Deine Briefe - Eni Lu - E-Book

Deine Briefe E-Book

Eni Lu

4,8

Beschreibung

»Vor 8 Jahren hast du mir, ohne dass du es wusstest, so viel Kraft und Hoffnung gegeben. Du hast mir meinen Schmerz und meine Probleme aus der Hand genommen und sie nie wieder losgelassen. Du stärkst mich in jeder Sekunde, in der ich an dich denke. Mein Weg war bis jetzt grau, kalt und schwer, doch du bist die Helligkeit, die Wärme, die Leichtigkeit. Du bist mein Licht, Salo!« Schon immer war Salome eine Außenseiterin, die nie den Kontakt zu anderen fand. Das Wort "Freunde" existierte in ihrem Wortschatz nicht, bis sie durch ein Schulprojekt Julin kennenlernte. Über Jahre hinweg war er es, der sie verstand und immer für sie da war, obwohl sie sich nie begegnet sind. Doch als Julin sich plötzlich nicht mehr meldete, sollte sich genau das ändern ... Wenn Sorge größer ist als Vernunft. Wenn der Wille die Angst besiegt. Wenn Erinnerungen alles sind, was noch zählt. Wenn Liebe überwiegt. Inklusive XXL-Leseprobe "Mit Seifenblasen fliegen lernen"

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 244

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,8 (16 Bewertungen)
13
3
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Sehnsucht. Liebe. Gewissheit.

Du bist meine Ewigkeit.

- Jeanett Langhof

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel Eins

Kapitel Zwei

Kapitel Drei

Kapitel Vier

Kapitel Fünf

Kapitel Sechs

Kapitel Sieben

Kapitel Acht

Kapitel Neun

Kapitel Zehn

Kapitel Elf

Kapitel Dreizehn

Kapitel Vierzehn

Kapitel Fünfzehn

Kapitel Sechszehn

Kapitel Siebzehn

Kapitel Achtzehn

Kapitel Neunzehn

Kapitel Zwanzig

Kapitel Einundzwanzig

Epilog

Danksagung

Über die Autorin

Bisher erschienen

XXL Leseprobe

Wer braucht schon einen Rockstar?

Die Liebe ist ein seltsames Spiel…

Ja? Nein? Vielleicht?

Prolog

Endlich war es wieder so weit. Ich stand an meinem Briefkasten und bekam das Lächeln nicht aus dem Gesicht, denn mein kurzer Moment in ein anderes Leben wartete auf mich. Ein Moment, der mir seit so vielen Jahren alles bedeutete. Seit nun fast 8 Jahren gab es jemanden, der mir mein ödes Leben verschönerte, dem ich alles anvertrauen konnte und der mir jedes Mal aufs Neue ein Lächeln ins Gesicht zauberte. Es gab niemanden, der so viel über mich wusste, wie er. Und das komplett ungesehen, denn wir waren uns noch nie begegnet …

8 Jahre zuvor …

»Seit es das Internet und andere Kommunikationswege gibt, ist das Briefeschreiben aus der Mode gekommen. Dabei ist es noch immer der schönste Weg, mit anderen Menschen in Kontakt zu bleiben. Schon in der Bibel …«, da war sie auch schon dahin, meine Aufmerksamkeit. Unser Deutschlehrer, Herr Köhnen, hätte den Vortrag nicht langweiliger gestalten können. Doch was erwartet man auf einer katholischen Mädchenschule, die prüder und regelreicher nicht sein könnte?

»… deshalb haben wir uns den umliegenden Schulen angeschlossen und nehmen zum ersten Mal an dem Projekt Brieffreundschaften teil. Dazu werden uns Patenklassen aus ganz Deutschland gestellt, die ebenso daran teilnehmen. Es wurde ausgelost und ihr dürft mit eurem Brief beginnen!«, ich wurde wieder hellhörig, denn das Schreiben gehörte zu meinen Lieblingsbeschäftigungen.

»Die Brieffreundschaften werden euch das ganze letzte Jahr auf der Schule begleiten und ihr könnt nicht selbst wählen, mit wem ihr in Kontakt tretet. Die Briefe werden per Zufallsprinzip auf der anderen Schule vergeben. Hier ist euer erster Papierbogen, auf dem ihr alles schreiben dürft, außer eure Adresse oder Telefonnummer. Die Briefe werden von uns abgeschickt und nach zwei Wochen erhaltet ihr eine Rückantwort. So wird es von nun an ablaufen!«, er lief durch die Klasse und verteilte die Bögen, auf denen schon vorgegeben war, wie ein Brief aufgebaut sein sollte, was man schreiben durfte und was nicht.

»Werden die Briefe denn nur an weiteren Mädchenschulen verteilt oder könnte es auch sein, dass man einen Brieffreund bekommt?« Lea, die direkt neben mir saß, konnte sich ein schüchternes Kichern kaum verkneifen.

»Soweit ich weiß, nehmen auch gemischte Schulen an diesem Projekt teil. Da ausgelost wird, haben wir darauf keinen Einfluss, also ist es möglich!«, viele der Mädchen kicherten jetzt noch lauter und fingen an zu tuscheln. Mir war es vollkommen egal, ob Brieffreund oder Brieffreundin, denn ich hatte bisher nur wenig Erfahrung, was Freunde im Allgemeinen betrifft. Schon immer war ich eine Außenseiterin, wie sie im Buche steht. Langweilig, unscheinbar und mit den wahrscheinlich schlimmsten Eltern gesegnet, die man sich nur vorstellen konnte. Auch wenn die anderen Mädchen ebenfalls in sehr christlichen Familien aufwuchsen, waren meine Eltern nicht zu toppen und oft ein Grund, warum ich nie den Kontakt zu anderen fand. Denn wir hatten keinen Computer, kein Handy, selbst einen Fernseher konnte man bei uns nicht finden. Wir hatten nur ein altes Telefon, Bücher und Gott.

»Salome? Beginnst du bitte auch zu schreiben?«, Herr Köhnen stand direkt vor mir und sah mich mit fragendem Blick an. Als ich mich umschaute, schrieben die Anderen schon fleißig. Ich nickte ihm freundlich zu und begann meinen ersten Brief.

Hallo Unbekannte! Oder Unbekannter?

Mein Name ist Salome, ich bin 16 Jahre alt und komme aus

einem Dorf, dessen Namen ich dir nicht nennen darf. Ich kann

dir nur sagen, dass es mit Abstand der langweiligste Fleck Erde

ist, auf dem man leben kann! Es gibt mehr Kühe als Menschen

und mehr Wiesen als Straßen. Alleine der Weg zur Schule kostet

mich jeden Morgen 40 Minuten, obwohl der Bus an kaum einer

anderen Haltestelle halten muss. Meine Hobbys sind lesen,

schreiben und spazieren gehen. Leider immer nur alleine, da ich

keinen Hund haben darf, aber manchmal nehme ich den

Nachbarshund mit. Ich freue mich schon, etwas von dir zu hören.

Unbekannte Grüße,

Salome

Ich faltete den Brief wie vorgegeben, warf ihn beim Verlassen des Klassenzimmers in die Box, die einen Briefkasten darstellen sollte und ging mit einem Lächeln in die Pause. Das geschah relativ selten, da mir meine Mitschüler das Leben nicht leicht machten. Doch vielleicht musste ich das letzte Schuljahr nicht alleine durchstehen …

2 Wochen später …

Herr Köhnen betrat den Raum und hatte eine große Kiste dabei. Alle warteten sehnsüchtig auf die Briefe, die wir in dieser Woche bekommen sollten.

»So meine lieben Schülerinnen, ihr habt Post! Ich kann die freudige Nachricht verkünden, dass alle eure Briefe beantwortet wurden. Viel Spaß beim Lesen, die Rückantwort könnt ihr am Ende der Stunde in den Briefkasten werfen!«, er nahm einen großen Stapel Briefe aus der Kiste und begann sie zu verteilen. Als ich meine Antwort in der Hand hielt, faltete ich sie vorsichtig auf und konnte sofort an der Schrift erkennen, um welches Geschlecht es sich bei meiner Brieffreundschaft handelt.

Hallo Salome!

So einen Namen habe ich noch nie zuvor gehört, wie spricht

man ihn aus? Ich heiße Julin und bin 17 Jahre alt. Ich komme

aus einer großen Stadt, die ich dir allerdings auch nicht nennen

darf. Ich wohne mit meiner Mutter und meinem Stiefvater in

einem Mehrfamilienhaus, in dem ich noch nicht einmal meine

Nachbarn kenne. In meiner Freizeit gehe ich viel raus, gucke mir

Filme an oder höre Musik. Ich hätte auch gerne einen Hund, aber

hier in der Stadt ist das unmöglich. Über eine Antwort würde ich

mich freuen!

Nicht mehr ganz so unbekannte Grüße,

Julin

Ich las mir den Brief noch mehrere Male durch und musste jedes Mal aufs Neue lächeln. Er schrieb locker und frei, was mir sehr gut gefiel.

»Na super, ich habe eine Brieffreundin! Zeig mal, wen du hast!«, Lea nahm mir den Brief blitzschnell aus der Hand, sodass ich keine Chance mehr hatte, ihn zu greifen.

»Leute, hört mal, Salami hat einen Kerl!«, da war er wieder, mein Spitzname, den ich über alles hasste. Mein Blick senkte sich, als Herr Köhnen schon auf Lea zukam und ihr den Brief abnahm. Er legte ihn vor mich und ermahnte sie, doch die ganze Klasse lachte weiter.

Was war so lustig daran? Immerhin war ich nicht die Einzige, die einen Brieffreund erwischt hatte!

»Herr Köhnen, ich würde gerne mit Salam … ehm … Salome tauschen. Ich denke, dass meine Brieffreundin besser zu ihr passt. Sie hört sich genauso langweilig an wie sie!«, wieder fing die ganze Klasse an zu lachen, doch Herr Köhnen unterband es, indem er einen scharfen Ton anschlug.

»Schluss jetzt! Es wird nicht getauscht! Hört auf zu lachen und kümmert euch um eure eigenen Briefe!« Schnell wurde es ruhiger in der Klasse und ich begann mit meiner Antwort.

Hallo Julin,

dein Name gefällt mir, obwohl ich ihn auch noch nie gehört

habe. Mein Name wird so ausgesprochen, wie man ihn schreibt,

mit einer Betonung auf dem ‚e‘. Es ist ein biblischer Name, mit

dem meine Eltern mich schon kurz nach meiner Geburt bestrafen

wollten. Manchmal wäre ich froh meine Nachbarn nicht zu

kennen, denn hier auf dem Land weiß jeder etwas über den

anderen, ob es wahr ist oder nicht. Wie ist das Leben in der Stadt

sonst so? Ist es wirklich so laut, wie immer alle sagen? Leider war

ich noch nie außerhalb dieses Dorfes unterwegs und kenne nichts

Anderes, aber vielleicht kannst du mir ja etwas von deiner Welt

‚zeigen‘!

Glückliche Grüße,

Salome

Und das hoffte ich inständig, denn ich hätte alles dafür gegeben, um diesem Ort für nur wenige Minuten zu entkommen.

Weitere 2 Wochen später …

»Na, Salami! Wartest du schon sehnsüchtig auf einen Brief deines Lovers?«, Lea und ihre Freundinnen standen an unserem Tisch und schüchterten mich mit ihrer bloßen Anwesenheit ein.

»Sei froh, dass es nur eine Brieffreundschaft ist, denn wenn er dich sehen würde, wäre es mit den Briefen schnell vorbei!«, ihr ganze Clique lachte und stimmte ihr zu. Tränen sammelten sich in meinen Augen, doch ich konnte sie wegblinzeln. Zum Glück betrat Herr Köhnen den Raum und die kleine Gruppe löste sich auf. Er stellte die Kiste auf den Tisch und verteilte die Briefe, die einige von uns erwartungsvoll und aufgeregt, andere gelangweilt und uninteressiert aufrissen.

Hey Salo,

ich darf dich doch so nennen, oder?

Mir gefällt dein Name übrigens auch sehr gut, vor allem, seit

ich weiß, wie man ihn ausspricht! Das Problem mit den Eltern

kenne ich gut. Sie haben mir zwar nicht mit meinem Namen das

Leben schwer gemacht, schaffen es aber auf andere Art und Weise

sehr gut. Ich kann es kaum erwarten, endlich 18 zu werden und

von hier weg zu kommen. Ich werde zwar in der Stadt bleiben

müssen, da ich hier eine Ausbildung beginne, doch bei meiner

Mutter und ihrem Macker hält mich nichts mehr!

Die Stadt ist wirklich sehr laut, außerdem stinkt es hier an

jeder Ecke. Ich war noch nie auf dem Land und habe, um ehrlich

zu sein, noch nie eine echte Kuh gesehen. Nur die in der

Schokoladenwerbung, aber ich glaube kaum, dass Kühe wirklich

Lila sind, oder etwa doch? ;-) Ich zeige dir gerne etwas von meiner

Welt, wenn du mir im Gegenzug etwas von deiner zeigst, Deal?

Großstadtgrüße,

Julin

P. S. Die Briefbögen sind viel zu klein!

Noch nie hatte mir jemand einen Spitznamen gegeben, ohne mich damit ärgern zu wollen. Ich konnte es kaum abwarten meinen Stift in die Hand zu nehmen, um ihm zu schreiben und ich wusste schon zu diesem Zeitpunkt, dass ein Jahr nicht genügen würde …

Kapitel Eins

Salome

Mit einem Glas Wein in der einen und einer Tafel Schokolade in der anderen Hand setzte ich mich auf meine gemütliche Couch und öffnete den Brief. Wie jedes Mal berührte ich ihn so vorsichtig und zaghaft, als wäre er ein vertrocknetes Ahornblatt, das bei einer zu groben Berührung auseinanderfällt.

Meine liebste Salo,

dein letzter Brief hat mir mal wieder gezeigt, dass du die

Einzige bist, die mich wirklich kennt. Taylor, der mir jeden Tag

in die Augen sehen kann, merkt nicht, dass mit mir etwas nicht

stimmt. Und du? Du hörst etwas raus, obwohl du mich nicht

hörst. Du siehst, wie es mir geht, obwohl du mich nicht siehst. Du

spürst etwas, obwohl du mich noch nie gespürt hast. Mir geht es

seit dem letzten Brief wirklich schlechter, denn meine Mutter

macht mir große Sorgen. Es wird immer schlimmer mit ihm, Salo,

und ich bekomme sie einfach nicht von ihm weg. Ich habe Angst,

dass ich irgendwann die Nerven verliere, wie so oft, wie früher …

Meine Besuche bei ihr werden immer kürzer und ich komme

einfach nicht zu ihr durch; kam ich noch nie. Aber genug von mir!

Geht es dir mittlerweile wieder besser? Ich habe mir so Sorgen um

dich gemacht, dass ich fast deine Nummer gewählt hätte. Okay,

um ehrlich zu sein, hätte ich mich fast in mein Auto gesetzt und

wäre einfach zu dir gefahren. Aber ich werde mich an unser

Versprechen halten, so schwer es mir auch fällt …

Liebste Grüße,

dein Julin.

P.S. Du hast lange nichts mehr von Maria und Josef hören

lassen. Hast du sie inzwischen ans Kreuz genagelt?

Ich lachte laut auf und trank einen Schluck Wein. Mit Maria und Josef meinte er meine Eltern, die leider wirklich so hießen. Okay, mein Vater hieß eigentlich Karl-Josef, aber er wurde meist nur Josef genannt. Auch nach so vielen Jahren brachten sie mich noch immer auf die Palme, denn an ihrer Liebe zu Gott und der Kirche hatte sich nichts geändert. Ich dagegen stellte in meiner Jugend immer mehr infrage und glaubte irgendwann nur noch an einen Gott, den ich mir selbst erschaffen hatte.

Einen Gott, für den ich nicht in die Kirche gehen musste, um ihm nah zu sein. Denn dieser Gott war stets bei mir. Der Gott der ungläubigen und genervten Töchter!

Ich las Julins Brief ein weiteres Mal und aß dabei ein Stück meiner Lieblingsschokolade. Vollmilch mit Haselnüssen. Dass sich Julin Sorgen machte, setzte auch mir zu. Er hatte es nie leicht in seinem Leben und litt unter Wutanfällen, die in seiner Jugend oft ausgeartet waren. Auch wenn er sich mittlerweile besser unter Kontrolle hatte, wusste ich, dass grade in Bezug auf seinen Stiefvater der kleinste Tropfen das Fass zum Überlaufen bringen konnte. So oft hatte ich das Bedürfnis, ihm nicht nur mit meinen geschriebenen Worten, sondern auch mit richtigen Worten Mut zuzusprechen, doch wir hatten seit mehreren Jahren eine Vereinbarung. Egal wie sehr wir es wollen; unser Kontakt wird sich nur auf die Briefe beschränken.

Das letzte Schuljahr ging viel zu schnell vorbei und unsere Bekanntschaft hatte sich zu einer Freundschaft entwickelt. Mein bester Freund, der mich so lange Zeit durch mein Leben begleitete. Ich wollte ihn nicht verlieren und ihm ging es ebenso. Wir tauschten in unseren letzten Briefen unsere Adressen und schrieben ab sofort privat weiter. Als wir endlich volljährig waren, hatten wir oft vor uns zu treffen, doch es hatte nie funktioniert. Uns fehlten Geld und Zeit, zudem hatten meine Eltern immer etwas dagegen. Ihr kleines Mädchen in der großen Stadt? Alleine in Berlin? 600 Kilometer weit von zu Hause entfernt? Bei einem Fremden? Niemals! Als wir dann mit unseren Ausbildungen fertig waren und wir mehr Zeit und Geld hatten, bekam ich kalte Füße. Was, wenn Lea damals recht hatte? Wenn er mich sieht und den Kontakt abbrechen will? Er war mein einziger Freund und bedeutete mir so viel, ich durfte das alles nicht aufs Spiel setzen. Also bat ich ihn um die Vereinbarung, um das Versprechen, dass mir die Freundschaft zu ihm sichern sollte. Er nahm es an, obwohl er ziemlich betrübt war, mich nie sehen zu können.

Ich war nicht hässlich, aber fand mich auch nicht wunderschön. Wenn ich in den Spiegel schaute, sah ich eine durchschnittliche junge Frau. Ich hatte eine normale Figur, war nicht sehr groß, meine braunen langen Haare fielen unspektakulär über meine Schultern und meine Nase war klein und spitz. Das Einzige, das ich an mir besonders fand, waren meine Augen. Sie waren nicht nur hellgrün, sondern giftgrün.

Alles in allem konnte ich mich nicht beschweren, doch ein Männermagnet war ich noch nie. Ich hatte erst zwei Freunde in meinem Leben, die aber alle nicht nennenswert waren. Idioten, die sich im Nachhinein doch von Lea und ihrer Clique um den Finger wickeln ließen und mich verlassen haben. Nach der Schulzeit ging es dann männertechnisch noch mehr bergab, denn die Auswahl in unserem Dorf war einfach miserabel und die Männer aus dem Rechtsanwaltsbüro, in dem ich arbeitete, waren für mich tabu.

Außerdem gab es da noch Julin. Ich glaube nicht, dass mich je ein Mann so verstehen könnte, wie er. Er weiß einfach alles von mir, kennt jede Macke, jede Kleinigkeit, die mich ausmacht. Nur nicht mein Aussehen oder meine Stimme. Und das sollte sich nicht ändern …

***

Nachdem ich am nächsten Tag meinen Brief zur Post gebracht hatte, besuchte ich meine Eltern, die noch immer in meinem Elternhaus direkt neben der Kirche wohnten. Ich war schon zwei Jahre zuvor ausgezogen, wenn auch nur ein paar Straßen weiter, in ein altes, gemütliches Haus. Es war ziemlich weit außerhalb, was ich willkommen hieß, denn ich war schon immer eine Einzelgängerin. Ich liebte meine Eltern, doch ich konnte ihren Lebensstil nicht länger unterstützen. Ich wollte mit der Zeit gehen und das war mir bei ihnen nicht möglich. Sie flippten schon aus, als ich eines Tages mit einem Smartphone nach Hause kam, denn das benötigte ich für die Arbeit. Die Arbeit, die auch ein ständiges Streitthema gewesen war. Denn in den Augen meiner Eltern durfte niemand über andere richten, außer Gott.

Ich lief durch unseren Ort und grüßte alle Bewohner, die mir entgegenkamen oder an diesem schönen Tag im Garten saßen. Jeden von ihnen kannte ich, da es nur knapp 30 Haushalte gab und grade die älteren Herrschaften freuten sich jedes Mal, wen ich ihnen begegnete. Meine Eltern waren in der christlichen Gemeinde sehr hoch angesehen und das Benehmen, welches sie mir von klein auf beibrachten, erfreute andere Menschen sehr. Zudem war ich sehr hilfsbereit und erledigte die ein oder anderen Einkäufe für die Bewohner, die nicht mehr so gut zu Fuß waren oder keine Möglichkeit hatten, in den Supermarkt im Nachbardorf zu fahren.

»Salome! Wie schön, dass du uns besuchen kommst!«

»Hey, Mama. Geht’s euch gut?«

»Uns geht es wie immer großartig! Hast du schon die Blumen gesehen, die ich heute Morgen an die Kirchenmauer gepflanzt habe?«

»Ja, bin grade dran vorbeigelaufen!«

»Und?«

»Und was?«

»Wie findest du sie?«

»Schön … bunt?«

»Ja das finde ich auch! Die Frauen werden entzückt sein, wenn sie diese bei der Sonntagsmesse sehen werden!«, meine Mutter war schon immer darauf bedacht, was andere Menschen von ihr und ihrer Familie hielten. Grade deshalb war es immer sehr von Vorteil, dass ich meine Kindheit und Jugend im Stillen und alleine verbrachte. Sie hätte es nie geduldet, wenn ich wie die anderen Mädchen um die Häuser gezogen wäre.

»Ja … sie werden ausflippen!«

»Hach, das werden sie!«, übrigens verstand meine Mutter auch keinen Sarkasmus. Wir plauderten noch ein wenig, wobei es mehr um sie und die Kirche ging, als um mich oder irgendetwas, das mich interessiert. Mir machte es nichts mehr aus, denn ich war es nicht anders gewohnt. Nachdem ich mich verabschiedet hatte, ging ich zurück in mein Reich und las mir ein weiteres Mal Julins Brief durch, bevor ich ihn in die mittlerweile ziemlich große Kiste legte, in der ich alle Briefe aufbewahrte.

Gerne las ich sie mir durch, wenn es mir schlecht ging oder ich mich alleine fühlte. Die Einsamkeit machte mir in den meisten Fällen nichts aus, doch an manchen Tagen wünschte ich mir jemanden, der abends mit mir zusammen auf dem Sofa sitzt, einen Wein trinkt und sich mit mir über das letzte Stück meiner Lieblingsschokolade streitet. Vielleicht sollte es irgendwann diesen Einen geben, vielleicht war ich irgendwann nicht mehr alleine.

Kapitel Zwei

Salome

2Monate später …

»Du handelst vorschnell und unbedacht! Vielleicht möchte er einfach keinen Kontakt mehr zu dir haben!«

»Das glaube ich nicht! Wir stehen uns so nah, das könnt ihr doch gar nicht beurteilen!«, ich rechtfertigte mich vor meinen Eltern, als wäre ich noch immer 16 Jahre alt.

»Wie könnt ihr euch denn nahestehen? Ihr kennt euch überhaupt nicht!«

»Wir kennen uns seit 8 Jahren!«

»Trotzdem werden wir es nicht zulassen! Du fährst nicht nach Berlin. Punkt.«

Trotzig stand ich auf und setzte mich auf die Holzbank, die auf der Veranda meiner Eltern stand. Seit fast zwei Monaten hatte ich nichts mehr von Julin gehört und ich machte mir große Sorgen um ihn. Schon vor zwei Wochen brach ich die Regel unseres Versprechens und rief ihn an, doch es antwortete nur die Mailbox mit einer automatischen Sprachansage. Ich versuchte es noch mehrere Male, doch jedes Mal hörte ich nur die gleiche Leier.

Ihr gewünschter Gesprächspartner ist zurzeit nicht erreichbar.

»Salome! Wir waren noch nicht fertig mit unserem Gespräch!«, Maria und Josef, die wahrlich heiligste Familie dieser Welt, kam auf die Veranda und setzten sich zu mir.

»Wir waren schon damals dagegen, dass du mit einem Jungen schreibst und jetzt möchtest du dich auch noch mit ihm treffen? Das werden wir nicht zulassen!«

»Ich mache mir große Sorgen um ihn, versteht ihr das nicht?«, schon vor drei Tagen hatte ich den Urlaub für eine Woche eingereicht, den ich sofort genehmigt bekam. Ich hatte mir, mit Ausnahme von ein paar Tagen, an denen ich im Garten arbeiten wollte, noch nie für eine längere Zeit freigenommen. Nun wollte ich morgen losfahren und hatte den großen Fehler begangen, meinen Eltern zu sagen, wo es hingehen soll.

»Außerdem könnt ihr mir nichts verbieten, ich bin 24 Jahre alt und kann machen, was ich möchte!«

»Salome! Du bist noch immer unsere Tochter, und wenn wir Nein sagen, dann hast du es auch gefälligst zu unterlassen!«, entsetzt sah ich sie an und sofort auf.

»Na schön! Sind wir hier dann jetzt fertig?«

»Du fährst also nicht?«

»Nein!«

»Dann sind wir fertig!«

Ich ging schnellen Schrittes und wütend von der Veranda, setzte mich in mein Auto und fuhr nach Hause. Wenn sie wirklich dachten, dass sie mich einfach so aufhalten könnten, hatten sie sich geschnitten. Meine Koffer waren schon fertig gepackt und mein Entschluss stand felsenfest.

Keine 45 Minuten später machte ich mich auf den Weg nach Berlin. Zwar würde ich über Nacht fahren, doch mit viel Kaffee und ein paar guten CDs sollte es kein Problem sein. Keine Sekunde mehr wollte ich vergeuden, denn mein Gefühl, das etwas ganz und gar nicht stimmte, wurde nicht geringer.

Die Stunden vergingen und ich hielt mich mit schiefen Gesängen, Energiedrinks und kurzen Zwischenstopps wach, bis ich endlich das große Ziel erreichte.

Berlin.

Groß, laut, beängstigend.

Das Navigationsgerät führte mich mitten durch die Stadt, die, anders als in meinen Vorstellungen, nachts ziemlich ruhig war. Es herrschte kaum Verkehr und ich konnte mit meinen ländlichen Fahrkünsten ohne viel Stress an mein Ziel gelangen. Ich parkte auf dem hoteleigenen Parkplatz und machte mich ohne Gepäck auf den Weg zum Eingang, denn ich wusste nicht, ob ich so früh am Morgen schon einchecken konnte. Ich klingelte und musste einige Minuten warten, bis sich jemand durch die Freisprechanlage meldete.

»Hotel Gauler. Was kann ich für Sie tun?«

»Ja … ehm … Salome Rosenberg mein Name, ich habe bei Ihnen ein Zimmer gebucht und wollte fragen, ob ich jetzt schon einchecken könnte. Leider bin ich etwas zu früh dran!«, es raschelte und es hörte sich an, als würde die Empfangsdame in etwas blättern.

»Ah, ja, Frau Rosenberg! Ihr Zimmer ist zum Glück schon bereit, Sie können also gerne einchecken!«

»Das ist toll, Dankeschön! Ich hole mein Gepäck und bin sofort wieder da!«

Ich lief zurück zum Auto und nahm meinen Koffer sowie mein Handgepäck aus dem Kofferraum. Als ich wieder zurückkam, stand die Dame, die ich auf Mitte 40 schätzen würde, schon in der Tür.

»Kommen Sie rein, in der Nacht ist es noch sehr frisch draußen.«

»Vielen Dank!«, wir gingen zur Rezeption, an der ich einchecken konnte und die Dame überreichte mir den Zimmerschlüssel.

»Zimmer 316. Dritter Stock auf der rechten Seite. Mit Balkon und Badewanne. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Aufenthalt!«, ich bedankte mich ein weiteres Mal bei ihr und ging auf direktem Wege zum Aufzug, der mich in mein Stockwerk bringen sollte.

Oben angekommen stand ich in einem riesigen Flur, der schön anzusehen war. Die Böden und Decken glänzten in Fliesen, die Wände waren in einem mintgrünen Ton gestrichen. Ich ging an mehreren Zimmertüren vorbei, bis ich die meine entdeckte.

Ich öffnete die Tür, schaltete das Licht ein und stellte mein Gepäck in den Flur. Auch das Zimmer war in einem mintgrün gehalten, das Bett war riesig und sah bequem aus, das Badezimmer war ein Traum. Die Badewanne war nicht nur groß, sondern auch mit kleinen Düsen ausgestattet, die das Ganze in eine Art Whirlpool verwandeln konnten. Warum habe ich nie zuvor Urlaub gemacht?

Sofort zog ich mich um und legte mich in das Bett, denn ich musste mich von der Fahrt erholen. Ich kuschelte mich in die weiche Decke und nahm mein Handy in die Hand, welches ich zuvor auf den Nachttisch gelegt hatte. Wieder wählte ich Julins Nummer, doch er war nicht erreichbar. Die Angst, dass ihm etwas passiert sein könnte, war allgegenwertig. Schnell schloss ich die Augen und dachte an etwas Anderes. Etwas Schönes. Vielleicht würde ich ihn Morgen sehen, vielleicht wird sich alles aufklären und es handelt sich nur um ein dummes Missverständnis. Vielleicht hätten wir eine Chance. Vielleicht.

***

Ich streckte mich und gähnte laut auf. Selten hatte ich so fest geschlafen wie in dieser Nacht und ich fühlte mich wie ein neuer Mensch. Ich stand auf und öffnete die Balkontür, hörte sofort den Lärm der Stadt. Julin schrieb immer, dass man den Lärm irgendwann nicht mehr hören würde, aber ich wusste ganz genau, dass ich mich niemals daran gewöhnen könnte. Auch der Gestank war bestialisch. Abgase, Müll und Undefinierbares, gemixt mit zu viel Sonne und Hitze.

Moment mal!

Hitze?

Sonne?

Wie spät war es?

Ich schaute auf den Wecker, der direkt neben meinem Bett zu finden war, und stellte fest, dass es schon nach Mittag war. Ich ging ins Bad und nahm nur eine schnelle Dusche, denn ich hatte viel vor. Die Badewanne musste also noch ein paar Stunden auf ihre Benutzung warten.

Bereit für meine Mission machte ich mich auf den Weg und nahm mir einen Apfel von dem bereitgestellten Obstteller mit. Der sollte bis zum Abend reichen, denn in der gebuchten Halbpension war nur das Frühstück und das Abendessen inklusive.

Als ich in meinem Auto saß, stellte ich sofort mein Navigationsgerät ein. Julins Adresse kannte ich nach all den Jahren auswendig, sodass ich nicht nachschauen musste. Mein Ziel lag nur wenige Kilometer von mir entfernt und ich fuhr sofort los.

Dieses Mal stresste mich der Stadtverkehr vollkommen. Wie konnte man nur hier wohnen? So viele Menschen, so viele Autos, so viele Fahrräder. Alle lärmten rum, keiner achtete auf den Anderen und jeder war nur auf sein Wohl bedacht. Als ich nach sehr langer Zeit endlich einen Parkplatz gefunden hatte, ging ich zu Julins Adresse. Ein heruntergekommenes Mehrfamilienhaus lag in meinem Blickfeld und es sah genau aus, wie Julin es oft beschrieb. Ich wusste, dass er hier mit seinem besten Freund Taylor zusammenwohnte, denn seine Mutter hatte ihn rausgeschmissen, als er 18 wurde. Da er eh gehen wollte, war es für ihn ein leichtes dieses Leben hinter sich zu lassen. Das Leben mit einem gewalttätigen Stiefvater.

Ich schaute auf das große, vollgepackte Klingelfeld und suchte seinen Namen.

Julin Beck/Taylor Schmidt

Eine Gänsehaut bildete sich auf meinem Körper. Sein Name stand wirklich auf dem Schild neben der Klingel.

Auf einmal war er real.

Ich klingelte mit zitternden Händen und wartete nur wenige Momente, bis ich den Summer hörte und die Tür öffnen konnte. Aus seinen Briefen wusste ich, dass er im vierten Stockwerk wohnte, denn er klagte oft darüber, wie anstrengend es war, Getränkekisten nach oben zu tragen. Ich ging die Treppen hoch zu seinem Stockwerk, doch alle Türen waren geschlossen. Hatte ich mich vielleicht doch vertan?

Ich ging an den Türen vorbei, an denen zum Glück Namen standen, und hielt an der dritten Tür an.

Ich klopfte.

Hörte Schritte.

Die Tür wurde geöffnet.

Ein blonder, ziemlich gut aussehender Mann stand vor mir und sah mich fragend an. Ob er es ist? Seine blauen Augen strahlten förmlich und der leichte Bartschatten machte ihn noch ein Stück weit attraktiver.

»Julin?«, hoffnungsvoll sah ich ihn an.

»Julin ist nicht hier! Wer will das wissen?«, sein Ton war strenger als sein Aussehen und schüchterte mich etwas ein.

»Mein … ehm … mein Name ist Salome. Ich komme aus …«

»Salome? Die Salome? Bist du seine Brieffreundin?«

»Genau die bin ich!«

»Ach du … oh mein Gott! Komm her!«, er kam näher auf mich zu und legte seine Arme stürmisch um meinen Körper. Ich war so perplex, dass ich seine Umarmung zuerst nicht erwidern konnte, denn mich hatte noch nie zuvor jemand Fremdes umarmt. Ein seltsames Gefühl, doch irgendwie vertraut. Vorsichtig legte ich meine Hände an seinen Rücken. Einige Sekunden hielten wir die Umarmung, bevor wir uns voneinander lösten.

»Komm rein! Möchtest du etwas trinken?«

»Ein Wasser wäre nett!«

»Kommt sofort! Setz dich doch schon mal ins Wohnzimmer!«

Ich ging in den Raum, den er mir per Handzeichen gezeigt hatte. Er war nicht sehr groß und spärlich eingerichtet. Ein schwarzes Sofa, ein kleiner Tisch davor, ein Fernseher und zwei kleine Kommoden. Ich setzte mich und ließ alles für einen Moment auf mich wirken, versuchte, die Situation zu verstehen.

»Er redet seit Jahren nur von dir und jetzt stehst du plötzlich vor der Tür! Unglaublich!«, freudestrahlend kam er zurück und stellte zwei Gläser Wasser auf den kleinen Tisch, setzte sich danach neben mich.

»Hattet ihr nicht die Vereinbarung euch nicht zu treffen?«, scheinbar wusste er mehr von uns, als ich dachte.

»Oh, wo bleibt mein Anstand!«, er setzte sich etwas auf und streckte mir seine Hand entgegen.

»Ich bin Taylor. Julins bester Freund und Mitbewohner.«

»Das habe ich mir schon fast gedacht. Er hat mir viel von dir erzählt!«

»Ich hoffe nur Gutes?«

»Meistens…!«, wir mussten beide schmunzeln und tranken einen Schluck aus unseren Gläsern.

»Also, was führt dich hier her?«

»Julin, er … hat sich seit zwei Monaten nicht mehr gemeldet. Ich habe schon versucht ihn anzurufen, aber es antwortet immer nur die Mailbox, da habe ich mir Sorgen gemacht.«

Taylors Augen wurden groß und ich ahnte Schlimmes. Wollte er also wirklich keinen Kontakt mehr zu mir?

»Fuck! Du weißt also gar nicht von … FUCK!«

»Von was, Taylor?«

»Er ist im Gefängnis. Untersuchungshaft.«

Nun wurden meine Augen groß und ich sah ihn schockiert an.

»Was? Warum?«

»Sein Stiefvater …«

»Er hat ihn doch nicht umgebracht, oder?«