Dein Reich komme - Jürgen Kroth - E-Book

Dein Reich komme E-Book

Jürgen Kroth

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Beschreibung

Es wundert sehr, wie gering der Bezug auf das Reich Gottes in der aktuellen Sakramentenpastoral und der Sakramententheologie insgesamt ist. Ausgehend von diesem Befund wird im vorliegenden Band die Sakramentenpastoral dezidiert unter eine Reich-Gottes-Perspektive gestellt. Dazu ist aber eine genaue Sichtung der Situation ebenso wichtig wie ein solides theologisches Instrumentarium. Der Autor greift hier auf die Neue Politische Theologie zurück und vertieft sie für seine Fragestellung, weil sie - wie kaum eine andere zeitgenössische Theologie - Erinnerung, Gegenwart und Zukunft in immer neue Konstellationen stellt, die gerade in der Sakramentenpastoral grundlegend sind. Es soll damit ein Beitrag zur Neugestaltung der Sakramente im Horizont des Reiches Gottes geliefert werden.

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Jürgen Kroth

Dein Reich komme

Studien zu einer politischen Theologie sakramentaler Theorie und Praxis

Studienzur Theologie und Praxisder Seelsorge

102

Herausgegeben von Erich Garhammer und Hans Hobelsberger in Verbindung mit Martina Blasberg-Kuhnke und Johann Pock

Jürgen Kroth

Dein Reich komme

Studien zu einer politischen Theologie sakramentaler Theorie und Praxis

echter

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.d-nb.de› abrufbar.

1. Auflage 2018

© 2018 Echter Verlag GmbH, Würzburg

www.echter.de

Gestaltung: Hain-Team (www.hain-team.de)

eBook-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheim, www.brocom.de

ISBN

978-3-429-04429-9

978-3-429-04950-8 (PDF)

978-3-429-06370-2 (ePub)

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Einleitung und praktisch-theologische Grundlegung

Teil I: Diagnosen

1. Innenansichten der pastoralen Praxis im Allgemeinen

1.1 Binnenbezogenheit

1.2 Betreuungsperspektive

1.3 Kirchlichkeit und Verkirchlichung

2. Soziologische und zeitdiagnostische Außenbetrachtungen

2.1 Die Deutung der Zeichen der Zeit als Aufgabe für der Theologie

2.2 Kolonialisierung der Lebenswelt, Individualisierung, Atomisierung

2.3 Die Herausforderung unbegrenzter Pluralität

2.4 Ortlosigkeit als theologisches Problem

3. Theologisches Grundperspektiven bestehender pastoralen Praxis

3.1 Aktivierungs-, Beteiligungs- und Mitgliederorientierung

3.2 Territorialprinzip

3.3 Milieuprinzip

3.4 Seelsorge als Sorge um das Heil des Einzelnen

3.5 Communio vs. Kommunikation

4. Religion ohne Gott - Religion als Kritik der neuen Religion

Exkurs: Postsäkularität - Religion - Christentum

Teil II: Differenzierungen

5. Reich Gottes als Schlüsselbegriff aller kirchlichen Praxis

5.1 Reich Gottes in synoptischer Perspektive

5.1.1 Ökonomie

5.1.2 Politik

5.1.3 Ideologie

5.2 Die apokalyptische Dimension des Reiches Gottes

5.3 Systematische Annäherungen

6. Verhältnisbestimmung: Welt - Reich Gottes

6.1 Karl Rahners Beitrag zu einer Theologie der Welt

6.2 Zu einer politischen Theologie der Welt

6.3 Die eschatologische Grundstruktur der Theologie

7. Sakramente als Antizipation und politische Theologie

7.1 Das Sakramentenverständnis in der Tradition der Kirche

7.2 Reflexionen auf die bestehende Sakramentenpraxis

7.3 Heil in einer unheilen Welt

7.4 Befreiung - Erlösung - Rettung

7.5 Grundlegungen politisch-theologischer Sakramentenpraxis

7.6 Die produktive Kraft des Erinnerns und Ezählens

Teil III: Dimensionen

8. Initiation: Einweisung in das Reich Gottes

9. Taufe: Aufnahme in die Reich-Gottes-Hoffnung

9.1 biblische Annäherungen

9.2 Systematische Aspekte zur Taufe

9.3 Taufpraxis

9.4 Taufpastoral

9.5 Leitperspektiven heutiger Taufpastoral

9.5.1 Aufnahme in die Kirche

9.5.2 Segen für das Kind

9.5.3 Familienpastorale Orientierung der Taufpastoral

9.5.4 Kinder- oder Erwachsenentaufe?

9.5.5 Katechumenat

9.5.6 Plädoyer für eine narrative Struktur der Taufpastoral

9.6 Fragile Präsenz des Heils

10. Eucharistie: Anamnese und Prolepse der Basileia

10.1 Theologische Kontroversen um das Verständnis der Eucharistier

10.2 Konfrontationen mit einer zeitgenössischen Problematik

10.3 Theologische Kategorien zeitgemäßer Eucharistiepastoral

10.4 Einweisung in die Praxis der Nachfolge und Solidarität

10.5 Überblick über die aktuelle Eucharistiepastoral

10.6 Eucharistiepraktische Neuansätze

10.7 Fragile Präsenz eucharistischer Vergegenwärtigung

11. Firmung: Mitarbeit am Reich Gottes

11.1 Handlungsorientierte Firmpastoral

11.1.1 Systematische Annäherungen

11.1.2 Biblische Annäherung

11.1.3 Kurze Zwischenreflexion

11.1.4 Konsequenzen für die Firmpastoral

11.2 Gesellschaftstheoretische Reflexionen

11.3 Pädagogische Perspektiven

11.4 Gegenwärtiger Stand der Firmkatechetik

11.5 Sensibilisierung für die Fragilität gelungenen Lebens

12. Zum Schluss

Literaturverzeichnis

Vorwort

Der Anlass für die vorliegende Arbeit liegt in einem Forschungsseminar vor ein paar Jahren, das die Sakramentenpastoral zum Gegenstand hatte. Weniger aufgrund fester Erkenntnisse als aufgrund einer Intuition wurden sakramentenkatechetische und –pastorale Positionen hinsichtlich ihrer Reich-Gottes-Verwiesenheit untersucht. Das Ergebnis war für alle Beteiligten ernüchternd. Es wurde sehr deutlich, dass dieser Aspekt eine genauere Untersuchung erfordert. Natürlich verdankt sich eine solche vielfältiger Unterstützung, Beratung, Kritik und Inspiration.

Allen voran sei Prof. Dr. Heinz-Günther Schöttler gedankt, der sehr unkonventionell und spontan seine Bereitschaft erklärte, dieses Projekt als Habilitation zu betreuen, ohne in den Entstehungsprozess von Anfang an eingebunden zu sein. Für seine freundlichen, kollegialen, vor allem aber auch kritischen Rückfragen danke ich ihm sehr. Ihm zugleich danke ich Prof. DDr. Norbert Mette von ganzem Herzen. Er war es – ganz sicher, ohne sich dessen bewusst zu sein –, der mich dazu ermutigte, die Arbeit zu beginnen und die Überlegungen zu konzentrieren. Die Untersuchung lebt von vielen seiner Überlegungen, auch dort, wo sich dies nicht im Zitat oder Literaturverweis manifestiert. Auch Prof. Dr. Erwin Dirscherl sei von Herzen gedankt, der sich zur Mitarbeit am Fachmentorat für diese Habilitation bereit erklärte und dessen kritische und zugleich konstruktive Rückfragen vor allem die schwierige Stellung dieser Studie zwischen den Stühlen der Praktischen Theologie einerseits und der Systematischen Theologie andererseits abzusichern beitrug. Weiterhin gilt mein Dank auch Prof. Dr. Johannes Först, der vor allem die Frage nach der Prüfung der Hypothesen weit über deren theoretische Explikation hin wach hielt. Prof. Dr. mult. Josef Wohlmuth danke ich für die Erstellung eines Gutachtens ebenso wie Prof. DDr. Thomas Schärtl-Trendel.

Viele Überlegungen wurden auch im sog. Kamingespräch der Pallottiner an Haus Wasserburg kritisch besprochen und geprüft. Jutta Lehnert, Edeltraud Groß, JProf. P. Dr. Alban Rüttenauer SAC, P. Alexander Diensberg SAC, Guido Groß und P. Jörg A. Gattwinkel SAC wissen – so hoffe ich jedenfalls –, wie dankbar ich ihnen dafür bin.

Für die unglaublich anstrengende Arbeit einer in mehrfacher Hinsicht kritischen Lektüre danke ich Josef Schifferings und vor allem Bertil Langenohl von ganzem Herzen; für ihre Hilfestellung, theologische Begleitung und freundschaftliche Verbundenheit ebenso.

Überaus dankbar bin ich für die Freundschaft und das inspirierend kritische Denken vor allem von drei Menschen, die meinen Weg in die Theologie begleitet und gestaltet haben: Prof. Dr. Luise Schottroff, meiner wunderbaren Lehrerin in der Lektüre biblischer Texte, Prof. Dr. mult. Johann Baptist Metz, dessen Denken selbst noch im hohen Alter nichts an Frische und Überraschung eingebüßt hat und Dr. Tiemo Rainer Peters OP, der mehr als jeder andere mich und seinen gesamten Schülerinnen- und Schülerkreis auf liebenswerte Art gezwungen hat, bei der Sache der Theologie zu bleiben.

Dem Bistum Trier, allen voran Bischof Dr. Stephan Ackermann, danke ich für die großzügige Gewährung eines Druckkostenzuschusses.

Niemals fertig geworden wäre diese Untersuchung ohne Melanie. Sie hat einen größeren Anteil an dem Endprodukt, als sie überhaupt nur einschätzen kann. Überaus großen Anteil aber haben auch Tiemo und Luise durch ihre bloße Existenz. Sie werden später verstehen, was damit gemeint ist. Diesen Dreien sei das vorliegende Buch in tiefer Dankbarkeit und Zuneigung – sie werden auch dies zu verstehen wissen – zugeeignet.

Einleitung und praktisch-theologische Grundlegung

Es wundert doch sehr, schaut man wachen Blicks in die sakramentenpastorale Wirklichkeit sowohl der theologischen Theoriebildung und Reflexion1, aber auch der gemeindlichen Praxen, wie wenig die Vorbereitung auf die Feier von Sakramenten, wie wenig aber auch die Feiern selbst inhaltlich konturiert sind; erst recht ist das weitgehende Fehlen eines Reich-Gottes-Bezugs auffällig.2 Eine inhaltliche Fundierung in einer Reich-Gottes-Perspektive fehlt zumeist;3 von einigen Ausnahmen wird noch die Rede sein.4 Dies irritiert insofern umso mehr, als spätestens seit Evangelii nuntiandi von 1975 die Orientierung am Reich Gottes zentral für die Frage der Evangelisierung ausgegeben und damit lehramtlich, zumindest im Range eines Apostolischen Schreibens, aufgegriffen wurde (vgl. EN, 8-14). Auch angesichts des biblischen Befundes muss dies irritieren. Schließlich stellt die Verkündigung des Reiches Gottes „die entscheidende, zentrale Aussage der Botschaft Jesu insgesamt“5 dar. Gleichwohl ist mit Jon Sobrino zu konzedieren, dass über viele hundert Jahre „weder Konzilien noch das Lehramt oder die Christologie das Reich Gottes im Sinn gehabt oder recht verstanden“6 haben.

Die vorliegende Studie geht davon aus, dass gerade in den Sakramenten, die tatsächlich lebensrelevante Abschnitte markieren, etwas von dem aufscheinen muss, was einerseits als gelingendes Leben zu kennzeichnen ist, was aber andererseits die vorhandenen Möglichkeiten, das Leben als gelingend zu gestalten zugleich transzendiert und insofern eine Hoffnung artikuliert, die so radikal ist, dass sie mit dem Namen Gott und dessen Reich verbunden ist. So verstanden, haftet den Sakramenten eine ethische wie eine eschatologische Dimension an. Ja, es macht das Eigentümliche der Sakramente aus, dass in ihnen Ethik und Eschatologie zusammenfallen. Insofern eine bloß gleichsam nach vorn, in die Zukunft hinein verlagerte Hoffnung in der Gefahr steht, inhuman zu werden, eignet den Sakramenten zugleich eine anamnetische Tiefenstruktur.

Eine Auseinandersetzung mit den Sakramenten steht vor der Schwierigkeit, die vielfältigen theologischen Überschneidungen nicht außer Acht zu lassen zu dürfen, zugleich jedoch eine zielführende Fokussierung zu entwickeln. Dies bedenkend werden viele Schnittstellen zwar angesprochen; sie können aber nicht hinreichend ausgearbeitet werden. Der Schwerpunkt wird auf einer praktisch-theologischen, genauerhin pastoraltheologischen Perspektive liegen. Allerdings werden grundlegende Positionen der systematischen Theologie durchaus zu berücksichtigen sein. Es geht dabei nicht um eine weitere Arbeit zu dogmatischen Fragestellungen. Eher wird mit dem Rüstzeug einer „praktischen Fundamentaltheologie“7 versucht, eine Vermittlung zwischen praktischer und systematischer Theologie auf der Basis der Sakramentenpastoral herzustellen. Dieses Verfahren wird schon deshalb als gerechtfertigt angesehen, weil jede Theologie als Wissenschaft immer einweisen muss in eine christliche Praxis.8 Selbstverständlich werden dabei auch dogmatische Fragen zu reflektieren, grundlegende ekklesiologische Unterschiede zu markieren und denkformanalytische Differenzen herauszuarbeiten sein. Gleichwohl stellt dies nicht das Hauptaugenmerk der Studie dar. Vielmehr soll die Sakramentenpastoral theologisch qualifiziert werden. Dabei ist sofort zu bedenken, dass in einer solchen theologischen Qualifizierung wesentlich von Gott und seinem Reich zu reden sein wird, ja, dass eine theologische Grundperspektive der Sakramentenpastoral ohne diese Perspektive in der Gefahr steht aufzuhören, Theologie zu sein. Wenn Karl Rahner davon ausgeht, eine Sakramententheologie benötige unabdingbar eine fundamentaltheologische Vergewisserung, „insofern Fundamentaltheologie die Wissenschaft ist, die sich die Dogmatik selbst als ihre eigene Grundlage voraussetzt“9, so wäre – unabhängig davon, ob die Fundamentaltheologie diese Zuschreibung unbefragt teilen könnte – wiederum gerade unter einem genuin theologischen Fragehorizont eine solch praktische Fundamentaltheologie hilfreich.

1

Für jede Theologie gilt, dass sie immer in einer bestimmten Zeit sich artikuliert. Auch für die Sakramentenpastoral und die Sakramententheologie gilt dieser Zeitindex. Bonhoeffer sprach davon, dass das, was immer wahr ist, gerade heute nicht wahr sein könne.10 Überzeitliche Positionen sind daher der Theologie Sache nicht, wenngleich es immer wieder – heute sogar wieder verstärkt11 – Tendenzen geben mag, solche zu finden. In der Sakramententheologie und der sakramentalen Praxis freilich lässt sich deutlich zeigen, wie sehr das jeweilige Verständnis auf zeitbedingte Erkenntnisse und Entdeckungen verweist. Es wird daher auch für diese Untersuchung zunächst darauf ankommen, etwas genauer zu verstehen, was denn pastoral und theologisch „der Fall ist“ (Kap. 1-3). Wenn solche Diagnosen versucht werden, dann selbstverständlich immer unter der Einschränkung der gewählten Fragestellung. Das erkenntnisleitende Interesse ist die Profilierung der Sakramentenpastoral als Einweisung in eine Reich-Gottes-Praxis. Das grenzt den zeitdiagnostischen Gestus notwendigerweise ein. Weniger wird es daher um das Hegelsche Anliegen gehen, die Zeit in Gedanken zu fassen12, sondern darum die Gedanken und das Handeln der Menschen zeitgemäß zu erkunden. Das dafür beanspruchte methodische Instrumentarium ist noch einmal theologisch präformiert, bildet also nicht den großen Rahmen zeitdiagnostischer Möglichkeiten ab, sondern wird fokussiert durch die leitende Fragestellung, inwiefern die pastorale Praxis der Kirche mit ihrer inhaltlichen Perspektive hin auf das Reich Gottes einerseits mit der Wirklichkeit der Menschen heute vermittelbar ist; wie aber andererseits das Handeln der Kirche diese Frage selbst unterläuft. Die in der Studie vorgenommenen soziologischen Referenzen bilden daher auch nicht all das ab, was in der Wissenschaftsgemeinde publiziert wurde. Die Arbeit greift vielmehr nur auf solche zurück, die zum einen innerhalb der Theologie über eine relativ große Rezeption verfügen und die zum anderen auch in den Gesamtkontext des zeitdiagnostischen Ansatzes der vorliegenden Studie selbst integrierbar sind. Dass es sich dabei um eine Auswahl handelt, die selbst noch einmal kritisch befragt werden kann, ist evident, aber unabdingbar aufgrund der Fülle der Untersuchungen einerseits und des begrenzten Platzes innerhalb einer Arbeit, die solche Fragen nicht zentral behandeln will, andererseits. Es werden auch Untersuchungen berücksichtigt, die auf empirischen Daten fußen. Eine empirische Erhebung wird aber nicht durchgeführt. Vielmehr werden diese Untersuchungen wiederum einer theologischen Fragestellung unterworfen. Leitend ist dabei die von Paul Ricœur stammende, aber auf Karl Marx, Friedrich Nietzsche und Sigmund Freud zurückgehende „Hermeneutik des Verdachts“13, die in der Theologie ja an anderer Stelle schon als hilfreich sich erwiesen hat, wo darunter ein ideologiekritisches Verfahren verstanden wird, das jeden Text und jede Überlieferung mit dem Verdacht belegt, die herrschenden Strukturen zu legitimieren.14

Weiterhin ist es notwendig, die gesellschaftlichen Makrostrukturen in den Blick zu nehmen, in denen sich heute eine neue Religionsfreudigkeit herausgebildet hat, die ohne jegliche Gotteshoffnung sich artikuliert, oder einen neuen Gott an die Stelle des biblischen setzt (Kap. 4). Bei all dem müssen natürlich zwei Hinweise berücksichtigt werden, einerseits der von Rolf Zerfaß, die Wahrnehmung der Vielschichtigkeit und Vielgesichtigkeit kirchlicher Praxis, „auf der Ebene der einzelnen Biographie, der Gruppen und Gemeinden sowie der Kirche(n) in ihren kulturellen und gesellschaftlichen Kontexten auf Zukunft hin – d.h. im Verheißungshorizont der Herrschaft Gottes“15 zu bedenken, und der Hinweis von Ottmar Fuchs auf die Kontextbezogenheit der praktisch-theologischen Wahrnehmung, in der es nicht „die Praxis des Menschen, sondern nur die Praxis verschiedener Menschen in verschiedenen Herkunfts- und Lebenszusammenhängen“16 gebe.

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Der zweite Teil der Studie konzentriert sich auf die Herausarbeitung einer politischen Theologie der Sakramente. Diese Konzentration und die praktisch-theologische Fragestellung dieser Arbeit legen schon nahe, dass hier nicht das gesamte Spektrum sakramententheologischer Ansätze zum Gegenstand gemacht werden soll. Allenfalls können paradigmatisch einige grundlegende diskutiert werden. Zuvor aber ist es notwendig, den hier als zentral erachteten Topos der Sakramententheologie genauer zu erkunden, also der Frage nach dem Stellenwert der Reich-Gottes-Botschaft in den biblischen wie systematischen Traditionen nachzugehen (Kap. 5), um dann das Verhältnis von Welt und Reich Gottes genauer bestimmen zu können (Kap.6). Zu fragen ist, ob und wenn ja mit welchen Referenzsystemen die Theologie überhaupt in der Lage ist, Welt als Welt anzuerkennen, ohne dabei völlig in der Welt aufzugehen. Es wird dabei deutlich werden, inwieweit auch solch bahnbrechende Ansätze wie der einer transzendentaltheologisch fundierten anthropologischen Theologie nicht hinreicht, die Weltlichkeit der Welt theologisch zu entfalten. Vielleicht ist hier doch zu viel Hegelsche Universalgeschichte am Werke, die letztlich jenen χωρισμός zu überwinden trachtet, den die Kantische Philosophie noch markierte. Wie aber ist sonst theologisch das Weltverhältnis zu bestimmen? Am ehesten dadurch, dass der Blick ungetrübt die Welt wahrnimmt und sehr vorsichtig ist mit allzu schnellen theologischen Suppositionen. Das mahnt schon das berühmte Diktum Adornos,

Erkenntnis habe „kein Licht, als das von der Erlösung her auf die Welt scheint: alles andere erschöpft sich in der Nachkonstruktion und bleibt ein Stück Technik“, das dann aber verschärfend fortfährt: „Perspektiven müßten hergestellt werden, in denen die Welt ähnlich sich versetzt, verfremdet, ihre Risse und Schründe offenbart, wie sie einmal als bedürftig und entstellt im Messianischen Lichte daliegen wird.“17

Die kirchlichen Sakramente sind – recht verstanden – Widerspiegelung eines nicht-heilen Lebens in der Hoffnung, dies möge anders werden (Kap. 7). Sie sind Ausdruck der Hoffnung auf universale Versöhnung im Stande des Nichtidentischen, unterwerfen sich diesem jedoch nicht, sondern suchen praktische Veränderung, auch und nicht zuletzt, indem sie die Möglichkeit von Versöhnung antizipieren. So wahr der Satz, es gebe kein richtiges Leben im falschen18 auch ist, so falsch wird er, wenn daraus gefolgert wird, alles könne so bleiben, wie es ist, da es eben kein richtiges Leben gebe. Immerhin hat schon Walter Benjamin mit großem Recht darauf hingewiesen, die Katastrophe bestehe darin, dass alles so weitergehe.19 Eine politische Theologie der Sakramente (Kap. 8) knüpft an solchen Einsichten an und weiß sich dabei zugleich getragen von der jüdisch-christlichen Tradition, deren eschatologisch-apokalyptischer Grundgestus sich ebenfalls nicht damit abfinden kann, dass das, was ist, alles sei, dass es also mehr geben müsse als das, was der Fall ist. Unverkennbar ist somit auch schon, welche außertheologischen Referenzen für die Entfaltung der Fragestellung wichtig sind: es sind wesentlich Reflexionen aus dem Umfeld der Kritischen Theorie. Es braucht angesichts der Rezeptionsbreite und –tiefe der Arbeiten von Horkheimer, Adorno, Benjamin und Habermas in der Theologie im Allgemeinen, der Politischen Theologie im Besonderen keine eigene Rechtfertigung für ein solches Vorgehen. Zudem hat die Arbeit von Franz Schupp20 schon fruchtbare Erkenntnisse eines Gesprächs zwischen Sakramententheologie und Kritischer Theorie geliefert. Dennoch soll auf diese Traditionslinie wenigstens in einem Bereich noch etwas intensiver eingegangen werden, nämlich in der Verhältnisbestimmung von Theologie und Praxis. Immerhin beansprucht die vorliegende Studie, einen Beitrag zu einer fundamental praktischen Theologie der Sakramente zu liefern. Es soll daher dieser Frage gerade auch unter Rekurs auf außertheologische Referenzen nachgegangen werden (Kap. 9).

3

Gewiss, das alles ist in der konkreten Sakramentenpastoral heute nicht erkennbar. Möglicherweise braucht es „zukünftig eine stärker inhaltsbezogene Reflexion und Konzeption kirchlichen Handelns“21. Es wird zu zeigen sein, dass diese Aspekte grundlegend sind für ein zeitgemäßes und zugleich in der Tradition verankertes Verständnis sakramentaler Praxis. Es wird im dritten Teil darum gehen, die einzelnen Sakramente unter Konzentration auf die Initiationssakramente ob ihrer Reich-Gottes-Relevanz sowohl zu befragen, wie diese auch auf der Höhe der Zeit zu formulieren. Vielleicht mag es enttäuschen, dass unmittelbar pragmatische Fragestellungen erst so spät im Verlauf einer praktisch-theologischen Arbeit auftauchen. Und vielleicht ist die Enttäuschung stärker, insofern keine unmittelbar anwendbaren oder umsetzbaren Ergebnisse geliefert werden. Es ist das Anliegen dieser Studie, eine politische Theologie sakramentaler Praxis zu entwerfen, nicht aber diese Praxis selbst abzubilden. Es gilt auch hier zu bedenken: Die Theologie ist actus secundus und reflexus, keineswegs unmittelbare pastorale Praxis, gleichwohl aber doch immer als Praxistheorie für die ihr vorgängige Praxis relevant.22 Insofern werden Kategorien entwickelt, die, aus der pastoralen wie allgemeinen Praxis und der theologischen Theorie gewonnen, in diese zurückfließen.

4

Gerade hinsichtlich des vorigen Punktes sind einige Bemerkungen zur Methode notwendig, die dieser Untersuchung zugrunde liegt: Es gilt, das Verhältnis von Theologie und Praxis etwas genauer zu bestimmen. Die folgenden Ausführungen können jedoch zwei Dinge nicht leisten: sie können nicht ersetzen, diese Methode immer wieder auf neue Situationen hin zu aktualisieren, so dass also alle Akteure in einem pastoralen Handlungsfeld immer wieder eine methodisch geleitete Sitautionsvergewisserung vornehmen müssen; sie können auch nicht in Anspruch nehmen, mit diesen wenigen Anmerkungen schon eine Theorie des Verhältnisses von Theorie und Praxis zu leisten. Insofern können hier nur Marginalien zu Theologie und Praxis formuliert werden.

Es mag vielleicht wie eine Anmaßung erscheinen, dies in so enger Anlehnung an einen Text von Theodor W. Adorno zu formulieren23, allerdings ist dies in mehrfacher Hinsicht gerechtfertigt: zum Einen kann es sich auch hier angesichts der Breite des Themas und der Relevanz der Fragestellung nur um Marginalien handeln, die jeweils eigene Untersuchungen nötig machten, die ja in mehrfacher Form auch schon vorliegen24, zum Anderen aber verdanken sich viele Überlegungen der vorliegenden Untersuchungen ohnehin grundlegenden Erkenntnisse der Kritischen Theorie im Allgemeinen, den Arbeiten von Adorno im Besonderen. Freilich ist der Kontext der Frage nach Theorie und Praxis, bzw. Theologie und Praxis ein deutlich anderer; dennoch können Adornos Überlegungen immer noch interessante und wichtige Gesichtspunkte liefern. Es wird daher unter (1) zunächst eine Rekonstruktion des Theorie-Praxis-Verhältnisses vor allem unter Rekurs auf die Philosophie versucht, auch um dem vor allem in der Praktischen Theologie starken Rückgriff auf das Verständnis von Theorie und Praxis von Jürgen Habermas ein kleines, aber notwendiges Korrektiv zur Seite zu stellen, woran sich anschließend unter (2) das in dieser Studie vorausgesetzte Verständnis von Theologie und Praxis noch einmal dezidiert entfaltet wird.

Praxis, im praktisch-theologischen Diskussionszusammenhang, ist ein plurale tantum. Was so leichtfertig behauptet wird, wiegt doch in der wissenschaftstheoretischen Diskussion um ein adäquates Verständnis von Praxis schwer. Kaum ein Lehrbuch und kaum eine praktisch-theologische Publikation, die mit der Frage umzugehen versucht, wo nicht betont wird, praktische Theologie sei Theorie der Praxis; und im gleichen Atemzuge wird gefragt: aber welcher Praxis?

Betrachtet man zunächst den kirchlichen Bereich, dann ergeben sich bereits sehr unterschiedliche Praxisfelder: Neben dem in unserem Zusammenhang, aber auch im kirchlichen Handeln generell zentralen Feld der sakramentalen Praxis, der gottesdienstlichen Feiern, in denen sehr unterschiedliche Praxisformen bestehen, sind auch alle Formen der katechetischen Unterweisung, des Religionsunterrichtes, der kirchlichen Jugendarbeit, der Hochschulpastoral, Gefangenenseelsorge, explizit caritativer Anstrengungen, kirchliche Akademien, außerliturgischer Verkündigung, Krankenseelsorge uvm. vorzufinden.25 Betrifft diese Praxis den kirchlichen Raum im engeren Sinne, so erschöpft sich das Handeln der Kirche darin freilich nicht. Immerhin befindet sich die Kirche immer auch im gesellschaftlichen Diskurs, so dass auch die Wechselbeziehung zwischen Kirche und Staat, zwischen Kirche und Zivilgesellschaft, zwischen Kirche und Öffentlichkeit als Formen kirchlicher Praxis verstanden werden müssen. Aber auch damit ist Praxis im tieferen Sinne noch gar nicht erfasst, weil sie immer noch bezogen ist auf das kirchliche Handeln im engeren, aber auch im weiteren Sinne. Immerhin gibt es doch auch ein Handeln von Menschen, die als Christinnen und Christen sich verstehen und auch ihr Handeln als christlich bezeichnen, die aber nicht immer überprüfen, ob die jeweilige Praxis in Übereinstimmung mit der verfassten Kirche sich befindet. Schließlich aber gibt es auch Praxis jenseits der bewussten Christlichkeit, die dennoch in großer Nähe zu christlichen Traditionen entfaltet wird, die aber gerade diesen Zusammenhang entweder überhaupt nicht wahrnimmt oder ihn auch zurückweist.

In jedem Falle, das wird an diesen kurzen Sichtungen deutlich, ist der Begriff Praxis, christlicher Praxis, ja kirchlicher Praxis schillernd. Theologie, die dies alles erfassen möchte und auf einen theoretischen Nenner zu bringen trachtet, ist möglicherweise von vornherein überfordert. Vielleicht war es aufgrund des überschaubareren Rahmens richtig, unter Praxis den Selbstvollzug der Kirche in der Gegenwart26 zu verstehen. Es ist aber deutlich geworden, dass diese ekklesiozentrische Verengung heute nicht mehr tragfähig ist. Viel mehr müsste heute die gesamte Praxis der Menschen in den Blick genommen werden, ob kirchlich oder nicht, ob christlich motiviert oder dieser Tradition kritisch gegenüberstehend, es müssten die gesellschaftlichen Vermittlungen ebenso berücksichtigt werden wie die ökonomischen Superstrukturen.27 Um so erfreulicher ist es, dass unter Papst Franziskus der Versuch unternommen wird, gerade diese ekklesiozentrische Verengung zu überwinden und sich wirklich der Welt mit all ihren Herausforderungen, Rissen und Schründen zuzuwenden. Von diesen Veränderungen ist sowohl die Kirche ad intra, etwa hinsichtlich der Neupositionierung und Neujustierung des kirchlichen Verständnisses von Ehe, Familie und Sexualität betroffen28 wie auch ad extra, indem Papst Franziskus zunächst mit seinem Apostolischen Schreiben Evangelii gaudium und dann mit seiner Enzyklika Laudato si explizit sich an den Herausforderungen der Zeit abarbeitet.

Kritischer Theorie im Allgemeinen, den Arbeiten Theodor W. Adornos im Besonderen ist oft der Vorwurf gemacht worden, die unhintergehbare Notwendigkeit von Praxis zwar zu betonen, letztlich aber in der Theorie zu verharren und damit der der 11. Feuerbachthese nicht zu genügen. Es ist daher wohl kein Zufall, dass Adorno die Negative Dialektik mit einer Kritik der elften These über Feuerbach beginnt.29 Zu berücksichtigen ist jedoch, dass Adornos Kritik an der Feuerbachthese keineswegs die abstrakte Bestreitung ihres Wahrheitsanspruchs ist. Vielmehr spiegelt sich in der Kritik eben die veränderte Situation wider, aus der kein unmittelbar praktischer Weg herausführt, die vielmehr eine genaue Reflexion erfordert. Dass dies durchaus nicht unmarxistisch ist, ließe sich am Beispiel der frühen Forderung Marx’ einer rücksichtslosen Kritik alles Bestehenden zeigen. Adornos Überlegungen zu einer Verhältnisbestimmung von Theorie und Praxis stehen nicht zuletzt dadurch in einer Traditionslinie mit Marx, dass sie diesem widersprechen, insofern Marx’ Anspruch einer „,praktischkritischen‘ Tätigkeit“30, die er selbst als revolutionäre auffasst, ausgerichtet ist auf eine begrifflich blinde Praxis der Philosophie, die an der Erfassung der Wirklichkeit nur bedingt Interesse hat. Die Enthüllung der Bewegungsgesetze des Kapitals ist daher gleichfalls Ausdruck praktisch-kritischer Tätigkeit. Verändern sich aber die gesellschaftlichen Verhältnisse, verändert sich auch die praktisch-kritische Tätigkeit. Adornos Explikation des Theorie-Praxis-Verhältnisses verdankt sich nicht zuletzt den veränderten Bedingungen. Vergisst man, dass die realen Möglichkeiten radikaler gesellschaftlicher Veränderungen dicht zugehängt sind, unterläuft man das Problem der Vermittlung von Theorie und Praxis unkritisch. Gegen jeden Aktionismus beharrt Adorno daher darauf, dass „Praxis ohne Theorie, unterhalb des fortgeschrittensten Standes von Erkenntnis“31, misslingen muss.

Adornos Überlegungen zu Theorie und Praxis tragen, wie all seine Reflexionen, sowohl dem gegenwärtigen Stand von Theorie und Praxis Rechnung wie auch der theoretischen Antizipation einer ungeschmälerten Praxis, solange ihre reale Möglichkeit verstellt ist. Die Situation einer Verstellung der Praxis, die aufgeschoben und nicht warten kann, berührt freilich auch die Theorie.32

„Die ungeminderte Dauer von Leiden, Angst und Drohung“, so Adorno in seinem Vortrag Wozu noch Philosophie, „nötigt den Gedanken, der sich nicht verwirklichen durfte, dazu, nicht sich wegzuwerfen. Nach dem versäumten Augenblick hätte er ohne Beschwichtigung zu erkennen, warum die Welt, die jetzt, hier das Paradies sein könnte, morgen zur Hölle werden kann. Solche Erkenntnis wäre ja wohl Philosophie. Sie abzuschaffen um einer Praxis willen, die zu dieser historischen Stunde unweigerlich eben den Zustand verewigte, dessen Kritik Sache der Philosophie ist, wäre anachronistisch. Praxis, welche die Herstellung einer vernünftigen und mündigen Menschheit bezweckt, verharrt im Bann des Unheils ohne eine das Ganze in seiner Unwahrheit denkende Theorie.“33

Die Bildung einer vernünftigen und mündigen Menschheit ist nicht unterhalb des Niveaus des fortgeschrittensten Standes der Erkenntnis möglich. Diese Einsicht impliziert für Adorno eine kritischweiterzuführende Rezeption Marxscher Theoreme, nicht zuletzt desjenigen der Aufhebung der Philosophie durch ihre Verwirklichung, das zwar, nachdem es einmal versäumt war, nur als Idee, dennoch aber notwendig ist, um – als theoretisches Korrektiv – die Praxis vor der blinden Affirmation des Bestehenden im Gewande der Kritik zu retten. Diese Aufhebung ist jedoch noch einmal an die gesellschaftlichen Verhältnisse zurückgebunden: an die Entwicklung der Produktivkräfte als reale ökonomische Bedingung der Menschen, sich aus den Fesseln entfremdeter Arbeit zu befreien.34

Dabei scheut Adorno sich nicht, seine Versöhnungshoffnung, die auch das Verhältnis von Theorie und Praxis betrifft, metaphysischtheologisch zu verorten, da sie nur dann radikal wird, wenn sie den Schuldzusammenhang35 bricht, der auf der Menschheit lastet, wenn sie „das Gleich um Gleich der Gewalt“, den „Rückfall in die Barbarei“36, der in Auschwitz und Hiroshima stattgefunden hat, überwindet. Der Verzicht auf das Gleich um Gleich der Gewalt ist die Realantizipation der Versöhnung, nicht schon diese selbst. Versöhnung bleibt, gegen alle praktischen Versuche, bestehendes Unrecht zu wenden, gebunden an die Möglichkeit, vergangenes Leiden zu widerrufen37, ohne dabei die realen Bedürfnisse der Menschen zu übergehen. Darin konvergiert Adornos materialistische Dialektik mit der Theologie, dass ihre Sehnsucht die Auferstehung des Fleisches wäre; „dem Idealismus, dem Reich des absoluten Geistes, ist sie ganz fremd. Fluchtpunkt des historischen Materialismus wäre seine eigene Aufhebung, die Befreiung des Geistes vom Primat der materiellen Bedürfnisse im Stand ihrer Erfüllung. Erst dem gestillten leibhaften Drang versöhnte sich der Geist und würde, was er so lange nur verheißt, wie er im Bann der materiellen Bedingungen die Befriedigung der materiellen Bedürfnisse verweigert.“38

Wichtig ist, dass mit dem Gedanken an Versöhnung und der praktischen Antizipation dieser Versöhnung ein Maßstab angegeben ist, von dem aus bestehende Praxis kritisierbar ist. Adornos Maßstab der Praxis orientiert sich an einem Maximum: „einem Handeln, worin selbstbestimmte Vernunft, vernünftige Selbstbestimmung sich äußert. Das erst wäre wahrhafte, d.h. dem menschlichen Vernunftvermögen angemessene, menschenwürdige Praxis. Von ihr ist die gesellschaftliche Wirklichkeit weit entfernt. Daher heißt Praxis auch die Herstellung von Bedingungen, unter denen besagtes Maximum von Praxis möglich wäre.“39

Noch die kritischste Attitüde, sofern sie nicht die Tendenzen einer total verwalteten Welt begrifflich erfasst, erliegt dieser, indem alle Spontaneität abgewürgt und in Pseudo-Aktivität kanalisiert wird.40 Eine kritische Sichtung des Praxisanspruchs in der bestehenden Gesellschaft ist daher auf die Analytik der gesellschaftlichen Grundpfeiler angewiesen.

Konsequent kritisiert Adorno die bestehende Praxis als falsche, die letztlich auch nicht Praxis ist. „Falsche Praxis ist keine.“41 Praxis im emphatischen Sinne wäre sie erst in der gegenseitigen Vermittlung von Subjekt und Objekt; die herrschende sieht von dieser ab, ohne darüber sich Rechenschaft abzulegen, dass sie immer schon ein bestimmtes Verhältnis von Subjekt und Objekt voraussetzt, nämlich die Beherrschung des Objekts durch das Subjekt. Praxis hätte auch für das Subjekt, insofern selbst Objekt, seiner Bedürftigkeit zu folgen, die, da sie durch das gesellschaftliche Gesamtsystem vermittelt ist, selbst noch theoretisch zu bestimmen wäre. „Praxis ohne Theorie, unterhalb des fortgeschrittensten Standes von Erkenntnis, muß mißlingen“42. Von der falschen Praxis ist daher auch die Theorie betroffen43, doch der Aufweis der Falschheit bestehender Praxis ist in dem Verfahren immanenter Kritik theoretisch möglich, ohne darin eine Ontologisierung der Falschheit von Praxis vorzunehmen. „Wir können ja nicht sagen“, bemerkt Adorno in einer Diskussion mit Horkheimer, „das Ganze ist das Wahre, wir können nur sagen, das Ganze, das es nicht gibt, ist das Wahre. Münchhausensituation.“44 Theorie bestimmt Praxis als defizient, indem sie darauf hinweist, dass sie im strengen Sinne noch aussteht. Solange dies der Fall ist, ist Aufgabe der Theorie aufzuzeigen, was emphatische Praxis systematisch verhindert.

Ist Theorie Statthalterin von Praxis in der Situation ihrer Verstelltheit, so ist sie doch gleichwohl immer auf Praxis verwiesen, kann ohne diese gar nicht gedacht werden. Die Paradoxie der Theorie ist daher, dass sie ohne ihren Reflexionsbezugspunkt selbstwidersprüchlich wird, selbst dann, wenn emphatische Praxis fehlt.

Welche Praxis aber meint die Theologie, wenn sie vom Primat der Praxis spricht? Aus den bisherigen Ausführungen ist deutlich geworden, dass die klassische Position, die Theologie beziehe sich auf kirchliche Praxis, nicht zureichend ist. Sie ist, das wurde eingangs schon deutlich, Theorie einer umfassenden Praxis, die auf kirchliches Handeln bezogen ist, auf den Selbstvollzug der Kirche, auf das Handeln von Christinnen und Christen in kirchlichen wie nichtkirchlichen Kontexten, auf die dezidiert religiöse Praxis, aber auch auf das Handeln von Menschen, die auf unthematische und unreflexe Weise ‚christlich‘ agieren, auf die Praxis von Menschen in komplexen gesellschaftlichen Konstellationen, mithin also auch auf gesellschaftlich relevantes Handeln unabhängig von der Frage, ob es die bestehende Gesellschaft affirmiert oder kritisiert, auf das Handeln im Horizont der eigenen Endlichkeit wie der der Endlichkeit des/der Anderen, das gerade dadurch aber diesen Horizont sprengen kann, indem es Verhältnisse anvisiert, in denen die Endlichkeit in eine größere Gerechtigkeit hinein aufgehoben wird. Es ist schließlich auch Reflexion auf die Bedingungen, in denen und durch die das Handeln von Menschen beschädigt, gar verunmöglicht wird, und zugleich auf ein Handeln, das diese Bedingungen verändern möchte. Werden die Referenzpunkte so weit gefasst, dann kann Theologie, ja dann muss sie gar als Theorie des Handelns verstanden werden. Sie „kann sich nicht bloß auf ein Segment oder eine Region menschlicher Praxis beziehen, sondern muss die bedrängenden Fragen menschlicher Praxis überhaupt im Blick haben“45.

Schon in der Enzyklika „Mater et magistra“ von 1961 benannte Johannes XXIII. drei wichtige Stichworte, die zuvor schon in der Christlichen Arbeiterjugend unter der Prägung des späteren Kardinals Joseph Cardijn eine wichtige Rolle spielten: Die methodische Arbeitsweise kirchlichen Handelns vollziehe sich in einem Dreischritt: „Zunächst muß man den wahren Sachverhalt überhaupt richtig sehen; dann muß man diesen Sachverhalt anhand dieser Grundsätze gewissenhaft bewerten; schließlich muß man feststellen, was man tun kann und muß, um die überlieferten Formen nach Ort und Zeit anzuwenden. Diese drei Schritte lassen sich in den drei Worten ausdrücken: sehen, urteilen, handeln.“ (Mater et magistra, 236) Vertieft wird dies in Gaudium et spes, wenn dort die Deutung der Zeichen der Zeit im Lichte des Evangeliums als zentrale Aufgabe der Kirche in der Welt von heute angegeben wird (vgl. GS 4). Die dort vorgenommene Spezifizierung ist dabei besonders wichtig, denn es wird deutlich formuliert, dass dies zu jeder Zeit geschehen müsse, womit implizit ein in der Theologie immer wieder aufzufindendes Verständnis von der Zeitlosigkeit der Wahrheit zurückgewiesen wird. Nicht Wahrheit ist in der Geschichte, so ließe sich mit Adorno betonen, sondern Geschichte in der Wahrheit.46 Auch der christliche Wahrheitsanspruch hat sich in unterschiedlichen Situationen auf unterschiedliche Weise zu aktualisieren. „Was ‚immer‘ wahr ist“, so formuliert Bonhoeffer, „ist gerade ‚heute‘ nicht wahr“47.

Die Bezüge auf Mater et magistra und Gaudium et spes und die damit inhärierte Zeitdiagnostik im Lichte des Evangeliums ist für die Methodik der Theologie wie auch der Kirche höchst relevant, denn sie sind in sich dynamisch, weil sowohl die Wahrnehmungen in unterschiedlichen Situationen unterschiedlich sind, aber auch die Urteilsstrukturen immer wieder neu zu explizieren sind, ohne dass dabei die grundlegenden Parameter christlicher Urteilskraft gleichsam dem Zeitgeist untergeordnet würden. Es kommt entscheidend darauf an, das kirchliche Handeln immer wieder als adäquate Reaktion auf die jeweilige Situation entfaltet werden muss.

Auf jeden Fall ist die theologische Reflexion immer auf Praxis angewiesen. Das alte, wenn auch immer noch anzutreffende Verständnis der Verhältnisbestimmung von Theologie und Praxis ist damit verabschiedet. Wahrheit ist nämlich „nicht im vorhinein durch Theorie erfunden und im nachhinein durch die Praxis“48 zu bestätigen. Theologie steht unter dem Primat der Praxis. Das anzuerkennen fällt der Theologie nicht leicht, wohl am leichtesten noch der Praktischen Theologie. So wurde insbesondere in der Praktischen Theologie der Versuch unternommen, Wirklichkeitsermittlungen in den Diskurs der Theologie einzuführen.

Für den praktisch-theologischen Diskurs im Allgemeinen, für den pastoraltheologischen im Speziellen hat sich das Regelkreismodell von Rolf Zerfaß49 als besonders geeignet erwiesen, die Theologie auf die Wirlichkeit hin zu verpflichten. Es stellt sich folgendermaßen dar:

Bei jedem praktisch-theologischen Handeln ist die Situation der Beteiligten (beteiligte Subjekte, SeelsorgerInnen, LehrerInnen etc.) Ausgangspunkt der Planung (1). Diese Situation wird unter Zuordnung zu einer für diese Situation relevanten praktisch-theologischen Disziplin analysiert (4, 6) und in Interdependenz (2, 3, 5) elementar theologisch reflektiert. Mit Hilfe dieser Schnittmenge (7, 8) ist eine praktisch-theologische Theorie für eine ebensolche Problemstellung (9) zu erstellen, die ein Handlungsmodell (10) für die Praxis 1 innerhalb der gewählten Problemstellung anbietet. Aufgrund der Anwendung dieses Modells wird die Praxis 1 zu Praxis 2 (11) verändert, die dann wiederum als Ausgangspunkt einer weiteren Regelkreisverwendung zur Praxis 1 wird.

Ein stärker noch empirisch ansetzender Versuch wie der von Johannes A. van der Ven, der eine explizite Vermittlung von Theologie und Empirie vorsieht, treibt diesen Ansatz noch weiter, indem er fordert, die Theologie müsse insgesamt empirisch werden in Analogie zur Rezeption historischer und philosophischer Methoden in Exegese und systematischer Theologie. Unter dem Stichwort der Intradisziplinarität entfaltet er sein Programm, das er selbst folgendermaßen kennzeichnet:

„Das Modell der Intradisziplinarität beinhaltet, daß die Theologie selbst empirisch werden muß, das heißt, daß sie ihr traditionelles Instrumentarium, bestehend aus literarhistorischen und systematischen Methoden und Techniken, in die Richtung einer empirischen Methodologie erweitern muß. Man kann diese Erweiterung mit dem Begriff Intradisziplinarität umschreiben, da er sich im allgemein-wissenschaftstheoretischen Sinn auf die Übernahme von Konzepten, Methoden und Techniken der einen Wissenschaft durch eine andere und auf die integrierende Aufnahme dieser Elemente in diese andere Wissenschaft bezieht. Solche intradisziplinären Prozesse kommen in allen Wissenschaftsgebieten vor: in den Naturwissenschaften, den Sprach-, Geschichts- und Sozialwissenschaften, den philosophischen und theologischen Wissenschaften. Intradisziplinarität fördert die Innovation in diesen Wissenschaften. (…) Gerade die Geschichte der Theologie ist ein Beispiel par excellence von intradisziplinärer Übernahme, Aufnahme und Integration. Um einige willkürliche, aber markante Beispiele zu nennen: Die Moraltheologie von Thomas ist ohne die aristotelische Ethik undenkbar, die Tübinger Schule der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts ohne den philosophischen Idealismus unmöglich, die theologische Systematik Tillichs ohne die Tiefenpsychologie und die Existenzphilosophie unbegreifbar, die Fundamentaltheologie von Rahner ohne Hegel nicht nachvollziehbar und die politische Theologie von Metz ohne die Frankfurter Schule nicht verstehbar.“50

Urs Eigenmann entwickelt ein Konzept, das inhaltlich der hier vorgelegten Arbeit sehr vertraut ist, weil es ähnliche theoretische Bezugspunkte und von einer verwandten theologischen Option geprägt ist und das in der schematischen Darstellung folgendermaßen aussieht51 :

Eine weitere konzeptionell verwandte Arbeitsweise findet sich in dem Grundlagenwerk von Clodovis Boff zu Theologie und Praxis.52 Boff unterscheidet darin drei Vermittlungsebenen: die sozialanalytische, die hermeneutische und die praktische Vermittlung. In der sozialanalytischen Vermittlung stellt sich die zentrale Frage nach den Ursachen, Mechanismen und dem Verständnis des gesellschaftlichen Phänomens der Unterdrückung. Im zweiten Schritt einer hermeneutischen Vermittlung stellt sich die Frage nach Gehalten der jüdischchristlichen Tradition angesichts solcher Unterdrückungserfahrungen und vor allem auch nach deren Überwindungsstrategien. Insbesondere biblische Perspektiven sind bei der Beurteilung der sozialanalytisch ermittelten Situation wichtig, ebenso aber auch sozialethische Kategorien. Im dritten Vermittlungsschritt zeigt sich die besondere Relevanz der Praxis, denn sie ist Ausgangspunkt wie auch Zielpunkt dieses Verfahrens. Dabei ist Praxis in dem Ansatz von Clodovis Boff keine neutrale Beschreibung von Handlungsansätzen, sondern präformiert durch inhaltliche Perspektiven von Gerechtigkeit, Solidarität und Liebe.

Der jüngste Vorschlag einer Variation des Schemas ‚sehen – urteilen – handeln‘ stammt von Herbert Haslinger.53 Es geht ihm dabei dezidiert um einen Reflexionsprozess der Pastoraltheologie und nicht um einen pastoraltheologisch fundierten methodischen Vorschlag für pastorales Handeln in welcher Form auch immer. Das unterscheidet seinen Ansatz grundlegend von den bisherigen und auch von dem im Anschluss noch darzulegenden hier präferierten.

Grundlegend sei, dass jede Reflexion der Pastoraltheologie mit irgendeiner lebensweltlich geprägten Form von Praxis beginne. Eine Theologie „vom Nullpunkt an“54 sei daher als Fiktion zu verabschieden. Diese Praxis aus der Lebenswelt sei allerdings noch eine vorreflexive Erlebnisform, die von den Menschen „mehr oder weniger diffus, routiniert, zumindest unproblematisiert“55 erfahren würden.

Erst ein wie auch immer gearteter Reflexionsbedarf mache nun eine pastoraltheologische Reflexion nötig; im strengeren Sinne sei sogar die Aufgabe der Pastoraltheologie, diesen Reflexionsbedarf überhaupt erst aufzuspüren und aufzuzeigen. Dabei sei es auch eine wichtige Aufgabe, gerade jene Bereiche zu erkunden, die in den lebensweltlichen Praxisformen gerade nicht thematisiert werden, weil sie verdrängt, vergessen, ausgeblendet oder verschwiegen werden. „Aus der diffus erlebten, unproblematisierten Lebenswirklichkeit wird eine bewusst wahrgenommene und in Blick auf mögliche Problemlagen hinterfragte Lebenswirklichkeit.“56

Im Anschluss an die Wahrnehmung der Lebenswelt wählt Haslinger im nächsten Schritt ganz bewusst eine andere Formulierung als im klassischen Dreischritt, weil ihm der Anspruch des Urteilens zu sehr den „anmaßenden Habitus einer Urteilsinstanz“57 vertrete, den die Theologie zu verabschieden habe. Auch hat er damit einen deutlichen in die zukünftige Praxis weisenden Akzent vor Augen. „Die hier angesiedelten Reflexionsgänge sollen dem neu zu konzipierenden Handeln ein Fundament in der Form verleihen, dass man sich der dafür geltenden Prinzipien, Werte, Normen, Rahmenbedingungen und Ziele vergewissert.“58

Die daran anschließende Orientierung möchte wiederum in Differenz zum klassischen Vorschlag eine verhaltenere Vorgehensweise in den Mittelpunkt stellen, indem sie aufgrund der vorigen Schritte Perspektiven angeben möchte, die zur Orientierung dienen können, aber keinesfalls unmittelbar praktische Dimensionen haben sollen.

Im letzten Schritt werden dann neue Situationen anvisiert. Nicht allerdings von der Pastoraltheologie, sondern von den Subjekten, die mit Hilfe der pastoraltheologischen Reflexion selbst neue Lebenswirklichkeiten schaffen möchten. „Der Reflexionsprozess findet demnach seinen Zielpunkt in einer Praxis der Menschen, die wieder in einer Lebenswirklichkeit eingebettet ist und dort ‚auch wenn in der neuen Situation weiterhin theologische und humanwissenschaftliche Inhalte als Deutungskategorien im Hintergrund virulent sind, ohne ständigen Reflexionsbedarf routiniert, unproblematisiert und somit alltagsweltlich stabilisierend stattfinden kann.“59

Wenn in der vorliegenden Arbeit dennoch einem anderen Ansatz gefolgt wird, dann nicht aus einer etwaigen Geringschätzung der empirischen Methode, erst recht nicht aufgrund einer angenommenen Suprematie der Theorie über die Wirklichkeit, sondern aufgrund der Verbundenheit mit dem in Mater et magistra angeregten methodischen Dreischritt, der allerdings noch zu verfeinern war. Denn das Schema „Sehen – Urteilen – Handeln“ ist auf jeden einzelnen Schritt selbst noch einmal anzuwenden und zugleich um eine weitere Aktivität anzureichern: Es reicht nämlich offenkundig nicht aus, die richtigen Wahrnehmungen und Urteilsstrukturen zu besitzen. Richtige Erkenntnis führt eben nicht zwangsläufig zu adäquater Praxis. Es bedarf also eines weiteren Schrittes, der hier mit ‚wollen‘ bezeichnet wird.60 Menschen sind offenkundig nur dann mit ihrem Handeln identisch, wenn sie auch wirklich wollen, was sie tun sollen. Wie aber gelingt diese Integration? Am ehesten durch die emotionale Verankerung einer Herausforderung im Subjekt. Schon Ernst Bloch ahnte, das hier eine tiefe Schwierigkeit besteht. Obgleich er von der Hoffnung als einem Prinzip ausging, schien es dennoch nötig, das Hoffen zu lernen. Er beginnt daher das Vorwort zum Prinzip Hoffnung mit gewichtigen Fragen und Problemlagen: „Wer sind wir? Wo kommen wir her? Wohin gehen wir? Was erwarten wir? Was erwartet uns? Viele fühlen sich nur als verwirrt. Der Boden wankt, sie wissen nicht warum und von was. Dieser ihr Zustand ist Angst, wird er bestimmter, so ist er Furcht. […] Es kommt wieder darauf an, das Hoffen zu lernen.“61 Hoffen und Wollen sind an dieser Stelle durchaus verwandte Motive, insofern sie zum Ausgangspunkt für neue Praxis werden, die die bestehende transzendiert.

In gewissem Widerspruch zum Sollensanspruch der Kantischen Philosophie betont daher die Erweiterung des methodischen Dreischritts die Rückbindung des Handelns an intrinsische Motivationen bei den handelnden Menschen. Sowohl Neurowissenschaften wie auch Forschungen zur Nachhaltigkeit in Bildungsprozessen zeigen sehr deutlich, wie sehr zur nachhaltigen Etablierung von Erkenntnissen und der Transformation in Praxis eine emotionale Dimension gehört. Nur wenn die Erkenntnis sich mit dem erkennenden Subjekt authentisch verschmilzt, wenn es das Erkannte auch in sein Handeln integrieren will, kann von einer authentischen Praxis des Subjekts gesprochen werden:

Sowohl auf der Basis tiefenpsychologischer Einsichten, aber auch aufgrund neuerer neurobiologischer Erkenntnisse deutet sich die Bedeutung einer emotionalen Anschlussperspektive für Lern- und Veränderungsprozesse von Menschen an. Neues, so informiert uns die Neurowissenschaft, kann nur gelernt werden, wenn es mit emotionaler Bedeutsamkeit verbunden62 und sich an die bisherigen kognitiven Strukturen sinnvoll anschließen lässt. Aber nicht einfach nur die emotionale Anbindung ist erforderlich, sondern auch eine Wiederholung der Inhalte, denn um eine tiefere Verankerung zu erreichen, ist im Gehirn die Bildung bestimmter Rezeptorentypen notwendig, die sich aber nur dann herstellen, wenn entsprechende Regionen im Hippocampus innerhalb kurzer Zeit mehrfach stimuliert werden. Dabei stellt sich unter der Perspektive der Nachhaltigkeit natürlich die Frage, wie es gelingt, Lern- und Veränderungserfahrungen so tief zu gestalten, dass sie bis in tiefere Schichten des Bewusstseins eindringen. Hier sind zwei Unterscheidungen wichtig. Denn das Unbewusste (a), in dem sich die tiefsten Erfahrungen einlagern und das im limbischen System und der Amygdala als dessen Zentrum eingetragen werden, entscheidet sehr schnell und sehr effektiv in der Bewertung der Vergangenheit und damit verbunden auch der Frage, ob das, was wir tun gut oder schlecht ist. Dieser Bereich des Gehirns ist also zwar sehr effektiv und schnell aber relativ unflexibel, was auch plausibel ist, weil das Unbewusste eben nicht einfach zu verändern ist. Bei neuartigen und komplexen Fragestellungen kommen statt des limbischen Systems Netzwerke der Großhirnrinde (b) zum Einsatz, die als Sitz des Bewusstseins, also des eigenen Ichs gelten. Im Gegensatz zu (a) arbeiten sie eher langsam und fehleranfällig, haben aber den Vorteil, dass sie komplexe Probleme auf neuartige Weise bearbeiten können, indem sie Informationen verknüpfen und neu konstellieren. Dieser Teil des Gehirns benötigt vergleichsweise viel Energie, weshalb der Körper versucht, diese Hirnleistungen zu minimieren. Für die Frage der Lernvertiefung eine physiologisch problematische Ausgangslage.

Bei der Wahrnehmung der Wirklichkeit, bei der Frage nach Urteilsstrukturen und im Bereich der Handlungsdimension gilt es folglich jedes Mal, diesem Dreischritt zu folgen und die Integration in das jeweilige Subjekt zu bedenken. Adorno weist schon auf die Verbindung von Erkenntnis und Wollen hin: „Ich meine, daß man überhaupt nicht einen richtigen Gedanken denken kann, wenn man nicht das Richtige will; das heißt, wenn nicht hinter diesem Gedanken, als die eigentliche ihn beseelende Kraft, das steht, daß es richtig sein soll, daß es mit den Menschen in einen Zustand kommen soll, in dem das sinnlose Leid aufhört und in dem, ich kann es immer nur negativ aussprechen, der Bann von den Menschen genommen sein wird.“63

In der befreiungstheologischen Tradition wurde immer wieder betont, das Schema sei auch noch um den Aspekt des Feierns zu erweitern. Das ist durchaus richtig, wird aber hier nicht weiter verfolgt, weil es sakramentenpastoral ja immer unmittelbar auch um den Aspekt der Feier geht, so dass dies hier eine Verdoppelung vorliegen würde. Für andere Bereiche kirchlichen Handelns wär das freilich noch zu ergänzen.

Alle Akteure, also pastoral Handelnde wie beteiligte Subjekte, müssen jeweils sehen, urteilen, wollen und handeln, so dass auch diesem Modell ein Vielperspektivenschema folgt, das folgendermaßen dargestellt werden könnte:

Das in der vorliegenden Arbeit leitende Schema von Sehen – Urteilen – Handeln, das wird im Verlauf der Arbeit an vielen Stellen, vor allem aber im 5. Kapitel deutlich, wird präzisiert durch die Gesellschaftsformationsanalyse (GFA). Entscheidendes Merkmal dabei ist die methodisch geleitete Wiederholung des Dreischritts auf unterschiedlichen Ebenen: Sowohl die pastoral Ermächtigten64 müssen ihren eigenen Standort gründlich analysieren, ihre Wahrnehmung präzisieren, die Situation erhellen und einer kritischen Beurteilung unterziehen, um dann Handlungsperspektiven zu entwickeln, wie dies aber auch die beteiligten Subjekte eines pastoralen Handelns tun müssen. Bei allen ist dabei die gründliche Wahrnehmung der gesellschaftlichen Praxisfelder Ökonomie, Politik und Ideologie/Kultur notwendig. Gleiches gilt es aber auch zu beachten, wenn Veränderungsprozesse anvisiert werden, sowohl auf der individuell-mikrostrukturellen, wie auch auf der gesellschaftlich-makrostrukturellen Ebene. Dieses methodische Vorgehen berücksichtigt dabei immer zentral die anamnetischen Tiefenstrukturen der christlichen Tradition selbst, die es zu vergegenwärtigen und auf Zukunft hin zu gestalten gilt. Bei all dem wird deutlich, dass Kirche immer im Spannungsfeld weltlicher Verantwortung sich befindet.

Der Vorzug eines solchen Vorgehens gegenüber der Arbeit mit der sicherlich stabileren Datenbasis einer explizit empirisch ansetzenden Theologie liegt vor allem in der leichteren Transformierbarkeit ihrer Ergebnisse in pastorale Prozesse selbst, denn nur wenige beteiligte Subjekte dürften über die notwendigen Kenntnisse zur Erhebung empirischer Daten verfügen- Schon die Interpretation empirischer Studien dürfte für viele Beteiligte eher schwierig sein, wohingegen die Analyse von Ökonomie, Politik und Ideologie einfacher, transparenter und vor allem eigenständiger vorzunehmen ist. Dieses Vorgehen sieht sich in großer Nähe zu den Überlegungen Helmut Peukerts, für den die grundlegende Frage darin besteht, „ob die praktische Theologie den Rahmen ihrer Überlegungen so ansetzt, daß sie die bedrängenden Probleme menschlicher Praxis insgesamt im Blick hat, also die Praxis, in der Menschen als einzelne oder gemeinsam versuchen, aus einer bedrängenden Not heraus ein humanes Überleben zu sichern und den Sinn ihrer Existenz zu bestimmen“65.

Wird das Selbstverständnis von praktischer Theologie und ihrer Teildisziplinen so gefasst, dann ist die Erwartung, es gebe ein univokes Verständnis von Pastoraltheologie, obsolet. Ebenso verfehlt aber wäre die Befürchtung, Pastoraltheologie löse sich in Beliebigkeit auf. Schließlich bleibt sie zentral verwiesen auf wenigstens zwei unhintergehbare Kontexte: zum einen den Kontext des realen Lebens der Menschen, vor allem natürlich der Armen und Bedrängten (GS 1), zum anderen aber auf den Kontext der biblischen und kirchlichen Traditionen, die wiederum jedem Versuch der Beliebigkeit einen kritischen Riegel vorschieben. Die großen Linien der Befreiung, der prophetischen Kritik, der apokalyptischen Hoffnung sowohl im Ersten wie auch im Zweiten Testament sind feste Anker im Strudel der postmodernen Pluralität.

Unter einer solchen Perspektive ist dann aber auch eine anwendungsorientierte Version der Pastoraltheologie zu verabschieden. „Das Leben der Menschen ist also nicht ein ‚Ort von angewandter Theologie‘, sondern eine ‚Quelle der Theologie‘.66 Weiter unten (vgl. 2.4) wird verstärkt über das Problem einer ortlos gewordenen Theologie zu behandeln. Hier wird schon deutlich, wie wichtig es für die Theologie insgesamt ist, die Orte als theologiegenerativ zu begreifen: insofern „diese Lebensorte gleichzeitig – bewusst und unbewusst, explizit und implizit – auch Orte der Gottesbegegnung und gelebter Gottesbeziehung sind, kommt die Reflexion auf ihre Themen und theo-logische Qualität. Eine solche Theologie fragt nicht ‚Wer ist Gott?‘, ohne nicht vorrangig die Gottes- bzw. Sinnfrage als topische Frage gestellt zu haben: ‚Wo ist Gott?‘ Eine im Verständnis von Martin Luther insgesamt als praktische Wissenschaft konzeptionierte Theologie stellt diese vorrangig topische Frage nach Gott.“67 Eine politisch-theologisch angelegte praktische Theologie verschärft die topische Frage nach Gott allenfalls noch apokalyptisch, indem der Topik die Utopik zur Seite gestellt wird in der Frage: ‚Wo bleibt Gott?‘ Dass dies aber kein Widerspruch zur Topologie als theologischer Wissensform darstellt, sollte im Verlauf der bisherigen Überlegungen schon deutlich geworden sein, wird aber sicherlich auch in der Entfaltung des Sakramentenverständnisses im Horizont des Reiches Gottes noch klarer.

Helmut Peukert entwickelte auf der Basis der Metz’schen Politischen Theologie seine für die praktische Theologie äußerst produktive theologische Handlungstheorie, indem er den Erinnerungsgedanken wissenschaftstheoretisch, handlungstheoretisch und fundamentaltheologisch durcharbeitete. Thesenartig stellt er dar, was für die Praktische Theologie zu lernen wäre, und das erscheint zugleich für die hier vorliegende Arbeit bedenkenswert:

„1. Zunächst müßte das Grundprinzip intersubjektiven Handelns aufgewiesen sein, daß nämlich die eigene Identität nur im Bezug zum anderen gefunden werden kann und daß die Bedingung des eigenen Selbstseins das freie Selbstsein des anderen ist.“68

Eine individualistische Isolation ist in diesem Sinne schon a priori ausgeschlossen. Wenn wir ich sagen, so könnte man diese These vereinfacht auch umschreiben, sagen wir nie nur ich. Intersubjektivität unter Ausschluss des anderen ist nicht nur ein logischer Widerspruch, sondern stärker noch hängt auch die Frage des eigenen Selbstseins konstitutiv an der freien Bezugnahme auf den anderen. Wir finden schon in dieser ersten These ein reziprokes Verhältnis von Ich und anderem: Das Ich kann nicht ohne den/die anderen, wie auch der/die andere immer verwiesen ist auf die freie Anerkennung durch das Ich.

„2. Es müßte verstanden sein, daß diese intersubjektive Existenz streng zeitlich ist: Die Fähigkeit, jetzt und hier zu existieren und sich einander zuzuwenden, entspringt der Fähigkeit, auf den Tod als Grenze unserer Existenz vorausgreifend zuzugehen und von daher auf die Augenblicklichkeit von Existenz hier und jetzt zurückzukommen. Existenz müßte also sowohl in ihrer zeitlichen Erstrecktheit wie in ihrer die Zeit in Endgültigkeit verwandelnden Entscheidungsstruktur erfaßt werden. Sofern diese zeitliche Existenz aber streng intersubjektiv ist, bedeutet das Zugehen auf den eigenen Tod im Umgang mit dem anderen auch das Zugehen auf den Tod des anderen, die Anerkennung der zeitlichen Existenz des anderen als Möglichkeit der Ekstasis in Endgültigkeit.“

Unschwer zu erkennen greift Peukert in diesem zweiten Punkt die Grundthese Martin Heideggers auf, der in „Sein und Zeit“69 das Dasein zum Tode als die Bedingung eigentlicher Existenz beschrieb, wobei er immer und ausschließlich den je meinigen Tod meinte, den Tod des anderen aber philosophisch überhaupt nicht zur Kenntnis zu nehmen in der Lage war. Insofern war Heideggers Existentialontologie eine strikt individualphilosophisch ansetzende und genau dort auch verbleibende. Was aber richtig und wichtig an Heidegger bleibt, ist gezeigt zu haben, dass das Sein eine zeitliche Struktur hat, dass es also ein überzeitliches Sein nicht geben kann. Er hat zu Bewusstsein gebracht, dass das Dasein zeitlich ist. Gerade diese zeitliche Struktur des Daseins in seiner Begrenztheit durch den Tod ermöglicht, diese Grenze nicht einfach nur als Fatum hinzunehmen, sondern bewusst darauf zuzugehen. Damit aber ist immer eine Entscheidungssituation gegeben, mich so und nicht anders zu verhalten. Weit über Heidegger hinaus ist aber hier davon auszugehen, dass, insofern diese zeitliche Existenz intersubjektiv angelegt und gar nicht anders denkbar ist, ein Dasein zum Tode eben gerade nicht im emphatischen Sinne den je meinigen Tod meint, sondern wesentlich den des anderen.

„3. Dieses gemeinsame Zugehen auf den Tod als wechselseitiges Anerkennen der Existenz des anderen und als Möglichkeit der Verwandlung in Endgültigkeit wäre in der Unbedingtheit dieses Anerkennens zugleich die praktische Behauptung Gottes als der Wirklichkeit für den anderen, die ihn im Tod nicht vernichtet sein läßt und die deshalb Hoffnung gewährt, auch selbst im Tod bejaht zu sein. Das gemeinsame Zugehen auf den Tod wäre das hoffende Zugehen auf den Tod als Zugehen auf Gott als die Wirklichkeit, die sich im Tod als rettend erweist.“

Weiter unten gilt es, der Frage nach der epistemologischen Anknüpfung an die Auferstehung etwas weiter zu entfalten. Es wird dann zu verdeutlichen sein, dass diese zwar zentral und zugleich auch problematisch sein kann, wenn sie als Ausgangspunkt und nicht als Hoffnungsaussage verstanden wird. Es würde hier zu weit führen, den genauen Status dieses Abschnittes zu entfalten, da damit große theologische wie auch erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Fragen berührt sind hinsichtlich der Frage nach der Behauptung der Auferstehung.70 Gott wird jedoch gleichsam hoffend bewahrheitet, indem die Anerkennung des anderen einerseits ein Vorschein, eine Prolepse des kommenden Gottes ist und andererseits Gott als die Wirklichkeit behauptet wird, die im Tod Rettung verheißt.

„4. Dann wäre zugleich deutlich, daß diese Art zeitlichen, intersubjektiven Handelns einen nicht begrenzten Horizont hat, und zwar nicht nur auf Zukunft, sondern auch auf Vergangenheit hin. Der Tod ist keine Grenze. Solidarität hier und jetzt kann es nur geben als Solidarität auch nach rückwärts, mit den Toten. Walter Benjamin nannte dies den revolutionären ‚Tigersprung ins Vergangene’.“

Eine weitere Ausweitung wird an dieser Stelle deutlich, denn das intersubjektive Handeln findet zwar in einem zeitlich endlichen Horizont statt, indem es ganz real die Grenze des Todes anerkennt, aber es überschreitet gleichzeitig diese Grenze nach vorne hin und eröffnet Zukunft. Ist aber dies möglich, dann kann und muss – dafür steht ja gerade der Gottesgedanke – auch der rettende Schritt nach hinten, zurück in die Vergangenheit, gedacht werden und eine Rettung auch für die Toten behauptet werden. „‚Erlösung‘ ist daher weder ‚objektiv‘ noch ‚subjektiv’, sondern intersubjektiv in geschichtlich-gesellschaftlichem Prozeß zu denken als Praxis von antizipierter und als ausständig erfahrener Versöhnung her, in welchem Vorgang auch der einzelne als Subjekt seine Identität finden kann.“71

„5. Und das würde bedeuten, daß solidarisches Bejahen des anderen hier und jetzt schon immer ausgeht von der Behauptung der Unzerstörbarkeit, ja der Rettung des Vergangenen, des Vernichteten, vom Tod des Todes. Dann wäre die Auferweckung Jesu als ein nicht zu isolierendes Ereignis verständlich zu machen, das die eigene Existenz gerade im Versuch zum Handeln in unbedingter und unbegrenzter Solidarität ermöglicht. Und dies würde umgekehrt bedeuten, daß diese Rettung im Tod nur begriffen ist, wenn sie sich in der unbedingten Anerkennung der anderen hier und jetzt bewährt.“

Wir haben uns längst daran gewöhnt, die Auferstehung Jesu als besonderen und exklusiven Fall der Auferstehung anzusehen. Das war freilich nicht immer so: Schon in den frühesten Auferstehungsfragmenten findet sich eine interessante Rückkoppelung, die auch in dieser These Peukerts wieder aufgegriffen wird. Paulus bindet nämlich in 1 Kor 15 die Auferstehung Jesu zurück an die Auferstehung aller Toten und umgekehrt. Gerade christologisch lässt sich daher die Auferstehung nicht als exklusives, isoliertes Ereignis lesen. Auferstehung ist vielmehr der Einstieg in diese universale Solidarität, die in der unbedingten Anerkennung des anderen – auch des toten anderen – gipfelt. Dies ist auch das Recht des Metz’schen Diktums, Christus müsse immer so gedacht werden, dass er nie nur gedacht wird.72 Hoffnung, so könnte man das ganze auch ausdrücken, ist immer nur wirkliche Hoffnung, wenn sie nicht im Modus der Hoffnung verharrt, sondern das auch anvisiert und praktisch vorwegnimmt, was sie erhofft. Insofern muss Hoffnung proleptisch und praktisch verstanden werden. Dass hier nun allerdings Hoffnung auch nach hinten denkbar wird, stellt eine tatsächliche Radikalisierung des Hoffnungsbegriffs dar, der bis dahin doch eigentlich immer nur als nach vorn hin extrapolierte Gegenwart gefasst worden war. Selbst in dem Grundlagenwerk der Hoffnung, in dem diese zum Prinzip wird,73 wird die Hoffnung über den Tod hinaus lediglich für jene anvisiert, die sich in revolutionäre Prozesse hineinbegeben, darin umkommen und dann in der zukünftigen kommunistischen Gesellschaft aufgehoben sein werden.74

Auch an der Kontroverse zwischen Max Horkheimer und Walter Benjamin lässt sich zeigen, dass innerhalb des philosophischen Denkens eine Rettung der Toten umstritten war. Der Gedanke an die mögliche Rettung der Verlorenen ist zwar ein in sich theologischer, worauf Max Horkheimer in seinem berühmten Briefwechsel mit Walter Benjamin hinwies75, er ist aber nicht notwendigerweise angestoßen von der biblisch tradierten Verheißung, sondern kann sich auch gewissermaßen philosophisch explizieren. Die Konstellation Max Horkheimer – Walter Benjamin – Theodor W. Adorno zeigt, dass materialistisches Denken von sich angetrieben wird, so weit über sich hinauszudenken, „bis zur Idee einer Verfassung der Welt, in der nicht nur bestehendes Leid abgeschafft, sondern noch das unwiderruflich vergangene widerrufen wäre“76. Die Auseinandersetzung sei noch einmal kurz rekapituliert:

Horkheimer hatte 1934 in seinem Aufsatz Zu Bergsons Metaphysik der Zeit gegen Bergson eingewandt, dieser unterschlage die Ernsthaftigkeit der Todesgrenze metaphysisch, indem er – darin ganz Theologe – im Versprechen des ewigen Lebens über die reale Welt eine zweite projiziere und damit die reale Widersprüchlichkeit eskamotiere. Vor diesem Hintergrund sind die schroffen Anmerkungen Horkheimers nicht mehr ganz so drastisch, sondern schulden sich der metaphysischen Überhöhung einer sekundären Welt.

„Was den Menschen, die untergegangen sind, geschehen ist, heilt keine Zukunft mehr. Sie werden niemals aufgerufen, um in der Ewigkeit beglückt zu werden. Natur und Gesellschaft haben ihr Werk an ihnen getan, und die Vorstellung des Jüngsten Gerichts, in welche die unendliche Sehnsucht von Bedrückten und Sterbenden eingegangen ist, bildet nur ein Überrest des primitiven Denkens, das die nichtige Rolle des Menschen in der Naturgeschichte verkennt und das Universum vermenschlicht. Inmitten dieser unermeßlichen Gleichgültigkeit kann allein das menschliche Bewußtsein die Stätte sein, bei der erduldetes Unrecht aufgehoben ist, die einzige Instanz, die sich nicht damit zufriedengibt. Die allmächtige Güte, welche die Leiden in der Ewigkeit tilgen sollte, ist von Anfang an bloß die Projektion menschlicher Teilnahme in das stumpfe Weltall gewesen. Kunst und Religion, in denen dieser Traum Ausdruck gefunden hat, sind ebensosehr unmittelbare Zeugnisse dieser Unzufriedenheit, wie sie andererseits an vielen Stellen der Geschichte zu reinen Mitteln der Beherrschung geworden sind.“77

Es ist nicht so sehr der Gedanke möglicher Rettung, den Horkheimer hier abweist, denn diese Möglichkeit hält der Historiker fest in seiner Rolle, neue Lebensformen der Gesellschaft zu entwickeln und zugleich „das Entschwundene im Gedächtnis zu bewahren“78, sondern die metaphysische Behauptung einer Gewährung von Rettung durch Abstraktion von der Welt und damit auch von den realen Leiden. Nur insofern der Gedanke Horkheimers sich mit einer explizit atheistischen Position vorträgt – so liest zumindest Adorno diesen Aufsatz –, wird er zu einer abstrakten Negation der kritisierten Metaphysik und dieser darin gleich, dass die metaphysische Gewalt mit jeder weiteren Explikation zunimmt.79

Die Möglichkeit des Gottesgedankens, wie auch der Erfahrbarkeit kann jedoch nicht negiert werden, ohne dass in der Kritik möglicher Gotteserfahrung ein Wissen beansprucht würde, was den gleichen metaphysischen Anspruch erhöbe wie der Gottesgedanke. Diese Einsicht ist eine Folge immanenter Kritik des identitätslogischen Denkens, das schließlich auch zu den großen Atheismen führte, indem der objektiven die subjektive Vernunft entgegengestellt wurde. Daher wäre eigentlich auch der Atheismus Horkheimers nur dann triftig, wenn ihm ein Wissen zukäme, das das Negierte voraussetzte. Gleichwohl darf die Position Horkheimers nicht unterschätzt werden, denn zumindest ist seine Gestalt des Atheismus geprägt von dem Pathos, die Sinnlosigkeit des Leidens praktisch zu negieren.80 Darin aber folgt er einer immanenten Kritik des Leidens, das sich selbst Ausdruck verschafft, dass es nicht sein will. Der Widerspruch gegen das Leiden ist mit dessen Sinnlosigkeit schon gesetzt. Die Betonung der Abgeschlossenheit der Vergangenheit innerhalb der materialistischen Philosophie wendet sich gegen all jene Überlegungen, die im Leiden noch einen Sinn dekretieren einerseits und der positiven Behauptung einer Hoffnung, die doch durch nichts zu begründen ist andererseits.81 Beide Möglichkeiten gelten Horkheimer als idealistisch, wie in dem Brief an Benjamin notiert.

„Über die Frage, inwiefern das Werk der Vergangenheit abgeschlossen ist, habe ich seit langem nachgedacht. […] Persönlich mache ich das Bedenken geltend, daß es sich auch hier um ein nur dialektisch zu fassendes Verhältnis handelt. Die Feststellung der Unabgeschlossenheit ist idealistisch, wenn die Abgeschlossenheit nicht in ihr aufgenommen ist. Das vergangene Unrecht ist geschehen und abgeschlossen. Die Erschlagenen sind wirklich erschlagen. […] Nimmt man die Unabgeschlossenheit ganz ernst, so muß man an das Jüngste Gericht glauben. Dafür ist mein Denken jedoch zu sehr materialistisch verseucht.“82

Soll jedoch die Theorie nicht die kritisierte Metaphysik duplizieren, der es „um überzeitliche Wahrheit“83 zu tun ist, so muss auch die eigene Theorie von den gesellschaftlichen Erfahrungen affizierbar sein. Es wundert nicht, dass die Überlegungen Horkheimers zur Frage der Abgeschlossenheit von Geschichte in einer gesellschaftlichen Situation stattfinden, die den Zeitvermerk vor Auschwitz besitzen; und es nimmt weiterhin nicht wunder, dass sich nach Auschwitz grundlegende Änderungen der Theorie angeben lassen, in denen auch diese Frage ein anderes Gewicht bekommt.

In seinen späten Schriften korrigierte Horkheimer seine früheren Aussagen darin, dass er nunmehr deutlicher auf den Gottesgedanken und die durch diesen Gedanken verbürgte Wahrheit rekurriert, ohne diese jedoch affirmieren zu können. Gerade im Eingedenken der Leiden wird das Denken genötigt, den Gedanken, der auf Wahrheit zielt84, nicht zu schnell abbrechen zu lassen und auch dann noch festzuhalten, wenn die reale Erfahrung eher die Abwesenheit von Wahrheit anzeigt. Denn ohne Gedanken an die Wahrheit „ist kein Wissen um ihr Gegenteil, die Verlassenheit des Menschen, um deretwillen die wahre Philosophie kritisch und pessimistisch ist, ja nicht einmal die Trauer, ohne die es kein Glück gibt“85. Ein emphatisches Festhalten an Wahrheit kann aber ohne Gottesgedanken letztlich nicht mehr gedacht werden, wenn Wahrheit nicht positivistisch verkürzt werden soll auf Berechenbares, Nützliches und Funktionables. „Einen unbedingten Sinn zu retten ohne Gott, ist eitel. […] Ohne Berufung auf ein Göttliches verliert die gute Handlung, die Rettung des ungerecht Verfolgten ihre Glorie“86, schreibt Horkheimer 1963, womit ein zentrales Motiv des Gottesgedankens selbst angegeben ist, für den Kritische Theorie einsteht: die Rettung der Opfer der Geschichte. Nicht jedoch folgt für Horkheimer die Sehnsucht der Rettung unschuldig Ermordeter einem expliziten Gottesgedanken, sondern der Gottesgedanke stellt die radikalisierte materialistische Sehnsucht dar, Verhältnisse zu schaffen, in denen Menschen leben können und auch jenen Gerechtigkeit widerfährt, die schon längst vergangen sind.

Die Wahrnehmung der geschichtlichen und metaphysischen Katastrophe von Auschwitz hat somit zur Folge, dass die marxistischen Hoffnung auf Überwindung der Klassengegensätze als beständiger Fortschritt der Freiheit aufgegeben wird und die Frage immer mehr ins Zentrum rückt, „warum die Menschheit, anstatt in einen wahrhaft menschlichen Zustand einzutreten, in eine neue Art von Barbarei versinkt“87. Auschwitz, der „Mord an Millionen durch Verwaltung“88, verändert somit auch Horkheimers Überlegungen89 zu der Frage, ob die Geschichte abgeschlossen oder unabgeschlossen ist. Weder die Abgeschlossenheit, noch die Unabgeschlossenheit ist theoretisch explizierbar, da dies ein Wissen um das Absolute voraussetzte, das doch nicht möglich ist. Beide Alternativen sind daher als falsch abzuweisen. Insofern treffen die problematischen Anmerkungen Horkheimers zu Benjamins These der Unabgeschlossenheit der Geschichte90 doch ein Richtiges. Ein unmittelbares Wissen um die Geschichte ist im schlechten Sinne theologisch. Möglich ist einzig die Sehnsucht, es möge bei dem bestehenden Unrecht nicht bleiben, es möge anders werden. In dieser Sehnsucht arktikuliert sich Wahrheit, die dem Gedanken folgt, der das Unrecht verneint; diese Wahrheit konvergiert mit der Theologie, die für die praktische Aufhebung bestehenden