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Das 1871 gegründete Kaiserreich gilt häufig als Hort der Obrigkeitshörigkeit, des Chauvinismus und des Militarismus. Dabei war es zugleich eine Zeit des Aufbruchs in die moderne Massendemokratie. Es hatte eine kluge Verfassung, ambitionierte Reformen wurden auf den Weg gebracht, einer der größten Umbrüche überhaupt nahm entscheidend an Fahrt auf: die Frauenemanzipation.
Bei diesen Tendenzen, so Hedwig Richter, handelte es sich nicht einfach um Ungleichzeitigkeiten. Die vom Ideal der Gleichheit motivierte Inklusion der Massen hatte ihren Preis in einer Reihe von Exklusionen: Antisemitismus, Rassismus oder Misogynie. In ihrem Essay zeigt Richter, dass wir das 20. Jahrhundert mit seinen Extremen besser einordnen können, wenn wir die Reformzeit um 1900 in ihrer Komplexität begreifen.
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Seitenzahl: 209
Veröffentlichungsjahr: 2021
Hedwig Richter
Aufbruch in die Moderne
Reform und Massenpolitisierung im Kaiserreich
Suhrkamp
Cover
Titel
Inhalt
Informationen zum Buch
Impressum
Hinweise zum eBook
Cover
Titel
Inhalt
Einleitung
1. Die deutsche Einheit
Verfassung
Die Macht der Massen
Konzeptionen der Gleichheit
2. Arbeit und Vergnügen
Die Grundlage: Ökonomie
Politisierung der Ökonomie
Zivilgesellschaft
Der neue Mensch
Die Freiheit des Körpers
Handelnde Personen und ihr Selbstverständnis
Skandalisierung der Armut
Gesundheit für alle
Vergnügungen für alle
Weniger Gewalt
3. Globalisierung
Flottenverein
Massenpolitisierung der Außenpolitik
Kolonialismus
Zivilisierungsdrang
Das Heil für die Anderen: Die christliche Mission
Umstrittener Imperialismus
4. Partizipation und Krieg
Dekonstruktion und Geschlecht
Massenpolitischer Konsens
Liberalisierungen in Deutschland
Wahlreform
Beschleunigung der Partizipation
Die gewaltige Inklusion: Krieg als Massenevent
Massenpolitik und Friedensschluss
Fazit
Dank
Ausgewählte Literatur
Anmerkungen
Informationen zum Buch
Impressum
Hinweise zum eBook
»In unserem Hause wurde kein Tropfen ungekocht verbraucht«, berichtete das Dienstmädchen Doris Viersbeck im Rückblick von dem Cholera-Ausbruch in Hamburg im Jahr 1892. Das war mühselig, »denn nicht nur Wasch- und Trinkwasser, sondern auch Wasser zum Reinmachen« musste keimfrei sein. Den ganzen Tag über schleppte die junge Frau die Eimer durchs Haus. »Hamburg hat noch lange, lange unter dem Druck gestanden, den diese Seuche verursachte. Mögen solche Zeiten nie wiederkehren!«1
Tatsächlich war der Druck auf die Hansestadt enorm. In eindringlichen Berichten schilderten die Zeitungen und Bild-Journale das Elend des Massensterbens, der schmutzstarrenden Gewässer und der verarmten Bevölkerung.2 Hamburg hatte versagt, die stolze Stadt stand am Pranger. Wie eine Drohung hing über dem Ort die »soziale Frage«. Die Londoner Times brachte die Hamburger Zustände auf den Punkt: »exceptionally rotten«.3 Weit über 8600 Todesopfer gab es in einer Stadt mit 400 000 Einwohnern. Das empfanden die Menschen als Skandal. Hamburg musste sich reformieren, am Haupt und an den Gliedern – und das geschah in den kommenden Jahren.
Alles an dieser Geschichte ist typisch für die Jahrzehnte um 1900. Denn Reformen, verstanden als planvolle, friedliche Umgestaltung des Bestehenden, waren ein Signum des Kaiserreichs – das ist die erste These dieses Essays. Sie ergaben sich aus einer »Kultur des Kompromisses«, wie es Wolfram Pyta nennt.4 Reformen, oft vorangetrieben durch Skandalisierungen, waren notwendig, um die große Herausforderung der Zeit zu bewältigen: die Inklusion der breiten Bevölkerung, die nicht länger entmündigt und im Elend leben sollte. Theorien über die »Massen« entstanden, die mal als Bedrohung, mal als Chance, mal als amorphes Etwas, mal als profilierte proletarische »Klasse«, aber in jedem Fall als der entscheidende Faktor der Zeit wahrgenommen wurden. Das Kaiserreich wird hier also als eine Zeit der Aufbrüche und bewusst eingeleiteten Veränderungen interpretiert, deren Dynamik sich aus der Massenpolitisierung ergab. Die Schwierigkeiten und Reformhemmnisse sollen nicht ignoriert werden; es gab sie im Kaiserreich zur Genüge – schon allein deshalb, weil »Reform« ein nicht endendes Projekt ist und jede moderne Gesellschaft weitere Reformpotenziale birgt. Der vorliegende Essay wendet sich allerdings gegen die Vorstellung einer grundsätzlichen »Reformblockade« im Kaiserreich.5
Die Zeit des Kaiserreichs war bestimmt von extremen Wandlungsprozessen, Klassenkampf, Krisendiskursen und globalen Dynamiken. Auch wenn der junge Staat von Anfang an durch Reformen geprägt war, so lässt sich doch um 1890 eine Zäsur erkennen, weg von repressiven Strukturen, hin zu mehr Zivilgesellschaft und einem reformerischen Boom, nicht zuletzt in den sozialen Fragen. Auch die Menschen der unteren Schichten wurden zu selbstbewussten Akteuren und – bemerkenswerterweise – Akteurinnen.
Das ist die zweite These: In den Jahrzehnten des Kaiserreichs liegen im ganzen nordatlantischen Raum wesentliche Wurzeln der modernen Massendemokratie. So fand das 19. Jahrhundert als »ein Jahrhundert der Emanzipation«, wie Jürgen Osterhammel es nennt, in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg einen Höhepunkt – der allerdings nicht ohne dunkle Seiten blieb.6 Denn zur Massenpolitisierung gehörten die zahlreichen exkludierenden Aspekte: Rassismus, Antisemitismus, Nationalismus, Militarismus, Misogynie, Populismus. Wichtig ist dabei: Die Dynamik der Massenpolitisierung, die seit den neunziger Jahren neue Kraft erhielt, war ein internationales Phänomen; sie ereignete sich in einer Zeit mit bisher nicht gekannten, intensiven transnationalen Vernetzungen, die als erste Globalisierung bezeichnet wird – und die wesentlich zur Reformdynamik beitrug. Den Zeitgenossinnen und Zeitgenossen war der Aufbruch bewusst. Sie wussten, »dass sich im oder um den Dezember 1910 die menschliche Natur verwandelte«, wie es Virginia Woolf in ihrem berühmten Zitat auf den Punkt brachte.7
An der Cholera-Epidemie von 1892 offenbarte sich beispielhaft das Neue. Mit Hamburg war der – nunmehr zum Massenphänomen gewordene – nationale Stolz gekränkt. »[D]ie hygienischen Bedingungen in Hamburg waren bekanntermaßen seit Jahren skandalös – der Skandal ist so groß, dass ganz Deutschland dafür die Verantwortung trägt«, urteilte die Londoner Presse.8 Die Epidemie wurde global wahrgenommen, ihre Ursachen wurden vom internationalen Fachpublikum intensiv diskutiert, aber sie wurde streng national erlebt.9 Robert Koch, der gleich nach dem Ausbruch der Cholera im August 1892 von Berlin in die Hansestadt eilte, war fassungslos über die sozialen Missstände und den Dreck: »Ich vergesse, daß ich mich in Europa befinde.«10 Deutschland unterhalb europäischer, westlicher Standards! Das war eine Demütigung für eine Nation, die sich als Teil der »Kulturvölker« und der »zivilisierten Welt« empfand, ein Tiefschlag in einer Zeit, in der die Menschen im nordatlantischen Raum im beständigen Gefühl des nationalen Wettkampfs lebten.
Der Skandal forcierte den Aufbruch. Neben der offiziellen Cholera-Kommission der Stadt gründeten die Menschen unzählige private Hilfsvereine. Der zivilgesellschaftliche Hochbetrieb war einer der wichtigsten Reformmotoren. Wo es um die konkrete Arbeit ging, standen die Frauen an vorderster Front, selbst wenn die Leitungsposten in Männerhand lagen. Reformen, Mildtätigkeit und Nächstenliebe, Sauberkeit und Hygiene, Schutz der Familien und die Sorge um angemessene Wohnungen – all das galt als weibliche Domäne.11 Viele Frauen waren bereits seit Jahren in Wohltätigkeitsvereinen organisiert, nun kauften sie Nahrungsmittel, eröffneten Hilfsküchen, machten Hausbesuche und bekamen, wie eine junge Hamburgerin erzählte, »einen tiefen Blick in das unendlich traurige Elend der unteren Bevölkerungsschichten«.12 Unter den Hamburger Helferinnen waren namhafte Mäzenatinnen und Pädagoginnen wie Agnes Wolffson und Sidonie Werner oder Feministinnen wie Lida Gustava Heymann und Elisabeth Pape.13 Hinzu kam, dass Frauen wie das Dienstmädchen Doris Viersbeck den Großteil der Extraarbeit zu tragen hatten: Putzen, Wasserabkochen, die Einhaltung der Ernährungsvorschriften oder das zusätzliche Kinderhüten, wenn die Schule ausfiel.
Das Bürgertum übte sich in Solidarität und brachte innerhalb kürzester Zeit große Summen auf.14 Rund 10 000 Mark wöchentlich standen allein dem Lehrer Hermann Junge zur Verfügung, der sich für die Unterstützung der Armen engagierte. Die Stadtverwaltung stellte 114 000 Mark für ein Notprogramm zur Verfügung. Die Solidarität war jedoch nicht auf Hamburg beschränkt, sondern umfasste die ganze Nation. Überall wurde zu Spenden aufgerufen, Städte, Privatleute, Vereine, Firmen und Parteien sammelten Hunderttausende Mark. Kaiser Wilhelm II., eine Randfigur in dem Geschehen, stiftete 50 000.15 Endlich richtete auch die Hansestadt – wie zuvor schon andere deutschen Großstädte – ein Hygieneinstitut ein.
Neben Wohltätigkeit und Solidarität lebte eine Kritik auf, die ins Mark traf, die deutschlandweit diskutiert wurde und sich auf die Verfassung richtete: Völlig veraltet sei die Hamburger Konstitution, da der republikanische Stadtstaat die unteren Schichten vom politischen Geschehen ausschließe – ein wesentlicher Grund für das Unglück, davon zeigten sich viele in unterschiedlichen politischen Lagern überzeugt.16
In gewisser Weise war Hamburg das Opfer völlig veränderter Vorstellungen von dem, was als gut und angemessen für das menschliche Zusammenleben galt. Die Hanseaten waren, im lähmenden Stolz vermeintlicher progressiver Überlegenheit, nicht mit der Zeit gegangen. Schmutz, Armut und Rechtlosigkeit, mit denen der Großteil der Bevölkerung seit Menschengedenken leben musste, hatten sich im Laufe des 19. Jahrhunderts zu einem Skandal entwickelt. Skandale aber befeuern häufig Reformen.
Viele der Reformvorhaben waren schon früher initiiert worden, oft brauchte es etliche Jahre, bevor es zu ihrer Umsetzung kam, viele wurden nur halbherzig durchgeführt oder blieben ganz stecken. Reformen sind – anders als Revolutionen – keine zeitlich klar umrissenen Ereignisse, sondern immer längerfristige Projekte. Reformen gelten als originär modern und aufklärerisch, sie sollen – optimistisch und fortschrittsgläubig – die Welt verändern und verbessern. Gewiss gab es Reformen auch in früheren Jahrhunderten; doch im 19. Jahrhundert wurden sie zum Seinsmodus der Politik; Politiker und Fürsten meinten sie nun fast überall als Notwendigkeit zu erkennen, und um 1900 schien die ganze Politik eine einzige Reformmaschine zu sein, mal mehr, mal weniger erfolgreich. Seit dem 19. Jahrhundert werden Reformen als gewaltfreie Veränderung und Verbesserung des Bestehenden verstanden.17 Die Jahrzehnte um 1900 waren geprägt von einem reformerischen Pathos. Und doch sind Reformen unheroisch. Reformen galten nach dem Empfinden vieler Zeitgenossinnen und Zeitgenossen als »weiblich«.18
Das ganze 19. Jahrhundert war von reformerischen Inklusionsprozessen geprägt: Die Kommunikation verdichtete den Raum und rückte ebenso wie die Urbanisierung und die wachsende Verkehrsinfrastruktur die Menschen aneinander heran. Bürger, Bürgerinnen, Beamte und Politiker entwickelten ein immer tieferes Verständnis von den Aufgaben des Staates, die dieser in immer größerem Umfang wahrnahm. Zugleich wuchs die Inpflichtnahme der Bevölkerung, und sie kam den Anforderungen mit einem erhöhten emotionalen Engagement entgegen. Mit den wachsenden Partizipationsmöglichkeiten wurden die Einwohner zu Bürgern, die mit Vorstellungen von nationaler Egalität an das Allgemeinwohl gebunden wurden. All das gipfelte in dem höchst merkwürdigen Phänomen des Nationalismus.
In den Jahrzehnten um 1900 fanden diese Entwicklungen einen erregenden Höhepunkt. Wir können unsere heutige liberale und soziale Demokratie, aber auch das 20. Jahrhundert mit seinen Extremen besser einordnen, wenn wir die Reformzeit um 1900 in ihrer Komplexität begreifen. Im Zentrum stand die umstürzende, revolutionäre aufklärerische Idee der Gleichheit für alle – nicht der Gleichheit für wenige wie in der Antike oder in den europäischen Stadtrepubliken. Dabei wurde immer wieder neu justiert, wer mit »alle« gemeint war. Um 1900 waren das viel, viel mehr Menschen, als sich die Revolutionäre am Ende des 18. Jahrhunderts hätten vorstellen können: »Universelle Gleichheit« war hundert Jahre zuvor selbstverständlich auf weiße und zumeist besitzende Männer beschränkt gewesen. Nun organisierte sich die Mehrheit der Arbeiter. In vielen Staaten, auch in Deutschland, konnten sie dank des breiten Männerwahlrechts und durch Parteiarbeit die Politik mitbestimmen und sorgten damit in ganz Europa und darüber hinaus für Furcht und Schrecken. Weitgehend alphabetisiert, erwiesen sich Arbeiter, Bauern oder Hausangestellte zunehmend als politisierte, selbstbewusste Bürger.
Teil dieser Massenpolitisierung war einer der größten demokratischen Aufbrüche in der Menschheitsgeschichte: Die Gleichberechtigung der Frauen rückte in den Horizont und wurde auch für breite Bevölkerungskreise denkbar. Noch wenige Jahrzehnte zuvor war das schlicht unvorstellbar gewesen, die wenigen Persönlichkeiten, die dafür eintraten, wurden – egal ob in Europa oder Nordamerika – entweder kaum gehört oder verspottet. Die weibliche Minderwertigkeit hatte seit je als selbstverständlich gegolten, sie stand kaum zur Debatte. Und nun betraten Frauen die politische Bühne, und die Forderungen der Frauenbewegungen im nordatlantischen Raum fanden erstmals weiten Widerhall.
Doch die Macht der Massen entfaltete ein bedrohliches Potenzial. War das Volk nicht verführbar, volatil und, einmal entfesselt, nicht mehr einzuhegen? Von heute aus gesehen wird vor allem deutlich: Die Gemeinschaft der Gleichen hatte ihren Preis und funktionierte fast immer über den Ausschluss. Auch die Sozialdemokratie, eine der großen Inklusionsbewegungen, dachte in einem exklusiven Klassenmodell, das für Vertreter des radikalen Flügels zwangsläufig in einer blutigen Revolution münden musste. Am schrecklichsten jedoch zeigte sich die Exklusion im Rassismus, der mit dem Kolonialismus die Weltherrschaft antrat. Rassismus verhieß einen gesunden weißen Volkskörper der Zugehörigen und forderte die Herrschaft über die ausgeschlossenen Anderen. Es war die Zeit des Hochimperialismus, in den USA erreichten Lynching und eugenische Träume einen Höhepunkt, in Europa florierte der Antisemitismus, überall wurden rassistische Hierarchien zur Wissenschaft ausformuliert.
Es ist zu einfach, von der Ambivalenz dieser Zeit zu reden, von Widersprüchen und Ungleichzeitigkeiten – obwohl dergleichen natürlich nie falsch ist. Die wichtigsten Phänomene der Zeit waren aufeinander bezogen, eines ergab sich logisch aus dem andern. Anhand von vier Themenbereichen sollen in diesem Essay die komplizierten Reformaufbrüche für und durch die Menschenmassen in der Kaiserzeit dargestellt werden. Im ersten Kapitel geht es um den großen Aufbruch der Deutschen: in ein Reich, in die ersehnte Einheit und – von Bismarck und den Kriegsherren kaum geahnt – in die Massenpolitik und Massenkultur. Die Einheit Deutschlands war nicht nur ein martialisches Projekt des Hochmuts, sondern auch eine Sache der Vernunft. Sie war die politische Voraussetzung für die Modernisierung: die Überwindung von regionalen Schranken, für den wachsenden Wohlstand und damit für die Massenpolitisierung. Die exklusive Herrschaft weniger Honoratioren wie in Hamburg galt spätestens um die Jahrhundertwende als problematisch. Der sich zuspitzende Nationalismus sorgte wie in anderen Ländern dafür, dass die Vielen sich zugehörig fühlten; doch er gab der Gleichheit einen exklusiven Charakter.
Das zweite Kapitel behandelt die Ökonomie und den Sozialstaat. Die Industrialisierung bot den Menschen, wovon es noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts oft viel zu wenig gegeben hatte: Arbeit und Brot. Der Kapitalismus beutete Männer, Frauen und Kinder brutal aus, trieb die Ungleichheit in nie gekannte Höhen. Doch er bedurfte der Menschen nicht nur als Arbeitskräfte, sondern auch als Konsumenten und Konsumentinnen. Er stellte ihnen Massenprodukte zur Verfügung und machte sie zu zahlungskräftigen Käufern und Steuerzahlerinnen. Nicht zuletzt aufgrund von Skandalisierungen wurde der Staat für immer mehr Bereiche verantwortlich und griff immer tiefer in das Leben der Menschen ein. Doch die Bürgerinnen und Bürger sahen sich auch selbst in der Pflicht, die Menschen gründeten unzählige Vereine und trieben die Reformen voran. Die Arbeiterschicht formte sich zu einer kampfbereiten Klasse. Der unfassbare ökonomische Boom stellte die Ressourcen für die Neuerungen zur Verfügung.
Das dritte Kapitel zeigt den globalen Rahmen, ohne den es den wirtschaftlichen Aufschwung, aber auch den Rassismus oder eine Bewegung wie den Sozialismus nicht gegeben hätte. Viele Menschen entwickelten ein globales Selbstverständnis: Teile des Wirtschaftsbürgertums etwa oder Arbeiteraktivisten und Frauenrechtlerinnen. Für die meisten aber bot in einer sich globalisierenden Welt die nationale Gemeinschaft Identität und Halt. In der Perspektive des nationalen Wettbewerbs sahen die Menschen die Welt globaler und zugleich nationaler als je zuvor. Dem sich zuspitzenden Nationalismus entsprach der Kolonialismus als Ausdruck wachsenden Selbstbewusstseins und nationaler Gewalt.
Das vierte Kapitel schließlich analysiert die Ausbreitung partizipativer Rechte und ihre Verbindung mit Krieg und Militär. So wie sich Wehrpflicht und Vorstellungen des freien Mannes in Waffen Mitte des 19. Jahrhunderts mit Nationalismus verschränkten, so gehörten Massenpolitisierung und Massenkriege zusammen. Das allgemeine Männerwahlrecht und der moderne Krieg entsprechen einander auf verstörende Weise. Wer für sein Land stirbt, darf auch wählen, und wer im Staat mitregiert, darf Revanche und blutigen Nationalismus einfordern. Es ist bezeichnend, dass es Frauen waren, die 1915 in Den Haag zu Hunderten aus aller Welt zusammenkamen, um Frieden und eine gerechte Weltordnung zu fordern; sie waren von der martialischen Demokratie-Logik ausgeschlossen. Auch das Kriegsende und der Zusammenbruch des Kaiserreichs standen unter dem Zeichen der Massenpolitisierung: Die einfachen Soldaten, am prominentesten die Kieler Matrosen, zeigten aller Welt, dass das Volk vom Krieg genug hatte. Doch auch hier wird die dunkle Seite der Massendemokratisierung deutlich: Die siegreichen Völker schienen ein Anrecht auf Rache zu haben, und bei den Unterlegenen erfasste das Gefühl der Demütigung und des Hasses das ganze Land und zerfraß die bürgerliche und sozialdemokratische Mäßigung.
Das Kaiserreich wird in diesem Essay also als eine Zeit der Aufbrüche und bewusst eingeleiteten Veränderungen interpretiert, deren Dynamik sich aus der Massenpolitisierung ergab. Auch die Globalisierung bestärkte die reformerische Energie. Der Essay ergänzt damit eine breite Forschung, die längst das Bild vom quasiabsolutistischen Obrigkeitsstaat aufgegeben hat, weil es der Pluralität der deutschen Gesellschaft und der Vielfalt des politischen Lebens im Kaiserreich nicht gerecht wird.19 Indem der Essay die Reformeuphorie und die Aufbrüche gerade auch der Frauen in den Blick nimmt, wendet er sich gegen eine düstere Exotisierung des Kaiserreichs und verweist auf den progressiven, reformerischen Kontext im ganzen nordatlantischen Raum.20
Blinkende Uniformen und Pickelhauben, rauschende Bärte, Hurrageschrei und Waffenklirren: Im Spiegelsaal von Versailles, im Herzen des Feindes und ihm zur Demütigung, wird am 18. Januar 1871 ein Hoch auf »Seine Majestät den Kaiser« ausgebracht. So zeigte der Hofmaler Anton von Werner die »Kaiserproklamation«, und so wird der Auftakt des Deutschen Reichs bis heute gerne illustriert. Ein männliches Fest von Kaiser, Fürsten und Soldaten. Doch die damals Anwesenden erinnerten sich nicht an Glanz und Gloria. Der Akt habe sich kühl und nüchtern gestaltet, in »prunklosester Weise und außerordentlicher Kürze«. Zum Degenschwingen und Recken der Pickelhauben war gar kein Platz, die Männer standen steif »wie Säulen« und dicht gedrängt.1
Anton von Werners Gemälde ist ein Propagandastück, das ein einseitiges Geschichtsbild plausibilisiert: Das Kaiserreich als Adelsaristokratie, als Land der Männer und des Militärs. Allzu oft wurde diese Lesart der Gründung unkritisch übernommen und als Menetekel für das ganze Kaiserreich herangezogen.2 Doch der Auftritt, der am 18. Januar in Versailles stattfand, war eher kontingent und kaum von langer Hand geplant. Gewiss, der Ort Versailles besaß als Inbegriff französischer Herrschaft eine starke Symbolkraft, die von den Zeitgenossen nicht missverstanden werden konnte. Der Spiegelsaal als Austragungsort hatte sich freilich auch aus Zufällen ergeben: Die deutschen Truppen lagen vor Paris, und die Halle war einigermaßen groß genug für die Versammlung.3 In Deutschland wusste offenbar kaum jemand Bescheid, und selbst Beteiligte in Versailles hatten bis zur Stunde keine Ahnung davon, was geschehen würde. In den deutschen Zeitungen wurde am Tag selbst nahezu nichts angekündigt, und auch in den folgenden Tagen wurde wenig Aufhebens von der Inszenierung gemacht.4 Das Reich war schon gegründet, und der preußische König hatte bereits seinen Kaisertitel, den er ohnehin nur widerwillig angenommen hatte.
Denn am Anfang stand die Verfassung: Sie trat am 1. Januar 1871 in Kraft und begründete, als eine Revision der Verfassung des Norddeutschen Bundes von 1867, das »Deutsche Reich«. Deutschland war damit eine konstitutionelle Monarchie, die in Europa übliche Staatsform: Der Monarch – im Deutschen Reich der Kaiser, in Personalunion preußischer König – war institutionell eingehegt, nicht zuletzt durch die Bürger, die über die Wahl des Parlaments Einfluss auf das Staatsgeschehen nahmen.5 Den Zeitgenossen erschien eine Verfassung als selbstverständlich. Das allerdings war neu. Noch der Vorgänger des Kaisers auf dem preußischen Thron, König Friedrich Wilhelm IV., hatte eine Verfassung für Teufelszeug erklärt und sich erst mit der Revolution von 1848/49 zur preußischen Konstitution bereitgefunden.
Die Verfassung allerdings sollte das monarchische Prinzip befestigen und den Fürsten den Glauben schenken, es handele sich beim Deutschen Reich nicht um einen preußischen Zentralstaat mit starkem nationalstaatlichem Parlament, sondern um einen Fürstenbund. Auch die dritte und letzte Version der Verfassung vom April 1871, mit der nunmehr auch Württemberg und Bayern dem Reich angehörten, setzte mit dem Kaiser und den Fürsten ein. Zur Machtsicherung und als Garantie des monarchischen Elements war ein von den fünfundzwanzig Ländern bestückter sogenannter Bundesrat vorgesehen. Föderalismus und Fürstenherrschaft gingen in diesen Vorstellungen Hand in Hand. Der Bundesrat war nach dem Verfassungstext Träger der Souveränität. Er konnte Gesetze einbringen, und er musste den Gesetzen gemeinsam mit dem Parlament, dem »Reichstag«, zustimmen. An der Spitze des Bundesrats fungierte das Bundespräsidium, das der Monarch innehatte. Der Kaiser, wie man das Bundespräsidium vereinfachend nannte, war das Staatsoberhaupt, zuständig für die Außenpolitik sowie für Krieg und Frieden.
War also das Kaiserreich vornehmlich ein Fürstenbund, dominiert von einem reaktionären Preußen? Waren die Deutschen vor allem eines: Untertanen in einem Obrigkeitsstaat? Anders als Bismarck und später Wilhelm II. behaupteten, war das Deutsche Reich rechtlich nicht als Fürstenbund entstanden. Denn die Verfassung war nicht von einem Fürstengremium beschlossen, sondern vom Reichstag des Norddeutschen Bundes beraten und verabschiedet worden; die Abgeordneten dieses Parlaments aber waren durch ein modernes gleiches und allgemeines Männerwahlrecht gewählt worden. Die Grundlage des Staates war also nicht zuletzt ein Effekt der Volkssouveränität.6 Und auch die viel beschworene Hegemonie Preußens lässt sich angesichts der wachsenden Attraktivität und Bedeutung des Reichs in der Bevölkerung kaum mehr behaupten.7
Richtig ist dennoch, dass die Obrigkeit in Deutschland stark war und für die Disziplinierung und dichte Kontrolle der Bürgerinnen und Bürger sorgte: Die Durchsetzung der Schulpflicht etwa funktionierte relativ gut, die Pressezensur war bis in die neunziger Jahre für europäische Verhältnisse streng und, um ein weiteres Beispiel zu nennen, die ordnungsgemäße Erfassung der Wahlberechtigten und die Durchsetzung ihres Partizipationsrechts verliefen auch bei Minderheiten wie den polnischsprachigen Deutschen verhältnismäßig reibungslos. Eine starke Staatsmacht bedeutet neben Drangsalierung und Überwachung eben auch: einen Rechtsstaat, der immer wieder dafür sorgte, dass vor dem Gesetz alle gleich waren.8
Das Deutsche Kaiserreich war ein Kompromiss. Es entstand nicht nur als Ergebnis langwieriger Aushandlungsprozesse, sondern auch als Folge von Zufällen. Bismarck hatte keineswegs seit Jahren und in einsamer Genialität darauf hingearbeitet.9 Dass die Deutschen etwa gegen ihren westlichen Nachbarn siegen würden, hatte als so unwahrscheinlich gegolten, dass Frankreich, das bis dahin allgemein für die überlegene Militärmacht gehalten wurde, den Krieg nahezu leichtsinnig in Kauf nahm.10
Die Deutschen waren Untertanen einer Monarchie. Aber zugleich füllten sie ihre Rolle als freie und zunehmend politisierte Bürger aus – beides ging in Europa problemlos zusammen, viele hielten es sogar für zwei Seiten einer Medaille. Tatsächlich wurde die demokratische Seite des Kaiserreiches in den letzten zwanzig Jahren in der Forschung immer deutlicher herausgearbeitet.11
Im Verfassungsalltag und für die Bürger trat die Idee des reaktionären Fürstenbundes schnell in den Hintergrund. Das war möglich, weil der Verfassungstext ausgesprochen pragmatisch gehalten war – ein Kompromiss eben. Er sollte dem Einigungsprojekt nicht im Weg stehen. Ein Grundrechteteil fehlte, denn seine Ausarbeitung hätte womöglich wie 1848 in der Paulskirche zu viel Diskussionszeit erfordert und er hätte den Eindruck erwecken können, in Konkurrenz zu den traditionsreichen Grundrechtskatalogen der Einzelstaaten zu treten. Der Pragmatismus machte die Verfassung flexibel und offen. Das sollte sich in den kommenden Transformations- und Reformzeiten als ein Vorteil erweisen.
Und so bildete sich der Reichstag, den Bismarck einhegen wollte, im politischen Leben zur entscheidenden Institution und zum Symbol der nationalen Einheit heraus. Das Parlament hatte das Budgetrecht, das Gesetzesinitiativrecht und es musste den Gesetzen zustimmen. Außergewöhnlich an der Verfassung war das gleiche Männerwahlrecht, das es in diesem Ausmaß in kaum einem anderen Staat gab. Nahezu jeder Mann ab dem 25. Lebensjahr besaß das Stimmrecht, von den in Europa üblichen Ausnahmen abgesehen, etwa den Empfängern von Armenhilfe. Die Abgeordneten wurden in hochkompetitiven Wahlkämpfen gekürt. Als ein entscheidender Grund für das Wahlrecht galt in politischen und intellektuellen Kreisen immer wieder der Einsatz der Männer im Krieg (dieser Aspekt wird unten ausführlich zur Sprache kommen). Noch wichtiger war – insbesondere für Linke und Liberale –, dass die Verfassung mit dem modernen Wahlrecht in einem entscheidenden Punkt an ein großes Ereignis der deutschen Demokratiegeschichte anknüpfte: an die Verfassung der Paulskirche.
Das Parlament tagte öffentlich, auf der Zuschauertribüne drängten sich Männer und Frauen, Zeitungen druckten lange Auszüge der Reden. Die Regierung wurde nicht vom Reichstag bestätigt – was kein deutsches Alleinstellungsmerkmal war –, vielmehr ernannte der Kaiser den Reichskanzler als Regierungschef. Der Kanzler stand den sogenannten Staatssekretären vor, die als Beamte die Funktion der Minister ausfüllten und die Reichsämter leiteten. Auf die Dauer aber ließ sich keine Politik gegen das Parlament machen, da der Reichstag den Haushalt verabschieden und die Gesetze beschließen musste.12
Der Bundesrat, der doch Souverän sein und das Fähnlein der Monarchie hochhalten sollte, verblasste schon deshalb, weil die Kammer hinter verschlossenen Türen beriet und die Ländervertreter nur entsandt und nicht gewählt waren – weil folglich kaum jemand die Männer kannte.13 Wie immer erweitert und präzisiert der internationale Vergleich die Interpretation: Bismarck hatte zwar den Bundesrat nicht als zusätzliche Kammer gedacht (in seinen Augen gab es mit dem Reichstag und den zahlreichen Landesparlamenten genug parlamentarisches Leben), aber der Bundesrat erfüllte in gewisser Weise genau diese Funktion. Dass seine Mitglieder nach einem anderen Modus nominiert wurden als die Volkskammer, war international üblich und galt sogar – entsprechend dem Prinzip der Mächtebalance – als wesentlich; wie in den USA diente in Deutschland die andere Kammer der Stärkung des föderalen Charakters.14
Überhaupt erwies sich der Föderalismus in mancherlei Hinsicht als demokratisierendes Element.15 Zu den Staaten, die dem Deutschen Reich angehörten, zählten mit Hamburg, Bremen und Lübeck drei Republiken. Viele deutsche Länder wie Bayern, Württemberg oder Baden brachten mit ihren altehrwürdigen Verfassungen und ihren Parlamenten freiheitliche Traditionen in den neuen Staat ein. Das Deutsche Reich war ein Nationalstaat, der – so oder so – auf dem Volk gründete.
Der Kaiser besaß keine direkten Kompetenzen bei der Gesetzgebung. Als formales Staatsoberhaupt bestand seine Funktion darin, Gesetze auszufertigen und zu verkünden. Das war ein das monarchische Prinzip einschränkendes Moment, auch wenn dem Kaiser über den Bundesrat ein gewisser Einfluss zustand. Zur Überraschung der Insider wurde der alte Kaiser Wilhelm I. ein überaus beliebtes Staatsoberhaupt, und sein Enkel Wilhelm II. war ebenfalls lange Zeit populär, wenngleich die Intellektuellen viel über ihn spotteten und seine Prahlerei und das Schwadronieren zunehmend zum Problem wurden.16 Er ließ sich in bunten Uniformen und im Glanze seiner prunkenden Söhne feiern. Ihren Monarchen verehrt und gefeiert haben freilich auch die anderen Europäerinnen und Europäer.
Der Nationalstolz der Deutschen rührte nicht zuletzt aus der neu gewonnenen Einheit. 41 Millionen Menschen lebten im Deutschen Reich. Der Deutsch-Französische Krieg hatte das Machtverhältnis in Europa umgekehrt: Anders als zuvor galt nicht mehr Frankreich als die dominierende Kraft auf dem Kontinent, sondern Deutschland. Die Annexion von Elsass-Lothringen erwies sich dabei als ein Pyrrhussieg und lastete als skandalträchtiges Ärgernis auf dem Reich. Sie erschwerte den Ausgleich in Europa, steigerte die Bitterkeit der Franzosen und befeuerte den deutschen Chauvinismus.
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