weise öffnet. Dieserschreckte, im Gegensatz zu heute, die damaligen Reisenden sicherlich eher, als dass sie den großartigen Anblick genossen hätten. Die Strecke war übrigens wirklich nicht ungefährlich; noch heute gehen an manchen Stellen Muren nieder. Die an der alten Straße sich in unregelmäßigem Abstand aneinanderreihendenalberghimit Namen wie „Post“ oder „Adler“ gemahnen noch deutlich an die alten Poststationen, die neben der Versorgung der Tiere natürlich auch dem leiblichen Wohl und der Kommunikationder damaligen Reisenden dienten. Nebenbei bemerkt erfreute sich die letzte Etappe dieser Strecke, zwischenMestreundVenedig, schon damals besonderer Berühmtheit. Zwei Stunden wurden für die Überfahrt in einer Gondel quer durch die Lagune angesetzt.

Fraglich ist, unabhängig von der langen Fahrtzeit,aber ohnehin, ob zu Hause eine gute Versorgung möglich gewesen wäre. Wo jedoch sollte erst in der Fremde wirkungsvolle Hilfe herkommen? Großteils funktionierte ja die medizinische Versorgung der Bevölkerung über fahrende Wundärzte, die oft Scharlatane waren, oder man griff zunächst zur Selbstmedikation (67,72). Konnte ein verlässlicher Wundarzt überhaupt ausfindig gemacht werden? Über welches Können verfügte er? Wohin sollte ein (schwer) Kranker gebracht werden?Van Huyssenrät aus solchen Überlegungen in seinem Reiseführer den Reisenden zu möglichst vielen Empfehlungsschreiben (40). Mit ihrer Hilfe bzw. der Unterstützung der Anvisierten sollte heilkundliche Hilfe in der Not besser erlangt werden können. Das klingt wenig beruhigend.

Krankenhäuser im heutigen Sinn gab es nicht. Hospize bzw. Hospitäler wurden bis ins 18. Jahrhundert hinein imAllgemeinenvon Mönchen oder Nonnen betreut, kaum von Wundärzten. Die Einrichtungen waren zur Aufnahme von Alten, unheilbar Kranken, Geisteskranken und Geschlechtskranken vorgesehen, nicht zur Aufnahme von reisenden Akutkranken. Durch das Pfründner(un)wesen standen die Räumlichkeiten oft ohnehin kaum mehrfür Krankezur Verfügung (86). Nur in wenigen großen Städten waren die Hospize auch zur Aufnahme von Reisenden bestimmt. Die Hilfe dort erstreckte sich in den meisten Fällen auf pflegende Maßnahmen; was auch sonst. Im Zentrum stand lange Zeit noch der Altar, der von allen Krankenlagern aus gesehen werden konnte. Vorbereitung auf das Jenseits war der Gedanke, weniger Heilung.Eine nicht gerade erfreulicheSituation für kranke Reisende.

Zwar versäumten manche damalige Reiseführer nicht, die Mitnahme von Medikamenten anzuraten. Hauptsächlich waren damit Purgativa (Brechmittel, Abführmittel, harntreibende Mittel und schweißtreibende Mittel) sowie die beliebten Allheilmittel gemeint. Viele dieser Medikamente enthielten Schwer- bzw. Halbmetallverbindungen in hoher Konzentration, meist Quecksilber und Arsen,und waren äußerst toxisch. Auch (oft bleihaltige) Salben für Pflaster können mitgenommen worden sein; ebenso Tinkturen, welche ebenfalls toxisch sein konnten. Möglicherweise ist eine große Anzahl Kranker durch solche toxischwirkenden „Medikamente“ eher ums Leben gekommen als durch die Krankheit selbst (67). Aber welcher Art sollte die Wirkung der Medikamente auch sein, wenn man Heilung oder Besserung als Maßstab nimmt. Damals hatte man ja keine wirkliche Kenntnisüber dieUrsachen von Krankheiten und deren Behandelbarkeit.

EineRezeptur aus der „Chirurgie“ vonLorenz Heister(1683-1758), damals ein recht fortschrittliches Buch, seinochangeführt(38).Das Pulver sollte zur Blutstillung helfen, was auf Reisen ja gelegentlich notwendig wird. Man achte besonders auf Gips und gedörrte Kalbsleber.

Blutstillende Rezeptur aus: „Laurentii Heisters Chirurgie“ von 1763.

Wenn die Blutung zum Stillstand kam, dann sicher aus ganz anderen Gründen als wegen des Pulvers. Dagegen brauchte der Betroffene nach der Anwendung vermutlich nicht lange auf eine Infektion zu warten, die ihrerseits dann wieder Probleme machte.

Die damaligen Medikamente setzten sich, wie wir gesehen haben, aus Bestandteilen zusammen, die uns heute sehr zweifeln lassen. Auch die Zusammensetzung des allseits beliebten und als „muoter aller arzenie“ bezeichneten „Theriak“, einer Art Wunder- bzw. Allheilmittel, war obskur. Auf Honiggrundlage wurdenVipernfleisch, Meerzwiebel und pflanzliche Drogen sowie Südweinvermischt. Diese Mischung musstefünf bis zehn Jahre reifen. Der Gedanke dahinter war, dass das Fleisch giftiger (aber gesunder) Vipern in der Lage sei, Gift von sich weg zu drängen. Die Rezepturen der verschiedenen Hersteller wechseltenstark. Angewendet wurde der Theriak oral in kleinen Mengen von etwa einem Gramm pro Tag. Die immer wieder sich erweisende Unwirksamkeit (z.B. gegen die Pest) wurde geleugnet bzw. durch erfundene Wunderheilungen ins Gegenteil verkehrt. Die Anzahl derIngredienziensteigerte sich im Laufe der Zeit auf das Fünffache, ebenso der Preis. Es wird vermutet, dass die damalige sogenannte „Wirkung“ des Theriaksam ehesten durch das beigemengte Opium zustande kam. SchlangengeschmückteGefäßeder hausierenden Verkäufer erhöhten die Absatzchancen; sie sind heute der Stolz alter Apothekenausstattungen.

TheriakgefäßFoto: Jebulon. Quelle:Wikimedia Commons. Gemeinfrei.

Die allermeisten der damaligen Medikamente kommen nicht mehr zur Anwendung, nur ganz wenige konnten sich bis heute auf dem Markt halten (z.B. „Hoffmannstropfen“). Bemerkenswerterweise wurden viele dieser Medikamente damals schon quasiin Massenproduktionhergestellt und überall hin versandt.Die StadtHalle an derSaalebesaßbeispielsweisesolche Produktionsstätten (29,67). Erstaunlich ist die Diskrepanz zwischen dem Wissen um die Herstellung und dem Wissen um die Wirkung. Viele Medikamente wurden über fahrende Wundärzte und deren Helfer durchHausierenvertrieben, obwohl dies untersagt war (67). Innerlich wirkende Medikamente durften nur von studierten Ärzten (Medicis) verordnet und verabreicht werden. Die Herstellung besorgten, in deren Auftrag, die Apotheker. Doch wie gesagt hielten sich viele Wundärzte nicht daran, sondern griffen aktiv in den lukrativen Markt ein.

Der Körper funktioniert aber nicht nach der Vorstellung von Säften, die entweder zu dick- oder dünnflüssig, zu warm oder kalt, bzw. verschoben in ihrem Gleichgewicht sind. Auf solchen Vorstellungen beruhten solche Rezepturen jedoch, natürlich auch die der Medicis.

Sollte sich ein erkrankter Reisender mit solcher Medizin, die er mitgenommen hatte, tatsächlich selbst helfen; sich selbst therapieren? Im Ernstfall blieb kaum etwas anderes übrig, aber inwieweit war es hilfreich? Neben fachlichem Wissen und Empathie setzt ärztliches Tun (zumindest heute) gleichzeitig auch neutrale Distanz und nüchternes Überlegen voraus. Dinge,über die ein Erkrankter nicht im richtigen Maß verfügt. Deshalb wird ja sogar der Arzt, wenn er erkrankt ist, zum Patienten,der sich nicht unbedingt selbst helfen kann. Wie sollte dann erstein Reisender zur Barockzeit, mit den damals üblichen Medikamenten,für sich sorgen können?

Manche Reisen dauerten lange, oft ein halbes Jahr oder mehr. Da konnte viel passieren. Wer ernsthaft krank wurde,konnte wohl nur durch eine robuste Konstitution überleben. In Fällen, in deneneine chirurgische Intervention notwendig war, hatten die Patienten sowieso kaum eine Chance.

Liest man in den einschlägigen Reiseführern allein über die Art und Zubereitung der angebotenen Speisen im endlich erreichten „Wirths-Hauß“, schwant einem manche Pein,die damals erlitten werden musste. Dabei sind Durchfallerkrankungen noch eines der geringeren Übel. Jeder Reisende weiß, dass Enteritiden imAllgemeinenmitund ohne Medikamente überstanden werden. Das galt damals sicher auch schon.

Trotzalledem nahmdas Reisen einen enormen Aufschwung; vor allem nach Italien. Schon um 1500sollentausende Ochsenkarren über den Brenner gezogen sein.AuchHändel war zwei Mal in Italien (1706-1710 und 1729). Die Bildungsreise als „Kavalierstour“ stand bei Adligen, mit Empfehlungsschreiben versehen, hoch im Kurs. Von Deutschland aus hielt sich der Strom einigermaßen in Grenzen. Wesentlich mehr Reisende frönten von England aus der beliebten „Grand Tour“, die imAllgemeinenauf genau festgelegten Routen, fast schon im Sinne einer Pauschalreise, meist bis nach Neapel führte (79). Der europäische Hochadel zog bis nach Malta. Gründe für die Reisen waren Interesse an Geschichte, Politik, Wissenschaft und Kunst, später auch Landschaft, sowie der venezianische Karneval und die Oper. Man ahnt aber, dass solche Gründe nicht die alleinigen waren. Auch weitaus weniger hehre Vergnügungen wurden gesucht und gefunden. Wiederum ist esvan Huyssen(40), der drastisch mahnt, nicht eine monatelange Reise auf sich zu nehmen, um danach für den Rest des Lebens unheilbar krank zu sein.Sieht man vom moralisierenden Ton ab, ist seine Mahnung beim damaligen Stand der Medizin sicher nicht ganz ungerechtfertigt.Ein anderer Autor (61) scheint über fundierte Kenntnisse zu verfügen, wenn er vor „Donnedel amore“ warnt, die in Venedig, in den engen Gassen in dunklen Türen stehend, potentiellen Kunden auflauerten. Die „honetten“ von ihnen verfügten seiner Aussage nach über „meublierte camere“ und paradierten zwecks Kundenfang in „gondole“auf der Lagune. Ob nun die Damen den Herren auflauerten, oder ob diese hinter den Damen herjagten, braucht an dieser Stelle nicht entschieden zu werden.

Die schon erwähnte Globalisierung des Handels eröffnete völlig neue Reisewege. Der venezianische Kaufmannssohn Marco Polo (1254-1323), der nach China aufbrach, sollte nicht der einzige Fernreisende bleiben. Pilgerreisen ins Heilige Land waren schon um 1481,wiederum ähnlich heutigen Pauschalreisen, von Venedig aus mit Galeeren organisiert (16).

Neben Adligen und reichen Bürgern waren auch viele Kaufleute unterwegs, ebenso Künstler jeglicher Couleur, Diplomaten, Studenten, Abenteuerlustige. Selbstverständlich reisten auch Frauen. Berühmte Sängerinnen wieFrancescaCuzzoni(1698-1770) oderFaustina Bordoni(1697-1781) gaben sich an den Opernhäusern zwischen London und Venedig ein Stelldichein. Eine neuere CD nimmt im Titel Bezug auf die Reisen der Bordoni, die mit dem in Dresden als Hofkapellmeister tätigen Adolph Hasse verheiratet war: „I Viaggi di Faustina“. Frauenreisten oftin Begleitung vonVerwandten. Genannt werden könnte auchZanetta Casanova(1707-1776), die Mutter des berühmten Lebemannes. Sie war als Schauspielerin und Sängerin in Intermezzi zwischen Opernakten begehrt. Wie Bordoni aus Venedig stammend, gab sie ihr Debüt am King’s Theatrein London, hatte dann eine längere Verpflichtung in Petersburg, um schließlich am Dresdner Hof erfolgreich zu sein, von wo aus sie bis nach Warschau reiste (42). AuchRosalba Carriera(1675-1757) und etwas späterAngelika Kauffmann(1741-1807) fertigten ihre begehrten Portraits auf Reisen durch Europa.

Oft reiste manauchin Gruppen,um das Risiko von Überfällen zu mindern. Häufiger wichen Reisende aus unterschiedlichen Gründen auch von den bekannten Routen ab. Ob die Reisenden außerhalb der gängigen Routen mehr Risiken ausgesetzt waren, was Erkrankungen oder gar Lebensgefahranbelangt, mag dahin gestellt bleiben. Das damalige Reisen war jedenfalls ohne Zweifel gefährlich und hat Vielen das Leben gekostet. Auf dem Seeweg lauerten Piraten, zu Lande waren Räuberbanden am Werk. Unfälle waren an der Tagesordnung (16,72). Händel selbstbekameinen Begriff von der Gefährlichkeit, als er auf einer seiner Reisen nach Deutschland 1750 zwischen Den Haag und Harlem mit seiner Kutsche verunglückte. Neben der „LondonEvening Post“ berichtet auch der „General Advertiser“ davon und stellt fest,dass Händel zwar schrecklich verletzt, aber außer Gefahr sei. Händel konnte die Reise offensichtlich ohne ernsthafte Probleme fortsetzen.

The General Advertiser, London, 19.August, 1750. 17th-18th Century Burney Collection Newspapers.Quelle:Nationallizenzen.de

Ansonsten ist es geradezu erstaunlich, dass wir bis zu Händels 52zig