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Die Original-Dissertation als eBook – Grundlage für ISBN 978-3-89771-065-8 »Die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen.« Dieser Satz beschreibt die Essenz dessen, was Ziel des zapatistischen Aufstandes ist. Wir wissen zwar, dass die Zapatist*innen ihre autonomen Verwaltungsstrukturen als ›Demokratie des gehorchenden Regierens‹ organisieren, doch wie eine solche Praxis konkret aussieht – und ob sie sich vielleicht auch in anderen Breitengraden als linke Praxis empfiehlt – war bis jetzt kaum nachvollziehbar. Das Buch des promovierten Rechtswissenschaftlers Simon Schuster liefert nun beeindruckende und aufschlussreiche Antworten.
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Seitenzahl: 846
Veröffentlichungsjahr: 2018
Simon Schuster
Demokratie des gehorchenden Regierens
Grundzüge einer »Verfassung der autonomen zapatistischen Territorien«
Dissertation zur Erlangung des Grades eines
Doktors des Rechts
des Fachbereichs
Rechts- und Wirtschaftswissenschaften
der Johannes Gutenberg-Universität Mainz
vorgelegt von
Ass. Iur. Dr. Simon Schuster
in Mainz
2017
Simon Schuster
Demokratie des gehorchenden Regierens
ebook UNRAST Verlag, Juni 2018
ISBN 978-3-95405-025-3
© UNRAST-Verlag, Münster
Fuggerstraße 13a, 48165 Münster - Tel. 02501-9178790
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Erstberichterstatter: Prof. Dr. iur. Dieter Dörr
Zweitberichterstatter: Prof. Dr. iur. Matthias Cornils
Tag der mündlichen Prüfung:
19. September 2016
Kapitel 1 - Einleitung und Methode
A. Einleitung
B. Ein Verfassungsentwurf als Untersuchungsgrundlage
I. Herausforderungen für eine Verfassungskonstitution
II. Zapatismus als verfasste Gemeinschaft?
III. Das Konzept des Verfassungsstaates
1. Der Begriff „Staat“
2. Der Begriff der „Verfassung“ und der „Staatsgewalt“
a) Verfassungsfunktion in einer staatlichen Gemeinschaft
b) Verfassung als Ausdruck einer demokratischen Willensbildung
c) Zur Verteilung der Staatsgewalt
3. Schlussfolgerung
IV. Die fiktive Staatlichkeit der zapatistischen Autonomiegebiete
C. Verfassungsentwurf als Analysetool
D. Grundlegende Fragen an verfassungsrechtliche Strukturen
I. Legitimation der Hoheits- und Entscheidungsgewalt durch die base de apoyo
II. Kompetenzverteilung und Entscheidungsfindungsprozess
III. Gewaltenteilung und Machtkontrolle
IV. Staat-Bürger-Verhältnis – Beziehung der Bürgerinnen und Bürger zum Staat
Kapitel 2 - Entwurf einer „Verfassung der autonomen, zapatistischen Territorien“
A. Die Verfassung
B. Organigramm
Kapitel 3 - Der Zapatistische Aufstand und seine Hintergründe
A. Historische Hintergründe
I. (Spät-)Kolonialismus und Porfiriat (1840 – 1910)
1. Lebenssituation der Indígena im (Spät-)Kolonialismus
2. Macht- und Landkonzentration unter Porfirio Díaz
II. Die mexikanische Revolution und die neue Verfassung (1910 – 1920)
1. Der Revolutionsverlauf
2. Die mexikanische Verfassung von 1917
a) Die Gemeindereform von 1917
(1) Die verfassungsrechtliche Ausgestaltung der Gemeindefreiheit
(2) Die Gemeindefreiheit nach Emiliano Zapata
(3) Einfluss der Gemeindereform auf den Zapatismus
b) Die Landreform von 1917
(1) Die Entwicklung der Landfrage
(2) Rechtliche Neuordnung des Eigentums durch Art. 27 CF 1917 und das Ejido
(3) Die Bedeutung des Ejido bis zu seiner Reform 1992
(4) Bedeutung für die zapatistische Bewegung
3. Würdigung der mexikanischen Revolution
III. Mexiko bis zum Beginn der Rebellion (1920 – 1994)
1. Das neue politischen System Mexikos – Die Jahre 1920 – 1940
2. Hintergründe der Emanzipation der Gesellschaft – Die Jahre 1940 bis 1994
a) Soziale Unruhe und die Ursprünge der partizipatorischen Politik der Zapatista – Die Jahre 1940 bis 1983
b) Das Anfänge des Zapatismus – Die Jahre 1983 bis 1994
(1) Die Gründung der EZLN – Die ersten Jahre
(2) Die Anfänge der Transformation der EZLN
(3) Entwicklung der Organisationsstrukturen der EZLN im Untergrund
IV. Die Entwicklung des Zapatismus seit Beginn des Aufstandes (1994 – 2013)
1. Aufstand im Zeichen des Dialogs – Die Jahre 1994 bis 2003
a) Zwölf Tage Krieg und der Beginn des Dialogs
(1) Die Zweite Erklärung aus dem lakandonischen Urwald
(2) Die Gründung der autonomen Landkreise
b) Die Verhandlungen von San Andrés Sacamch´en
(1) Der Dialog der EZLN mit der Regierung
(2) Der Dialog mit der Zivilgesellschaft
c) Die zapatistische Bewegung im Lichte des gescheiterten Dialogs – Die Jahre 1997 – 2003
2. Zur Geburt der Caracoles im August 2003
3. Die Entwicklung unter den Vorzeichen der „Otra Campaña“
a) „La Sexta“ und die „Otra Campaña“
b) „Sie und Wir“ und die „Escuelita Zapatista“
V. Ergebnis: Zapatistische Selbstverwaltungsstrukturen als Lehre aus der Historie
B. Gesellschaftliche Hintergründe des Zapatismus
I. Einfluss der indigenen Traditionen im Zapatismus
1. Einfluss der Lebenswirklichkeit der Indigenen
2. Einfluss von Religion und Sprache der Indigenen
3. Ergebnis
II. Der Einfluss gesellschaftlicher Theorien im Zapatismus
1. Die Ansätze des Multikulturalismus im Zapatismus
2. Der Einfluss der zapatistischen Kapitalismuskritik auf Theorie und Praxis
a) Das politische Konstrukt des „Kapitalismus der neoliberalen Globalisation“
b) Die demokratische Alternative des Zapatismus
c) Ergebnis
Kapitel 4 - Die Forderung nach Autonomie im Zapatismus
A. Die Entwicklung der Autonomieforderung in der zapatistischen Bewegung
I. Der zapatistische Autonomiebegriff im Kontext ihrer Demokratievorstellungen
II. Zapatistische Autonomie als Rahmen für indigene Rechte
B. Die Übereinkommen von San Andres
I. Der Begriff der Autonomie und seine staatsrechtliche Bedeutung
1. Autonomie als Recht auf territoriale Selbstverwaltung
2. Autonomie und Staatlichkeit
a) Der Identitätskonflikt zwischen Autonomie und Staat
b) Die staatsorganisationsrechtlichen Auswirkungen von Autonomie
II. Die Ausgestaltung des Autonomierechts in den Übereinkommen von San Andrés
1. Inhalt der Übereinkommen von San Andrés
2. Der „Neue Föderalismus“ als zapatistisches Autonomierecht
III. Zusammenfassung: Das zapatistische Autonomieverständnis
C. Die staatsrechtliche Dimension des zapatistischen Autonomieverständnisses
Kapitel 5 - Würde und Demokratie im Zapatismus
A. „Würde“ und „Demokratie“ als Verfassungsprinzipien zapatistischer Autonomie
I. Bedeutung und Wirkung verfassungsrechtlicher Strukturprinzipien am Beispiel des Grundgesetzes
II. Bedeutung und Wirkung von Würde und Demokratie als Strukturprinzipien im Zapatismus
B. „Würde“ – Zwischen grundgesetzlichem und zapatistischem Würdeverständnis
I. Die Menschenwürde im deutschen Verfassungsrecht
1. Evolution des Menschenwürdebegriffs
a) Würdebegriff in der christlichen Lehre
b) Würdebegriff in der Vernunftphilosophie
c) Einfluss des Würdeverständnisses auf das Staatsrecht
2. Die Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes
a) Die Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG
b) Die Menschenwürdegarantie als grundlegende Strukturnorm im Grundgesetz
c) Zusammenfassung
3. Alternativ: Würde als Relations- und Achtungsbegriff
II. „La Dignidad Indígena“ – Über das zapatistische Würdeverständnis
1. Die „Brücken-These“
2. Hintergründe des zapatistischen Würdeverständnisses
a) Die Cosmovisión Maya und die Linguistik der indigenen Sprache
(1) Lenkersdorfs linguistische Untersuchung indigener Sprachen
(2) Rückschlüsse auf das Würdeverständnis
b) Die „La Historias“ des Viejo Antonio
(1) „La Historias“ und Maya-Mythologie
(2) Das „Ich“ und „los otros“ – Gravitationszentrum einer zapatistischen Würdeauslegung
(3) Rückschlüsse auf das Würdeverständnis
3. Dignitas interna asociativa als zapatistisches Würdekonzept
a) „Eine Welt, in die viele Welten passen“ – Das zapatistische Würdekonzept
(1) Der Mensch als Träger von Würde
(2) Verfassungsrechtlicher Gehalt der zapatistischen Menschenwürde
b) Einfluss des Würdekonzepts auf die Verfassungsstruktur
C. „La Democracía Indígena“ – Über das zapatistische Demokratieverständnis
I. Zapatistische Gedanken zu einer demokratischen Ordnung
II. Demokratie des gehorchenden Regierens
1. Mandar Obedeciendo – Gehorchendes Regieren
2. Preguntando Caminamos – Fragendes Voranschreiten
Kapitel 6 - Die zapatistischen Selbstverwaltungsstrukturen
A. Evolution der Selbstverwaltungsstrukturen
I. Etablierung zapatistischer Selbstverwaltung
II. Abgrenzung der zivilen von den militärische Strukturen des zapatistischen Aufstandes
B. Der Autonomieprozess – Ein Beispiel
C. Ebenen zapatistischer Selbstverwaltung
I. Überblick über die Selbstverwaltungsstrukturen
II. Die Ebene der Zone – Das Caracol als Verwaltungszentrum
1. Die Asamblea de la Zona
2. Die Junta de Buen Gobierno
3. Weitere Gremien auf zonaler Ebene
III. Die regionale Ebene – MAREZ und die Gobierno Regional
1. Die Asamblea Municipal
2. Die Gobierno Regional – Consejo Autónomo Municipal und Comisiones
IV. Die kommunale Ebene – Die Gobierno Local und die Consulta
1. Gobierno Local
2. Die Consulta
V. Strukturelle Besonderheiten in den einzelnen Caracoles
1. Caracol I – La Realidad: Madre de los Caracoles, Mar de nuestros sueños
2. Caracol II – Oventic: Resistencia y rebeldía por la humanidad
3. Caracol III – La Garrucha: Resistencia hacia un nuevo amanecer
4. Caracol IV – Morelia: Torbellino de nuestras palabras
5. Caracol V – Roberto Barrios: Que habla para todos
VI. Fazit: Enge Verzahnung und Abhängigkeiten der Selbstverwaltungsstrukturen
D. Das organisationsrechtliche System der Selbstverwaltungsstrukturen
I. Demokratische Legitimation zapatistischer Selbstverwaltungsstrukturen
II. Kompetenzverteilung und Entscheidungsfindungsprozess
1. Grundlagen der Verteilung der Hoheits- und Entscheidungsgewalt
2. Die Kompetenzverteilung auf zapatistischem Territorium
a) Kompetenzen der Caracoles und der Junta de Buen Gobierno
b) Kompetenzen der Gobierno Regional und der Gobierno Local
c) Ergebnis
3. Rechte und Pflichten zapatistischer Repräsentanten
a) Das Sistema de Cargo
b) Pflichten der Cargo-Tragenden
c) Rechte der Cargo-Tragenden
d) Zusammenfassung
4. Der Entscheidungsfindungsprozess
a) Ablauf des Entscheidungsprozesses zwischen den Ebenen
b) Ablauf des Entscheidungsprozesses in den Asambleas
c) Ergebnis
III. Gewaltenteilung und Machtkontrolle
1. Die gewaltbegrenzenden Instrumente
2. Die gewaltkontrollierenden Instrumente
3. Ergebnis
IV. Zur Beziehung der Base de apoyo zur autonomen Selbstregierung
Kapitel 7 - Schlussbemerkung
Literaturverzeichnis
Kurzlebenslauf
Anmerkungen
Tabellenverzeichnis:
Tabelle 1: Die fünf Verwaltungszentren mit Namen und Anzahl der assoziierten autonomen Landkreise (Stand 2015).
Tabelle 2: Vergleich deutscher Grammatik mit Grammatik im Tojolalbal.
Abbildungsverzeichnis:
Abbildung 1: "Hier befiehlt das Volk und die Regierung gehorcht" (Eigenes Foto).
Abbildung 2: Grundaufbau der zivilen zapatistischen Selbstverwaltungsstrukturen in einer der fünf Zonen (Schuster/Djemaoun).
Abbildung 3: Karte der territorialen Ausbreitung der fünf zapatistischen Zonen im Bundesstaat Chiapas, Mexiko, mit deren Caracoles als Hauptstädte (Quelle: Barmayer, Developing Zapatista Autonomy, Preface / XVII).
Abbildung 4: Grundaufbau der zivilen zapatistischen Selbstverwaltungsstrukturen in einer der fünf Zonen (Schuster/Djemaoun).
Abbildung 5: Screenshot der offiziellen Webpage www.enlacezapatista.ezln.org.mx. der Zapatisten. Links die Denuncias der JBG, rechts die Comunicados der EZLN (Stand: 7. 11. 2014).
Seit nun mehr über 20 Jahren, genauer gesagt seit dem 1. Januar 1994, erprobt die zapatistische Bewegung in Chiapas, Mexiko, dem südlichsten Bundesstaat des Landes öffentlich ihre Formen der autonomen Entscheidungsfindung. Zusammen mit der zehnjährigen Konsolidierungsphase des Ejercito Zapatista de Libración Nacional (dt.: Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung, kurz: EZLN) im Untergrund blicken sie insgesamt auf über 30 Jahre intensiver Selbstorganisation zurück. Begleitet wurde ihr Aufstand seid jeher von der Forderung nach einem menschenwürdigen Leben. Die Anhänger der zapatitsichen Bewegung, mehrheitlich indigene Bauern, traten nicht dafür ein, vom mexikanischen Staat und seinen Behörden alimentiert zu werden. Was sie seid Beginn des Aufstandes forderten, warum sie sich mit Waffen erhoben, war die Forderung nach Respekt und Anerkennung gegenüber ihrer indigenen Identität und ihrer Lebensweise. Den Weg, den die Bewegung beschreiten wollte, war keiner, mit dem sich sie über die Interessen und Bedürfnisse des übrigen mexikanischen Volkes erheben wollten. Schon mit der Ersten Erklärung aus dem Lakandonischen Urwald vom 1. Januar 1994 forderten sie ihre Einbeziehung in die Nation und nicht Ausgrenzung und Segregation. Sie strebten für alle Bürgerinnen und Bürger des Staates Mexiko die Möglichkeit an, politischen und gesellschaftlich zu partizipieren. Ihr Vorstelleungen davon, wie ein solches demokratisches Projekt aussehen könnte, versuchen sie seit dem Beginn des Aufstandes auf den zapatistischen Territorien zu etablieren und weiterzuentwickeln.
Abbildung 1: "Hier befiehlt das Volk und die Regierung gehorcht" (Eigenes Foto).
Zur Grundlage ihrer demokratischen Ordnung machten sie das Prinzip des mandar obedeciendo (dt.: gehorchendes Regieren). Ihr Selbstverständnis bringen sie auch auf Straßenschildern zum Ausdruck, die sich verteilt über ihr gesamtes Einflussgebiet verteilen. Darauf ist zu lesen: „Aqui manda el Pueblo y el Gobierno Obedece“. Hier befiehlt das Volk und die Regierung gehorcht. So kann man auch vor einem ihrer fünf Verwaltungszentren, den sogenannten Caracoles (dt.: Schneckenhäuser), davon Zeugnis nehmen. Begeht man einen solchen Verwaltungssitz, bekommt man schnell einen Eindruck davon, wie weit sich die zapatistischen Selbstverwaltungsstrukturen in den vergangenen Jahren entwickelt haben und welche „Früchte“ ihre Bestrebungen tragen. Ein solcher Verwaltungssitz ist Sitz der Junta de Buen Gobierno (dt.: Rat der Guten Regierung), dem, wie sich im Laufe der Abhandlung zeigen wird, höchstem Verwaltungsgremium der zapatistischen Autonomiestrukturen. Es finden sich aber noch weitere Zeugnisse zapatistischer Selbstverwaltung. So befinden sich auf dem Gebiet der Caracoles die „Botschaften“ der den Zonen zugeordneten Municipios Autonomos Rebeldes Zapatistas (dt.: Autonome Zapatistische Landkreise in Rebellion, kurz MAREZ), Grund- und weiterführende Schulen, eine große Klinik, eine Apotheke und ein großes Versammlungshaus für die in regelmäßigen Abständen stattfindende Asamblea (dt.: Vollversammlung) sowie Verkaufsstände und Läden zapatistischer Arbeitskollektive, in denen sie Kaffee, Handwerkskunst und andere regionale Erzeugnisse verkaufen.
Der Aufstand, desen Beginn auf das Datum des Inkratftretens des Freihandelsabkommens zwischen den USA, Canada und Mexiko fällt, das sogenannte North Atlantic Free Trade Agreement (dt.: Nordatlantische Freihandelsabkommen, kurz NAFTA), begann als bewaffneter Aufstand und mit heftigen Kämpfen zwischen der zapatistischen Armee und den Regierungstruppen. Nach bereits zwölf Tagen aber endeten die Kampfhandlungen seitens der Zapatisten. Die Bewegung entschied sich in einen Dialog mit der Zivilgesellschaft zu treten. Diese Entscheidung führen sie bis heute fort. Ihre Beweggründe kommunizieren sie über das Internet in Deklarationen und Comunicados. Sie forderten Autonomie ein und eine „andere Politik“[1]. Nachdem nach langen Verhandlungen die Acuerdos de San Andrés (dt.: Übereinkommen von San Andrés) zwischen den indigenen Völkern und der mexikanischen Regierung verabschiedet worden waren, aber deren Umsetzung in nationales Verfassungsrecht ausblieb, entschlossen sich die Zapatisten umfangreiche Selbstverwaltungsstrukturen zu etablieren. Sie wirkten bei La Sexta und der Otra Campaña mit. Schnell prägte sich bei nationalen und internationalen Unterstützerinnen und Unterstützern das Schlagwort vom „Aufstand der Würde“ ein. Bekannt als Überschrift aus einer deutschen Dokumentation[2] und wahrscheinlich erfunden vom mexikanischen Politikwissenschaftler John Holloway[3] schien der Begriff der „Würde“ ein Verbindungsglied zwischen all diesen Entwicklungen zu sein. Ob es sich um das Prinzip des „Eine Welt, in die viele Welten passen“ handelt, das „gehorchende Regieren“, das „fragende Voranschreiten“ oder ihre Forderung „Nuncá más un México sin nosotros“ (dt.: Nie mehr ein Mexiko ohne uns), überall schien bei diesem Aufstand Würde als Bindeglied und Grundsatz zu fungieren. Ebenso verhielt es sich mit ihrem Anspruch, eine neue Form der Demokratie, eine indigene Demokratie entwickeln zu wollen, eine Demokratie des gehorchenden Regierens.
Wie die verschiedenen Ansätze und Prinzipien zu einander stehen und wie sie sich in den gelebten Zapatismus einpflegen, konnte von außen jedoch nicht nachvollzogen werden. Die Zapatisten schienen zwar eine politische Ordnung zu haben, nach der sich ihre Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse richten. Da sie aber keine geschriebene Verfassung haben, war es bisher nicht möglich, diese Ordnung zu verstehen oder nachzuvollziehen. Zur Ergründung ihrer Ordnung und der Ursachen dafür, müsste sie erst verschriftlich, das heißt verfasst werden. Über eine Verfassung könnte sich nachvollziehen lassen, wie Geschichte, Gesellschaft, Würde, Autonomie, Demokratie und Selbstverwaltung im Zapatismus zusammenhängen. Meine Vorstellung von den Darstellungen der Zusammenhänge in der zapatistischen Gesellschaft orientierte sich dabei am Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland. In ihr wird der Satz der unantastbaren Menschenwürde zum „Brennpunkt“[4] einer Ordnung, zum „obersten Konstitutionsprinzip“[5]. Die Menschenwürde im Grundgesetz errichtet über ihren Zusammenhang mit den Grundrechten eine Werteordnung der Gesellschaft und beantwortet die Fragen, warum die Menschen wie miteinander umgehen wollen. Diese Menschenwürde als Grundlage einer staatlichen Ordnung macht eine Demokratie zur verbindlichen Art der Regierungsform und entscheidet darüber weiter über das Staatsorganisationsrecht. Es dringt über das Recht in alle Bereiche menschlichen Zusammenlebens. Das Grundgesetz schafft mit seinen ihm zugrundeliegenden und die Strukturen prägenden Werten ein Abbild davon, was wir uns gegenseitig erlauben, wie wir miteinander umgehen wollen, uns fördern und fordern wollen. Wenn sich über die Analyse dieser Verfassung derart grundsätzlich Aussagen über das abstrakte Selbstverständnis einer Gesellschaft treffen lassen, was läge dann näher, die zapatistische Bewegung einer solchen Untersuchung zu unterziehen, wenn man ihr Selbstverständnis ergründen möchte. Der Gedanke lag schon deswegen nahe, weil die Zapatisten stets ähnliche verfassungsrechtliche Begriffe verwendeten, dies nur in einem anderen Umfeld taten. Mithilfe der Erarbeitung eines zapatistischen Verfassungsentwurfs sollen die Erkenntnisse, die es über den Zapatismus gibt und die Äußerungen der zapatistischen Bewegung für die interessierte Öffentlichkeit geordnet. Dabei muss man zu Beginn von einem „Chaos“ aller möglichen relevanten Ereignisses und Erkenntnisse ausgehen, die am Ende alle feste Bestandteile einer komplexen Gesamtordnung werden.
Aus den geschichtlichen und gesellschaftlichen Hintergründen der zapatistischen Bewegung lässt sich ein Periodensystem entwickeln, das die Grundbestandteile für die spätere Entwicklung enthält (Dazu: Kapitel 3).
Aus diesem System lässt sich die zapatistische Autonomieforderung als erstes Kondensat ableiten. Autonomie grenzt das kollektive Subjekt nach außen hin ab. Es gibt einen ersten Definitionsrahmen für die interne Ausgestaltung der politischen Ordnung vor (Dazu: Kapitel 4).
Mit Hilfe der Lehrbücher der kleinen zapatistische Schule und Untersuchungen anderer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler folgt auf die Definition des Rahmens die Darstellung der faktischen Selbstverwaltungsstrukturen der autonomen Territorien. Weitgehend deskriptiv lassen sich hier die Verbindungen zwischen den einzelnen autonomen Institutionen und deren Aufgaben darstellen. Sie vermitteln einen ersten Eindruck des zapatistischen Staatsorganisationsrechts (Dazu: Kapitel 6)
In einem letzten Schritt kann mithilfe der gewonnen Erkenntnisse der Nukleus und innerer Rand der zapatistischen Werteordnung bestimmt werden. Die Bestimmung der Begriffe der
dignidad indígena
(dt.: indigene Würde), des
mandar obedeciendo
(dt.: gehorchendes Regieren) und des
preguntando caminamos
(dt.: fragendes Voranschreiten) wird nun erst möglich. Daran schließt sich im Ergebnis auch die Darstellung des zapatistischen Demokratieverständnisses an (Dazu: Kapitel 5).
[6]
Die Ergebnisse dieser umfangreichen „Charakteranalyse“ eines kollektiven Subjekts mit Hilfe des allgemeinen Staats- und Verfassungsrechts können in einem Entwurf einer „Verfassung der autonomen zapatistischen Territorien“ (kurz: Zapatistische Verfassung oder ZV) zusammengeführt werden. Dieser Verfassungsentwurf kann natürlich nicht vollständig sein. Er ist letztendlich nicht mehr und nicht weniger als eine Annäherung an eine Ahnung, was das zapatistische Selbstverständnis ist und damit, bei allem was man von diesem lebenden Experiment lernen kann, eine demokratische Alternative.
Der Ansatz, ein kollektives Subjekt, wie die zapatistische Bewegung, mittels eines Verfassungsentwurfs zu untersuchen und darzustellen, bedarf der Begründung. Entscheidend dafür sind die gesellschaftlichen, politischen und rechtlichen Eigenschaften einer Verfassung.
Eine Verfassung soll theoretisch den normativen Konsens einer Gemeinschaft über die gesellschaftlichen Grundlagen ihres Zusammenlebens darstellen.[7] Über das Mittel der Rechtsnormen artikuliert stellt sie die materiell-rechtliche Kodifizierung des politischen Profils einer Gemeinschaft oder einer sich festigenden sozialen Bewegung, wie zum Beispiel dem Zapatismus, dar.[8] Das von ihr vorgesehene Ordnungsprogramm bleibt jedoch im Gewohnheitsrecht verhaftet und damit dem äußeren Betrachter weitgehend verborgen. Ihre politisch-rechtlichen Aussagen lassen sich schwer überprüfen. Erst durch die Niederschrift gelangen diese zu der Bedeutung, die eine Verfassungsordnung für sie als Gemeinschaft haben kann. Sie verfestigt die Grundprinzipien der Autonomie durch ihre Kodifizierung,[9] verschafft der internen Ausgestaltung des politischen Systems nach innen und nach außen Legitimation und vermittelt den Willen der Gemeinschaft zur permanenten Ausübung ihres kollektiven Selbstbestimmungsrechts.[10]
Heute hat sich für die Verknüpfung einer verfassungsgebenden Gewalt mit einer souveränen Hoheitsgewalt auf einem umgrenzten Territorium der Begriff des „Staates“ durchgesetzt.[11] Die Grundthese über das Wesen einer organisierten Gemeinschaft und seiner Ordnung gilt weiterhin. Die Ordnungsstrukturen der künftig staatlich organisierten Gemeinschaft sind nicht vorgegeben. Sie müssen erst durch die sich zusammenfindende Menschengemeinschaft ergründet werden. Zur Quelle des gesellschaftlichen Abwägungsprozesses über die Art und Weise der Gliederung der Organisation wird dabei ihr grundlegender Wertekanon für das Zusammenleben, der sich aus den historisch-politischen und ethisch-politischen Hintergründen der Gemeinschaft entwickelt hat. Auf Grundlage dieser Wertebasis beginnt sie, ihr Verhalten zu koordinieren. Am Ende dieses Ordnungsprozesses entsteht ein stets einzigartiger Rahmen menschlichen Zusammenlebens. Geht man davon aus, dass dieser Rahmen der Gemeinschaft nicht aufoktroyiert wurde, manifestiert er deren grundlegende Werteordnung als Grundsätze des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Der Ordnungsrahmen wird zum Ausfluss des kollektiven Selbstbestimmungsrechts der Bürgerinnen und Bürger einer Gemeinschaft.[12] Eine Verfassung erfüllt dabei keinen Selbstzweck. Sie kann ihre Entscheidungen nicht aus sich heraus Legitimität verleihen. Die staatliche Gemeinschaft muss sie vielmehr auch als für sich sinnstiftend anerkennen und vollziehen. Auf diese Weise verstande wirkt der Vollzug einer Verfassung durch die Gesellschaft identitätsstiftend. Über die rechtliche Analyse und Auslegung der verfassungsrechtlichen Struktur und ihrer grundlegenden Prinzipien lassen sich folglich auf die Grundwerte und die Identität dieser Gemeinschaft schließen.[13]
Diese Annahmen von der Deutungskraft der Verfassung als verrechtlichtem Ausdruck gesellschaftlicher Identität soll in der Folge für die Untersuchung der zapatistischen Bewegung fruchtbar gemacht werden. Spätestens seit der Geburt der Caracoles verfügen die zapatistischen Autonomiegebiete über aufeinander abgestimmte interne Organisationsstrukturen. Der Zapatismus wird auf dem von ihm kontrollierten Territorium als Entscheidungs- und Machteinheit konstruiert. Den Organisationsstrukturen wird mithin Verbindlichkeit und Dauer verliehen. Versucht man sich an einer Verfassung muss man sich zwingend mit wesentlichen Fragen des Staats- und Verfassungsrechts beschäftigen und Antworten auf Fragen erarbeiten, die auf den ersten Blick weit über das hinauszugehen scheinen, was an zumindest ansatzweise rechtlichen Erkenntnissen über die zapatistische Bewegung überhaupt besteht. Auch wenn man aus der zapatistischen Praxis einen Eindruck davon bekommt, wie sie sich regieren, nach welchen Maßgaben sie die Entscheidungskompetenzen verteilen, warum die base de apoyo zapatista (dt.: zapatistische Unterstützungsbasis; kurz: BAZ) eine derart zentrale Rolle in ihren Autonomiestrukturen spielt, bleibt die Frage offen, warum sie sich für diesen Weg entschieden haben. Warum wollten sie „eine Welt, in die viele Welten passen“? Auf welchem Menschenbild fußt diese Aussage? Was hat das mit ihren Regierungsgrundsätzen zu tun? Und, wie wirkt sich dies auf ihre organisationsrechtlichen Strukturen aus? Auf all jene und noch viele weitere grundsätzliche Fragen muss man eine Antwort finden, wenn man zumindest ansatzweise mit einem Verfassungsentwurf den Zapatismus entschlüsseln möchte. Gerade wegen ihrer grundsätzlichen Bedeutung verwende ich die Verfassung als Untersuchungsinstrument.
Für diese Untersuchung soll in diesem ersten Kapitel der Grundstein gelegt werden. Da im Zentrum der Arbeit ein Verfassungsentwurf steht, soll nachfolgend zunächst (I.) auf die (wissenschaftlichen) Herausforderungen bei der Bearbeitung der gewählten Fragestellung und des Mittels eingegangen werden. Danach kann geklärt werden, ob (II.) sich der Zapatismus überhaupt verfassen lässt. Dies führt uns (III.) zu der Frage, was die Verfassung als gewähltes Mittel für die Untersuchung der zapatistischen Bewegung zu leisten vermag. Daher wird das rechtliche Konstrukt überblicksartig dargestellt. Zum Abschluss wird (IV.) der Untersuchungsgegenstand festgelegt, um die Ergebnisse belastbar zu machen.
Die rechtliche Analyse der zapatistischen Selbstverwaltungsstrukturen, an deren Ende der Entwurf einer „Verfassung der autonomen zapatistischen Territorien“ stehen soll, ist insbesondere aufgrund zweier Aspekte mit besonderen Herausforderungen verbunden. Da ist einerseits die unüberwindbare Distanz zwischen der Interpretation von geschichtlichen und gesellschaftlichen Begriffen und Ereignissen aus dem Erfahrungshorizont eines durch die deutsche Rechtsdogmatik geprägten Wissenschaftlers und andererseits die authentische Auslegung und praktische Umsetzung der Erfahrungen durch die zapatistische Bewegung als wissenschaftliches Forschungsobjekt.[14] Damit ist klar, dass es Objektivität in diesem Forschungsfeld nicht geben kann. Die Ergebnisse sind immer aus dem Blickwinkel des Forschers zu betrachten, das heißt mit der gebotenen Relativität bezüglich des Wahrheitsgehalts der Forschungsergebnisse und nicht zuletzt unter Beachtung des gebührenden Respekts vor der Interpretationshoheit der am Entwicklungsprozess teilnehmenden Menschen. Die Anerkennung einer solchen beinahe dialektischen Ausgangssituation wird nicht etwa obsolet, in dem man sich bei der Untersuchung auf sogenannte Primärquellen – also wortwörtliche Aussagen des Forschungssubjekts – stützt oder Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler miteinbezieht, die ähnlich sozialisiert sind. Ihre Einbeziehung ermöglicht erst die ehrliche Auseinandersetzung mit den Selbstverwaltungsstrukturen und den Autonomieprinzipien der zapatistischen Bewegung. Die folgenden Interpretationen sind daher ein Versuch, der zur Diskussion und Auseinandersetzung mit der Bewegung anregen soll. Inwiefern die vorliegenden Interpretationsansätze zutreffen, hängt zudem von der weiteren Entwicklung der zapatistischen Selbstverwaltungsstrukturen ab. Über ihre zukünftige Entwicklung können weder genauere Aussagen getroffen noch Vorschläge gemacht werden. Schon aus Respekt und der Anerkennung vor dem aufstandsführendem Subjekt, der base de apoyozapatista, muss ich mich bei meinen Untersuchungen auf die bestehenden Strukturen beschränken. Die Untersuchungsergebnisse könnten zwar wohl – bei in Zukunft weitgehend gleichbleibender Ausgangslage – eine Einschätzung über die zukünftige Entwicklung der Strukturen ermöglichen. Den Lesern und Leserinnen bleibt es indes überlassen, sich auf Grundlage der Ergebnisse dieser Arbeit über das gesellschaftliche und politische Potential des Zapatismus Gedanken zu machen.
Neben diesen (methodischen) „Hindernissen“ tritt eine für die Analyse des Untersuchungsgegenstandes schwierige Quellenlage bezüglich der praktischen Ausgestaltung der Regierungsstrukturen. Durch den Aufbau von Selbstverwaltungsstrukturen haben die Zapatisten nicht nur einen schon rein organisationsrechtlich vom mexikanischen Regierungssystem abgrenzbaren Ordnungskomplex geschaffen. Sie haben auch die Deutungshoheit über die internen Vorgänge und darüber, was nach „außen“ dringt, erlangt. Für die Untersuchung der Regierungsstrukturen als „Externer“ bringt dieser durchweg als positiv zu bewertende Umstand die Schwierigkeit mit sich, bei der Auswertung der Strukturen vornehmlich auf die Aussagen der Bewegung selber angewiesen zu sein.[15] In diesem Zusammenhang spielen vor allem die im Rahmen der neuen zapatistischen Kampagne „La Escuelita Zapatista“ im August 2013 entstandenen Schulbücher „La Libertad según l@s Zapatistas“ (dt.: Freiheit nach zapatistischem Verständnis) eine Rolle.[16] In vier umfangreichen Büchern[17] beschreiben Vertreterinnen und Vertreter der unterschiedlichsten zapatistischen Verwaltungsebenen aus jeder der fünf Zonen die Erfolge und Rückschläge sowie besonderen Herausforderungen, die der Ausbau der Autonomie für sie mit sich bringt. Sie selbst beschreiben den Inhalt der Bücher, wie folgt:
„Die Urheber aller Texte sind die Männer und Frauen der zapatistischen Basisgruppen und beschreiben nicht nur einen Teil des Prozesses des Freiheitskampfes, sondern enthalten auch ihre kritischen Betrachtungen und ihre Selbstkritik über unsere Schritte. Das heißt, so sehen wir Zapatistinnen und Zapatisten die Freiheit und unseren Kampf, um diese Freiheit zu erreichen, zu praktizieren und sie zu verteidigen“.[18]
Den Wahrheitsgehalt der in diesen Büchern geteilten Erfahrungen schätze ich aufgrund der hohen Transparenz der zapatistischen Bewegung als hoch ein. Ähnliche, wenn auch weitaus weniger umfangreichen Darstellungen nationaler und internationaler Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und eigene Erfahrungen aus einem Forschungsaufenthalt lassen denselben Schluss zu. Trotz alledem sind die Darstellungen, da ihre Aussagen teilweise nicht überprüfbar sind, mit Vorsicht zu behandeln. Dennoch ermöglicht die Kampagne der „La Escuelita Zapatista“, einen bis dahin in dieser Ausführlichkeit nicht möglichen Einblick in den Aufbau und die Funktionsweise der zapatistischen Selbstverwaltungsstrukturen und deren Entscheidungsprozesse. Frühere Comunicados und Quellen erlaubten Einblicke überwiegend in bestimmte Bereiche und Prozesse der Selbstverwaltung. Aussagen über bewegungsinterne politische Abläufe der Entscheidungsfindung konnten dagegen nur vereinzelt oder oberflächlich getroffen werden. Mangels geschriebener Verfahrensnormen oder gar einer Verfassung ließen sich gesicherte Aussagen über die organisationsrechtlichen Strukturen und die Kompetenzverteilung kaum treffen. Bestehende Untersuchungen konzentrierten sich häufig auf nach außen hin sichtbare Entwicklungen zapatistischer „Vorzeigeprojekte“, wie der Ausbau der Bildungs- und Gesundheitsinfrastruktur.[19]
Mit den Inhalten aus den Schulbüchern scheint nun in Kombination mit den übrigen Quellen genau dieses Vorhaben umsetzbar. Die Zapatisten haben mit ihren Schulbüchern eine zur Ergründung der zapatistischen Autonomie als verfasster (staatsähnlicher) Organisationseinheit dritte Quellenbasis geschaffen. Neben den zwei Säulen „Geschichte und Gesellschaft“, sowie „Autonomieforderung“ erweitern sich mit dieser dritten Säule Möglichkeiten, die Struktur und den Bedeutungsinhalt der zentralen Autonomiestrukturprinzipien zu überprüfen. Der Prozess der Nachempfindung einer Verfassungsentwicklung kann entweder deduktiver oder induktiver Form sein. Er könnte sich also in diesem Fall von dem Nukleus derselben, das heißt von ihren prägenden Verfassungsstrukturprinzipien aus nachzeichnen lassen, oder aber man vollzieht die Verfassungsentwicklung von ihren geschichtlichen und gesellschaftlichen Determinanten über den engeren Kontext ihrer Entstehung – hier der Forderung nach Autonomie im Rahmen des Aufstandes – nach. Letzteres bietet sich an, wenn die inhaltliche Bedeutung der prägenden Strukturprinzipien nicht eindeutig ist. Eine ausführliche, im verfassungsrechtlichen Kontext belastbare Interpretation der auf einer zunächst ethisch-moralischen Ebene verhafteten Bedeutung der Verfassungsstrukturprinzipien, wird über den auf der Grundlage der breiten Quellenbasis entwickelten Interpretationskontext ermöglicht. Die dritte Säule, die praktische Umsetzung der politischen Ideale in Selbstverwaltungsstrukturen, lässt dabei einerseits konkrete Rückschlüsse auf die dahinterstehenden Wertevorstellungen zu.[20] Andererseits muss ein Zirkelschluss vermieden werden. Leiten sich die in der Praxis etablierten Selbstverwaltungsstrukturen von dem Gerüst der Autonomiestrukturprinzipien ab, kann sich nicht gleichzeitig der Inhalt derselben von der Selbstverwaltungspraxis ableiten. Die Rückschlüsse müssten sich bei angenommener Kenntnis beider Ebenen auf eine Kongruenzprüfung der Praxis mit den Grundsätzen beschränken. Eine Kongruenz zwischen Verfassungstext und praktischer Ausgestaltung kann aber vermutet werden.[21] Sonst wäre die Verfassung für die Ordnung der Entität obsolet. Nimmt man also eine derartige, durch Hindernisse in der Praxis bedingte Kongruenz an, kann man den entscheidenden Determinanten für eine konsistente zapatistische Verfassung näher kommen. Die Ausarbeitung des Verfassungsentwurfs vollzieht sich also von „außen“ nach „innen“, d.h. aus ihren Erfahrungen entwickelten die Zapatisten alternative Ansichten, wie sich eine menschliche Gemeinschaft organisieren müsse. Die praktizierte Selbstverwaltung mit ihren differenzierten Autonomiestrukturen soll diese theoretischen Erkenntnisse umsetzen.
In Anbetracht des skizzierten Bildes stellt sich die Frage, warum die zapatistische Bewegung sich keine schriftlich kodifizierte Ordnung gegeben hat. Denn obwohl grundsätzlich alle Voraussetzungen für einen Verfassungsentwurf vorlägen, haben sie diesen Schritt (noch) nicht vollzogen. Der Grund dafür könnte sich aus dem Selbstverständnis der zapatistischen Bewegung ergeben. Eine rechtliche Verbriefung in Form einer „Verfassung für die autonomen zapatistischen Territorien“ würde die Kodifizierung der Autonomiestrukturen erfordern. Darüber würden sich ihre ethisch-politischen und moralischen Werte manifestieren. Mit dieser Entscheidung ginge eine rechtliche Verbindlichkeit einher. Zwar würde dadurch für eine gewisse Wertestabilität gesorgt, der Zapatismus würde jedoch auf ein gewisses Maß an Dynamik verzichten müssen.[22] Er müsste sich an den getroffenen Werteentscheidungen festhalten und messen lassen.[23] Er würde Meinungstendenzen exkludieren und sich eine (rechtliche) Identität geben. Es stellt sich die Frage, ob der Zapatismus dann auch weiterhin als Projektionsfläche für die unterschiedlichste Couleur sozialer Bewegungen dienen könnte.[24] Diese Frage stellt sich verstärkt, weil Teile der Wissenschaft im Zapatismus einen Ansatz der Diffusion und Atomisierung der „staatlichen Herrschaftsmacht“ sehen und einen anarchistischen und antietatistischen Ansatz vermuten.[25] Die Strukturen der gemeinschaftlichen Organisation in einem Rechtsdokument zu verbriefen, das heißt seiner politischen Gemeinschaft eine Verfassung zu geben, könnte danach als originärer Ausdruck einer Verstaatlichung verstanden werden, was sich nach dem eben gesagt verbieten würde.
Dieser Ansicht widerspricht jedoch die Umsetzung der zapatistischen Autonomie in die Praxis. Spätestens seit der Geburt der Caracoles als zentrale Verwaltungsstruktur der Zone haben die autonomen Strukturen eine organisatorische Ausdifferenzierung der Aufgabenverteilung erreicht, die verfassten Ordnungskomplexen in nichts nachsteht. Dies führt dazu, dass von einer autonomieinternen, zapatistischen Verfasstheit gesprochen werden kann. Es besteht eine Ordnung, die das gegenseitige Verhalten der Menschen untereinander regelt, differenzierte Strukturbestimmungen enthält und die Werteordnung der Gemeinschaft in einem normativen Ordnungskomplex kodifiziert.[26] Das dies nicht ein „Versehen“, sondern explizit gewollt war, beweisen die wiederholten Forderungen nach dem Zugeständnis eines in der mexikanischen Verfassung festgeschriebenen Rechts auf Autonomie.[27] Dies kann nur so verstanden werden, dass man einen teilweisen Übergang staatlicher Souveränität und damit staatlicher Hoheitsgewalt fordert.[28] Darüber hinaus drückte ein Mitglied der Junta de Buen Gobierno auf einem Treffen im Caracol II, Oventic 2007, die Notwendigkeit nach der Verabschiedung von „Generalnormen“ aus, an denen sich die Rechtssysteme in den einzelnen Regionen orientieren sollen.[29] Auch die Forderung der Zapatisten im Rahmen der „Anderen Kampagne“ sich auf eine gemeinsame Vorgehensweise und einen Rahmen für die Bestimmung gemeinsamer Werte festzulegen,[30] deutet an, dass die zapatistische Bewegung eine klare Positionierung für unabdingbar hält. Zuletzt haben die Zapatisten in ihrer „kleinen Schule“ erklärt, dass sich die zapatistischen Autoritäten bei der Ausübung der Regierungsgeschäfte zwingend an den sieben Prinzipien des Guten Regierens orientieren müssen.[31] Dem Konzept einer „Verfassung der autonomen zapatistischen Territorien“ stehen folglich keine ideologischen Erwägungen entgegen. Vielmehr bietet sich die Überführung des gewohnheitsrechtlich geltenden Regelungskanons in einen geschriebenen, staatsverfassungsähnlichen Ordnungsrahmen an, um das Verständnis für die Grundsätze und Zusammenhänge des Zapatismus zu schärfen. Sie könnten so auch der Gefahr begegnen, von der Zentralgewalt weiterhin als segmentäre, von „Stammesbräuchen“ geprägte Gesellschaft marginalisiert zu werden, deren Ideale höchstens in den Bergen und dem Urwald von Chiapas Geltung beanspruchen können.[32]
Es ist letztendlich die alleinige Entscheidung der aufstandsführenden Bevölkerung der zapatistischen Territorien, ob sie sich eine Verfassung geben wollen. Die Erkenntnis, dass sie eine solche aber nicht grundsätzlich ablehnen, sondern eine solche Generalnorm selber gefordert haben, stellt ein erstes Untersuchungsergebnisse dar. Die Zapatisten halten ihre Bewegung für verfassungsrechtlich kodifizierbar und binden sich darüber an die Bedingungen, die eine Verfassung an eine solche Körperschaft stellt.
„Es wäre ein historischer Verrat an der fundamentalen Idee des freiheitlichen Verfassungsstaates, dass erreichte verfassungsrechtliche Zivilisationsniveau zugunsten ökonomischer und machtpolitischer Ziele aufzugeben oder abzuschmelzen“.[33]
Um sich den gerade erwähnten Bedingungen zu nähern, soll in der Folge kurz auf das Konzept des Verfassungsstaates eingegangen werden. Dadurch wird ein erster Eindruck vermittelt, welche staatsstrukturellen Folgen es hat, wenn sich eine menschliche Gemeinschaft entscheidet, sich eine Verfassung zu geben. Im Zentrum der Untersuchung steht der Verfassungsstaat. Er ist eine moderne Ausprägung der Organisation des Zusammenlebens einer menschlichen Gemeinschaft.[34] Die Konstruktion von Staat und Verfassung bildet eine Einheit und kann nur bei einer theoretischen Untersuchung gesondert voneinander betrachtet werden.[35]
Die Idee, eine politische Ordnung als „Staat“ zu bezeichnen, kam mit dem Ende der Feudalgesellschaft in Europa auf. Er ersetzte die integrative und identitätsstiftende Kraft feudaler Herrschaftsverbände.[36] Das Macht- und Integrationsvakuum, welches durch das Ende des unbedingten Ordnungsanspruchs der Fürsten entstand, musste durch eine neue Institution aufgefangen werden.[37] Seine Schöpfung ist Ausdruck des neuen Selbstbewusstseins der Bürgerinnen und Bürger.
Nach einer Definition ist der Staat[38] „die Natur der Sache, die den Inhalt einer Verfassung und ihre Reichweite determiniert“[39]. Nach einer weiteren Definition von Max Weber bildet der Staat eine „menschliche Gemeinschaft, welche innerhalb eines bestimmten Gebiets das Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit für sich beansprucht“.[40] Er greift mit seiner Definition die von Jellinek entwickelten Staatselemente des Staatsvolks, Staatsgebiets und der Staatsgewalt auf, wodurch sich die in einem Staat versammelte menschliche Gemeinschaft nach außen abgrenzt (äußere Souveränität) und den innerstaatlichen Regelungsanspruch begründet (innere Souveränität).[41] Die Staatselemente beinhalten für sich genommen noch keine Aussage über die strukturelle Ordnung des Staates als neue Wirkungseinheit. Ein Staat als Konstrukt ist zunächst wertneutral und ohne rechtliche Aussagekraft.[42] Der Staat bildet „nur“ den neuen Wirkungsrahmen für die Ausgestaltung der inneren Ordnung. Die Funktion des neuen Ordnungsrahmens indes ist es, den Bewohnern, die sich aufgrund ähnlicher Überzeugungen entschieden haben, sich als staatliche Gemeinschaft zu konstituieren, die Möglichkeit zu geben, eine auf den gemeinsamen Überzeugungen fußende Wertegemeinschaft rechtlich festzulegen.[43] Die normativierten Werte beruhen auf den politischen Leitideen des neuerlichen Staatsvolks[44] und sind Ausdruck der kollektiven Erfahrung der Gemeinschaft. Häufig hatten sie sich durch historische Erfahrungen und das sozialgesellschaftliche Umfeld bereits als sittliche und gewohnheitsrechtliche Verhaltensregeln in der gemeinschaftlichen Wirklichkeit verfestigt. Die Motivation, diese ungeschriebenen, sittlichen Verhaltensregeln komplexerer Ordnungsstrukturen zu verschriftlichen, entstammt unter anderem der Erkenntnis, dass zum Schutz der Freiheit und der Sicherheit einer Gemeinschaft über gewisse Gegensätze hinweg gemeinsame Verhaltensregeln geschaffen werden müssen.[45] Die Institution des Staates bildet den Rahmen für ihren Konsens und ist Träger ihrer neuen gemeinschaftlichen Identität, die sich aus einem Kompromiss der gegensätzlichen Interessen entwickelt hat.[46] Zur Ergründung dieser Identität muss man sich die Frage stellen, welche geschichtlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen den Wandlungsprozess angestoßen haben. Bei diesem Prozess setzen sich regelmäßig jene Interessengruppen durch, die aufgrund eines höheren Handlungspotenzials die Kraftanstrengungen, die zur Schaffung eines neuen Staates notwendig sind, investieren können. Ihr Wille zur politischen Integration und Befriedung der Gemeinschaft ist entscheidend für den Aufbau der integrativen Kraft, zu der eine staatliche Gemeinschaft fähig ist. Sie könnten ihre politische Identität weitgehend mit der Identität der staatlichen Gemeinschaft gleichsetzen und andere Einflüsse zurückdrängen. Oder aber der Findungsprozess des staatlichen Selbstverständnisses wird von der Erkenntnis geleitet, dass sich der Wille zur Staatlichkeit der Gemeinschaft im Integrationswillen der gegensätzlichen Interessen formiert und dieser in eine geschlossene, handlungsfähige Ordnungskraft überführt wird.[47] Danach ist die Entscheidung darüber, wie die Einheit des Staates begründet wird, von Bedeutung für ihre Wertevorstellungen und die davon abgeleiteten notwendigen Verhaltensregeln.
Theorien zur Staatsbildung und -gestaltung sowie die Bedeutung der dabei waltenden Kräfte werden nachvollziehbar, wenn man die Theorie an der Praxis erprobt. Beispielhaft kann dafür jedes existierende staatliche Gebilde sein. Stets ist dessen aktuelles Bestehen sowie die Grundsätze seiner politischen Ordnung – ob Demokratie oder diktatorisches, totalitäres Regime – Ausdruck einer Wertevorstellung und positiven Werteentscheidung. Die Existenz eines Staates ist ohne ein in ihm verbundene Gruppe von Menschen nicht denkbar. Seine Geschichte ist jene der Menschen. So wie einzelne Menschen von ihrem Umfeld charakterlich geprägt werden, bildet sich auch der „Charakter“ eines Staates an den Einfluss seines inneren und äußeren Umfeldes aus. Einige Beispiele: Für den deutschen Staat war in der jüngeren Vergangenheit die Zeit des Nationalsozialismus sowie der 2. Weltkrieg prägend. Die USA definieren sich nicht zuletzt wegen ihrer Kolonialisierungsgeschichte und der gewonnenen Unabhängigkeit als Einwanderungsland mit ausgeprägten Freiheitsrechten. Ebenso ist das Staats- und Nationenverständnis lateinamerikanischer Länder von ihrer langen Kolonialgeschichte und den Unabhängigkeitskriegen geprägt. Dies gilt für Mexiko, wie für viele andere Länder. Der „Charakter“ der zapatistische Bewegung und daher ebenfalls die autonomen Territorien wiederrum sind geprägt durch ihre indigenen Wurzeln in einem kolonialisierten Land und der politischen Marginalisierung durch das politische System Mexikos. Geografische Schnittmengen sind die Bedingungen für eine gemeinsame Entwicklung. Sie binden die Betroffenen aber nur örtlich aneinander. Über die Werteordnung, die sich die Bewohner eines Gebietes geben, entscheiden sie nach eigener Maßgabe aufgrund ihrer Erfahrungen. Erst durch diese gemeinsame Entscheidung werden sie zum Volk eines festen Gebietes, der zum Staat wird und im gewissen Rahmen Staatsgewalt ausüben darf. Die Annahme, dass ein Staatsvolk zu einem solchen aufgrund einer „gemeinsamen“ Entscheidung wird, ist selbstverständlich theoretischer Natur. Das aber gewisse Gemeinsamkeiten zumindest hinsichtlich der Lebensrealitäten bestehen, die die Betroffenen aneinander binden, voneinander abhängig machen und sie dazu bringen, sich dieselben Fragen zu stellen, kann kaum bestritten werden.
Das Mittel zur Kodifizierung der allgemein als verbindlich empfundenen Verhaltensregeln in geschlossenen Ordnungsstrukturen stellt die Verfassung dar. Sie verbrieft die „Gesamtheit der grundlegenden rechtlichen Regeln, nach denen Menschen als staatliche Gemeinschaft zusammenleben“[48]. Sie „hat die Funktion der rechtlichen Grundordnung des Staates. Sie bringt den politischen Bestandteil der Verfassung in eine rechtliche Form, konkretisiert die Demokratie als Staatsform zu rechtspraktisch realisierbarer Teilhabe des Volkes an der politischen Herrschaft“[49]. Dem Rechtsstaatsgebot folgend, müssen die Regelungen für alle Teilnehmer, ob Individuum oder staatliche Institution, verbindlich sein. Dem Verfassungsrecht erwächst die Aufgabe, den Konsens der Gemeinschaft über die grundlegenden Rechte und Pflichten sowie Gebote und Verbote seiner Mitglieder zu fixieren. Sie entwickelt sie hin zu einer Ordnung, deren schriftliche Fixierung dem Einzelnen die Orientierung, Einordnung und Ausrichtung seines Verhaltens an den übergeordneten Werten der Gemeinschaft auf Dauer ermöglichen soll. Die Gemeinschaft löst sich von einer durch Willkür und Unsicherheit geprägten gesellschaftlichen Ordnung – vorausgesetzt der verfassungsrechtliche Rahmen wird als verbindlich erachtet und umgesetzt.[50]
Versteht man den Begriff „Verfassung“ derart funktional, finden sich in ihrem materiellen Gehalt die Auswirkungen gesellschaftlicher Wirklichkeit normiert.[51] Ihr materiell-rechtlicher Gehalt wird durch ihre grundlegenden Verfassungsstrukturprinzipien definiert. Sie sollen einerseits Ausdruck der „Gesamtheit der Wertevorstellung“[52] der staatlichen Gemeinschaft sein und dienen wegen ihrer Verbindlichkeit als Orientierungs- und Integrationspunkt für die Bürger und insbesondere für die Maßnahmen der staatlichen Institutionen.[53] Die Strukturprinzipien ermöglichen eine Einordnung des Verhältnisses des Staatsbürgers zu den staatlichen Institutionen. Zur Definition dieses Verhältnisses zählt auch, dass sie regelmäßig Grund- und Menschenrechte enthält. Neben ihrer Funktion, die individuelle Freiheit des Einzelnen gegen Übergriffe staatlicher Hoheitsgewalt zu schützen (sog. negative Freiheit bzw. liberale, bürgerlich-rechtsstaatliche Grundrechtstheorie),[54] ist die verbindliche Festlegung von Grund- bzw. Menschenrechten ein „maßgeblich konstituierender Faktor“[55]. Die Festlegung der Kompetenz- und Aufgabenverteilung in einer Verfassung verbindet den Staat zu einer organisierten Wirk- und Handlungseinheit, der die Ausübung seiner souveränen, hoheitlichen Herrschafts- und Entscheidungsgewalt verbindlich festlegt.[56] Über das Zusammenspiel beider Wirkungseinheiten werden die Idealvorstellungen der Gemeinschaft über die Art und Weise des politischen Zusammenlebens zum Ausdruck gebracht.[57] Die Beteiligten werden durch die rechtliche Kodifizierung zur verfassungsgebenden Gewalt, die zum originären Inhaber der staatlichen Souveränität wird.[58] Sie ist „diejenige politische Kraft und Autorität, die in der Lage ist, die Verfassung in ihrem normativen Geltungsanspruch hervorzubringen, zu tragen und aufzuheben“[59].
Die Souveränität des Staates als Produkt des kollektiven Willens der verfassungsgebenden Gewalt ist gebunden an deren Überzeugung von der Legitimität des Herrschaftsanspruchs und an die faktische Akzeptanz des Gewaltmonopols staatlicher Institutionen. Die verfassungsgebende Gewalt muss ihre Handlungsmaximen dafür nicht zwingend aus dem Repertoire demokratischer Werte beziehen. Die historisch gewachsene Überzeugung, die Legitimität einer staatlichen Ordnung nicht mehr von „Gottes Gnaden“, sondern diese aus humanistischen Erkenntnissen abzuleiten, stellt den Begriff der Verfassung in einen demokratischen Kontext. Die Übertragung von Staatsgewalt auf staatliche Institutionen setzt danach Akte der Selbstbestimmung voraus. Dieses Recht wurde dem Monarchen als Souverän und übergeordneter Ordnungsmacht abgerungen und auf das Volk als neuen Repräsentanten der Souveränität übertragen.[60] Dem entspricht staatsrechtlich die Überzeugung, die gleichwertige Beteiligung jeden Teils der Gemeinschaft zu ermöglichen und die Entscheidungen der Gemeinschaft über einen breitestmöglichen Konsens zu legitimieren.[61] Die Staatsgewalt entsteht so im Verfassungsstaat durch eine durch die autonome Disposition legitimierte rechtlich organisierte Delegation politischer Macht, sofern im Rahmen der verfassungsrechtlichen Maßstäbe gehandelt wird.[62] Die Legitimation der politischen Macht muss dabei von allen Mitgliedern der Gemeinschaft ausgehen und in der Folge von der Gesamtheit zu verantworten sein. Dieser gesellschaftliche Konsens muss auch bei der praktischen Anwendung der geschaffenen Ordnungsstrukturen beachtet werden. Konkret heißt dies, dass im internen System der Verteilung politischer Macht immer auch ein Schutz der Minderheitenmeinungen angelegt sein muss.[63]
Zudem folgt aus der Ableitung der Legitimation staatlicher Herrschaftsgewalt aus der autonomen Entscheidungsgewalt des Individuums, dass die Delegation politischer Entscheidungsmacht sich auf ein notwendiges Mindestmaß beschränken muss.[64] Das bedeutet nicht nur, dass dem Individuum ein möglichst breites Spektrum autonomer und individueller Entscheidungsfindung und Lebensführung verbleiben muss, sondern auch, dass die Übertragung der Hoheitsgewalt auf den Staat zeitlich befristet wird und ständig erneuert werden muss. Legitimation behält die politische Willensbetätigung und teilweise Disposition des Selbstbestimmungsrechts lediglich bei dauerhafter Zustimmung zur Verfassung und ihren Werten. Die verfassungsgebende Gewalt kann ihre Zuständigkeiten und die Machtverteilung theoretisch wieder anpassen oder sogar aufheben, je nachdem, ob sich die grundlegenden Werteentscheidungen der menschlichen Gemeinschaft wandeln.[65] Freie und unabhängige Wahlen sowie andere Formen politischer Partizipation sollen die Aktualität und Legitimität der Verfassung sichern.[66] Dieser Zweck wird nur erfüllt, wenn diese Mechanismen auch tatsächlich zu einer Anpassung der Politik führen können und den Bürgern ein Höchstmaß an politischer Beteiligung zugestanden wird.[67] Die Kanalisierung der politischen Willensbildung des Staatsvolkes auf den verschiedenen Ebenen der staatlichen Organisation durch Wahlen und andere partizipative Elemente sind das Ergebnis der Abwägung zwischen der Notwendigkeit, den Einfluss der Bürger auf den Willensbildungsprozess möglichst stark auszugestalten, und der Frage, wie weit die Beteiligung gehen kann, ohne, dass man die Stabilität des politischen Systems gefährdet.[68] Für ein politisches System, welches die Legitimation seiner staatlichen Hoheitsgewalt von einem sich ständig erneuernden Willen des Volkes ableitet, stellt sich die Beschränkung der Teilhabemöglichkeiten auf periodische Wahlen als (notwendige) Einschränkung des demokratischen Prinzips dar. Ohne weitere ergänzende demokratische Beteiligungsmechanismen und Mitwirkungsrechte, wie die vertikale Gewaltenteilung, Bürgerentscheide oder ein Versammlungsrecht, vermögen Wahlen es allerdings nicht, in einer Demokratie ihren Status als „synthesis of all human rights“[69] zu wahren. Für eine hinreichende demokratische Legitimation muss die verfassungsgebende Gewalt, der Schöpferin des Staates und seiner Hoheitsgewalt permanenten Zugriff auf wichtige Werteentscheidungen haben.
Ob der Verfassungsstaat tatsächlich seinen demokratischen Ausgangstendenzen folgt oder eine andere Entscheidungs- und Machtverteilung bevorzugt, entscheidet sich anhand der praktischen Aufteilung der politischen Macht auf die staatlichen Institutionen. Für die politisch-rechtliche Einordnung muss die Verfassung insbesondere Aussagen treffen zu Fragen der Form und des organisatorischen Aufbaus der staatlichen Ordnung, die Bildung und die Kompetenzen der obersten staatlichen Organe, die Ausübung und Regulierung der staatlichen Funktionen sowie zum Verhältnis der Bürgerinnen und Bürger zum Staat. Diese zentralen Regelungstatbestände einer Verfassung haben das Ziel, die durch die Entscheidung der Gemeinschaft zur Staatlichkeit geschaffene Herrschaftsgewalt zu kanalisieren und ihr ein Gepräge zu geben. Die Verteilung der Staatsgewalt ist damit der Richtwert für die rechtliche Kategorisierung des Staates.[70] Eine entscheidende Rolle bei der Festlegung des Staatstyps spielt die Frage, welches Organ der Geltung der Staatsgewalt innerhalb des Staatsgebiets Legitimation verleiht. Dieses Organ ist ebenso Ursprung der staatlichen Souveränität. Wird die souveräne Staatsgewalt auf das Staatsvolk als verfassungsgebende Gewalt zurückgeführt, nimmt der Verfassungsstaat den Staatscharakter einer Demokratie an.[71] Je nachdem welchem Organ die zentrale Rolle innerhalb der Kompetenzverteilung zukommt, kann man zum Beispiel von einer repräsentativen oder präsidialen Demokratie sprechen.
Im Ergebnis existieren viele unterschiedliche Ansätze, um die Entwicklung und Entstehung von menschlichen Gemeinschaften hin zu ihrer verfassten Staatlichkeit zu erklären.[72] Einigkeit besteht jedoch weitgehend über die entscheidenden Merkmale eines Verfassungsstaates. Danach ermöglicht die Feststellung, es mit einem Verfassungsstaat zu tun zu haben, Aussagen über seine territoriale Ausbreitung und die Ausgestaltung der Staatsgewalt.[73] Weiteren Aufschluss über den Charakter eines Verfassungsstaates geben die Verfassungsstrukturprinzipien. Sie lassen Rückschlüsse auf die ethisch-moralischen Grundlagen des Staates und die Grundlagen der Menschen als Wertegemeinschaft zu.[74] Dabei ist bei der gegebenen Annahme, dass innerhalb der Gemeinschaft ein gewisser Wertekonsens besteht, zu bedenken, dass die Entscheidung für einen Staat immer ein Kompromiss ist. Bei dem politischen Willensentschluss, sich in einem staatlichen Rahmen eine neue Ordnung zu geben, kann es sich daher nur um Grundsatzentscheidungen über die grundlegenden Werte handeln. Möchte man den Zusammenhalt und die Funktionsfähigkeit der verfassungsstaatlich organisierten Gemeinschaft nicht riskieren, können diese Werte nicht ständig auf ihre Gültigkeit überprüft werden. Entscheidend ist dennoch die Einsicht, dass sich die Legitimation der Ausübung der souveränen Staatsgewalt im Namen der menschlichen Gemeinschaft als verfassungsgebende Gewalt gegenüber dem Einzelnen nur aufrechterhalten lässt, wenn sich das System eine Offenheit für den Wandel der Werte bewahrt. Der Staat und seine Verfassung sind nichts Statisches. Die Wirklichkeit seiner Werteordnung und seines Wertesystems liegt in der praktischen Umsetzung. Diese ist abhängig von der Akzeptanz der Gemeinschaft und wird trotz genereller Übereinkünfte beeinflusst von einer Vielzahl von Partikularinteressen. Der Staat schafft eine Einheit, die sich aus einer unüberschaubaren Vielfalt konstituiert. So wie gewisse historisch, gesellschaftliche und ethisch-politische Entwicklungen zur Konsolidierung einer staatlichen Gemeinschaft geführt haben, muss sich auch sein Bestand durch einen ständigen Prozess der Aktivierung seiner Bürgerinnen und Bürger konsolidieren. Ohne diesen Aktivierungsprozess wird der Verfassungsstaat seiner entscheidenden Ordnungsfunktion durch die geordnete Ausübung seiner staatlichen Hoheitsgewalt verlustig.
„Está usted en territorio Zapatista. Aqui manda el pueblo y el gobierno obedece”[75].
Soll der Versuch gelingen, für die zapatistische Bewegung eine geschriebene Verfassung zu entwerfen, bedarf es einer Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes. Die zapatistische Bewegung muss rechtlich als eigenständiges Phänomen greifbar werden. Zur Erarbeitung einer dem zapatistischen Gewohnheitsrecht folgenden Verfassung muss eine vergleichbare rechtliche Ausgangslage angenommen werden, um die Grundsätze des Staats- und Verfassungsrechts anwenden zu können. Das heißt konkret, dass die zapatistische Bewegung mit den bereits etablierten Verwaltungsebenen für die Untersuchung aus dem Rechtsrahmen des mexikanischen Staates herausgelöst werden muss. Um diese Voraussetzungen bei der bisher nur de facto[76] existierenden Autonomie gewährleisten zu können, soll für die verfassungsrechtliche Untersuchung ein nach außen hin abgeschlossenes zapatistisches Autonomiegebiet angenommen werden. Innerhalb dieses Territoriums kann die Bevölkerung als entscheidende Determinante, als „verfassungsgebende Gewalt“ begriffen werden und eine originäre Staatsgewalt legitimieren. Die Annahmen stehen unter dem Vorbehalt der Beweisbarkeit einer grundsätzlichen strukturellen Vergleichbarkeit der Rechtskonstruktionen von Staat und Autonomie. Die rechtliche Auslegung des Begriffs Autonomie muss zu einem Verständnis führen, dass Autonomie im staatsrechtlichen Sinne lediglich einen qualitativen Unterschied, ein „Minus“ im Umfang und Ausmaß der Hoheitsgewalt erkennt. Die rechtliche Bedeutung des Autonomiebegriffs im Völkerrecht bleibt außen vor. Autonomie wird daher, ohne eine genauere Untersuchung vorweg zu nehmen, verstanden als das Recht einer abgrenzbaren Gruppe sich aufgrund rechtlicher Zugeständnisse durch den Zentralstaat, partiell unabhängig selbst zu verwalten und die übertragene Hoheitsgewalt in diesem Rahmen nach den eigenen Maßgaben auszuüben.[77] Geht man von einem derartigen rechtlichen Zugeständnis aus, muss für diesen Rahmen ein eigener normativer Ordnungskomplex geschaffen werden.
Für die Eingrenzung der zapatistischen Bewegung und seiner Verwaltungsstrukturen in Chiapas bedeuten diese Annahmen folgendes: Die zapatistische Bewegung hat spätestens seit der Eröffnung der Caracoles ein System der de facto-Autonomie geschaffen, in welchem die hoheitlichen Selbstverwaltungsaufgaben auf drei Ebenen verteilt sind. Die hoheitlichen Aufgaben sind in drei Verwaltungsebenen gegliedert. Auf dem fünf Zonen umfassenden zapatistischen Territorium unterwerfen sich über 200 000 Menschen den politischen Entscheidungen der zapatistischen Regierungsstrukturen. Ihre Kompetenzen umfassen die Verabschiedung von Rechtsregeln, die Lancierung politischer Projekte sowie eine eigene Rechtsprechung.[78] Auch ohne Fiktion erfüllen sie viele Merkmale staatlicher Organisation. Zur Grundlage ihres Anspruchs auf Autonomie wurde die Forderung nach der verfassungsrechtlichen Anerkennung der indigenen Völker als „Subjekt des öffentlichen Rechts“[79]. Durch die Anerkennung der indigenen Völker als „Subjekt des öffentlichen Rechts“ wäre die Anpassung des mexikanischen Verfassungsrahmens an besondere Kollektivrechte, mithin an ihre faktisch bestehenden Autonomiestrukturen notwendig geworden. Da eine solche verfassungsrechtliche Anerkennung bislang unterblieben ist, können sie ihre Selbstverwaltungsrechte nicht vom mexikanischen Zentralstaat ableiten. Ihre Hoheitsgewalt besteht de facto, in dem die Unterstützungsbasis sich der Hoheitsgewalt unterwirft und ihr dadurch Legitimität verleiht.
Der Annahme einer fiktiven Staatlichkeit bedarf es dennoch.[80] Das Gebiet wird nicht ausschließlich von den Zapatisten kontrolliert. Daraus folgt, dass es als Entität nicht klar nach außen hin abgrenzbar ist, weder in Bezug auf das Territorium noch in Bezug auf die Personen, die sich der Hoheitsgewalt der zapatistischen Selbstverwaltungsstrukturen unterwerfen. In vielen Dörfern und Landkreisen treten die zapatistischen Verwaltungsstrukturen in Konkurrenz zur Verwaltung des mexikanischen Staates. Die Umdeutung der de facto-Autonomie in eine fiktive, strikte territoriale und kompetenzielle Abgrenzung ist notwendig, um diesen Faktor von der Untersuchung auszuschließen. Diese Fiktion bedeutet im Ergebnis das Einzugsgebiet der zapatistischen Autonomie als nach außen abgeschlossen anzusehen, ihre Bewohner einheitlich der zapatistischen Gemeinschaft zuzuordnen und den zapatistischen Autoritäten die alleinige Hoheitsgewalt in dieser Region zu zusprechen. Die base de apoyo als autonome Gemeinschaft wird innerhalb des autonomen Territoriums zur verfassungsgebenden Gewalt eines abgrenzbaren autonomen Territoriums. Ihr wird die Ausübung der Hoheitsgewalt übertragen. Die Form der Ausgestaltung des verfassungsrechtlichen Ordnungsmodells erlangt, wie beim Staat, identitätsstiftende Wirkung. Bei der Untersuchung der organisationsrechtlichen Ordnung des autonomen Gebildes und seiner Autonomiestrukturprinzipien können folglich die Grundsätze des Staatsrechts angewendet werden. Die Erarbeitung einer „Verfassung der autonome zapatistischen Territorien“ ist im Rahmen ihrer de facto-Autonomie möglich.
Um den Untersuchungsgegenstand für die Erarbeitung einer zapatistischen Verfassung einzugrenzen, bedarf es demnach nach Ansehung der tatsächlichen Gegebenheiten zweier Vermutungen:
Erstens wird vermutet, dass sich die zapatistische de facto-Autonomie als nach außen abgrenzbare Hoheitsgebiete darstellt. Dann besteht die Möglichkeit, die rechtliche und tatsächliche Einflusssphäre auf die entscheidenden Determinanten für eine zapatistische Verfassung einzugrenzen. Der normative Ordnungskomplex der zapatistische Autonomie kann sodann nach seiner Verbriefung als (fiktive) Verfassung bezeichnet werden. Dabei muss aber immer im Hinterkopf behalten werden, dass es ich um eine Vermutung handelt. Der Zapatismus ist keine separatistische Bewegung. Vielmehr strebten und streben sie in Verhandlungen mit der mexikanischen Regierung eine verfassungsrechtliche Eingliederung ihrer Autonomie in die Staatsorganisation der mexikanischen Föderation an.[81]
Zweitens wird anknüpfend an die erste Annahme vermutet, dass auf zapatistischem Territorium ausschließlich die zapatistischen Selbstverwaltungsstrukturen und die von ihnen ausgeübte Hoheitsgewalt Geltung beanspruchen. Das Haupteinflussgebiet der zapatistischen Bewegung in den städtischen und dörflichen Gemeinschaften in Chiapas ist in Teilen geprägt von einem Gegeneinander staatlicher, „offizieller“ Regierungsstrukturen und zapatistischer Selbstverwaltungsstrukturen. Mitunter sind nur wenige Familien eines Dorfes Teil der base de apoyo, mitunter unterwerfen sich aber auch wenige bis keine Familien der zentralstaatlichen Hoheitsgewalt. Diese ungleichmäßige Verteilung der Hoheitsgewalt muss für die Untersuchung überwunden werden. Nur die base de apoyo sollen als Teil der verfassungsgebenden Gewalt eines fiktiven zapatistischen Staates auf dem Gebiet der zapatistischen Autonomie einbezogen werden.
Die Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes durch die geschilderten Annahmen soll die Belastbarkeit der erarbeiteten Erkenntnisse gewährleisten.
Wie gezeigt, stellt der Versuch, den Zapatismus im Rahmen seiner Autonomie als staatsähnliches Konstrukt zu verstehen und aus dieser Erkenntnis heraus einen Verfassungsentwurf zu erarbeiten,[82] einen Weg der Analyse und Dechiffrierung der Wirklichkeit mit den Mitteln des (Staats-)Rechts dar. Es geht folglich gerade darum, den wiederholt formulierten Anspruch der Zapatisten, ein System „der Regierung des Volkes, durch das Volk“[83] schaffen zu wollen, in seiner faktischen Umsetzung nachzuvollziehen. Es soll überprüft werden, wie ein politisches System gelingen kann, welches seine Ordnungsstrukturen entlang der Prinzipien „einer Welt, in die viele Welten passen“, dem „fragenden Voranschreiten“ und dem „gehorchenden Regieren“ orientiert. Durch die rechtliche Verbriefung erlangt die Gewohnheit Verbindlichkeit.[84] Die Theorie wird zur Praxis. Ihre Grundsätze, die dieses System prägen, können durch die Überführung in das Recht anderen politisch-rechtlichen Systeme gegenübergestellt werden und diese verstärkt in Frage stellen: Welche Grenzen hat ein System, welches die politische Macht seiner Gremien derart verteilt, dass die Entscheidungsgewalt tatsächlich bei jedem Bürger liegt? Wie viel Würde, wie viel Mündigkeit, wie viel Vernunft wird der verfassungsgebenden Gewalt von ihren Volksvertretern in einem System zugestanden, in dem sie sich „nur“ einer regelmäßig standfinden Wahl stellen müssen und ansonsten die Stimme des Volkes scheuen? Inwieweit schadet diese Entkoppelung der politischen Macht von den Ursprüngen staatlicher Herrschaftsgewalt einer Demokratie?
Eine Darstellung der Autonomiestrukturen in einer „Verfassung der autonomen zapatistischen Territorien“ hilft, die in die Kritik geratenen Konzepte westlicher Demokratie zu hinterfragen. Die Untersuchung der praktischen Umsetzung des geforderten Selbstbestimmungsrechts innerhalb der beanspruchten autonomen Territorien ermöglicht es, das demokratische System, seine Strukturprinzipien, das heißt seine staatsrechtliche Entwicklungsstufe zu analysieren.[85] Durch die verfassungsrechtliche Kodifizierung des politischen Systems kann in gewissem Umfang eine Objektivierung der fundamentalen Strukturnormen erreicht werden. Sie erlangen im Rahmen der spezifischen historischen und gesellschaftlichen Umstände einen besonderen Inhalt. Ihre Auslegung gibt Aufschluss darüber, welchen Grundsätzen sich die zapatistische Bewegung aus welchen Gründen verpflichtet sieht. Ihre Grundsätze und Prinzipien werden erlernbar. Es eröffnet die Chance, ihr kreatives Demokratieverständnis, demokratischen Tendenzen und Theorien anderer Verfassungsrechtskreise gegenüberzustellen. Die Vergleichbarkeit ihrer Rhetorik und ihrer politischen Forderungen mit solchen moderner politischer Massenbewegungen der letzten Jahre, wie sie zum Beispiel im Rahmen der Proteste zu „Stuttgart 21“[86] im Jahr 2010, dem „arabischen Frühling“ in den Jahren 2011/2012 oder mit den „GEZI-Protesten“ im Sommer 2013 in der Türkei stattgefunden haben, zeigt, dass die Krise aktueller politischer Systeme insbesondere in der Ausgrenzung der Zivilgesellschaft von einer wirksamen Beteiligung gesehen wird. Repräsentativ-demokratische Partizipationsmechanismen allein vermögen nicht mehr, politische Entscheidungen zu legitimieren.[87] Die Demokratie nach westlichem Vorbild hinkt. Die umfangreichen Diskussionsbeiträge zum Thema „Demokratisierung und Reformierung zivilgesellschaftlicher Beteiligungsmechanismen“, häufig im Zusammenhang mit neuen internetgestützten Kommunikationsformen, beweisen, dass bereits über die Notwendigkeit eines demokratischen Wandels diskutiert wird.[88] Das demokratische System des Zapatismus, geboren aus ähnlichen Erwägungen, ist dabei einen Schritt weiter. Es hat eine Alternative etabliert. Sie sollte auch in unseren Breitegraden als eine solche Alternative diskutiert werden können.
Die Antworten, die sie für westliche Industriestaaten parat hält, mögen sicherlich nicht vollumfänglich praktikabel sein. Jedoch wird es durch die Vergleichbarkeit der staatsrechtlichen Begriffe schwerer werden, die Notwendigkeit von Veränderungen zu leugnen, möchte man weiterhin ehrlich behaupten können, in einem Rechtssystem zu leben, welches sich im höchst möglichen Maße demokratisch legitimiert und wo die Würde des Menschen unantastbar ist. Man könnte Gefahr laufen, sich einem System stellen zu müssen, welches diese „Phrase“ beim Wort genommen hat.
„Los Caracoles son ejemplo de una demonstración muy seria de cómo a nivel de toda una región pueden construir su propia democracía desde donde está la gente y no desde allá arriba. Los zapatistas están demostrando que eso se puede, que eso es viable, que eso es realista, que eso práctico para resolver los problemas concretos de la gente”[89].
Zur besseren Verständlichkeit der in dieser Arbeit dargestellten zapatistischen auto gobierno (dt.: Selbstregierung) und deren Verfassungsstrukturen werden in diesem Abschnitt die für ein politisches System in einer Verfassung zwingend zu treffenden Entscheidungen skizziert. Die Erörterungen legen ein demokratisches Staatsgebilde zugrunde. Das Augenmerk liegt dabei zunächst nicht auf der konkreten Umsetzung durch die Zapatisten. Vielmehr wird untersucht, auf welche staatsorganisationsrechtlichen Fragen die Zapatisten bei der Ausgestaltung ihrer politischen Ordnung Antworten finden müssen. Weil die zapatistischen Selbstverwaltungsstrukturn „nur“ gewohnheitsrechtlich verankert sind, fehlt es (noch) an konkreten Anknüpfungspunkte. Ein Abgleich aller im staatsrechtlichen Kontext abhandelbaren Facetten kann daher nicht geleistet werden. Die Frage nach den notwendigen Inhalten einer Verfassung für ein demokratisch organisiertes Autonomiegebilde muss somit auf ein „typologisches Verfassungsverständnis“[90] reduziert werden.
Im bisherigen Verlauf dieser Arbeit wurde herausgearbeitet, dass die zapatistischen Territorien unter Annahme bestimmter Bedingungen als vom mexikanischen Zentralstaat (teil-)unabhängige staatsähnliche Entitäten begriffen werden können. Innerhalb dieses rechtlich nach außen abgrenzbaren territorialen Raums wurde vermutet, dass sie exklusive Hoheitsgewalt ausüben. Der Aufbau ihrer Selbstverwaltungsstrukturen, die Fragen nach der Verteilung der Kompetenzen und Entscheidungsgewalt zwischen den von ihnen geschaffenen Organen und Gremien, insgesamt die Frage, nach welchen „Rechtsformen, Rechtsregeln und Rechtsinstitutionen“[91] das zapatistische Territorium organisiert ist, sowie die Fragen nach dem „Grundverhältnis von Bürger und Staat“[92], dürfen folglich an den Bedingungen des Staatsrechts gemessen werden. Damit ist ihr „Staatsrecht“ grundsätzlich der Verbriefung, das heißt der Verfassbarkeit zugänglich. In den letzten 20 Jahren und insbesondere durch die letzten umfangreichen Strukturanpassungen 2003 hat eine Institutionalisierung und Kultivierung der politischen Entscheidungsprozesse stattgefunden, sodass man von einer organisationsrechtlich gefestigten Verteilung der Herrschafts- und Entscheidungsgewalt, im Ergebnis von einer bestehenden (verfassungs-)rechtlich strukturierten Aufgabenverteilung sprechen kann. Aus diesen strukturellen Grundentscheidungen lassen sich durch Auslegung diejenigen für das politische System des Zapatismus charakteristischen, „verfassungsgestaltenden“ Strukturprinzipien identifizieren. Diese Entscheidungen sind nicht willkürlich.
„Die Verfassung normiert die grundlegenden Organisationsstrukturen des Staates. Die staatliche Souveränität muss konkreten Staatsorganen zur Wahrnehmung zugewiesen, ihre Besetzung verfahrensmäßig reguliert, ihre Funktionen, Grenzen und Kompetenzen bestimmt werden. So konstituiert die Verfassung die Organe des Staates, legt ihre Aufgaben fest, regelt das Verfahren ihrer Besetzung sowie ihre wechselseitige Zuordnung. Im Bundesstaat bestimmt die Verfassung zudem die föderale Aufteilung der einheitlichen Staatsgewalt und die Zuständigkeiten für die Gesetzgebung, Verwaltung sowie Abgabenerhebung und -verteilung“[93].
Davon ausgehend, dass es sich beim politischen System des Zapatismus um eine Demokratie[94] eigener Prägung handelt, müssen innerhalb ihres verfassungsrechtlichen Systems einige Strukturentscheidungen zwingend berücksichtigt werden.[95]Möstl fasst diese „notwendigen Verfassungsinhalte“ in einer Faustformel zusammen. Danach sind diese:
„die rechtliche Ordnung staatlicher Herrschaftsausübung
durch demokratische Legitimation der Staatsgewalt
durch funktionsgerechte, gewaltenteilige Organisation und Kompetenzverteilung
durch inhaltliche Anleitung und Rahmensetzung (v.a. begrenzend durch die Grundrechte als Abwehrrechte […])“.
[96]
Diese Maßgaben umreißen die grundsätzlichen Fragen, die eine Verfassung beantworten muss. Sie orientieren sich stark an einem durch okzidentale Staatslehre geprägten Verständnis vom Verfassungsstaat.[97] Daher soll hier neben dem oben angeführten Verständnis noch eine allgemeinere, für die hier vorgenommene Untersuchung jedoch nicht weniger aussagekräftige Übersicht zur Grundlage genommen werden. Jellinek hat in seinen Abhandlungen über die Staatsrechtslehre ähnliche Merkmale als notwendige Inhalte identifiziert. Da die Evolution der Verfassungsstaaten noch in den „Kinderschuhen“ steckte, hat er diese weniger differenziert betrachtet. Seiner Ansicht nach sind die wesentlichen Inhalte einer Verfassung jene der Bildung derselben, d.h. ihre Rechtfertigung, Wirkungskreis und Verhältnis der obersten Staatsorgane, was die Frage des Funktionsbereiches sowie der Kompetenzverteilung innerhalb und zwischen den Organen mit umreißt sowie die Frage nach der grundlegenden Stellung des Einzelnen zum Staat.[98] Ergänzt werden muss diese Aufzählung zuletzt noch durch ein normatives Kriterium, welches jeder Verfassung zufällt.[99] Die in ihr kodifizierten Regeln müssen von der Gemeinschaft als verbindlich erachtet werden. Ohne diese Annahme, dass die in einer Verfassung getroffenen Entscheidungen Verbindlichkeit besitzen, das heißt nicht oder nur unter erschwerten Bedingungen dispositiv sind, würde eine Verfassung und die darin konstituierten Entscheidungen über die Bindung der Hoheits- und Entscheidungsgewalt ihren Charakter als grundlegenden Wertekanon einer menschlichen Gemeinschaft verlieren.[100]
In einem demokratischen System entspringt der Souveränitätsanspruch dem kollektiven Selbstbestimmungsrecht einer Volksgemeinschaft. Diese Gemeinschaft konstituiert den Staat. Im Falle der Zapatisten ist die Base de Apoyo Zapatista jener Souverän, der innerhalb der autonomen Territorien zur verfassungsgebenden Gewalt wird. Unterschiede gibt es bei den Begründungsansätzen unter deren Prämisse der Übergang der Entscheidungs- und Hoheitsgewalt vom Einzelnen auf das kollektive Subjekt gerechtfertigt wird.[101] Die Legitimation der Herrschafts- und Entscheidungsgewalt, die den zapatistischen Selbstverwaltungsstrukturen zukommt, muss sich daher permanent in irgendeiner Weise auf eine, die Ausübung hoheitlicher Gewalt rechtfertigende Entscheidung der base de apoyo zurückführen lassen. Im deutschen Grundgesetz wird diese Rückkoppelung als sogenannte geschlossene Legitimationskette[102] bezeichnet. Sie entspringt gemäß Art. 20 Abs. 2 GG i.V.m. Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG der Übertragung der Entscheidungsmacht auf die staatlichen Institutionen, z.B. durch regelmäßige wiederkehrende, demokratische Wahlen. Sie kann unter anderem unterteilt werden in die Bereiche der organisatorisch-personellen demokratischen Legitimation und der sachlich-inhaltlichen Legitimation.[103] Entscheidend ist, dass die Rechtfertigung für die delegierte Hoheitsgewalt auf eine Willensdisposition des Staatsvolkes als ihrem Ursprung zurückverfolgt werden kann.
Bezogen auf die Legitimation der zapatistischen Selbstverwaltungsstrukturen und den darin enthaltenen Institutionen bedeutet dies, dass sie eigene Mechanismen bezüglich der Abhaltung von Wahlen und dem Treffen von Entscheidungen ersinnen müssen, die eine Rückführung der durch die gewählten Delegierten vorgeschlagenen Handlungsalternativen oder getroffenen Entscheidungen auf die base de apoyo als verfassungsgebende Gewalt sicherstellen. Die gesteigerten Anforderungen der Zapatista an diese Bedingung drücken sich nicht zuletzt in der Betonung des Prinzips des gehorchenden Regierens aus. In einer Demokratie hängen Legitimation, Billigung und Umsetzung der kollektiven Entscheidungen von einer ausreichenden Billigung des Volkes ab.[104]
Neben der Sicherung der demokratischen Legitimation eines politischen Systems und seiner Entscheidungsprozesse stellt sich die Frage nach der konkreten internen Verteilung staatlicher Herrschafts- und Entscheidungshoheit auf die durch das politische System konstituierten Organe. Die dadurch geschaffene politische Ordnung kann als Staatsorganisationsrecht im engeren Sinne bezeichnet werden. Dieses hat vornehmlich solche Regelungen zum Gegenstand, die sich mit der „Bildung, der Funktionsweise und des Zusammenspiels der obersten Staatsorgane bei der Hervorbringung rechtlich verbindlicher Entscheidungen“[105] beschäftigen. Hinter der verfassungsrechtlichen Entscheidung, auf welche Weise die als notwendig erachteten Organe die ihnen betrauten Aufgaben ausführen und in welchem kooperativen Verhältnis sie sich dabei zueinander befinden, müssen vor allem dreierlei Erwägungen stehen: Indem sich das in einer Verfassung institutionalisierte Organisationsrecht unter dem Paradigma eines demokratischen Herrschaftsgebildes entwickelt hat, muss durch die getroffenen Regelungen sichergestellt sein, dass sich der Prozess der Entscheidungsfindung nicht losgelöst von dem durch das Staatsvolk in irgendeiner Weise artikulierten politischen Willen vollziehen kann. Die Schaffung von Hoheitsgewalt durch die teilweise Übertragung des Selbstbestimmungsrechts von einer Vielzahl individueller Subjekte auf ein kollektives Subjekt in Form eines Staates – letztendlich ihre Unterwerfung unter sein Gewaltmonopol[106] – setzt sowohl die Organisation der Kompetenzverteilung als auch des Entscheidungsprozesses einem Rechtfertigungsdruck aus. Es muss zum einen sichergestellt werden, dass der Wille des Souveräns, das heißt des Staatsvolkes, möglichst eindeutig ermittelt und abgebildet wird, um in den politischen Entscheidungen zum Ausdruck zu kommen. Jeder Bewohner und jede Bewohnerin muss prinzipiell durch den Verfahrensgang das Recht auf gleichberechtigte Teilhabe haben.[107] Ferner muss durch die Wahl des organisationsrechtlichen Verfahrens auch die faktische Entscheidungsfähigkeit innerhalb der politischen Ordnung und somit die Funktionsfähigkeit des Systems gesichert sein.[108]