Delikte gegen Kinder - Reingard Nisse - E-Book

Delikte gegen Kinder E-Book

Reingard Nisse

0,0
12,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Der Schutz von Kindern ist eine der vordringlichsten Aufgaben unserer Gesellschaft. Um so betroffener zeigt sich die Öffentlichkeit, wenn Kindesmisshandlungen bekannt werden. Dabei liegt die Dunkelziffer der gewalttägigen und sexuellen Übergriffe gegenüber Kindern oder erhebliche Vernachlässigung ihrer Fürsorge noch weitaus höher, wie Forschungsstudien nachweisen konnten. Die Aktivitäten zum Kinderschutz wurden in der Bundesrepublik Deutschland im letzten Jahrzehnt verstärkt und die rechtlichen Grundlagen in diesem Bereich präzisiert. Ein flächendeckendes Netzwerk zum Kinderschutz hat sich etabliert, in das auch die Polizei eingebunden ist. Ihr obliegen entsprechend polizeirechtlicher, straf- und strafprozessrechtlicher Gesetzesregelungen sowie auch aufgrund von Polizeidienstvorschriften verschiedene Pflichten und Rechte zum Schutz des Kindes. In diesem Studienbrief werden in knapper Form die wesentlichen Erscheinungsformen von Delikten gegen Kinder dargestellt und die wichtigsten rechtlichen Grundlagen erläutert, um es Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten zu ermöglichen, erfolgreich präventiv wie auch repressiv tätig werden zu können. Zudem gibt das Buch dem Leser Anregungen für die Umsetzung des Kinderschutzes in der polizeilichen Praxis mit auf den Weg.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 171

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Lehr- und Studienbriefe Kriminalistik / Kriminologie

Herausgegeben von

Horst Clages, Leitender Kriminaldirektor a.D.,Klaus Neidhardt, Präsident der Deutschen Hochschule der Polizei

Band 18Delikte gegen Kinder

vonProf. Dr. Reingard Nisse

VERLAG DEUTSCHE POLIZEILITERATUR GMBHBuchvertrieb

Forststraße 3a • 40721 Hilden • Telefon 0211/71 04-212 • Fax -270E-Mail: [email protected] • Internet: www.VDPolizei.de

1. Auflage 2012© VERLAG DEUTSCHE POLIZEILITERATUR GMBH Buchvertrieb; Hilden/Rhld., 2012

E-Book© VERLAG DEUTSCHE POLIZEILITERATUR GMBH Buchvertrieb; Hilden/Rhld., 2013

Alle Rechte vorbehalten.Unbefugte Nutzungen, wie Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Satz und E-Book: VDP GMBH Buchvertrieb, HildenISBN 978-3-8011-0668-3 (Buch)ISBN 978-3-8011-0698-0 (E-Book)

Besuchen Sie uns im Internet unter:

www.VDPolizei.de

Vorwort

Delikte gegen Kinder stehen, wenn sie bekannt werden, im Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit. Insbesondere gravierende Gewalttaten an Kindern lösen tiefes Mitgefühl gegenüber den Opfern und berechtigte Empörung über die Täter aus. Kinder zu schützen ist eine der vordringlichsten Aufgaben, denen sich die Gesellschaft widmen muss. Kinder gehören in der Bevölkerung immer zu den Schwächsten und brauchen deshalb besonderen Schutz und besondere Fürsorge.

Kindesmisshandlungen finden im Verborgenen statt. Dies macht es umso schwieriger, die Taten aufzudecken sowie die Leiden der Kinder zu erkennen und sie vor weiterer Gewalt und Vernachlässigung zu schützen.

Das Grundgesetz der Bundesrepublik überträgt vorrangig den Eltern das Recht und die Pflicht, für ihr Kind zu sorgen. Es weist aber gleichzeitig der staatlichen Gemeinschaft die Aufgabe zu, den Schutz des Kindes zu garantieren, wenn die Eltern ihrer Verantwortung nicht nachkommen und dadurch das Wohl des Kindes gefährden. Dabei ist auch die Frage nach der Verantwortung von Behörden, Kindereinrichtungen, Ärzten, Schulen, Jugendämtern, dem sozialen Umfeld, der Polizei und anderen zu stellen, die sich differenziert für das Kindeswohl einsetzen sollen oder müssen.

Kinderschutz kann nicht nur das gesunde Aufwachsen von Kindern gewährleisten, sondern soll auch sichern, dass diese nicht selbst später als Erwachsene gewalttätig oder in anderer Weise straffällig werden.

„Gewaltsame Interaktionen im Elternhaus stehen in enger Beziehung zu psychosozialen Störungen, zum Auftreten von sozial abweichendem Verhalten und Kriminalität im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter. Misshandlungserlebnisse wirken sich negativ auf die somatische und psychische Entwicklung und Wertvorstellung beim Kind sowie letztlich desozialisierend aus. Gewalt in der Familie wird somit als „Schlüssel zur Gewalt“ in der Gesellschaft angesehen.“ (Freistaat Thüringen, Ministerium für Soziales, Familie und Gesundheit 2007, Thüringer Leitfaden für Ärzte, S. 10)

Nicht selten wirken die Folgen für die misshandelten, missbrauchten oder vernachlässigten Opfer ein Leben lang. Kinder können zu Pflegefällen werden und damit einhergehende volkswirtschaftliche Schäden sind im Einzelfall eine weitere traurige Konsequenz.

Obwohl häufig nicht nur Mitarbeiter von Institutionen und andere Menschen Hinweise auf Kindeswohlgefährdungen wahrnehmen, wird oftmals nicht rechtzeitig gehandelt.

Angesichts der über 10 000 Bücher und Zeitschriften, die sich als Referenz-Bibliothek „Informationszentrum Kindesmisshandlung und Kindesvernachlässigung (IKK)“ am Deutschen Jugendinstitut in München befinden, scheint es vermessen, sich neuerlich diesem Thema zuzuwenden.

Gerade diese Fülle an Literatur gebietet es jedoch, die wesentlichen Informationen zu komprimieren, die es der Polizei ermöglichen, erfolgreich präventiv und repressiv auf diesem Gebiet tätig zu werden.

Die Polizei wird meistens erst informiert, wenn die Kindeswohlgefährdung strafrechtliche Relevanz aufweist. Nicht selten erhält sie aber auch im Zusammenhang mit präventiven Einsätzen Kenntnis von Fällen der Kindeswohlgefährdung. Die eingangs bereits erwähnten Institutionen und Personen, die für den Schutz der Kinder verantwortlich bzw. an ihm beteiligt sind, erfordern für die Polizei unabdingbar eine wirksame Zusammenarbeit mit allen Verantwortlichen. Nach dem Bekanntwerden gravierender Fälle von Kindesmisshandlung und Vernachlässigung wurden in den letzten Jahren die Bemühungen vor allem darauf gerichtet, wirksame Netzwerke aller Beteiligten zu etablieren.

Anliegen dieses Studienbriefes ist es somit, Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten, aber auch anderen am Kinderschutz Beteiligten, die originären Aufgaben bei der Bearbeitung von Kindesmisshandlungen, Kindesvernachlässigungen und sexuellem Missbrauch zu verdeutlichen, die rechtlichen Grundlagen des Kinderschutzes sowie die konkreten Straftatbestände darzustellen und die sich daraus ergebenden Ermittlungshandlungen zu erläutern. Darüber hinaus sollen die Verantwortung all jener, die aktiv am Kinderschutz mitwirken erörtert und Möglichkeiten aufgezeigt werden, wie deren Vernetzung effektiv zu gestalten ist.

Mein Dank gilt Herrn Dr. Frank Menzer, der mittels seiner kompetenten redaktionellen Beratung wesentlich zum Gelingen dieser Schrift beigetragen hat.

Reingard Nisse

Bernau, Januar 2012

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Zur Einführung: Ein kurzer historischer Überblick

1

Begriffsbestimmungen/Statistik

1.1

Begriff Kindeswohlgefährdung

1.2

Formen der Kindeswohlgefährdung

1.3

Verbreitung im Hell- und Dunkelfeld

2

Rechtliche Grundlagen des Kinderschutzes

2.1

Internationale und europäische Beschlüsse

2.2

Verankerung des Kinderschutzes im Grundgesetz

2.3

Regelungen im Zivil-und Sozialrecht

2.3.1

Bürgerliches Gesetzbuch (BGB)

2.3.2

Kinder- und Jugendhilfe Sozialgesetzbuch (SGB) VIII

2.3.3

Weitere gesetzliche Grundlagen des Kinderschutzes

2.4

Ausgestaltung des strafrechtlichen Schutzes

3

Körperliche und seelische Kindesmisshandlung

3.1

Begehungsweisen

3.2

Täter und Täterinnen

3.3

Die Opfer und die Folgen der Tat

4

Kindesvernachlässigung

4.1

Begehungsweisen

4.2

Täter und Täterinnen

4.3

Die Opfer und die Folgen der Tat

5

Sexueller Missbrauch von Kindern

5.1

Begehungsweisen

5.2

Täter und Täterinnen

5.3

Die Opfer und die Folgen der Tat

5.3.1

Warum die Opfer schweigen

5.3.2

Die Folgen der Tat

5.4

Aspekte der Kinderpornografie

6

Tötungsdelikte an Kindern

6.1

Tötungen durch Misshandlungen

6.2

Tötungen mit sexueller Motivation

6.3

Tötungen infolge von Vernachlässigung

7

Wesentliche Anforderungen an die polizeiliche Arbeit

7.1

Gefahrenabwehr

7.1.1

Grundsätzliche Bestimmungen

7.1.2

Kindeswohlgefährdung bei polizeilichen Einsätzen erkennen

7.2

Strafverfolgung

7.2.1

Allgemeine Anforderungen an die strafverfolgende Tätigkeit bei Kinderschutzdelikten

7.2.2

Spezielle Anforderungen an den Ersten Angriff

7.2.3

Zeugenvernehmung des Kindes

7.2.3.1

Voraussetzungen

7.2.3.2

Taktische Grundregeln bei der Befragung von Kindern

8

Prävention und schnelle Reaktion bei Kindeswohlgefährdung durch Zusammenarbeit mit externen Partnern

8.1

Jugendhilfe

8.2

Kindereinrichtungen und Schulen

8.3

Kinder- und Jugendgesundheitsdienst

8.4

Netzwerke

8.4.1

Grundsätzliche Anforderungen

8.4.2

Erfahrungen zu Netzwerken in der Praxis

8.4.3

Die Kinderschutz-Hotline

Anlagen

Zur Autorin

Literatur- und Quellenverzeichnis

Gesetze/Richtlinien

Zur Einführung:Ein kurzer historischer Überblick

Nach heutiger Auffassung „gehören“ Kinder der Allgemeinheit, sie sind nicht, wie ehedem, ausschließlich „Eigentum“ der Eltern, über das diese nach Belieben verfügen können. Vom Beginn der Antike bis zum 6. Jahrhundert n. Chr. hatten Kinder keinen eigenen gesellschaftlichen Wert.1

„Diese Epoche war gekennzeichnet durch eine allgemeine soziale Akzeptanz des Kindermords.“2

Im altrömischen Recht erhielt der Vater Verfügungsgewalt über das Schicksal seines Kindes. Er hatte es gezeugt und so stand es nach damaliger Meinung in seiner ausschließlichen Macht, es zu töten oder am Leben zu lassen. Das neugeborene Kind wurde ihm gebracht und vor ihm auf die Erde gelegt. Hob er es hoch, so nahm er es durch diese Handlung in die Hausgemeinschaft auf und verlieh ihm dadurch die Eigenschaft, Träger von Rechten zu sein. Ließ er das Kind jedoch liegen, so bedeutete das dessen Aussetzung und damit den Tod.

Die Römer setzten Säuglinge schon dann aus, wenn die Fortpflanzung des Geschlechtes gesichert schien oder wenn die Gefahr bestand, das Vermögen durch eine Vielzahl von Kindern in allzu kleine Teile zu splitten. Damals bereits erlassene Gesetze zum Schutz der Kinder blieben ohne Wirkung.

Die Griechen beurteilten bereits den Ehepartner unter dem Aspekt, inwieweit er gesunde Kinder zeugen bzw. gebären könne. Gleiches galt auch nach altem deutschen Recht und wurde im alten China so gehandhabt.

In Sparta wurden lebensunfähige Kinder gleich nach der Geburt in ein tiefes Tal gestürzt. In vielen Völkern und Religionen waren rituelle Kinderopfer verbreitet.

Im Mittelalter wurden unerwünschte Kinder nicht mehr getötet, sondern weggegeben, oft in Klöster. Kinder der höheren Schichten lebten meist eher mit den Bediensteten zusammen, während die Kinder der unteren Schicht schon frühzeitig hart arbeiten mussten.

Bis ins 19. Jahrhundert hinein wurden viele Babys in Europa zu Säugammen gegeben, wo sie das erste Lebensjahr meistens nicht überlebten.3

Die väterliche Zucht- und Strafgewalt blieb jedoch lange Zeit bestehen. Ihr unterlagen die Ehefrau, Söhne und Töchter und die Sklaven in gleicher Weise. Sie wurde durch körperliche Züchtigung, Einsperrung oder Verbannung vollzogen. Die körperliche Züchtigung blieb bis ins 20. Jahrhundert hinein erhalten. Scheck kommt aufgrund einer Analyse von 90 Autobiografien von Männern und Frauen aus Deutschland, die zwischen 1740 und 1820 geboren wurden, zu der Einschätzung:

„Es gibt fast keinen von mir untersuchten Text, der nicht über Gewalt gegen Kinder berichtet und fast kein(e) Autor(in), der/die nicht sagt oder andeutet, als Kind geschlagen worden zu sein.“4

Ab dem 18. Jahrhundert erkannte man die Kindheit als eine Lebensperiode, die gegenüber Normen und Traditionen der Erwachsenen einen eigenen Wert besitzt. Doch auch die sich ausbreitende Institution Schule verzichtete nicht auf die Prügelstrafe als „Erziehungsmittel“. Sogar sorgfältig ausgesuchte Methoden der Schmerzzufügung, wie auf Erbsen oder Holzscheiten knien zu lassen, mit Nadeln zu stechen, mit dem Rohrstock auf die Hände zu schlagen sowie auf Brennnessel legen zu lassen, waren an deutschen Schulen üblich. De Mause zieht eine schreckliche Bilanz:

Ein deutscher Lehrer rechnete aus, er habe während seines Berufslebens 911 527 Stockschläge, 124 000 Peitschenhiebe, 136 715 Schläge mit der Hand und 1 115 800 Ohrfeigen verteilt.5

Erst ab dem 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts wurde der ganze Bereich, der sich mit der Ausbildung von Kindern befasste, neu gestaltet.

„Man kann sogar sagen, dass das Kind eine Entdeckung des 19. Jahrhunderts ist.“6

Wesentlich dafür war die christliche Vorstellung vom Kind als dem unschuldigen und damit schützenswerten Wesen.7 Im Verlauf des 19. Jahrhunderts wurden in Preußen, Baden und Bayern strafrechtliche Bestimmungen zum Schutz vor Kindesmisshandlungen in Kraft gesetzt. Der Staat begann, sich zunehmend um das Wohl des Kindes zu kümmern, wobei den Eltern das uneingeschränkte Züchtigungsrecht vorbehalten blieb.

Erinnert sei allerdings auch an die unmenschliche Ausbeutung von Kindern im 18. und 19. Jahrhundert durch Kinderarbeit.

Bis weit in das 19. Jahrhundert betrug die Arbeitszeit von Kindern in den Manufakturen 13 bis 14 Stunden, manchmal auch 16 Stunden; zum Teil verbunden mit deren Anketten an Maschinen und „Munterhalten“, indem der Kopf in einen Wasserbottich gesteckt wurde.

Doch im 19. Jahrhundert entstanden auch die ersten Kinderschutzverbände, 1871 in New York, 1884 in Großbritannien und 1953 in Deutschland.

Ab Mitte des 20. Jahrhunderts setzte sich die Auffassung durch, als obersten Wert die Unterstützung und Förderung des Kindes bei seiner Entwicklung zu einer individuellen Persönlichkeit anzuerkennen, d.h. Kind und Eltern sind gleichberechtigt und ein Machtgefälle ist zu vermeiden.

Bereits ein Jahr nach Ende des Zweiten Weltkrieges wurde UNICEF (United Nations International Children‘s Emergency Fund) als eine Unterorganisation der Vereinten Nationen gegründet.

Weltweite Beachtung erfuhr das Problem der körperlichen Kindesmisshandlung und -vernachlässigung mit der Veröffentlichung der Arbeiten von C. Henry Kempe in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts. Kempe war Professor für Kinderheilkunde in den USA. In Deutschland entstand unter Leitung des Soziologen Reinhard Wolff 1976 das erste deutsche Kinderschutzzentrum in Berlin.

Diese und andere Aktivitäten führten mit zur Entstehung der International Society for the Prevention of Child Abuse and Neglect (ISPCAN) im Jahre 1977 als eine der ersten weltweiten professionellen Mitgliederorganisationen zum Schutz und zur Prävention misshandelter und vernachlässigter Kinder.8

Im Jahre 1959 verkündete die Generalversammlung der neugegründeten Vereinten Nationen in feierlicher Form die „Declaration of the Rights of the Child“, die als maßgeblicher Ausgangspunkt der späteren Kinderrechtskonvention betrachtet werden kann.

Initiiert wurden die folgenden vielfältigen Maßnahmen zum Kinderschutz in Deutschland wesentlich durch den Beitritt zur Kinderrechtskonvention der UNO, der am 26.2.1990 erfolgte. In der Bundesrepublik Deutschland trat diese am 5.4.1992 in Kraft.9 Es folgte die Initiative der Bundesregierung mit dem Nationalen Aktionsplan für ein kindgerechtes Deutschland. Auf die entsprechenden Gesetzesänderungen wird im Folgenden eingegangen. Der Kinderschutz verfolgt neben dem humanitären Anliegen, Kinder vor Schmerz und Demütigung zu bewahren, wesentlich das Ziel, die Gesellschaft vor künftigen Handlungen der misshandelten und vernachlässigten Kinder zu schützen, deren Übernahme von Gewalttätigkeiten sowie deren Entwicklung zu Straf-Tätern. Zur Erfüllung dieses Zieles hat sich die Notwendigkeit einer multiprofessionellen Prävention und Intervention immer mehr herauskristallisiert und die praktische Arbeit geprägt.

In diesem Sinne kündigte am 26.1.2010 die Bundesfamilienministerin Kristina Köhler (jetzt: Schröder) an, ein Kinderschutzgesetz auf den Weg zu bringen, das Prävention und Intervention gleichermaßen stärken solle. Bei einem Fachgespräch steckten Kinderschutz-Expertinnen und -Experten aus Ländern, Kommunen und von Fachorganisationen die Rahmenbedingungen für das neue Kinderschutzgesetz ab. Mit der Expertenrunde wurde der Gesprächsfaden aus der letzten Legislaturperiode wieder aufgenommen.10 Am 14.12.2010 stellte das Ministerium Eckpunkte des neuen Gesetzes vor, das eine verbesserte Intervention und Prävention im Kinderschutz beinhaltet. Der Bundesrat unterstützte die zentralen Regelungsbereiche des Gesetzes. In wenigen Punkten vertraten die Länder eine abweichende Meinung, am 16.3.2011 wurde es durch das Kabinett verabschiedet. In der Sitzung im Dezember hatte der Bundesrat des Weiteren der Reform des Vormundschaftsrechts zugestimmt. Der von der Bundesjustizministerin vorgelegte Entwurf sieht vor, den persönlichen Kontakt des Vormunds zu den betreuten Kindern zu stärken:

„Die Bundesregierung wird den Schutz von Kindern in Deutschland umfassend und wirksam verbessern. Wesentlich sind dabei Leitlinien zur Sicherung der Rechte von Kindern und Jugendlichen, die Vorlage eines erweiterten Führungszeugnisses sowie eine engere Zusammenarbeit der Jugendämter beim Umzug einer Familie und der verstärkte Einsatz von Familienhebammen.

Prävention und Intervention sollen den Schutz der Kinder stärken. Das Gesetz basiert auf Erkenntnissen des Aktionsprogramms „Frühe Hilfen“ und greift Erfahrungen aus der Arbeit der Runden Tische „Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren“ und „Sexueller Kindesmissbrauch“ auf. Das Bundeskinderschutzgesetz soll am 1.1.2012 in Kraft treten.

Die Geburt eines Kindes stellt jede Familie vor neue Herausforderungen. Wenn das Familiensystem belastet und keine Unterstützung vorhanden ist, können Eltern zeitweise mit der Erziehung des Kindes überfordert sein. In solchen Situationen brauchen Familien eine niedrigschwellige und alltagstaugliche Unterstützung. Der Aus- und Aufbau von Netzwerken Früher Hilfen ist ein wichtiger Schwerpunkt der Kinder- und Jugendpolitik des Bundesfamilienministeriums.

Mit dem Aktionsprogramm „Frühe Hilfen für Eltern und Kinder und soziale Frühwarnsysteme“ des Bundesfamilienministeriums wurde eine wichtige Grundlage geschaffen, das gesunde und gewaltfreie Aufwachsen von Kindern und deren Schutz vor Vernachlässigung und Misshandlung durch frühzeitige Hilfe zu fördern. Um die Entwicklung Früher Hilfen bundesweit zu unterstützen wurde das Nationale Zentrum Frühe Hilfen eingerichtet.“11

Wesentliche Eckpunkte für alle Institutionen enthält des Weiteren der „Aktionsplan 2011 der Bundesregierung zum Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexueller Gewalt und Ausbeutung“, herausgegeben vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.12

 

1  Petzold 1999, S. 9 ff.

2  www.arbeitsblaetter.stangl.at/ERZIEHUNG/Geschichte-Erziehung-shtml, S. 1.

3  de Mause 1980, S. 59.

4  Scheck 1987, S. 28 ff.

5  de Mause, a.a.O., S. 30.

6  www.arbeitsblaetter.stangl.at/ERZIEHUNG/Geschichte-Erziehung-shtml, S. 1.

7  Bange 2005, S. 15.

8  Ebenda, S. 19.

9  Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2007.

10 www.mbjs.brandenburg.de

11 www.bmfsfj.de...

12 Ebenda.

1 Begriffsbestimmungen/Statistik

1.1 Begriff Kindeswohlgefährdung

In der Kinderrechtskonvention ist im Artikel 3 (1) formuliert:

„Bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, gleichviel ob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialen Fürsorge, Gerichten, Verwaltungsbehörden oder Gesetzgebungsorganen getroffen werden, ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist.“13

Was aber ist unter dem Aspekt des Kindeswohls zu berücksichtigen?

Eine eindeutige Definition des Begriffs Kindeswohl lässt sich in der Literatur und in den einschlägigen Gesetzen nicht finden. Dennoch gilt er als Orientierungs- und Entscheidungsmaßstab familiengerichtlichen bzw. kindschaftsrechtlichen Handelns.14

Die Kategorie Kindeswohl stellt einen unbestimmten Rechtsbegriff dar, einen wertenden Begriff, der stark psycho-sozialer Natur ist.

So dient er zur Legitimation für staatliche Eingriffe und ist Maßstab vieler rechtlicher Maßnahmen. Andererseits betrifft das Kindeswohl so viele psychologische, erzieherische, gesundheitliche, bildungspolitische, soziologische, zivil-, straf- und familienrechtliche Belange, dass ohne diese Kategorie die Schwierigkeit bestünde, einen Maßstab für die gedeihliche Entwicklung von Kindern zu definieren.

Maywald schlägt folgende Definition vor: „Ein am Wohl des Kindes ausgerichtetes Handeln ist dasjenige, welches die an den Grundrechten und Grundbedürfnissen von Kindern orientierte, für das Kind jeweils günstigste Handlungsweise wählt.“15

In der vom Kinderschutz-Zentrum Berlin veröffentlichten Schrift „KINDESWOHLGEFÄHRDUNG erkennen und helfen“ werden dem Kindeswohl folgende Kriterien zugeordnet:

•   Bedürfnis nach beständigen liebevollen Beziehungen.

•   Das Bedürfnis nach körperlicher Unversehrtheit, Sicherheit und Regulation.

•   Das Bedürfnis nach individuellen Erfahrungen.

•   Bedürfnis nach entwicklungsgerechten Erfahrungen.

•   Bedürfnis nach Grenzen und Strukturen.

•   Bedürfnis nach stabilen, unterstützenden Gemeinschaften und kultureller Kontinuität.

•   Bedürfnis nach einer sicheren Zukunft.16

Letztlich definieren die Eltern in Ausübung ihres Rechts zur Pflege und Erziehung ihrer Kinder gem. Artikel 6 des Grundgesetzes die jeweils dem Alter des Kindes angemessenen Maßnahmen zu dessen Wohl. Ist dieses gefährdet, übt die staatliche Gemeinschaft ein Wächteramt aus.

Die unterschiedlichen Aspekte, die bei der Betrachtung des Kindeswohls zu berücksichtigen sind, bewirken gleichermaßen eine Unbestimmtheit des Begriffs „Kindeswohlgefährdung“. Laut Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGHFamRZ 1956,350=NJW 1956, 1434) handelt es sich bei Kindeswohlgefährdung um„eine gegenwärtige, in einem solchen Maße vorhandene Gefahr, dass sich bei der weiteren Entwicklung eine erhebliche Schädigung mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt.“

Das Kinderschutz-Zentrum Berlin bietet folgende Definition an:

„Kindeswohlgefährdung

•   ist ein das Wohl und die Rechte eines Kindes (nach Maßgabe gesellschaftlich geltender Normen und begründeter professioneller Einschätzung)

•   beeinträchtigendes Verhalten oder Handeln bzw. ein Unterlassen einer angemessenen Sorge

•   durch Eltern oder andere Personen

•   in Familien oder Institutionen (wie z.B. Heime, Kindertagesstätten, Schulen, Kliniken oder in bestimmten Therapien),

•   das zu nicht-zufälligen Verletzungen,

•   zu körperlichen und seelischen Schädigungen

•   und/oder Entwicklungsbeeinträchtigungen eines Kindes führen kann,

•   was die Hilfe und eventuell das Eingreifen

•   von Jugendhilfe-Einrichtungen und Familiengerichten

•   in die Rechte der Inhaber der elterlichen Sorge

•   im Interesse der Sicherung der Bedürfnisse und des Wohls des Kindes notwendig machen kann.“17

Diese Definition beschreibt den Begriff der Kindeswohlgefährdung richtigerweise als eine Kategorie, die auf präventive Eingriffe zur Gewährleistung des Kindeswohls abzielt. In einem möglichst frühzeitigen Stadium soll Hilfe geleistet werden. Hier sind in erster Linie die Institutionen angesprochen, die zur Hilfeleistung gesetzlich verpflichtet sind.

Wann tatsächlich eine Gefährdung vorliegt, ist trotz der Definition nicht eindeutig festzulegen. Die Kindeswohlgefährdung wird an ein Verhalten gebunden, das nach Maßgabe gesellschaftlich geltender Normen und begründeter professioneller Einschätzung als schädigend gilt. Es ist eine Frage der gesellschaftlichen Entwicklung und der entsprechenden Rechtsetzung, inwieweit Kinder der elterlichen (oder anderer Erziehungsverantwortlichen) ausgesetzt waren oder sind. „Wer sein Kind liebt, der züchtigt es“ oder „Gelobt sei, was hart macht“ sind Maximen für Erziehungspraktiken, die noch in den 30er und 40er Jahren des 20. Jahrhunderts bei den Eltern anerkannt waren.

„Was in einer Gesellschaft, zu einer bestimmten Zeit, in einer bestimmten Schicht, unter bestimmten Umständen im Umgang mit Kindern als normal angesehen wird und was nicht, ist Wandlungen unterworfen, ist grundsätzlich kontrovers und gilt nicht absolut.“18 (1980 wurde im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) der Begriff der „elterlichen Gewalt“ durch den der „elterlichen Sorge“ ersetzt. Erst seit 2000 ächtet das BGB ausdrücklich elterliche Gewalt.) Trotz der bereits erwähnten Kriterien zum Kindeswohl wird auch heute noch kontrovers diskutiert, was tatsächlich als Kindeswohlgefährdung anzusehen ist. Besonders schwierig gestaltet sich eine sichere Bewertung bei der Kindesvernachlässigung, wie im Folgenden noch dargestellt wird.

Wenn man nach Abwägung aller relevanten Gesichtspunkte zum Schluss kommt, dass in einer konkreten Situation eine Gefährdung vorliegt, konstruiert man ein Geschehen als Kindeswohlgefährdung und entwirft damit eine nie von allen Seiten geteilte, bestimmten Wertmaßstäben und Kriterien verpflichtete Version, die „ein Ergebnis sozialen Aushandelns (‚social negotiation‘) zwischen unterschiedlichen Wertvorstellungen und Überzeugungen, unterschiedlichen sozialen Normen und professionellen Auffassungen und Sichtweisen über Kinder, kindliche Entwicklung und elterliche Sorge ist”19.

Angesichts dieser Definitionsschwierigkeit wird deutlich, warum es in der Praxis oft Probleme bereitet, die Einschreitschwelle zu bestimmen.

Wann ein Einschreiten als notwendig bzw. überhaupt hilfreich angesehen wird, ist oft eine schwierige Entscheidung und manchmal leider erst eindeutig, wenn physische und/oder psychische Schäden beim Kind eingetreten sind. Meistens sind Kindesmisshandlung, Vernachlässigung und Kindesmissbrauch Indikatoren für tiefer liegende Probleme in der Familie.

In der Psychologie, Pädiatrie und Sozialarbeit wird bereits dann von Gefährdung gesprochen, wenn aufgrund vorliegender Risikofaktoren oder erkennbarer Schwierigkeiten die Wahrscheinlichkeit eines ungünstigen Entwicklungsverlaufes beim Kind als deutlich erhöht angesehen wird.20

Kindeswohlgefährdung kann durch Eltern oder andere Personen erfolgen, im häuslichen Milieu oder in anderen Institutionen. Damit werden die Dimensionen hinsichtlich der beteiligten Verantwortlichen deutlich.

Die Definition offenbart das Spannungsfeld zwischen der Entscheidung zur Hilfeleistung und dem Eingriff in die Rechte der Sorgeberechtigten.

Nur nach Scheitern aller anderen Möglichkeiten erfordert der Kinderschutz den Eingriff in das Elternrecht – so der Grundsatz. Eltern, die ihr Verhalten gegenüber ihrem Kind positiv ändern, sind für das Kindeswohl immer besser als jede professionelle Erziehung durch Fremde. Je mehr ein Kind aber den Umständen, die ihm schaden, ausgeliefert ist, desto eher muss verhindert werden, dass es der Unfähigkeit und Willkür von unfähigen bzw. unwilligen Eltern ausgesetzt ist.

1.2 Formen der Kindeswohlgefährdung

In der Literatur wird teilweise zwischen inner- und extrafamiliärer Kindeswohlgefährdung unterschieden.21 Da bei dieser Art der Unterteilung zu viele Überschneidungen auftreten, wird die Charakterisierung der Formen von Kindeswohlgefährdung nach der Art der Einwirkung bzw. Unterlassung bevorzugt.

In diesem Sinne werden als Formen der Kindeswohlgefährdung unterschieden:

– Körperliche Misshandlung (auch Münchhausen Stellvertreter-Syndrom)

– Seelische Misshandlung/Deprivation

– Vernachlässigung

– Sexueller Missbrauch/Sexuelle Ausbeutung