Demokratie und Revolution - Hedwig Richter - E-Book

Demokratie und Revolution E-Book

Hedwig Richter

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Beschreibung

Junge Menschen brechen auf der Straße das Recht und berufen sich dabei auf das Klima-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, nach dem die Lebenden nicht das Recht haben, die Freiheit künftiger Generationen zu halbieren. Die Bundesregierung hält sich nicht an das Pariser Abkommen und stößt zugleich an die Grenzen des Wachstums und der Schuldenbremse, weil die Kosten der Klimakrise und des Klimawandels zugleich aufgebracht werden müssen. Es ist ein Widerspruch entstanden zwischen Demokratie und Ökologie, zwischen dem unabwendbaren Zeitdruck und der anscheinend gottgegebenen Langsamkeit der Demokratie. Die Historikerin Hedwig Richter und der ZEIT-Journalist Bernd Ulrich wollen diesen Widerspruch überwinden und zeigen, wie eine notwendige Revolution zur Erhaltung unserer Lebensgrundlagen einhergehen kann mit der notwendigen Verteidigung und Entfaltung der Demokratie. Dazu schauen sie zurück und in die Zukunft. Sie fragen nach der dunklen Seite der Demokratiegeschichte, nach den oft zerstörerischen sozialen und fossilen Bedingungen, unter denen sich unsere Demokratie in Deutschland und anderswo entfaltet hat. Und sie entwerfen eine Zukunft, die auch den kommenden Generationen die Gestaltungsfreiheiten garantieren, die für eine Demokratie essenziell sind.

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Hedwig Richter / Bernd Ulrich

Demokratie und Revolution

Wege aus der selbstverschuldeten ökologischen Unmündigkeit

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Über Hedwig Richter / Bernd Ulrich

Über dieses Buch

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

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Über Hedwig Richter / Bernd Ulrich

Hedwig Richter, geb. 1973, ist Professorin für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität der Bundeswehr in München. Zuletzt erschien von ihr »Aufbruch in die Moderne. Reform und Massenpolitisierung im Kaiserreich« (Suhrkamp, 2021).

 

Bernd Ulrich, geboren 1960 in Essen, stellvertretender Chefredakteur und Leiter des Politikressorts der ZEIT. Für seine journalistische Arbeit erhielt er 2013 den Henri-Nannen-Preis und 2015 den Theodor-Wolff-Preis. Durch seine jahrzehntelange journalistische Arbeit ist er eine der bekanntesten und einflussreichsten Stimmen zum Thema Klima/Energie-Politik. Bei KiWi erschienen bisher: »Sagt uns die Wahrheit! Was die Politiker verschweigen und warum« (2015), »Guten Morgen, Abendland – Der Westen am Beginn einer neuen Epoche« (2017) und »Alles wird anders. Das Zeitalter der Ökologie« (2019).

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Über dieses Buch

Junge Menschen brechen auf der Straße das Recht und berufen sich dabei auf das Klima-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, nach dem die Lebenden nicht das Recht haben, die Freiheit künftiger Generationen zu halbieren. Die Bundesregierung hält sich nicht an das Pariser Abkommen und stößt zugleich an die Grenzen des Wachstums und der Schuldenbremse, weil die Kosten der Klimakrise und des Klimawandels zugleich aufgebracht werden müssen.

Es ist ein Widerspruch entstanden zwischen Demokratie und Ökologie, zwischen dem unabwendbaren Zeitdruck und der anscheinend gottgegebenen Langsamkeit der Demokratie. Die Historikerin Hedwig Richter und der ZEIT-Journalist Bernd Ulrich wollen diesen Widerspruch überwinden und zeigen, wie eine notwendige Revolution zur Erhaltung unserer Lebensgrundlagen einhergehen kann mit der notwendigen Verteidigung und Entfaltung der Demokratie. Dazu schauen sie zurück und in die Zukunft. Sie fragen nach der dunklen Seite der Demokratiegeschichte, nach den oft zerstörerischen sozialen und fossilen Bedingungen, unter denen sich unsere Demokratie in Deutschland und anderswo entfaltet hat. Und sie entwerfen eine Zukunft, die auch den kommenden Generationen die Gestaltungsfreiheiten garantieren, die für eine Demokratie essenziell sind.

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Teil 1  Geschichte

Die neue Grammatik des 21. Jahrhunderts

Brüder zur Sonne – Emanzipation und Destruktion

Wachstum, Wachstum, Wachstum – und die Dampfmaschine

Reflexion und Skandalisierung, Fortschrittsgeschichte zweiter Ordnung

Der entwürdigte Mensch

Schock und Traum (1972–2015)

An den Grenzen und darüber hinaus

Eine ökologische Gesellschaft?

Die Hoffnungen der 1990er-Jahre

Abschiebung in die Beschlussosphäre

Am toten Punkt (2015 bis heute)

Das erste und letzte gute Jahr der Klimapolitik

Opfer für das Klima oder das Klima opfern?

Klimapolitik im Keller

Teil 2  Gegenwart

Wie reden wir eigentlich miteinander?

Verdrängen durch Sprechen

Realität und Normalismus

Die Unzuständigkeit des Volkes

Wissenskommunikation

Sind wir Monster?

Die Nebenfolgen kehren heim

Aufstand der Normalität

König Midas weint

Fake News gegen Fake Politics – Rechtspopulisten im Aufwind

Ein neues Phänomen: die Anarcho-Autoritären

Kampf um die Emotionen

Mehr Demut wagen

Die soziale Frage

Klima für das untere Drittel

Meritokratie und warum sie nicht funktioniert

Wer hat was verdient?

Fleisch von unserem Fleisch – die Tiere

Bescheid wissen

Sich das Mitleid (und die Vernunft) vom Leib halten

Gefühle

Teil 3  Neues aus der Demokratiegeschichte

Die konsumierte Demokratie

Der Konsum-Sozialstaat

Die Great Acceleration

Geschlechterfragen

Technosphäre

Befähigen

Körper, Verletzlichkeit und, ja, Disziplin

Die Inkorporation der Herrschaft

Ein neues Körper- und Gefühlsregime

Inbesitznahme des Körpers

Die körperliche Versehrtheit

Tatsächlich: Disziplin

Etwas ist gekippt

Sind Barrikaden nachhaltig?

Revolution und Reform

Repräsentation und Zumutungen

Das Volk und die Eliten

Wissenschaft und Expertise

Zeit und Not

Teil 4  Zukunft

Befreiungen

Anhang

Literaturverzeichnis

Danksagung

Einleitung

Verstehen ist Trost. Manchmal der einzige. Gerade in Zeiten wie diesen, da man des Trostes in besonderer Weise bedarf, nicht nur mit Blick auf Demokratie und Ökologie. Der Vormarsch der Rechtspopulisten, Massaker in Israel, die verschärfte ökologische Krise, der Rollback bei der Klimapolitik, noch ein Krieg – beim Schreiben blieb oft unklar, ob die Ereignisse den Funken Hoffnung, den so ein Buch eben auch braucht, erlöschen lassen würden.

Zumal wir uns vorgenommen hatten, nicht fahrlässig zu hoffen, bloß weil ohne Hoffnung halt alles noch schlechter ist. Auch die Zeit des großen Appellierens scheint uns in der Klimapolitik vorbei zu sein. Es lassen sich damit offenbar zu wenig Kräfte für eine ökologische Wende wecken, wie die großen und dann die weniger großen Jahre des Klimaaktivismus gezeigt haben. Wer flehentlich an das Gute appelliert, landet oft genug im Zynismus. Oder in der Resignation. Die hängenden Schultern des Weiter-So.

Weder appellieren wir, noch sind wir resigniert. Stattdessen versuchen wir, das, was geschieht und unterbleibt, besser zu verstehen. Die Ausgangsfrage lautet für uns: Warum? Warum befreien sich die Menschen nicht aus der Selbstzerstörung? Warum bleibt die Wende aus?

Dabei haben die westlichen Gesellschaften etwas ungemein Wertvolles, etwas, das schon mit vielen Kriegen, aber auch mit bequem gewordenen Bevölkerungen und korrupten Politikerinnen und Politikern zurande gekommen ist, mit Armut und Entrechtung. Diese Kostbarkeit heißt: Demokratie. Sie hat eine schöne und, ja, erfolgreiche Geschichte. Sie hat Menschen befreit und selbstermächtigt. Noch nie ging es den Menschen aller Schichten ökonomisch so gut wie in den Demokratien, noch nie hatten Frauen so viele Rechte, noch nie wurden Kinder so sehr als autonome Wesen akzeptiert wie in Demokratien. Noch nie war so viel Respekt.

Diese Demokratie ist der entscheidende Weg aus der selbstverschuldeten ökologischen Unmündigkeit, davon sind wir überzeugt. Wir denken, dass diese Demokratie grundsätzlich in der Lage ist, ökologisch zu werden. Ihre Institutionen sind so stabil und vernünftig, dass Flexibilität und Kritik in sie eingeschrieben und Veränderungen sozusagen Demokratie-inhärent sind.

Aber warum findet die Demokratie den Weg aus der Selbstzerstörung bisher nicht?

Auf der Suche nach Antworten richtet sich unser Blick natürlich auf die Politik, auf die Wirtschaft und die fossile Infrastruktur. Doch konzentrieren wir uns anders, als in der herrschenden ökologischen Debatte üblich ist, wesentlich auch auf das Individuum, auf die Bürgerinnen und Bürger. Sie sind im Maschinenraum der ökologischen Transformation selbstverständlich nur eine unter vielen Maschinen, aber in einer Demokratie sind sie der Antrieb: Von ihnen geht die Energie, von ihnen geht die Macht aus. Oder eben nicht. Die Politik ist die von ihnen gewählte, und die politische Klasse handelt entsprechend dem Bild, das sie sich von der Bürgerin und vom Bürger gerade macht. Was für ein Menschen- und Geschichtsbild, was für eine Vorstellung von Politik, Staatsbürgerschaft und Bürgerlichkeit treibt die politische Klasse? Die Stimmen der Einzelnen bestimmen die Richtung der Politik, aber die Politik gestaltet den öffentlichen Raum und damit wiederum auch das politische Selbstbild dieser Einzelnen. »Die Menschen machen ihre eigene Geschichte«, hatte Marx in einer Interpretation historischer Transformationen erklärt, allerdings gelte: »Sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen«.[1]

Das wirft die Frage auf, ob die Verhältnisse den Menschen schaffen oder umgekehrt der Mensch die Verhältnisse produziert. Natürlich gilt beides. Warum hat sich dann ausgerechnet bei der Frage der Ökologie weitgehend die Ansicht durchgesetzt, es käme allein auf die Strukturen an, allein auf »die Industrie« oder »den Kapitalismus« oder die Technik oder ganz allein auf Marktanreize? Warum gilt weithin als ausgemacht, dass Menschen nicht nur nicht in der Lage seien, die ökologischen Strukturen zu beeinflussen, sondern vor allem auch, dass sie gar nicht willens seien? Warum gilt es als naiv, auch auf die Vernunft des Menschen zu setzen? Vermutlich dominiert diese Ansicht, weil sie die Menschen in einer gewaltigen Stresssituation enorm entlastet, und vielleicht auch, weil die zugrunde liegende Missachtung des einzelnen Menschen irgendwie cool klingt. Doch wenn man sich ein wenig zurücklehnt, dann erstaunt es umso mehr, dass im politischen Diskurs gerade einer Demokratie die Vorstellung herrscht, die ökologische Krise ließe sich weitgehend ohne den Souverän, ohne das Individuum bewältigen. Oder sollte es gar so sein, dass man bei der Analyse der ökologischen Debatten auf eine versteckte Misanthropie der Demokratie selbst stößt?

Wir halten es jedenfalls für naiv, ausgerechnet bei der Ökologie an die fast völlige Ohnmacht und Gleichgültigkeit des Menschen zu glauben. Das vorherrschende destruktive Menschenbild nährt sich nicht zuletzt aus einer ebenso triumphalen wie zerbrechlichen Maskulinität, die den Menschen, gegebenenfalls auch den weiblichen, vor allem im ewigen Kampf um Macht und Stolz sieht, die Varianten, Verletzlichkeiten, Diversität, Fürsorge, Solidarität oder Empathie in der Analyse menschlichen Verhaltens aber gern unterbewertet. Im Übersteigen eines so geformten Menschenbildes sind wir feministisch.

Und wir sind in diesem Sinne Liberale: Wir gehen bei aller menschlichen Tendenz zur Unvernunft grundsätzlich von der Vernunftfähigkeit und Freiheit der Menschen aus – anders würde die Staatsform der Volksherrschaft keinen Sinn ergeben. Wir versuchen zu zeigen, wie der Glaube an den Homo Suicidalis kulturell erschaffen wurde, mit welchem ständig wachsenden Aufwand er sich in diesem Modus hält und wie er sich aus dieser selbstquälerischen Vereinseitigung seines Selbst befreien könnte.

All dies stellt sich im Jahrhundert der Ökologe noch einmal anders dar, so neu und so rasant ist die Entwicklung mittlerweile, dass immer mehr Menschen mit dem anstrengenden Gefühl leben, dass sich beinahe täglich Geschichte vollzieht – bloß welche?! Deshalb schreiben eine Historikerin und ein Journalist zusammen dieses Buch über die Demokratie und die Ökologie. Weil die Geschichte so dominant ist und unser Handeln und Menschenbild mitbestimmt, braucht es eine Historikerin, und weil sich zugleich die Gegenwart so rasend schnell bewegt, bedarf es eines Chronisten des Jetzt. Momentan schieben sich Gegenwart und Zukunft immer enger aufeinander. Uns wurde deutlich, wie sehr sich das historische Verständnis von Demokratie erschöpft hat, aber auch das von Revolution.

Die Konzentration auf den Westen und dabei wesentlich auf die Bundesrepublik Deutschland ist neben dem Fokus auf die Individuen eine zweite Schwerpunktsetzung des Buchs. Wir haben uns aus drei Gründen dafür entschieden: Erstens, weil wir, wie gesagt, denken, dass Demokratien die besten Möglichkeiten haben, die ökologischen Transformationen voranzubringen, und man sich bei ihnen darum am meisten wundern muss, dass sie es bisher nicht hinbekommen. An keiner Stelle kokettieren wir mit dem Gedanken, dass andere, autoritäre Regierungsformen womöglich besser mit der ökologischen Krise klarkommen. Tatsächlich zeigen die meisten Studien deutlich, dass nicht nur die Zerstörung, sondern auch die meisten Veränderungen und Impulse für Transformationen aus westlichen Ländern kommen.[2] Zweitens bleibt die Geschichte der Industrialisierung und mit ihr die heutige ökologische Verantwortung in beträchtlichem Ausmaß eine des Westens. Die Geschichte des Anthropozäns lässt sich nur analysieren, wenn wir verstehen, wie eng der Anstieg der Zerstörung gerade mit dem Aufblühen der Demokratie verbunden war. Drittens konzentrieren wir uns auf westliche Demokratien, weil wir fragen, was wir tun können, und nicht, was wir nicht tun können oder was andere tun sollten.

Warum also geht der Westen trotz seiner grandiosen Demokratiegeschichte und seines weltgeschichtlich einmaligen Reichtums einer so massiven Selbstbeschädigung entgegen? Immer mehr wurde uns beim Nachzeichnen der Ökologiegeschichte klar, wie stark unsere Vorstellungen von Demokratie und von fossilem Verbrauch miteinander verwoben sind und wie sehr es deswegen heute darauf ankommt, die Demokratie von ihrer Selbstzerstörungstendenz zu befreien oder doch diese Tendenz so zu mindern, dass die Demokratie weiterlebt.

Die Versöhnung von Ökologie und Demokratie krankt daran, dass die meisten, die politisch und öffentlich Verantwortung tragen, von einem Geschichtsverständnis geprägt sind, das sie sich in ihren jungen Jahren angeeignet haben, das aber in der Geschichtswissenschaft schon lange als überholt gilt. Die Rede ist vom deutschen Sonderweg und damit von der Vorstellung eines demokratisch besonders gefährdeten Volkes, dem man nichts zumuten darf, weil es sonst alsbald selbst wieder zur Zumutung wird.

Diesen Teil des Buches konnten wir in groben Zügen schon absehen, als wir anfingen zu schreiben, doch dann verschärfte sich die Lage politisch und ökologisch. Zunächst einmal kam es in so gut wie allen westlichen Demokratien zu einem regelrechten ökologischen Backlash. Die jeweiligen Varianten mögen national ein wenig verschieden gewesen sein, dennoch gab es etwas, das die Demokratien dieser Welt klimapolitisch synchronisierte: Sie entwickelten sich weg von einer ökologischen Wende, weg von einer Politik, die der Dringlichkeit der Krise einigermaßen Genüge tat, und hin zu einem regelrechten Furor gegen die simpelsten ökologischen Erfordernisse unserer Zeit und des Pariser Abkommens.

Etwas Zweites ist im vergangenen Jahr passiert, was wir nicht wissen konnten, als wir mit dem Schreiben begannen: Es war das schlimmste Klimakrisenjahr aller Zeiten. Der Sommer brachte weltweit Waldbrände, Überschwemmung, Hitzerekorde, Horror-Urlaube, Hitzetote und milliardenschwere Verluste in einem Ausmaß und in einer Sichtbarkeit, wie es das noch nie zuvor gegeben hatte. Und das warf dann eine tief verstörende Frage auf: Die Klimakrise verschärft sich, während die politischen und privaten Aggressionen gegen die – ohnehin schon stark zurückgefahrene – Klimapolitik zunehmen? Wie passt das zusammen?

Noch eine dritte Tendenz hat sich immer mehr beschleunigt. Zu den Fragen, warum die Menschen nicht angemessen auf die ökologische Krise reagieren, wie die Demokratie die ökologische Wende hinbekommt und wie sie ihre eigenen materiellen, ideellen und ökologischen Grundlagen erhalten kann, drängte sich alsbald eine weitere Frage: Wie kann sich die Demokratie ganz unabhängig von der ökologischen Herausforderung behaupten? Die Wahlen in den Niederlanden, die anscheinend unabwendbare Renaissance von Donald Trump und der atemberaubende Aufstieg einer rechtspopulistischen Partei in Deutschland, also gewissermaßen in der absoluten Tabuzone des Rechtsextremismus, zeigen, wie sehr die Fundamente wackeln. Der Machtzuwachs der Rechtspopulisten wurde durch fiktive und reale, eingebildete und manifeste Zumutungen der Klimapolitik zwar verschärft, seine Hauptursache waren diese jedoch nicht. Offenbar fehlt dem vernünftigen, liberalen und mehr oder weniger ökologisch bewussten Teil der Gesellschaft ein verbindendes, emotionales, ein durchaus auch forderndes Projekt.

Ein vierter Trend, dessen Kontur neuerdings messerscharf geworden ist, spricht dafür. Die Rede ist vom Übermachtverlust des Westens. Dass die EU und die USA an Einfluss zu verlieren droht, ist schon länger offenkundig und wurde bereits im Sommer 2021 mit dem chaotischen Abzug aus Afghanistan sinnbildlich. Wie schnell der Westen aber an Bedeutung verlieren würde, ahnen wir erst jetzt. Zuallererst steht dafür ein Ereignis: Die geballte ökonomische Macht des Westens und seine militärische Unterstützung der Ukraine haben nicht ausgereicht, um Wladimir Putin zum Rückzug zu zwingen oder wenigstens in die Pleite zu treiben. Beim eskalierenden Konflikt im Nahen Osten nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel standen die westlichen Länder dann noch einsamer da als in der Ukraine-Krise. Bei aller Vorsicht lässt sich schon jetzt sagen: Wir leben in einem Epochenbruch der Geschichte des Westens und stehen zugleich an einem Scheideweg in der Menschheitsgeschichte.

Dabei stellen, gemessen an den schwindenden geopolitischen Möglichkeiten des Westens, die notwendigen ökologischen Transformationen sogar noch das handhabbarere Problem dar: Alles, was wir für die Transformation brauchen, ist da, Technologie, Demokratie, Wissen und prinzipielle Einsicht bei der Bevölkerung. Auch hier wird deutlich: Die Öko-Wende könnte ein Projekt sein, bei dem die freiheitlichen Demokratien ihre Selbstwirksamkeit neu erfahren und womöglich zurückgewinnen könnten.

Die Befreiung aus der selbstverschuldeten ökologischen Unmündigkeit erwies sich für uns dann als noch revolutionärer und zugleich konservativer als vorher gedacht. Revolutionärer, weil es letztlich nicht nur um eine politische Wende geht, sondern auch um eine des Menschen- und Naturbildes, also um eine intellektuelle und spirituelle, wenn man so will. Konservativer, weil die revolutionären Wege, die wir sehen, nicht zerstören, nicht barrikadenherrlich die Welt in Brand setzen, sondern weil sie die Welt, die Natur und die Demokratie in ihrer Schönheit und Fragilität erhalten sollen. Konservativer ist die Wende aber auch, weil wir in der Geschichte der Demokratie verschüttete Tugenden fanden, die nun wieder gebraucht werden und die man ohne Weiteres konservativ nennen kann, auch wenn sie den meisten Parteien rechts von der Mitte heutzutage abgehen. Disziplin gehört dazu, aber auch Maßhalten und Anstand.

Im Verlauf dieses Buches ist uns noch einiges aufgefallen, mit dem wir nicht gerechnet hatten. Beispielsweise der Zusammenhang einer Politik, die mit recht konventionellen Mitteln absolut außergewöhnliche Probleme lösen will, und eines aufstrebenden Rechtspopulismus, der von Problemen gar nichts wissen will, von Lösungen noch viel weniger. Die populistischen und autoritären Bewegungen in den westlichen Demokratien werden einander ähnlicher und sie stellen den Kampf gegen die Klimapolitik immer öfter auch ins Zentrum. Wut und Kränkung sind die stärksten Emotionen dieser Bewegungen, sie speisen sich aus vielen Quellen, aber sie münden in die große Erhebung gegen die Zumutung, das eigene Leben und die gesamte Politik zu ändern, um die ökologische Krise zu stoppen oder wenigstens entscheidend zu lindern.

Die demokratischen Kräfte, diejenigen, die Probleme lösen wollen, statt sie anzubellen, haben derweil noch keine Haltung, keine Sprache und keine Emotionalität gefunden, um dem wirkungsvoll etwas entgegenzusetzen. Die etablierte Politik im gesamten Westen verspricht, die Klimawende im Großen und Ganzen technisch bewerkstelligen zu können. Sie vermeidet es, den Menschen offen zu sagen, dass die alte Privilegien-Welt nicht mehr weiter existieren kann, dass aber eine gute Welt weiterhin möglich ist, wenn sich alle etwas zumuten und zutrauen. Dazu hier nur so viel: Diese Politik bleibt in der Defensive, anstatt sich angesichts des präzedenzlosen Zeitdrucks ein Herz zu fassen und alles zu tun, um die Menschen für einen neuen Freiheitskampf zu begeistern.

Schließlich die Verbindung von Ökologie und sozialer Frage. Das Öko-Bürgertum wird dieses Buch nicht folgenlos genießen können, auch wenn oder gerade weil es das Milieu ist, dem wir selbst angehören.

Und was ist nun mit dem Funken Hoffnung? Er hat zumindest in unserem Buch das Jahr 2023 überlebt. Dennoch muss man sagen: Dass es schiefgeht mit der Ökologie und der Demokratie, ist selbstverständlich nicht auszuschließen. Die Wissenschaftshistorikerin Donna Haraway benennt in ihrem Buch »Unruhig bleiben« die mentalen Risiken eines ökologischen Realismus: »Nur ein schmaler Grat trennt die Anerkennung des Ausmaßes und des Ernstes dieser Probleme von der Kapitulation vor einem abstrakten Futurismus mit seinen Gefühlen erhabener Verzweiflung und seiner Politik ebenso erhabener Indifferenz.«[3]

Wer also die physikalischen und biologischen Tatsachen auf der einen und das bisherige Veränderungstempo der demokratischen Gesellschaften auf der anderen Seite realistisch analysiert, der nähert sich unweigerlich dem Punkt, an dem Hoffnung heikel wird. Dennoch haben wir nach einem Jahr der Lektüre und der Gespräche mehr als vorher den Eindruck, dass auch die politische, intellektuelle und moralische Energie, die auf eine revolutionäre und rechtzeitige Veränderung drängt, gewaltig ist. Und diese Energie heißt weder in erster Linie Mitleid mit den Eisbären noch kluge Vorsorge für künftige menschliche Interessen, diese Energie heißt im Kern: Selbstachtung. Oder, in der Sprache des Grundgesetzes: Würde.

Teil 1 Geschichte

Die neue Grammatik des 21. Jahrhunderts

Wenn die reichen, freien, hochgebildeten, im Prinzip lernfähigen westlichen Gesellschaften sehenden Auges und in hohem, seit 2023 sogar noch mal verschärften Tempo in eine Katastrophe hineinsteuern, die das Fundament dieser Gesellschaften schlechthin zu erschüttern droht, dann muss es Kräfte geben, die eine notwendige Wende verhindern. Und diese Kräfte müssen so gewaltig sein, dass sie von Minderheiten nicht ausgehen können, nicht mal dann, wenn diese Minderheiten Eliten oder mächtige Konzerne sind. Vielmehr muss es sich um die ganze Gesellschaft durchdringende Energien, Kräfte und Strukturen handeln.

Eine der großen Kräfte ist das Bild des 20. Jahrhunderts, ein Bild, das in unseren Köpfen ist, das unsere Kultur und unsere Reflexe bestimmt und unsere Instinkte leitet. Und das uns den Blick auf die Besonderheiten des 21. Jahrhunderts verstellt.

Das politische Denken in den westlichen Staaten ist bis ins Mark geprägt von den spezifischen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts. Dazu gehört die Diskursformation Kapitalismus-Antikapitalismus. Wir halten es aus verschiedenen Gründen nicht für zielführend, den »Kapitalismus« ins Zentrum der Analyse zu rücken. Zum einen hat das Wort etwas Bombastisches an sich, es wirkt so, als hätte man etwas sehr Bedeutendes und Rebellisches gesagt, dabei ist »Kapitalismus« respektive »Antikapitalismus«, vor allem abstrakt, übernutzt und damit in den aktuellen Diskursformationen harmlos. Mit der Anrufung eines Systems, also hier des Kapitalismus, wird der einzelne Mensch aus der Verantwortung entlassen. Kapitalismuskritik erweist sich als ein Verschiebebahnhof der Verantwortung. Demokratische, offene Gesellschaften gehen jedoch nicht in die Selbstzerstörung, weil ExxonMobil oder RWE das aufgrund ihrer fossilen Interessenlage wollen. Das gilt auch dann, wenn man alle Schandtaten dieser Unternehmen in Anschlag bringt, und das sind sehr, sehr viele und überwältigend schreckliche wie die gezielte Desinformation über die Wirkungen des CO2-Ausstoßes (Aber warum haben sich offene Gesellschaften auf diese Lügen eingelassen?).

Den Kapitalismus mit seiner Verwertungslogik für den Zwang zum Mehr und damit für die ökologische Zerstörung verantwortlich zu machen und ein Ende des Kapitalismus zu fordern: Was genau folgt daraus? Wie bekämpft man denn diese Verwertungslogik? Durch einen Generalstreik? Durch die Wahl einer linksradikalen, aber ansonsten demokratischen und nicht Putin-hörigen Partei? Wo gibt es die? Die effektivste und modernste Form, gegen die Destruktionskraft von Konzernen zu kämpfen, besteht wohl darin, weniger von ihnen zu kaufen, anders zu kaufen, gar nicht zu kaufen – und eine Politik zu wählen, die Nachhaltigkeit zur Grundlage macht. Wer es also ernst meint mit der Kapitalismuskritik, landet am Ende bei genau den Individuen, deren Mitverantwortung durch den Systembegriff Kapitalismus doch gerade relativiert werden sollte.

Zudem erscheint es keineswegs als sicher, dass dem Kapitalismus eine wachsende Zerstörung wesenseigen ist, vielmehr ist das eine offene und eine praktische Frage. Ganz abgesehen davon, dass wir gar nicht die Zeit für die Wiederauflage des bisher nicht sehr erfolgreichen Großexperimentes Abschaffung der Marktwirtschaft hätten. Um es zuzuspitzen: Wenn der Kapitalismus überwunden wäre, so hätte die Erde schon drei Grad – nicht nur die liberale Demokratie hätte dann in der heutigen Form kaum noch Überlebenschancen, sondern auch so etwas wie ein freier Markt.

Dem gegenüber stehen die Stärken dieses Systems, das in Kombination mit einem starken Sozialstaat ein gutes Leben für alle schaffen kann. Wenn man bedenkt, wie stark sich dieses Marktsystem gewandelt hat (vom wenig regulierten Kapitalismus des 19. Jahrhunderts bis hin zur gezähmten sozialen Marktwirtschaft), dann ist der Begriff so groß und vage und das System (der Demokratie ähnlich) so flexibel, dass wir eher vermuten, es wird in der Lage sein, die Selbstzerstörung zu verhindern und sich an die Ökologie anzupassen. Wenn, wie wir es für richtig und zwingend halten, die Eindämmung der Klimakrise und das Ende des Artensterbens zur Präambel unseres Zusammenlebens würde, dann mag das, was dabei am Ende herauskommt, Kapitalismus heißen oder anders – wirklich entscheidend ist das nicht. Das heißt nicht, dass wir keine konkrete Kritik an konkreten Missständen üben (etwa an fehlenden Umweltregulierungen für Unternehmen oder dem Mangel an einem Steuersystem, das den Reichen für die Transformation angemessen viel abverlangt).

Sprechen wir also zunächst nicht von einem großen Begriff, sondern von einer großen Erfahrung. Das Aufkommen der beiden Totalitarismen, Kommunismus und Faschismus, die zwei Weltkriege, vor allem anderen aber der Holocaust, der vom nationalsozialistischen Deutschland an den Juden verübt wurde – sie markieren das Trauma aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Dessen zweite Hälfte war geprägt von der Niederlage beider Totalitarismen, von der weitgehenden Durchsetzung der Menschenrechte in Europa und anderen Staaten der westlichen Hemisphäre, vom ökonomischen, politischen, philosophischen und militärischen Siegeszug der westlichen Demokratien. Erste und zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts verhalten sich im politischen Mindset des Westens, besonders aber der Deutschen, wie Schuld und Sühne, wie Trauma und Heilung, wie Abgrund und Rettung, wie Schaden und Klugheit, wie Strafe und Belohnung, wie Sucht und Prävention.[4] Tiefer kann sich historische Erfahrung einer politischen Kultur kaum einprägen, als es den Europäern und den Amerikanern mit der Doppelerfahrung dieses Jahrhunderts ergangen ist.

Und diese Prägung wirkt fort, sie muss es auch bis zu einem bestimmten Grad, denn die Gefahr eines Rückfalls in jenen alten oder auch in einen neuartigen Nationalsozialismus und Faschismus ist nie gebannt. Genauer gesagt ist die Gefahr spätestens in dem Moment wieder da, wo sie als gebannt angesehen wird und die demokratische Wachsamkeit nachlässt.

Im Zentrum des vorigen Jahrhunderts standen die Menschheitsverbrechen des Nationalsozialismus, besonders des Holocausts, und die dreißigjährige Extrem-Gewalterfahrung der Weltkriege und der Diktaturen. In diesem Jahrhundert ist die drohende Menschheitskatastrophe der ökologischen Zerstörung bestimmend. Der Holocaust hat dazu geführt, dass in der Geschichtswissenschaft, und nicht nur dort, alle Steine noch einmal neu umgedreht wurden. Das war absolut nötig, schließlich musste die Frage beantwortet werden, wie es zu diesem Tiefpunkt der menschlichen, besonders aber der deutschen Geschichte kommen konnte und welche Konsequenzen sich daraus ergeben. Die ökologische Menschheitskatastrophe hingegen ist noch nicht in vollem Umfang eingetreten, sie hat erst begonnen. Doch gebietet es allein schon die Möglichkeit, dass die menschliche Geschichte schlecht ausgehen könnte und schlecht auszugehen scheint, alle Steine noch ein weiteres Mal umzudrehen, um zu erkennen, was uns an diesen Punkt gebracht hat und wie sich der bis dato programmierte Fortgang in eine Drei-Grad-Welt abwenden lässt.

Die politische Grammatik des 20. Jahrhunderts ergibt sich aus den Lehren, die aus Auschwitz zu ziehen waren. Die politische Grammatik des 21. Jahrhunderts ergibt sich aus der spezifischen Natur einer ganz anders gearteten Krise. Wir können diese Grammatik bereits in ersten Umrissen skizzieren, wenngleich sie quasi im Gehen geschrieben werden muss.

Die Lehren und Faustregeln des 20. Jahrhunderts lauten, kurz und krude – also so wie sie in Politik und Öffentlichkeit präsent sind, nicht wie die Wissenschaft sie behandelt –, wie folgt: Die demokratischen Eliten müssen dem Volk misstrauen, besonders dem deutschen, müssen achtgeben, dass es sich nicht noch einmal den Verführungen des Totalitarismus hingibt. Es muss lediglich zur Räson gerufen werden, wenn es um den wirtschaftlichen Erfolg geht, denn auch das hat man aus Weimar gelernt: tiefe Wirtschaftskrisen schaffen den Nährboden für Extremisten. Weltanschauung ist potenziell gefährlich, Wohlstand ist demokratisch. Konsum ist eine Betätigungsform der Freiheit und ein probates Bindemittel an den politischen und ökonomischen Status quo. Es ist wichtig, eine stabile Normalität zu schaffen, denn solange die Mehrheit ein mittleres, rechtschaffenes Leben führt, möglichst gesichert durch einen festen Job und womöglich ein Eigenheim, bleibt die Verführung zum Extremen gering. Die so verstandene Normalität firmiert als Garant des Systems. Demokratie lebt von Langsamkeit und vom Kompromiss, wer schnell etwas Großes durchsetzen möchte, der macht sich verdächtig, die Wahrheit liegt in der Mitte zwischen den etablierten, den nicht-extremen Parteien. Verdächtig machen sich auch alle, die zu heftig argumentieren oder zu laut, in denen etwas allzu sehr drängt. Lockungen mit dem Paradies und Drohungen mit der Apokalypse sind die Vorboten einer totalitären Herrschaft. Die Farbe der Demokratie ist grau.

Das ist die Grammatik des 20. Jahrhunderts in ihrer Schrumpffassung, so wie sie Politikerinnen und Journalisten eingeschrieben ist. Wer das nicht weiß und nicht beherzigt, kann, jedenfalls in Deutschland, kaum in Machtpositionen kommen oder sich zumindest dort nicht lange halten. Es gehört, mit anderen Worten, zur absoluten Basisausstattung deutscher Eliten, den Faschismus schon beim F zu erkennen und zu bekämpfen, den Kommunismus spätestens beim ersten m. Diese antitotalitäre Disposition und Qualifikation kann durchaus als bewundernswürdiges kulturelles Erbe betrachtet werden, als ein historischer Erfahrungsschatz. Zumal in Deutschland eine ausgeprägte Wachsamkeit gegenüber einem immer virulenten Antisemitismus hinzukommt. Vieles von dem Genannten gilt es also zu bewahren.

Diese Grammatik des 20. Jahrhunderts, gewissermaßen das Basisprogramm, das sich aus der Singularität und Monstrosität des Menschheitsverbrechens ergibt, trifft nun, in der Gegenwart, auf eine sich gerade erst bildende neue Grammatik des 21. Jahrhunderts, die aus einer ganz anders gelagerten, ihrerseits historisch einzigartigen Bedrohung erwächst.

Drei Entwicklungen kommen hier erstmals voll zum Tragen: Es gibt eine neue Materialität, weil sich die physischen Grundlagen des menschlichen Lebens verändern; eine neue Zeitlichkeit, weil die in Gang gesetzten Prozesse exponenziell sind und irreversibel werden können; und wir sind in eine so noch nicht da gewesene moralische Lage gestellt, weil wir wissen, was wir tun, und zugleich die Taten der Einzelnen unendlich kleiner sind als die kumulativen Folgen. Diese drei Entwicklungen haben vielfältige und tiefgreifende Konsequenzen:

1.

Die Katastrophe, um die es geht, liegt nicht hinter uns, sondern vor uns. Niemand kann sagen, nie etwas von der Klimakrise gehört zu haben und vom eigenen Beitrag zu ihr. Wir schlafwandeln nicht, wir wachwandeln. Die Bewusstheit des Vorgangs macht ihn moralisch problematischer und für die Gesellschaft schwerer zu verarbeiten, das kann neurotisierend wirken.

2.

Der Wirklichkeitsbereich der möglichen Katastrophe ist die physische Realität. Sie ist daher in gewissem Maße berechenbar, weswegen die Gegenwart sozusagen schon als erstes Stadium der Geschichte aus Sicht einer Zwei- oder Drei-Grad-Welt firmiert. Die Natur, die der öffentliche Diskurs so lange aus der Geschichte gebannt hat, tritt als übermächtige Akteurin auf der Weltbühne auf, und weil sie Materie ist, wird die Geschichte viel mehr als bisher kalkulierbar, in gewisser Weise wird sie teleologisch. Ein wesentlicher Teil der Zukunft, nämlich der Zustand unserer Lebensgrundlagen, ist nicht offen oder ungewiss, er ist eingespannt in ein unerbittliches Wenn-Dann: Wenn wir in etwa so weitermachen wie bisher, dann steuern wir in eine Drei-Grad-Welt, Kipppunkte werden höchstwahrscheinlich erreicht. Der Prager Fenstersturz hat sozusagen schon stattgefunden, nur der Dreißigjährige Krieg hat noch nicht begonnen, Gott sei Dank.

3.

Die Erhitzung der Erdatmosphäre ist ein kumulativer Vorgang. Die Menschen lassen, metaphorisch gesprochen, immer mehr Wasser in eine schon fast volle Badewanne. Das verschiebt im Falle des Klimas radikal den Maßstab für gute Politik. Ausschlaggebend ist nicht mehr, ob eine Regierung es besser macht als die vorige, also, ob Robert Habeck mehr Windräder baut oder CO2 einspart als Peter Altmaier, sondern ob die neue Regierung ihren festgelegten Beitrag – wie im Pariser Abkommen – leistet, um die weitere Kumulation zu stoppen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass jede kommende Regierung die beste Klimapolitik aller Zeiten betreibt und möglicherweise trotzdem weit hinter den Zielen zurückbleibt.

4.

Bei der Klimakrise vergeht zwischen Ursache und Wirkung ungewöhnlich viel Zeit. Es dauert Jahre, bis ein Kohlendioxidmolekül an der Stelle in der Erdatmosphäre angekommen ist, wo es den meisten Schaden anrichtet.[5] Was wir in einem bestimmten Moment an Klimakrise erleben, ist ein Resultat dessen, was Menschen vor Jahren und Jahrzehnten davor emittiert haben. Umgekehrt: Den Gewinn von CO2-Reduktionen heute haben erst die Menschen von morgen, und zwar in Gestalt von ausgebliebenem Schaden. In der Tiefsee etwa würde der Verlust des Sauerstoffgehalts trotz CO2-Stopps weitergehen, da der von den bisherigen CO2-Emissionen verursachte Verlust noch kaum stattgefunden hat.[6] Selbst wenn die Erderhitzung bei einem sofortigen Stopp der CO2-Emissionen aufhören würde, wovon einige Wissenschaftler ausgehen,[7] ist eine Politik à la Merkel beim Klima strukturell nicht möglich, man kann mit der Wende nicht warten, bis die Krise ihren Höhepunkt erreicht hat.

5.

Die Agenda der Politik ist nicht mehr nach hinten offen. Der indische Historiker Dipesh Chakrabarty hat dieses neuartige Phänomen folgendermaßen formuliert: Die gewöhnlichen politischen Fragen »sind Teil eines offenen, unbefristeten Zeitplans. Gleichermaßen wissen wir nicht, wann es den Menschen gelingt, das Zeitalter einer fairen und gerechten Welt einzuläuten. Der Kampf gegen den Kapitalismus unterstellt, dass für unsere historischen Ungerechtigkeitsfragen Zeit in Hülle und Fülle vorhanden ist. Beim Klimaproblem und in der ganzen Diskussion über die ›Gefährlichkeit‹ des Klimawandels sind wir dagegen mit einem begrenzten Zeitplan und Sofortmaßnahmen konfrontiert. Und doch haben mächtige Weltnationen versucht, das Problem mit einem Apparat zu bewältigen, der für Maßnahmen nach einem unbefristeten Zeitplan gedacht gewesen war.«[8] Klimamaßnahmen lassen sich eben nur um einen hohen Preis verschleppen. Anders als aus vielen demokratischen Kontroversen gewohnt, bedeutet verschieben nicht entschärfen, sondern verschärfen. Wer heute zu wenig macht, muss morgen seine Anstrengungen verdoppeln: später ist heißer.

6.

Die Normalität ist kein Garant gegen die Katastrophe, im Gegenteil: Sie ist deren Quelle. Extreme Wetterereignisse sind die Folge von ganz gewöhnlichem Autofahren, Fleischessen, Fliegen, Klamottenkaufen und so weiter.

7.

Nicht denjenigen ist im Falle der ökologischen Krise mit Skepsis zu begegnen, die im öffentlichen Raum laut und dringend sprechen, sondern denjenigen, die im sonoren Ton eines vermeintlich ungefährdeten Weiter-So reden. Unruhe ist die erste Bürgerpflicht. Alles-halb-so-schlimm-Bürgerlichkeit ist hingegen unbürgerlich geworden, sie pflegt einen die Demokratie gefährdenden Alltag, sie ist radikal maßlos und zerstörerisch, sie ist damit auf bräsige Weise umstürzlerisch geworden. Bürgerlich ist vieles von dem, was dem bürgerlichen Habitus bisher widersprochen hat: Alarmismus, etwas Eiferndes, Panikgefühle, Öko, Veganismus. Doch diese neue Art Bürgerlichkeit pflegt die alten demokratischen Tugenden: Anstand, Solidarität, Liberalität, Vernunft, Augenmaß, Moral, Maßhalten, einen gewissen Konservatismus (in Maßen), also den Hang, die Dinge zu bewahren (wie beispielsweise unsere Demokratie oder die Landschaften oder die Wälder oder die Lebenswelten anderer Nationen etwa bei durch den Klimawandel gefährdeten Inseln). Der Konservatismus müsste sich wieder um die Verlusterfahrungen kümmern, wie es neulich der Soziologe Andreas Reckwitz ausgedrückt hat.

8.

Die ökologische Gefahr, in der wir uns befinden, geht nicht von einer Ideologie aus, jedenfalls von keiner, die sich mit dem bekannten Instrumentarium von Hannah Arendt, Karl Popper oder Theodor W. Adorno erkennen ließe. Eher handelt es sich um eine intuitive Einsicht, um unausgesprochene Selbstverständlichkeiten, mehr um etwas Eingeschriebenes als um etwas Aufgeschriebenes.

9.

Die Klimakrise stellt die Menschen vor ein neuartiges moralisches Problem, weil die Monstrosität der Katastrophe nicht mit einer entsprechenden Monumentalität des Tuns einhergeht. Zwar sind nicht alle gleich schuld an der fatalen Entwicklung, aber unterm Strich muss man sagen: Der Weg in die Menschheitskatastrophe führt über lauter lässliche Sünden. Es ist ein großes Verbrechen, zumindest an den Zukünftigen, ohne große Verbrecher.

10.

Die Drohung mit der Apokalypse hat unter ideologiekritischen Aspekten heute denselben Rang wie die Leugnung der Möglichkeit einer apokalyptischen Entwicklung. Und denselben Rang wie die Weigerung, etwas Entscheidendes gegen sie zu tun. Zugespitzt gesagt: Das Weiter-So ist eine apokalyptische Ideologie. Den Warnungen vor einem ökologischen Untergang ist daher nicht mit der üblichen – und berechtigten – Ideologiekritik an apokalyptischem Denken beizukommen, sondern nur mit der materiellen Abwendung einer realen Entwicklung, die dermaleinst apokalyptische Dimensionen erreichen könnte.

11.

Die Demokratie wird durch die Klimakrise gefährdet, weil sie die Gesellschaften in eine Kaskade von Notständen treibt, in denen der demokratische Rechtsstaat zwar formal weiter existieren mag, faktisch allerdings von einem Notstandsregime in Permanenz außer Kraft gesetzt wird. Die Demokratie wird in diesem Falle nicht etwa durch ihre geistigen Feinde gefährdet, sondern durch ihre materiellen Emissionen, sie wird sich selbst zum Feind, ohne dass dabei ein böses Wort fallen muss.

12.

Freiheit ist nicht mehr nur etwas, das gegen den Staat geltend gemacht werden kann und vom Staat gewährleistet werden muss, vielmehr kann Freiheit auch materiell aufgebraucht werden, weil eine bestimmte Form ihres Gebrauchs die Zahl der Optionen für andere, insbesondere für spätere, Optionen dramatisch verringert.

13.

Die Klimakrise konstituiert eine neue Art von Konflikt. Dass verschiedene Generationen teils gegensätzliche Interessen haben, das ist an sich nicht neu. Nur geht es heute nicht mehr bloß um andere Werte oder Moden oder um die Frage, wann die Alten endlich ihre Posten frei machen, sondern um einen massiven materiellen Interessengegensatz. Denn es handelt sich bei der Anreicherung von Emissionen durch (überwiegend) die Älteren zugleich um eine Entreicherung von Möglichkeiten für die Jüngeren und vor allem: die Zukünftigen. Zugespitzt gesagt: Die Älteren konsumieren die Zukunft der anderen, sie zerstören für die eigenen Gewohnheiten und Bequemlichkeiten die Zukunft ihrer Kinder. Keine Minderheit ist im demokratischen Rechtsstaat des Anthropozäns so schlecht geschützt wie die Minderheit der Jungen. Auch die Tatsache, dass ein Bewusstsein für die Katastrophe keineswegs nur die Jüngeren besitzen, sondern auch die Älteren, ändert daran nichts.[9]

14.

Eng verwandt mit dem neuen Quasi-Klassengegensatz zwischen Alten und Jungen und dennoch kategorial neu ist das Verhältnis zwischen den Gegenwärtigen und allen Generationen nach uns. Noch nie in der Geschichte der Menschheit hatte die jetzt lebende Generation einen so tiefgreifenden und so lang wirkenden, potenziell derart verheerenden Einfluss auf die Generationen nach ihr – und weiß es sogar. Allerdings ohne es sich wirklich eingestehen zu müssen, denn diejenigen, die dieses Eingeständnis erzwingen könnten, sind noch nicht zugegen. Der Philosoph Stephen M. Gardiner nennt das »Tyranny of the contemporary«[10], die Tyrannei der Gegenwärtigen. Wenn die gegenwärtige Menschheit in etwa so weitermacht wie bisher und die Kipppunkte erreicht werden, dann wird sich das Gesicht der Erde verändern, dann werden sich die Lebensbedingungen der Menschheit auf Jahrtausende verschlechtern. Dann sind wir die Ahnen, die man wirklich nicht gehabt haben will.[11]

15.

Ob die soziale Frage in den westlichen Gesellschaften einigermaßen zufriedenstellend beantwortet ist, darüber wird gestritten. Mit der Klimafrage wird die soziale Frage allerdings noch ein zweites Mal aufgeworfen. Nun heißt es nicht mehr nur: Dürfen die Reichen und Privilegierten einen überproportionalen Anteil an der Arbeitszeit anderer genießen und mehr vom gesellschaftlichen Reichtum? Nun stellt sich die Frage: Dürfen sich diese Privilegierten obendrein auch noch mehr von der Natur und der Zukunft nehmen, dürfen sie mehr zerstören? Damit erweitert sich in diesem Jahrhundert die soziale Frage. Vieles spricht dafür, dass sie wieder – wie im 19. Jahrhundert – eine Frage von Leben und Tod ist: Wer kann sich noch das Chalet in kühleren Gegenden leisten, wer muss in einer schlecht gedämmten Wohnung in einem zubetonierten Stadtviertel leben, wer kann sich Erholung vor der Hitze suchen? Eine so radikalisierte, absolute soziale Ungleichheit wäre für eine liberale Demokratie vermutlich nicht mehr tragbar: In einem Staat, in dem nicht mehr das Parlament die Regeln bestimmt, sondern der Katastrophenschutz – wer kann sich da noch Bildung leisten, soziale Absicherung, wer garantiert die Qualität der Lebensmittel, die Infrastruktur für alle?

16.

Bis vor Kurzem konnte die menschliche Geschichte als eine jahrzehntausendelange Selbstbehauptung gegen die Natur interpretiert werden. Mittlerweile haben sich die Verhältnisse umgekehrt, der Mensch ist der dominierende Faktor in der verbliebenen Natur und, jedenfalls im Destruktiven, Herr über diese erdgeschichtliche Epoche. Dieser fundamentale Rollenwechsel ist noch nicht in den Köpfen, in den Herzen und nicht in den Verfassungen angekommen.

Schon beim ersten Blick auf die beiden so unterschiedlichen Grammatiken ist offensichtlich, dass vieles, was sich aus den neuen Logiken dieses Jahrhunderts ergibt, aus dem Blickwinkel des vergangenen Jahrhunderts zunächst wie etwas Bekanntes aussehen kann, wie etwas, bei dem die bewährten Abwehrreflexe in Gang gesetzt werden müssen: beinahe revolutionär wirkender Zeitdruck, emotionale Dringlichkeit, laute Stimmen, Postnormalität, politische Eingriffe in die Lebensweise der Menschen. Manchmal wird beim Déjà-vu auch ein bisschen nachgeholfen und aus der Warnung vor dramatisch verschlechterten Lebensbedingungen eine angebliche Weltuntergangspredigt gezaubert oder aus dem schlichten Verweis auf kaum bestreitbare Tatsachen ein »absoluter Wahrheitsanspruch«.

Diese häufig unterlaufende oder noch öfter gewollte Verwechselung des herausfordernd Neuen mit dem sattsam Bekannten trägt ganz wesentlich dazu bei, dass die Dringlichkeit der Klimakrise verdrängt werden kann. Die Singularität des 21. Jahrhunderts entspringt nämlich aus einer materiellen, physikalischen Fehlentwicklung, während sich das Drama des 20. Jahrhunderts im Kern einer geistigen Verirrung verdankt oder jedenfalls zuerst diese Gestalt angenommen hat. Da ist es natürlich verführerisch, alle materiellen Prozesse in ideologische zu überführen, sie im Diskurs routinemäßig zu widerlegen, um damit die physischen Tatsachen und Herausforderungen zum Verschwinden zu bringen.

Doch auch nach der tausendsten Widerlegung eines »Apokalyptikers« drohen die klimatischen Kipppunkte immer noch. Und auch wenn man in alter Gewohnheit auf diejenigen herablächelt, denen in ihrer jugendlichen Ungeduld klimapolitisch alles nicht schnell genug geht, dann beeindruckt das die sich weiter anreichernden Kohlendioxid- und Methanmoleküle überhaupt nicht. Die Gelassenheit des Alters führt hier eher zu einem vorzeitigen Ableben in einer der Hitzewellen als zur Widerlegung der »ungeduldigen« Jugend. Und wenn »die Letzte Generation« in absehbarer Zeit von jedem der 80 Millionen Deutschen mindestens einmal als kontraproduktive Sekte oder als Öko-RAF bezeichnet worden ist, dann ist die Bundesregierung ihren Klimazielen immer noch keinen Schritt näher. Kurzum: Wer ideologisch triumphal siegt, hat materiell leider nichts gewonnen.

Das alles ist gemeint, wenn wir davon sprechen, dass das 20. Jahrhundert zum Medium der Verdrängung des 21. geworden ist. Eine Verdrängung, die bislang auch deswegen recht gut funktioniert, weil sie sich den Anschein von Hellsichtigkeit und Wachsamkeit geben kann, es handelt sich quasi um vorauseilenden Antifaschismus. Doch so richtig es ist, im Geist des 20. Jahrhunderts den Anfängen (rechter Ideologien) zu wehren, so wichtig wäre es, den rasenden Verlauf (der Naturzerstörung) im 21. Jahrhundert zu bekämpfen.

Hinzu kommt hier eine gewisse Trägheit, die man sogar verstehen kann. Die meisten Menschen, die in Deutschland Verantwortung tragen, haben es sich beim Erlernen der Grammatik des 20. Jahrhunderts nicht leicht gemacht. Weil es ja auch gar nicht leicht sein kann, über die Frage nachzudenken, wieso die Deutschen in der Lage waren, diese Verbrechen zu begehen. Es ist auch nicht leicht, als Deutscher oder als Deutsche ein KZ zu besuchen. Außerdem braucht man, ganz profan, eine Menge Zeit und Fleiß, um die Verästelungen des gespaltenen Jahrhunderts zu durchdringen. Immerhin wurde man auch belohnt für seine Mühen, so wie die Deutschen insgesamt belohnt wurden für ihre in keine andere Sprache übersetzbare »Vergangenheitsbewältigung«. Kein Wunder, wenn sich die dominierenden, also älteren Generationen dagegen wehren, dass dieses hart erworbene kulturelle Kapital neuerdings zumindest insofern relativiert werden soll, als der Geltungsbereich dieser alten Grammatik bei der Ökologie endet. Die neue Singularität ist mit der alten nicht zu vergleichen, aber eben auch nicht zu bewältigen.

Und jetzt soll man in mehr oder weniger fortgeschrittenem Alter noch mal eine ganz neue Grammatik lernen, eine, die noch dazu bisher nur als loser Zettelkasten überhaupt erst zur Verfügung steht? Die Empörung, die in dieser Frage steckt, lässt sich durchaus nachvollziehen.

Ein klarer Blick auf die neue Logik des 21. Jahrhunderts verändert auch die Sicht auf die Zeit davor, auf unser Menschenbild, auf unsere verdeckte Teleologie sowie auf die Art und Weise, wie Politik und Bürger kommunizieren. Nicht zuletzt eröffnen die neuen Anforderungen, der Zeitdruck allzumal, eine andere Perspektive auf das Verhältnis von Demokratie und Revolution, genauer auf die Möglichkeit einer Revolution in der Demokratie.

Brüder zur Sonne – Emanzipation und Destruktion

Was kann die Geschichte aus der Zukunft lernen? Wenn es stimmt, dass die Menschheitsgeschichte schlecht ausgehen könnte, beziehungsweise – wenn es keine grundlegende Wende gibt – auch ausgehen wird, dann müsste allein diese manifeste und messbare Möglichkeit dazu führen, auf die Vergangenheit noch einmal neu zu schauen. Die Frage ist dann: Wie ist es dazu gekommen, dass die Menschheit drauf und dran ist, die Grundlagen ihrer bisherigen Zivilisationen schwer zu beschädigen, die Meere zu versauern und die Korallen erbleichen zu lassen, das Klima zu erhitzen und dadurch unter vielem anderen die bisherigen Fortschritte in der Landwirtschaft und Medizin zu gefährden, womöglich zunichtezumachen, die erhabensten Tiere auszurotten und die gewaltigsten Wälder abzuholzen? Und so weiter, das ist ja alles bekannt. Diese Fragestellung ist vor allem für jene Länder von geradezu markerschütternder Bedeutung, die historisch überproportional zu dieser ökologischen Krise beigetragen haben, die aber vor allem frei, lernfähig und reich genug wären, um diesen Abweg zu verlassen, kurzum: Was ist mit dem Westen passiert?

Die Geschichte teleologisch zu erzählen, also als eine kurvenreiche, auch mal von Rückschritten geprägte, aber dann doch unaufhaltsame Reise zum Besseren, ist in der Geschichtswissenschaft quasi ein Tabu. Doch genau diese Teleologie ist dem Westen eingeschrieben, sie ist sozusagen das Zentraldogma der historischen Volksfrömmigkeit und – etwas verborgener – auch eines immer noch beträchtlichen Teils der intellektuellen und kritischen Eliten. Hinzu kommt, dass es die Ideen sind, die in dieser massenwirksamen Version der westlichen Erzählung eine zentrale, wenn nicht gar die geschichtsmächtigste Rolle spielen: Demokratie, Rechtsstaat, Aufklärung, Marktwirtschaft, Menschenrechte – haben sie nicht etwas Zwingendes? Addieren sie sich nicht quasi zwangsläufig zu Fortschritt? Aber dann eben umgekehrt: Wenn diese Teleologie kippt, subtrahieren sie sich dann nicht auf null? Was, wenn nicht die demokratische und aufgeklärte Welt siegt?

Angesichts der dramatischen ökologischen Lage, in der sich die Menschheit befindet, ist es verführerisch, diese Teleologie einfach umzudrehen, ins Negative. So würde man dann historisch nachweisen, dass die schöne Marktwirtschaft eigentlich ein toxischer Kapitalismus ist, dass die strahlende Ideengeschichte eigentlich bloß die Begleitmusik einer Ausbeutungs- und Zerstörungsgeschichte war. Und so weiter. Eine solche neue Teleologie wäre dann zwar düster, aber immerhin wäre sie noch stringent, also irgendwie beruhigend, schwer zu ertragen, aber leicht zu verstehen.

Wir gehen diesen Weg ausdrücklich nicht. Zwar ist es richtig, dass aufgrund der Physikalität der Klimakrise erstmals in der Geschichte seriös Grundlinien in die Zukunft gezogen werden können, dass also im Sog der Moleküle zumindest eine unheilvolle Teil-Teleologie entstanden ist. Dennoch wäre es unserer Auffassung nach falsch, nun die Geschichte der Demokratie lediglich zur Vorgeschichte des ökologischen Desasters zu degradieren. Eine solche Unterkomplexität würde die historische Analyse verdunkeln.

Stattdessen werden wir versuchen, die Dialektik von Demokratie und Destruktion nachzuzeichnen, zu zeigen, wo beides ursächlich zusammenhängt oder einfach nur parallel geschehen ist. Der Zweck dieser Übung ist offensichtlich: Knoten für Knoten, Faden für Faden die Verbindung zwischen der Demokratie- und ihrer Zerstörungsgeschichte zu lösen. Denn, das ist ja klar, es braucht Demokratien, die gegenüber der Natur sanft sind und nachhaltig, respektvoll und schonend, nicht triumphal, sondern konvivial, nicht aufklärerisch-hegemonial, sondern voller aufgeklärter Demut, die nach Lösungen, nach Klarheit und, ja, nach Wahrheit sucht. Wir brauchen diese posttriumphalen, postdestruktiven Demokratien, und zwar sehr, sehr bald.

Wachstum, Wachstum, Wachstum – und die Dampfmaschine

Ein Sonnenaufgang, ein neuer Morgen, ein Ende der Dunkelheit – so empfanden viele der politischen und kulturellen Eliten in Europa, was im 18. Jahrhundert mit der Aufklärung und den Revolutionen in Amerika und Frankreich begann. Doch für einen Großteil der Bevölkerung blieb die Welt dunkel: Die Menschen waren regelmäßig Hungersnöten ausgesetzt und lebten in einer Ökonomie der Armut.[12] Politik war ein fernes Geschäft an den Höfen und in den Städten. Arbeit war knapp in Kontinentaleuropa, Menschen zogen obdachlos und hungrig auf der Suche nach Broterwerb übers Land.[13]

Doch 100 Jahre, einige Revolution und viele Reformen später war die Welt in einem anderen Zustand: An der Schwelle zum 20. Jahrhundert gab es in den Industrieländern Brot und Arbeit.[14] Das Leben wurde besser. Und von Italien bis nach Norwegen, von Deutschland bis in die USA gab es Parlamente, die mit einem weit gefassten Männerwahlrecht den »Massen« eine Stimme in der Politik gaben. Frauen forderten weltweit mehr Rechte und drangen in die Öffentlichkeit. Die womöglich größte Bewegung der Zeit, die Arbeiterbewegung, ging ins 20. Jahrhundert »froh des Sonnenaufgangs«, weil die »Kultur der Massen« angebrochen sei, hieß es in der sozialistischen Zeitung Vorwärts in einem Artikel von 1899, der auch gleich eine Erklärung für den Menschheitsfortschritt bereithielt: »[D]iese Zeit begann erst mit der großen Industrie.«[15]

Der Vorwärts hatte recht: Die Emanzipation verdankte sich der Industrie. Industrialisierung, Wachstum und Freiheit und mit ihr die Ermächtigung der »Massen«, die Demokratie, gehören auf vielfältige Weise zusammen.[16] Die industrielle Revolution bezeichnete der Historiker Eric Hobsbawm als »die gründlichste Umwälzung menschlicher Existenz in der Weltgeschichte, die jemals in schriftlichen Dokumenten festgehalten wurde«.[17] Mit ihrem Wirtschaftswachstum schuf die Industrialisierung Wohlstand, der immer mehr Menschen zugutekam und immer mehr Menschen ein auskömmliches Leben ermöglichte. Der Antrieb der Industrialisierung war die Dampfmaschine, eine geniale Apparatur, die jenseits von Wasser, Wind, Pferde- oder Menschenkraft Energie lieferte und damit eine unfassbare Befreiung von den natürlichen Beschränkungen und einen geradezu traumhaften Zuwachs der zur Verfügung stehenden Energie bedeutete. Der Schritt zu dieser Entfesselung an Kraft lässt sich mit der Entdeckung des Feuers vergleichen – Menschen hatten ein Instrument, das ihre physischen Möglichkeiten bei Weitem übertraf. Die Dampfmaschine breitete sich in allen Industrieländern aus und machte den Kapitalismus fossil, denn sie gewann ihre Energie aus der Kohle, die für den industriellen Einsatz die besten Bedingungen bot: Sie war leicht zugänglich, sie speicherte viel Energie, und sie ließ sich relativ unkompliziert transportieren.

Die Industrialisierung beutete, auch das ist wahr, die Menschen brutal aus. Etwa zwei Generationen lang schadete sie massiv den unteren Schichten, sie führte zu einer verschärften Mangelernährung, die Arbeitszeiten stiegen, vermutlich sank anfänglich zunächst auch die Lebenserwartung.[18] Die Industrialisierung disziplinierte die Menschen, das künstliche Licht erlaubte Arbeitszeiten weit über den natürlichen Biorhythmus hinaus. Aber die Disziplinierung trug auch zur Emanzipation bei. Die fossile Kraft ließ die omnipräsente Sklaverei der frühen Neuzeit abnehmen, wie der Umwelthistoriker J.R. McNeill betont, weil Energie nun anders zur Verfügung stand als durch die menschliche Arbeitskraft, die wiederum an Wert gewann, weil sie Maschinen bedienen konnte.[19] Die Kohleförderung, Kohledistribution und Kohleverarbeitung gaben den Arbeitern eine nie da gewesene Macht. Neben anderen Akteuren und vor allem auch Akteurinnen trug die Arbeiterbewegung zu den Anfängen eines Sozialstaates und zur Massenpolitisierung bei. Demokratie braucht Wohlstand, und es ist kein Zufall, dass sich Demokratie nur zusammen mit dem industriellen Wachstum entwickelt hat und dass nur reiche Länder stabile Demokratien entfalten konnten. (Wobei es umgekehrt keinen Automatismus gibt, dass sich reiche Länder zu Demokratien entwickeln, wie man historisch und heute etwa an den Ölstaaten sehen kann.)

Zu den Wundern des fossilen Fortschritts gehörte die Eisenbahn, die bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts mit Kohle betrieben wurde. Sie egalisierte die Mobilität, sie erleichterte demokratische Politik, weil sie Ideen und Zeitungen schneller zirkulieren ließ oder die Menschen zusammenbrachte; ihretwegen wurde Offenburg in Baden, das per Bahn vom ganzen Land aus gut zu erreichen war, 1848 zu einem zentralen Ort der Revolution. Die Eisenbahn transportierte Rohstoffe und Güter und ermöglichte eine bessere Ernährung der Bevölkerung, weil sie Lebensmittel effektiver verteilte und damit günstiger machte. Sie sorgte nicht zuletzt dafür, dass sich die Dampfmaschine in Europa massenweise ab den 1860er-Jahren durchsetzte, weil sich Kohle nun kostengünstig wie nie zuvor transportieren ließ. Kohle wiederum eröffnete neue Welten in der Ingenieurskunst, denn mit ihr ließ sich aus Eisenerz Eisen und Stahl gewinnen, die etwa für den modernen Schiffsbau wichtig wurden, für neue Maschinen, aber auch für neue Waffentechniken; mit alten Heizmitteln wie Holz oder Torf wäre die Eisen- und Stahlgewinnung nicht möglich gewesen.

Alles wuchs und wurde besser: Nahrung, Kleidung, Wohnung, öffentliche Verkehrsmittel, Parkanlagen in den Städten und Straßen in den Dörfern, mehr Schulen, mehr Krankenhäuser. Das atemberaubende Wachstum bedeutete am Beispiel von Deutschland: Obwohl sich die Bevölkerung vom Ende des 18. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts mehr als verdreifachte, verdreifachte sich auch das Sozialprodukt pro Kopf.[20] Die Agrarproduktion wuchs so schnell wie die Bevölkerung – allein das erscheint wie ein Wunder.[21] Wachstum bedeutete in dieser Phase ein menschenwürdigeres Leben für nahezu alle. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts entstanden in den Industriestaaten erstmals Gesellschaften, die stabil und wohlhabend genug waren, um die allgemeine Schulpflicht konsequent durchzusetzen und die Bevölkerung – Jungen und Mädchen – komplett zu alphabetisieren.[22] Das wirkte nicht nur disziplinierend und egalisierend, sondern war auch wichtig für die weitere Entwicklung der Industrieproduktion und für die neue Rolle der Wissenschaft. Der Handel blühte und verband die Welt in einer ersten Globalisierung, wie schon die Zeitgenossen die internationalen Vernetzungen nannten.[23]

Die Weltkriege und Wirtschaftskrisen, der Faschismus und die Verbrechen der Deutschen hemmten oder zerstörten die demokratischen und ökonomischen Entwicklungen und den Traum von einem guten Leben für alle – für eine Weile. Dabei waren auch sie eine Konsequenz der modernen Gesellschaften: Die Nationen waren aufgrund des materiellen Reichtums, aber auch wegen der sozial und politisch inkludierten Bevölkerung, die sich über den Nationalismus und die Partizipationsmöglichkeiten mit diesem Staat identifizierte, so stark wie nie zuvor.

Ohne die Industrialisierung wäre um 1900 auch der ausgreifende Kolonialismus nicht möglich gewesen – und nicht die Weltkriege mit ihren unvorstellbaren Opfern an Menschenleben und ihrem gigantischen Verbrauch an materiellen Ressourcen. Die Aufbrüche und Veränderungen der Industrialisierung ermöglichten auch die Faschismen und den Nationalsozialismus, der den Traum von Wohlstand und Massengesellschaft pervertierte und entdemokratisierte – und so die Vernichtung der Menschenwürde nach sich zog und im totalen Krieg statt im Wohlstand für alle endete.

Es ist bemerkenswert und alles andere als selbstverständlich, dass sich nach diesen Zerstörungen die Trends des Wohlstandswachstums und eines besseren Lebens fortsetzten – in Deutschland, in Europa, weltweit. Wachstum verdrängte die Vergangenheit. Nach 1945 schien es erst richtig loszugehen in den »Trente Glorieuses«, wie der Ökonom Jean Fourastié die glorreichen Jahrzehnte des Booms von 1946 bis 1975 nannte.

Noch nie hatte die Bevölkerung einen solchen Wohlstand erlebt, der Massenkonsum eröffnete bisher nicht vorstellbare Welten von Freiheit und Luxus für nahezu die ganze Bevölkerung. Das Wachstum ermöglichte einen starken Sozialstaat und stabilisierte die westlichen Demokratien. Wenn man den Human Development Index nimmt, mit dem ein langes und gesundes Leben, Schulbildung und ein angemessener Lebensstandard ermittelt werden, so hat sich das Lebensniveau in den Industrieländern seit 1870 von 0,20 auf heute 0,80 vervierfacht.[24]

Die zahlreichen positiven Langzeittrends im Zuge der Industrialisierung – mit allen Aufs und Abs – zeigen sich primär in den Industrieländern, aber sie finden sich auch in den anderen Regionen der Welt. Von 1800 bis 1950 etwa ist die Kindersterblichkeit weltweit von 43 auf 25 Prozent gefallen. Seit 1950 ist sie noch mal um das Fünffache auf 4,5 Prozent gesunken.[25] In den letzten zwanzig Jahren gelang es, die globale Armut zu halbieren, die Bildung gerade auch von Frauen ist massiv angestiegen, Zugang zu Wasser und Elektrizität hat überall zugenommen.[26] Der Human Development Index stieg in den letzten dreißig Jahren weltweit von 0,605 auf 0,732.[27] Alles lief, die Teleologie hatte ihre beste Zeit.

Eines ist offensichtlich: Die Demokratien hätten sich ohne die Industrialisierung niemals so hoch entwickelt und stabilisiert, der Jahrhundert-Dank geht hier an die: Kohle.

Reflexion und Skandalisierung, Fortschrittsgeschichte zweiter Ordnung

Teil dieser Fortschrittsgeschichte ist die Kritik an der Fortschrittsgeschichte. Die Geschichte von Wachstum und Wohlstand ist sozusagen eine Fortschrittsgeschichte erster Ordnung. Sie wird kritisiert und reflektiert und führt zu einem revidierten, zu einem besseren Fortschritt – der Fortschrittsgeschichte zweiter Ordnung.

Oft wird der Beginn der Kritik erst in die 1970er-Jahre gelegt, tatsächlich jedoch ist die Kritik an der Industrie, am Wachstum, an der Moderne von Anfang an dabei. Das eine ist nicht ohne das andere zu haben.[28] Die Menschen nahmen die Brüche, die Entfremdung durch die Industrialisierung und ihre Folgen, etwa die Arbeitsteilung, unmittelbar wahr. Friedrich Schiller beklagte in »Über die ästhetischen Erziehung des Menschen« von 1795, der Mensch sei ein »Fremdling in der Sinnenwelt« geworden.[29] Der Publizist Carl Friedrich Pockels brachte die Kritik geradezu postmodern zum Ausdruck: Der Mensch sei wie »ein im leeren Raume schwebender Riß, – nichts als ein Stück kalter Vernunft«.[30] Auf den Start der Industrialisierung folgte sogleich die Romantik. Über ein »Age of Machinery« klagte der schottische Essayist und Historiker Thomas Carlyle 1829. Es habe die Entfremdung aller Lebensbereiche zur Folge, vom Handwerk über die Religion bis zur Literatur.[31] Auch der politische Konservatismus ist ein Reflex auf die Umbrüche. Oder die Sozialreformerinnen und Sozialreformer, die schon früh damit begannen, Armut zu skandalisieren und zu bekämpfen. Bettina von Arnim beschreibt in ihrem an den König adressierten Roman von 1842 die Armut der Bevölkerung, den Hunger, die Notwendigkeit, staatlich einzugreifen, und lässt einen Schuhmacher sagen: »In einem freien Land gebe es gewiss nicht so viele Arme.«[32] Armut wurde zum Skandal. Dafür sorgte auch der Marxismus. Er analysiert die Zerstörungen genau: »Die Bourgeoisie, wo sie zur Herrschaft gekommen, hat alle feudalen, patriarchalischen, idyllischen Verhältnisse zerstört. Sie hat die buntscheckigen Feudalbande, die den Menschen an seinen natürlichen Vorgesetzten knüpften, unbarmherzig zerrissen«, erklärten Marx und Engels 1848 im »Kommunistischen Manifest« wortgewaltig die Vernichtungen.[33] Ohne die Kritik und die Korrekturen und Skandalisierungen wäre der Fortschritt nicht möglich gewesen. Deswegen verelendete das Proletariat auch nicht, anders als von Marx und Engels vermutet. Vielmehr stiegen dank der Arbeitskämpfe und des Reformgeistes um 1900 die Reallöhne auch der unteren Schichten an.[34] Der wachsende Wohlstand trug dazu bei, dass sich überall zivilgesellschaftliche Aufbrüche formierten. Die tiefgreifendste Veränderung kündigte sich mit den Frauenbewegungen an.