Den Schwulen lass hier mal weg - Detlef Grumbach - E-Book

Den Schwulen lass hier mal weg E-Book

Detlef Grumbach

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Beschreibung

"Den Schwulen lass hier mal weg" – diesen Rat bekam der Autor, als er in einem Aufsatz den schwulen Edmund Gabriel in Martin Walsers Anselm-Kristlein-Trilogie erwähnt hat. Dabei ist diese wichtige Figur schon so oft weggelassen worden, dass sie in der Wahrnehmung beinahe verschwunden ist. Doch was geht dabei alles verloren? Detlef Grumbach nimmt die Frage zum Anlass, seine Biografie als schwuler Leser zu befragen. In Beiträgen aus fast vierzig Jahren beschäftigt er sich mit deutschsprachigen Autoren und Werken, die ihn besonderes berührt haben. Wichtig sind ihm dabei vor allem solche Bücher, deren Gegenstände eng mit der Biografie der Autoren und zeitgeschichtlichen Umbrüchen verbunden sind. Ein einleitender Beitrag fragt nach den Bedingungen einer sogenannten ‹Schwulen-Literatur› und skizziert ihren langsamen Weg heraus aus dem Ghetto. Mit Beiträgen über Klaus Mann, Friedo Lampe, Wolfgang Koeppen, Martin Walser, Walter Vogt und andere, einer Laudatio auf Ralf König und einem Dankeschön für eine Auszeichnung des Männerschwarm-Verlags.

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Den Schwulen lass hier mal weg

Verlagstext

Den Schwulen lass hier mal weg» – diesen bekam Detlef Grumbach, als er in einem Aufsatz den schwulen Edmund Gabriel in Martin Walsers Anselm-Kristlein-Trilogie erwähnte. Dabei ist diese wichtige Figur schon so oft weggelassen worden, dass sie in der Wahrnehmung beinahe verschwunden ist. Doch was geht dadurch alles verloren? Grumbach nimmt diese Frage zum Anlass, seine Biografie als schwuler Leser zu befragen. In Beiträgen aus fast vierzig Jahren beschäftigt er sich mit deutschsprachigen Autoren und Werken, die ihn besonders berührt haben. Dabei macht er deutlich, welches Potenzial darin steckt, die Lebenswelten heterosexueller und homosexueller Figuren in der Literatur aus unterschiedlichen Perspektiven zu gestalten und zu konfrontieren – und die entsprechenden Bücher (auch die von schwulen Autoren) zu lesen. Wichtig sind ihm dabei vor allem solche Bücher, deren Gegenstände eng mit der Biografie der Autoren und zeitgeschichtlichen Umbrüchen verbunden sind. Ein einleitender Beitrag fragt nach den Bedingungen einer sogenannten ‹Schwulen-Literatur› und skizziert ihren langsamen Weg heraus aus dem Ghetto.

Mit Beiträgen über Klaus Mann, Friedo Lampe, Wolfgang Koeppen, Martin Walser, Walter Vogt und andere.

Detlef Grumbach, geboren 1955, studierte Germanistik und Philosophie, machte eine Ausbildung zum Buchhändler und gehörte gut 25 Jahre zu den Verlegern des Männerschwarm Verlags. Als freier Journalist arbeitete er u. a. für die Literaturredaktionen von Deutschlandfunk, NDR sowie WDR und veröffentlichte Buchbesprechungen in den Feuilletons der Berliner Zeitung, der Frankfurter Rundschau, der Zeit und vieler weiterer Zeitungen. Als Vorsitzender der Christian-Geissler-Gesellschaft betreut er die Herausgabe einer Werkschau im Verbrecher Verlag.

Detlef Grumbach

Den Schwulen lass hier mal weg

Aufsätze und Reden zur Literatur

MännerschwarmVerlag

Berlin 2023

1. Auflage

© 2023 Männerschwarm Verlag, Berlin

Salzgeber Buchverlage GmbH

Prinzessinnenstraße 29, 10969 Berlin

[email protected]

Umschlaggestaltung: Robert Schulze

Printed in Germany

ISBN 97-8-386300-360-9

Mehr über unsere Bücher und Autor*innen:

www.maennerschwarm.de

‹Schwule Literatur› – oder Schwule in der Literatur

Ein Überblick

Ich bin bereit, von schwuler oder homosexueller Literatur dann zu sprechen, wenn ich in der nächsten Ausgabe der Frankfurter Allgemeinen Zeitung oder der Zeit lese, dass ein neues Werk der heterosexuellen Literatur erschienen ist.

So formulierte Detlev Meyer seine Ablehnung des Begriffs ‹schwule Literatur› oder auch ‹Schwulen-Literatur› im Gespräch auf der Frankfurter Buchmesse im Herbst 1995. Meyer, dessen zwischen 1985 und 1989 erschienene «Biographie der Bestürzung» das Feuilleton und die Leser:innen begeistert hat – Helmut Schödel nannte den Autor in Die Zeit einen «Glücksfall» für die Literatur (1986) und einen «Virtuosen des Leichtsinns» (1987) – gehörte zu den sehr wenigen schwulen Autoren, die über das schwule Leben schrieben und in den Feuilletons der Mainstream-Presse besprochen wurden. Sein Statement weiter:

Dann will ich gerne sagen: Dies gibt es, aber es gibt auch das andere, und beide finden im Haus des Seins, der Sprache ihren Platz. Aber zurzeit ist das wirklich nur dieser Literatur zugeordnet, dieser Begriff schwul, um sie in die Ecke zu drängen, an den Rand zu drängen, sie exotisch zu machen.

Eine solche Abwertung, mit der die Literatur von oben herab auf den (Binde-)Strich geführt und zu einem Produkt des Dienstleistungsgewerbes für Bewegungen erklärt wird, erfuhr nicht nur die ‹Schwulen-Literatur›. Dabei finden solche Zuschreibungen ihren Ursprung meist bei den Autor:innen und Leser:innen. Sie entstehen in Phasen, in denen die Literatur eng verbunden ist mit einer sozialen Bewegung, die aus der gesellschaftspolitischen Marginalisierung heraus um die Anerkennung ihrer bloßen Existenz oder politischen Ziele kämpft und dabei für sich selbst die Spielräume erweitern muss. Mit der Arbeiterbewegung entstand zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Arbeiter-Literatur, mit der Frauenbewegung die Frauen-Literatur, mit der Friedensbewegung Anfang der 1980er Jahre die Friedens-Literatur. Damit verbunden war und ist, diese Literatur überhaupt erst einmal gegen die Macht und das Naserümpfen des Literaturbetriebs und seiner Protagonist:innenen (Verleger, Lektoren, Kritiker) durchzusetzen, die einen universellen Anspruch und die Entscheidungsgewalt darüber, was diesem Anspruch Genüge tut, für sich beanspruchen. Sie wollen entscheiden, welche Stoffe und Figurenkonstellationen literaturfähig sind und welche nicht. Detlev Meyer zur Übernahme des Begriffs ‹Schwulen-Literatur› durch die Bewegung:

Ich akzeptiere es im Rückblick. Es hat also in der Sozial- und der Geistesgeschichte seine Funktion gehabt, es hatte seinen emanzipatorischen Pfiff. Man hat das Wort übernommen, mit dem man beleidigt wurde. Man hat sich also diesen Handschuh einfach übergezogen und die Faust gestreckt und gesagt, also okay, also wenn wir schwul genannt werden, dann wollen wir das auch laut sagen. Aber das war in der Phase der schwulen Emanzipation wichtig, mittlerweile müssten wir darüber hinaus sein. Und es gibt auch Frauen, die sagen: Ich bin Frau. Punkt. Ich bin Autorin. Punkt. Ich bin keine Frauenautorin. Wie der berühmte Satz von Yves Navarre: «Ich bin schwul, ich bin Schriftsteller, ich bin kein schwuler Schriftsteller.»

Für die Frauen-Literatur mag das zum Zeitpunkt von Meyers Statement gegolten haben. Viele Veränderungen auf dem Weg zur Gleichstellung stehen zwar noch heute aus, doch der Horizont des gesellschaftlichen Diskurses und damit der Literatur insgesamt hat sich deutlich erweitert. Was als ‹Frauen-Literatur› dabei trotz der Abwertung ‹von oben› seinen Dienst geleistet hat, hat längst Eingang in die ‹eine› Literatur gefunden, ist anerkannt und hat deren Spektrum erweitert und dafür gesorgt, dass ihre Themen, Stoffe und entsprechende Protagonistinnen nicht mehr nur in Büchern von Autorinnen präsent sind.

Schwule Nachbarn

Ob Meyers Intervention, die Bezeichnung ‹schwule Literatur› nur im Rückblich akzeptieren zu wollen, 1995 schon zutreffend war, darf angezweifelt werden. Zwölf Jahre nach dem Gespräch, dass ich für eine Sendung des NDR-Bildungsfunks mit ihm geführt habe, sind die Verleger des Männerschwarm Verlags noch immer zu einem anderen Befund gekommen. Wir hatten zwar unseren Beitrag zur Entwicklung einer deutschsprachigen Gegenwartsliteratur geleistet, aus dem sozialen Umfeld der Schwulenbewegung hatten wir unsere Autoren noch immer nicht herausgeführt. Wer sich aus der Perspektive schwuler Figuren mit Liebe, Beziehungen, Arbeitsleben oder Tod beschäftigt, wird diese – ob ausgesprochen oder nicht – stets mit heteronormativen Verhältnissen konfrontieren müssen, die nicht für sie eingerichtet sind, an denen sie sich reiben. Das macht einen besonderen Reiz aus und ist gleichsam eine Versicherung dagegen, die Figuren nicht in den Käfig eines apologetischen Verhältnisses zur Realität zu sperren, führte aber immer noch dazu, im Literaturmarkt marginalisiert zu werden. Heterosexuelle Leser:innen, so durften wir zu Recht noch verallgemeinern, interessierte das nicht. Dem entsprach es, das der Seitenblick auf schwule Lebensrealitäten aus der Perspektive der heterosexuellen Autor:innen und ihrer Figuren noch immer ausblieb. Schwule als Figuren und die Auseinandersetzung mit ihren Lebensformen kamen in der aktuellen Gegenwartsliteratur nicht vor, sofern diese Literatur nicht von Schwulen selbst geschrieben wurde. Zumindest nur selten. Ausnahmen bestätigen die Regel.

«Schwule Nachbarn» lautete zunächst nur der Arbeitstitel einer Anthologie, mit der wir deshalb aus Anlass des fünfzehnten Verlags-Geburtstags Abhilfe schaffen wollten. Der Männerschwarm Verlag bat also Autorinnen und Autoren, die wir für heterosexuell hielten, um Geschichten, in denen sie ihre heterosexuellen Figuren mit schwulen Lebensrealitäten konfrontieren.

«Keine Idee. Ich kann nicht»1, so begründet einer der angeschriebenen Autoren, der in der Textsammlung, die dann unter dem Titel «Schwule Nachbarn. 22 Erlebnisse» (2007) erschienen ist, nicht vertreten ist, kurz und knapp seine Absage. Ein anderer nimmt den Arbeitstitel über die Maße wörtlich: Er könne «nicht mitmachen, weil mir kein schwuler Nachbar erinnerlich ist». – «Ich fühle mich nicht zuständig», so schreibt ein weiterer Autor und repräsentiert mit dieser Aussage keine Minderheit. Aber sind die Blicke über den eigenen Tellerrand, auf die «schwulen Nachbarn» im weitesten Sinne (ein turtelndes schwules Paar in der U-Bahn, der Bürgermeister, Talkmaster oder Komödiant, der Lehrer, Mitschüler oder Bademeister, der Buchhändler, Friseur oder Sparkassenfilialleiter), sind Konfrontationen mit schwulen Figuren, die im wirklichen Leben zumindest im städtischen Raum zum Alltag gehören, in der Literatur eine Frage der Zuständigkeit? Ist der Begriff der ‹Zuständigkeit› überhaupt tauglich, wenn es um eine literarische Fragestellung geht? Ein Reiz der Literatur liegt doch im Konjunktiv, in der Möglichkeit, die anders ist als die erlebte Realität, die etwas ausprobiert. Wer sich mit literarischen Mitteln auf die Wirklichkeit einlässt und von vornherein die Möglichkeit ausschließt, einen Blick auf den schwulen Nachbarn zu riskieren, muss sich die Frage gefallen lassen, ob er nicht das betreibt, was als ‹Bindestrich-Literatur› tituliert wird – in diesem Fall ‹Heterosexuellen-Literatur›.

«Ein Roman über New Orleans ohne Schwule», so beantwortete die amerikanische Autorin Tony Fennelly bei einer Lesung die Frage, warum in ihren Romanen schwule Figuren immer eine wichtige Rolle spielen, «das wäre wie ein Buch über Alaska ohne Schnee.» Doch seine «Berührungen mit der schwulen Welt sind nahe null», erklärt ein weiterer der zur «Schwule Nachbarn»-Anthologie eingeladenen Autoren, ein anderer meint, er sei sich «einfach sicher, dass bei dem, woran ich im nächsten halben Jahr arbeiten will, homosexuelles Leben in keiner Weise vorkommen wird. Tut mir leid». Gerade hatte er, Thomas Hettche, den Roman «Woraus wir gemacht sind» (2006) abgeschlossen, in dem sein Held an zwei verschiedenen Orten schwulen Paaren begegnet: «Verwundert betrachtet er das schwule Paar Ende Vierzig» (78), heißt es, als sein Protagonist ein Hotelrestaurant betritt. Gegen Ende des Romans erzählt er von einem Moment «am Ocean Boulevard in Santa Monica». An der Steilküste «stehen dann schon das Pärchen in Flip-Flops, […] und das schwule Paar» (259). Woran sein Held die Schwulen erkennt, was ihn verwundert und warum er sie gesondert erwähnt, bleibt genauso offen wie alles, was diese konkrete Wahrnehmung in der konkreten Situation bedeutet. Ich hätte mir gewünscht, der Autor hätte uns für unsere Anthologie einen Augenblick in seine Figur hineinhorchen lassen.

Allein die Tatsache aber, dass wir etliche Autorinnen und Autoren gerade deshalb zu dieser Anthologie eingeladen haben, weil wir wussten, dass sie das Thema interessieren würde, dass einige uns bereits veröffentlichte Texte zum Abdruck in diesem Kontext überlassen haben, zeigt jedoch: Seitdem die Vorkämpfer der sexuellen Emanzipation Begriffe wie den des ‹Urnings›, des ‹Homosexuellen› oder ihre Theorien vom ‹dritten Geschlecht› in die Öffentlichkeit brachten, seit Strafrecht und Psychiatrie die Diskurse über ‹Sodomie›, ‹Geschlechtswahnsinn› und die ‹Psychopathia sexualis› bestimmten, ist einiges geschehen. Das erkennt man auch an literarischen Ausnahmeerscheinungen wie Hubert Fichte, der in aller Selbstverständlichkeit als schwuler Autor von vornherein zu der einen Literatur gehört hat, während sein Kollege Felix Rexhausen, der schon ‹Schwulen-Literatur› geschrieben hat, als vom Aufbruch der neuen Schwulenbewegung Anfang der 1970er Jahre noch nichts zu spüren war, mit der Begründung «Schlicht: Zum Kotzen» (zit. n. Wolf 2022) abgelehnt wurde.

Vom ‹schwulen Nazi› zum ‹schwulen Außenseiter›

Ein deutlicher Bremsklotz für die Anerkennung schwuler Alltagsfiguren und -themen im Literaturbetrieb ist das gerade innerhalb der politischen Linken tief verwurzelte Stereotyp des ‹homosexuellen Nazis›: die Charakterisierung von führenden oder besonders grausamen Funktionsträgern des NS-Regimes als homosexuell. Es wurzelt in der Tradition einer spießigen und puritanischen Arbeiterbewegung, die sich im Kampf gegen die kapitalistische Ausbeutung durch die Bourgeoisie mangels realer Stärke dem Klassenfeind wenigstens moralisch überlegen fühlte und alle Formen der von ihm offen praktizierten Libertinage, der Völlerei und eines freien sexuellen Genusses als bourgeois ablehnte. Zu dieser Libertinage gehörte auch Homosexualität, die als Ausdruck bürgerlicher Dekadenz gewertet wurde und – so die ‹revolutionäre› Hoffnung – mit Errichtung einer sozialistischen Gesellschaftsordnung verschwinden würde.

Obwohl sie den § 175 StGB als Instrument der Klassenjustiz ablehnten (der schwule Kapitalist Krupp vergnügte sich auf Capri, während der schwule Arbeiter ins Gefängnis gesteckt wurde), verbanden SPD und KPD den politischen Kampf, wann immer es sich anbot, mit einer antihomosexuellen Kampagne. Als Beispiele seien hier nur die Krupp-Affäre 1902, die Eulenburg-Affäre 1907 und die Röhm-Affäre 1931 / 1932 genannt. Spätestens mit der Ermordung Röhms im Juni 1934 verfestigte sich das Stereotyp vom homosexuellen Nazi in einer Art und Weise, dass die NSDAP aus dem Exil heraus – dies ist nur ein Beispiel – in der sozialdemokratischen Volksstimme als «Bewegung der Homosexuellen» tituliert wurde (zit. n. Zinn 1995, 70) und es auch Eingang in die Literatur fand (vgl. Meve 1990). Als Beispiel seien hier nur zwei Pole genannt: Bert Brechts aus Anlass des sogenannten Röhm-Putschs 1934 verfasste «Ballade vom 30. Juni» und Ludwig Renns 1936 erschienener Roman «Vor großen Wandlungen».

Brecht inszeniert sowohl das Verhältnis Hitlers zu Großkapital (Thyssen) als auch das zu Röhm vor ihrem politischen Zerwürfnis als homosexuelle Bettgeschichten: «Adolf schlief bei seinem Neuvermählten / Jenem reichen Thyssen an dem Rhein» heißt es zu Beginn der Ballade. Später erscheint Röhm Hitler im Traum und erinnert ihn an jene Zeiten, in denen sie politisch noch verbunden waren: «Du brauchst gar nicht heftig aufzufahren / Kam ich doch auch früher manche Nacht …» (Brecht 1967, 520 f.). In ähnlicher Weise ist im Roman Ludwig Renns von führenden Nazi-Funktionären die Rede, «die es durch das Bett von Stabschef Röhm zu etwas gebracht hatten oder hofften, es zu etwas zu bringen» (Renn 1989, 34). Renns Tragik liegt darin, dass er selbst homosexuell war. So findet sich im Rittmeister von Herb auch eine homosexuelle Gegenfigur zum Nazi. Ein Arbeiter durfte diese Rolle sicher nicht übernehmen, doch auch von Herb – konservativ, aber kein NSDAP-Mann, adlig von seiner Herkunft wie auch der Autor – nennt sich selbst einen «verkommenen Menschen» (61).

Die hier nur skizzierte Verknüpfung von Homosexualität und Nationalsozialismus war so mächtig (und so bequem in der Argumentation), dass sie über die Nachkriegszeit hinaus bis in die 1960er / 1970er Jahre wirkte. Als Beispiele aus der westdeutschen Nachkriegsliteratur seien hier der schwule Wachtmeister in Heinrich Bölls «Der Zug war pünktlich» (1949), der Nazi-Lehrer Wakiera in «Billard um halbzehn» (1960) oder der Gemüsehändler Greff in Günter Grass’ «Blechtrommel» (1959) genannt (vgl. Schmidt 2001). Nur Wolfgang Koeppen, über den Uwe Timm für unsere Anthologie «Schwule Nachbarn» geschrieben hat, hat in den 1950er Jahren eine Gegenposition bezogen (siehe den Beitrag über Koeppen in diesem Band). Der Sonderfall der Anselm-Kristlein-Trilogie Martin Walsers wird ebenfalls in diesem Buch behandelt.

In der vom Aufbruch der 1968er geprägten Literatur der 1970er und 1980er Jahre tauchen schwule Figuren dann gelegentlich am Rande auf – in der Bundesrepublik, aber auch in der DDR. Sie werden nicht wirklich in ihrem schwulen Leben gezeigt; es reichte den Autoren, sie als Opfer von Verfolgung und Diskriminierung zu zeigen. So erzählt Gerd Fuchs in seinem Roman «Stunde Null» (1981), wie sich 1945 in einem Dorf langsam aber sicher die alten Verhältnisse wiederherstellen. Ein Kriegsheimkehrer erinnert sich, wie sein Unteroffizier verächtlich über eine «schwule Sau» gesprochen hat (280). Im Rückblick auf die Geschichte des Orts erzählt er von einem schwulen Legionär, der wusste, «daß er sich nicht verraten durfte» (286–293). Peter O. Chotjewitz’ «Saumlos» (1980) sticht aus seinem Umfeld heraus, weil hier der Protagonist des Buchs selbst von schwulen Affekten übermannt wird. Chotjewitz erzählt in dem Roman von einer verschworenen Dorfgemeinschaft, die von ihren Verbrechen in der Nazi-Zeit eingeholt wird. Die schwulen Anwandlungen der Hauptfigur markieren die Distanz, die sie der Gemeinschaft gegenüber einnimmt.

Franz-Josef Degenhardt geht darüber hinaus und schließt den Bogen vom Schwulen als Opfer oder bloßem Außenseiter zum politisch handelnden Subjekt und zur Schwulenbewegung. In seiner «Ballade vom Edelweißpiraten» (1982) erzählt er die Geschichte eines schwulen Widerstandskämpfers, in seinem Roman «Der Liedermacher» (1982) lässt er ganz selbstverständlich ein schwules Paar auftreten. Gisela Elsner, die sich für eine Einordnung in die ‹Frauen-Literatur› auf ihre Weise bedankt hat (vgl. Elsner 2011), nimmt in ihren Gesellschaftssatiren die Geschlechterrollen aufs Korn. Dabei kommt sie nicht ohne die Karikatur von schwulen Figuren aus, die sie den aufs Korn genommenen ‹richtigen› Männern gegenüberstellt – wie Alfred Brusius als Gegenüber des Dichters Alfred Giggenbacher in «Die Zähmung» (1984).

In der DDR führt Dieter Noll 1979 in seinen Roman «Kippenberg» eine wichtige schwule Figur ein. Dies ist bemerkenswert, weil er an die beiden für die DDR-Jugend identitätsbildenden Bände «Die Abenteuer des Werner Holt» anschließt und sich offen mit Opportunismus, Anpassung und Duckmäusertum im Wissenschaftsbetrieb, in Partei und Wirtschaft beschäftigt. In der Entwicklung des angepassten Karrieristen Kippenberg zurück zu den Idealen seiner Jugend und einer gehörigen Portion Konfliktbereitschaft spielt sein schwuler Kollege Harra eine wichtige Rolle. Dabei transportiert der Roman zwar die gängigen Klischees («exzentrisches Wesen» u.a., Noll 1979, 64) und erklärt Harra zum Ausnahmeschwulen («zeigte aber nichts von den Verhaltensstereotypen einer homosexuellen Subkultur», 65), moniert aber auch, dass die sozialistische Gesellschaft den Homosexuellen noch immer nicht «ein Ende unwürdiger und unberechtigter Diskriminierung gebracht» (ebd.) habe. Genauso deutlich rückt Noll eine schwulenfeindliche Figur, die sich bei Harra «vor Ekel» schütteln muß», in die Nähe zum «gesunden Volksempfinden», «in dessen Namen man Millionen in die Gaskammern geschickt hatte» (66).

Helga Königsdorf geht zehn Jahre später noch weiter, wenn sie einen schwulen Wissenschaftler auf dem Weg zur Professur ins Zentrum ihres in Briefform gefassten Romans «Ungelegener Befund» (1990) rückt. Stephan Hermlin, der Grandseigneur der DDR-Literatur, lässt seinen Erzähler in «Abendlicht» (1979) mit großem Wohlwollen von seinem – in den 1920er Jahren – heiß geliebten Onkel Herbert schwärmen. Auch Ludwig Renns «Vor großen Wandlungen» (1936) ist innerhalb einer Werkausgabe im Aufbau Verlag erschienen, aber erst 1989. Eine ‹Schwulen-Literatur› schwuler Autoren entwickelte sich in der DDR erst ab Mitte der 1980er Jahre.2

Wo immer schwule Figuren in der Literatur eine Rolle spielen, so können wir nur geringfügig verallgemeinert feststellen, werden sie innerhalb des Literaturbetriebs nicht wahrgenommen. Der heterosexuelle Mainstream interessiert sich nicht für sie, so wie er sich auch nicht für die Literatur schwuler Autoren interessiert. Er lässt sie einfach weg. Gerade die Beiträge über Wolfgang Koeppen und Martin Walsers frühen Romane in diesem Sammelband zeigen jedoch deutlich: Schwule Figuren verirren sich nicht zufällig in die Texte. Wenn sie in Erscheinung treten, haben sie eine Bedeutung. Wer sich diesem Bereich der Literatur verschließt, verbaut sich den Zugang zu einem interessanten Aspekt unserer Wirklichkeit.

Schwule in der Literatur

Schwule in westlichen Demokratien wie der Bundesrepublik genießen heute große Freiheiten und erleben neue Bedrohungen, sie nehmen die sozialen Verhältnisse, in denen sie leben, noch immer in besonderer Weise wahr. Sie sind durch die Erfahrung gegangen, dass diese Verhältnisse nicht für sie eingerichtet sind. Ihr Coming-of-Age ist, anders als das Drama jeder Pubertät, auch ein Coming-out: Das macht sie sensibel für Verhaltensmuster, Rollenerwartungen und Machtstrukturen. Als Angehörige einer Gruppe, die in ihrer Lebensplanung nur in Ausnahmen mit den Freuden, der Verantwortung und den Belastungen der Kindererziehung konfrontiert ist, die ihr Leben in dieser Hinsicht ein bisschen freier und ichbezogener gestalten kann, konnten sie aber auch zu ‹Vorreitern› einer neuen ‹Single-Generation› werden – in ironischer Distanz zum familiären Beziehungsdschungel mit seinen Geborgenheiten und Beschädigungen.

Volker Woltersdorff erinnert in seinem Essay «Zwischen Homotoleranz und Homophobie» (2017) daran, dass diese Freiheiten ihren Preis haben und nicht für alle gleichermaßen gelten. Gesellschaftspolitisch gehen sie einher mit den neoliberalen Entwicklungen dieser Jahre. In einer zunehmend gespaltenen Gesellschaft stehen jene Schwule, die es jenseits der Kriminalstatistik in die öffentliche, auch mediale Wahrnehmung bringen, auf der Sonnenseite des Patriarchats und können von der Flexibilisierung und Deregulierung der Arbeitswelt profitieren. «So konnte es dazu kommen», schreibt Woltersdorff, «dass Homotoleranz als ein Projekt westlicher Eliten wahrgenommen werden kann« (80) und auf entsprechende Gegenbewegungen stößt.

Zu Männern erzogen, haben Schwule dennoch in ihren Beziehungen ‹unter Männern› die Chance, sich auf einer Ebene zu begegnen, die frei ist vom Machtgefälle zwischen den Geschlechtern – mit allen willkommenen und unangenehmen Folgen: Machtverhältnisse und Machtspielchen, auch in der Sexualität, werden umkehrbar. Egal, was sie sexuell treiben, es geschieht unter der Prämisse einer ‹freien› Sexualität, während die Befreiung der Frau zunächst damit einhergeht, männlich-heterosexuelle Möglichkeiten der Machtausübung einzuschränken oder zumindest unter Verdacht zu stellen. «Ich werd dich gleich ficken, wie dich noch nie ein Mann durchgefickt hat», droht, nein, verspricht eine Figur Ralf Königs ihrem Freund in «…und das mit links!» (1993): «Ich weiß, was du brauchst, du geile Sau! Ich stoß ihn dir bis zum Anschlag rein. […] Ich nagel dich in die Matratze» (90). Von Mann zu Mann ausgesprochen fehlt dieser Ankündigung das Machohafte, das Bedrohliche, das Gewalttätige, sie klingt mit der in sie hineingelegten Omnipotenz vielleicht sogar ein bisschen lächerlich, auf jeden Fall aber komisch. Von Mann zu Frau gesprochen wäre sie wohl justiziabel. Wahrscheinlich liegt darin der Grund dafür, dass Ralf König auch viele Fans unter heterosexuellen Frauen hat: König beschreibt lustvollen und tabulosen Sex jenseits von Geschlechterhierarchien und Machtverhältnissen.

Nehmen wir noch ein paar Klischees wie das der ‹Kultiviertheit›, der ‹Promiskuität› und das der Neid und Angst auslösenden ‹sexuellen Unersättlichkeit› hinzu, wird offenkundig, was für ein Potenzial darin steckt, die Lebenswelten heterosexueller und homosexueller Figuren in der Literatur aus unterschiedlichen Perspektiven zu gestalten und zu konfrontieren – und diese Bücher, auch die von schwulen Autoren, auch zu lesen. Es gibt also – ganz im Sinne Detlev Meyers – heute vielleicht keine ‹Schwulen-Literatur› mehr, aber schwule Autoren sehen immer noch vieles anders. Eine vielfältige literarische Produktion von Autoren wie Christoph Geiser, Walter Foelske oder Joachim Helfer, Gunther Geltinger, Kristof Magnusson, Detlev Meyer oder Hendrik Otremba, Michael Roes, Jean Claude Sulzer oder Michael Sollorz, oder oder oder, belegt dies.

Literatur

Brecht, Bertolt (1967): Gesammelte Werke in 20 Bänden, Bd. 9, Frankfurt/M.

Elsner, Gisela (2011): Autorinnen im literarischen Ghetto. In: dies.: Im literarischen Ghetto. Kritische Schriften Bd. 2, Berlin, 41–60 [1983].

Fuchs, Gerd (1981): Stunde Null, Hamburg.

Hermlin, Stephan (1979): Abendlicht, Berlin.

Hettche, Thomas (2006): Woraus wir gemacht sind, Köln.

König, Ralf (1993): …und das mit links!, Berlin.

Meve, Jörn (1990): «Homosexuelle Nazis» – Ein Stereotyp in Politik und Literatur des Exils, Hamburg.

Noll, Dieter (1979): Kippenberg, Berlin & Weimar.

Renn, Ludwig (1989): Vor großen Wandlungen, Berlin & Weimar [1936].

Schmidt, Gary (2001): Koeppen. Andersch. Böll. Homosexualität und Faschismus in der deutschen Nachkriegsliteratur, Hamburg.

Schödel, Helmut (1986): Der Bär im Bade. Detlev Meyers fabelhaftes Prosa-Debüt. In: Die Zeit Nr. 17, 18. April 1986.

Schödel, Helmut (1987): In Kürze: Detlev Meyer: «David steigt aufs Riesenrad». In: Die Zeit Nr. 33, 7. August 1987.

Wolf, Benedikt (2022): Schlicht: Zum Kotzen. Eine Quelle zu Felix Rexhausens Roman «Zaunwerk» (1964) und zur Möglichkeitsgeschichte der bundesdeutschen Nachkriegsliteratur. In: Weimarer Beiträge 68 (2022) 3, 459–469.

Woltersdorff, Volker (2017): Zwischen Homotoleranz und Homophobie. Sexuelle Differenz in Zeiten neoliberaler Ungleichheit. In: Grumbach, Detlef (Hg.): Demo. Für. Alle. Homophobie als Herausforderung, Hamburg), 76–86.

Zinn, Alexander (1995): «Die Bewegung der Homosexuellen». Die soziale Konstruktion des homosexuellen Nationalsozialisten im antifaschistischen Exil. In: Grumbach, Detlef (Hg.): Die Linke und das Laster. Schwule Emanzipation und linke Vorurteile, Hamburg, 38–84.

Kämpfen ohne Hoffnung?

Eine Annäherung an Klaus Mann

Es heißt beides bestehen, die gefährliche Zeit, mit der wir alle fertig werden müssen, und das gefährliche Schicksal, mit dem nur gerade ich fertig zu werden habe (Mann 2000, 252).

So formuliert Klaus Mann 1932 in seiner ersten Autobiografie. Er hatte nicht nur wie viele andere seinen Standpunkt und Weg als Intellektueller in den Kämpfen seiner Zeit zu suchen, er musste in besonderer Weise um seine höchst individuelle Lebensperspektive ringen, um ein schwules Selbstbewusstsein kämpfen. Darin liegt die Spezifik seines Lebens und Werkes.

«Die Stellung zum Kollektiv ist das Thema der großen Diskussion, von der wir uns nicht ausschließen durften», schreibt er 1930 in dem Aufsatz «Woher wir kommen – und wohin wir müssen», kann aber nur «mit Neid gemischtes Staunen» für jene aufbringen, die sich dem Marxismus anschließen, die die «Luft des materialistisch-individuellen Terrors» atmen.

Was bleibt zu tun, was lohnt sich? [...] In Bewegung bleiben, auch wenn wir noch nicht genau wissen, wohin es geht. Die Form der Liebe, die die unsere ist, erleiden, zu Ende leben, erfüllen bis zur äußersten, schmerzhaftesten Konsequenz. [...] Unser Ziel sei, als Individualist, nichts repräsentierend als das eigene gottgewollte Schicksal, durch ständige Arbeit, ständige Bemühung teilzuhaben an der geheimnisvollen Vorwärtsbewegung der Menschheit, deren Endziel man ebensowohl das Goldene Zeitalter als das Nichts nennen kann (Mann 1992, 326 f).

Klaus Mann veröffentlichte 1932, im Alter von 26 Jahren, seine erste literarische Autobiografie, den Roman «Kind dieser Zeit». Er erzählt von seiner Kindheit und Jugend bis zum Jahr 1924 unter dem Aspekt, wie Weltkrieg, Novemberrevolution und Krisen der Weimarer Republik in sein scheinbar so wohlbehütetes Leben hineinwirken. Dies geschieht gerade zu einem Zeitpunkt, an dem er und andere sich entscheiden müssen, ob sie gesellschaftlich handeln oder die eigene Individualität gegen die Welt setzen wollen.

«Sind wir Kinder des späten Kapitalismus: letzte verwöhnte Sprößlinge einer hochintellektualisierten Bourgeoisie?», fragt er sich in der Erwartung großer politischer Umwälzungen und formuliert sein Programm:

Nicht die Überwindung der Individualität sei unser Ziel, sondern Einfügung des individuellen Bewusstseins in ein umfassenderes, kollektiveres. Die Schriftsteller, unverbesserlich, werden nie aufhören, von sich selbst zu erzählen. Aber sie werden sich als Teil eines Ganzen wissen, wenn sie in ihr Privatestes einzukehren scheinen (Mann 2000, 9 f.).

Kennzeichnend für die Jahre bis 1924 war für Klaus Mann das stetige Hereinblitzen großer Ereignisse und Gefahren, die er und seine Freund:innen keineswegs verarbeiten oder einordnen konnten. Stattdessen suchten sie ihren Weg im Spaß an Extravaganzen und Bosheiten, schließlich in der Boheme-Welt Münchens. «Kind dieser Zeit» gewährt Einblicke in eine Welt des kindlichen Theaterspielens im häuslichen Mimikbund, das neben makrabren Streichen stand, mit denen sie die Erwachsenenwelt schockierten.

Der Herbst 1923 war von einer tollen und wirbeligen Bewegtheit, auch für uns, die gerade Siebzehn- oder Achtzehnjährigen. Diese Bewegtheit schien, was uns betraf, rein privat und zufällig-persönlich – […] in Wahrheit waren wir natürlich nur mitergriffen. Während wir uns auf eigene Faust toll zu gebärden dachten, tanzten wir nur nach dem Takt, den die Zeit uns angab (205).

Dieser Tanz war begleitet von tiefer Unsicherheit über alle gegebenen Werte:

Wenn man ständig, bewusst oder unbewusst, auf «die Katastrophe» wartet (von der man sich, wie sie aussehen wird, natürlich keineswegs vorstellen kann), wird man irre an Werten, die also, wie es scheint, nicht mehr stark genug sind, das nahen dieser Katastrophe aufzuhalten (95).

Diesen Erfahrungen der Jugend schließen sich, vorbereitet durch eine langsame Politisierung, die des Exils an. «Geistig nie weiter vom Marxismus entfernt als damals», schreibt Mann bezogen auf das Jahr 1924, «wusste ich doch, dass politisch nur immer auf der Linken mein Platz sein würde» (232). In seiner zweiten, in deutscher Fassung erstmals 1952 postum veröffentlichten Autobiografie – «Der Wendepunkt. Ein Lebensbericht» – heißt es dann bezogen auf das Jahr 1929:

Wer sich berufen glaubt, die Summe menschlicher Erfahrungen durch das Wort auszudrücken, darf nicht die dringlichsten menschlichen Probleme – die Organisation des Friedens, die Verteilung irdischer Güter – vernachlässigen oder gar ignorieren: dies wusste ich wohl und sprach es gerne aus. (Mann 2006, 287)

1933 ging Klaus Mann ins ständig wechselnde Exil und ergriff sofort Initiativen zur Organisation der antifaschistischen Volksfront unter den Intellektuellen, ab Herbst 1933 als Herausgeber der Zeitschrift Die Sammlung im Querido-Verlag, Amsterdam. Diese Aktivitäten konnten jedoch nicht über die Anfechtungen und Verzweiflungen hinwegtäuschen, die stets die andere Seite seines Kampfes waren. Bevor er 1939 seinen großen Exilroman «Der Vulkan» schrieb, veröffentlichte er «Flucht in den Norden» (1934), «Symphonie Pathétique» (1935) und «Mephisto» (1936).

«Flucht in den Norden», der erste Roman des deutschsprachigen, antifaschistischen Exils überhaupt, ist die Geschichte der Emigrantin Johanna, die, durch das Exil entwurzelt, hinund hergerissen ist zwischen der politischen Verpflichtung zum Kampf gegen die Nazis und der Verführung einer großen Liebe. Der Roman trägt, wie auch viele anderen Romane Klaus Manns, autobiografische Züge. Johanna ist angelehnt an den Autor, der tatsächlich in einen finnischen Gutsbesitzer verliebt war. Johanna entscheidet sich für den Kampf gegen den Faschismus, denn privates Glück kann sich bei ihr in dieser Situation nicht einstellen unter Preisgabe ihrer gesellschaftlichen Verantwortung. Die Entscheidung Klaus Manns für die Politik spiegelt sich nicht nur in der Entscheidung Johannas, sondern auch darin, dass er eine Frau als Alter Ego gewählt hat. Unter Rücksichtnahme auf antihomosexuelle Vorurteile auch innerhalb der Linken erzählt er eine heterosexuelle Liebesgeschichte. Die Situation am Anfang des Exils charakterisiert Johanna im Roman im Gespräch mit einer Freundin:

«Es gibt jetzt Augenblicke», flüsterte sie, «Augenblicke gibt es jetzt, wo mir alles so sinnlos vorkommt – so irrsinnig sinnlos. … Ich denke dann: Warum bist du eigentlich hier? Warum hat man dich nicht in Deutschland behalten? – denke ich dann. Man hätte dich doch in Deutschland umbringen können, das wäre vielleicht das Beste gewesen» (Mann 2003, 31).

«Symphonie Pathétique. Ein Tschaikowski-Roman» handelt von der Entwurzelung des Künstlers, von der Rastlosigkeit eines Individuums, das wie Klaus Mann doppelt heimatlos ist – als Homosexueller in der Fremde. Das Gefühl des Ausgeschlossenseins, des Verurteiltseins zum Einzelgängertum war bei Klaus Mann so alt wie die Entdeckung seines Schwulseins, er empfand es als unheilbare, tödliche Wunde. Wie wir in «Der Wendepunkt» erfahren, stand schon die kindliche Angst vor dem Krieg zurück vor einer anderen:

Es gab nur etwas, wovor ich wirklich Angst hatte, – nur eine Gefahr, vor der mir graute: ausgeschlossen zu sein vom kollektiven Abenteuer, nicht teilzuhaben am Gemeinschaftserlebnis. Es gibt keine demütigendere, keine traurigere Rolle als die des Außenseiters. [...] In kindlichen Phantasien versuchte ich, das wahre Gesetz meiner Natur zu verleugnen, das mir für immer verbietet, der bemitleidenswerten, beneidenswerten Mehrheit anzugehören (Mann 2006, 72 f.).

Sein Verbleiben im Internat, in der Gemeinschaft der Odenwaldschule wurde ihm wegen seiner Liebe zu seinem Mitschüler Uto zur Qual:

Ich hatte Angst.

Ich hatte Angst vor dem Gefühl, das mir die Brust mit weher Seligkeit zu sprengen drohte. Ich hatte Angst vor Uto. [...] Ich wagte es nicht, die Winke und Zeichen meines Schicksals zu begreifen (167).

Ebenso im «Wendepunkt» bekannte er zum Entstehen des Tschaikowsky-Romans:

Wie hätte ich nicht alles von ihm wissen sollen? Die besondere Form der Liebe, die sein Schicksal war, ich kannte sie doch, war nur zu bewandert in den Inspirationen und Erniedrigungen, den langen Qualen und flüchtig kurzen Seligkeiten, welcher dieser Eros mit sich bringt. Man huldigt nicht diesem Eros, ohne zum Fremden zu werden in unserer Gesellschaft, wie sie nun einmal ist; man verschreibt sich nicht dieser Liebe, ohne eine tödliche Wunde davonzutragen (457 f.).

Klaus Mann war Außenseiter, auch in der Gemeinschaft der Exilierten. Seit im Jahr 1934 in der Sowjetunion die Homosexualität wieder unter Strafe gestellt wurde, stand er distanziert zu den Kommunisten. In seiner Schrift «Homosexualität und Faschismus» nahm er ausführlich Stellung. Der in der antifaschistischen Propaganda konstruierte ursächliche Zusammenhang von Homosexualität und Faschismus («Keinem geringeren als Maxim Gorki wird der erstaunliche Satz in den Mund gelegt: Man rotte alle Homosexuellen aus – und der Faschismus wird verschwunden sein.») ließ ihn fragen:

Woher kommt es denn, dass wir in antifaschistischen Zeitungen die Wortzusammenstellung Mörder und Päderasten beinah ebenso häufig lesen wie in Naziblättern die von den Volksverrätern und Juden? Das Wort Päderast als ein Schimpfwort: nur weil es in nationalsozialistischen Verbindungen viele geben soll, die junge Männer lieben statt Frauen! (Mann 1993a, 237).

Dass Hitler sich anlässlich der einschlägigen Vorwürfe seit Anfang der 1930er Jahre noch vor Röhm stellte, kommentierte Klaus Mann so:

Der Schlichteste muss sich sagen: Das ist fein, der Hitler hält zu seinem Soldaten, was Zeitungen auch aus seinem Privatleben schwatzen. Als sehr unfein und deplaziert aber musste es empfunden werden, wenn Blätter, die sich mit Vorliebe «liberal und aufgeklärt» nannten, plötzlich anfingen «Knabenschänder» zu schreien, wie eine hysterische Pastorengattin (238).

Als politische Gründe (Forderung nach der zweiten Revolution) Röhm für die Nazis gefährlich machten, wurde er umgebracht, angeblich, weil er schwul war. Klaus Mann dazu:

Nun entrüstete sich Hitler, wie seinerzeit die liberalen Blätter es getan hatten. Doktor Goebbels spürte sogar Brechreiz. Den spüren auch wir, allerdings nur anläßlich so unverschämt geheuchelter Empörung, nicht anläßlich ihres Gegenstandes (ebd.).

Und an die Linke, die im antifaschistischen Kampf ins antischwule Fahrwasser geraten war, appeliert er:

Haben die Marxisten vergessen, dass Dogma und Typus des Führers, den wir vor allem bekämpfen, bestimmt werden vor allem durch ökonomische Tatsachen? Und dass Hitler – der übrigens von kleinbürgerlichen Frauen sicherlich heißer und hysterischer geliebt wird als von soldatischen oder effeminierten Männern – nicht deshalb zur Herrschaft kommen konnte, weil «die deutsche Jugend homosexuell verseucht» ist, sondern weil Thyssen zahlte und weil bezahlte Lügen die Gehirne Hungernder verwirrten? (242).

Auf dem internationalen Schriftstellerkongress zur Verteidigung der Kultur in Paris 1935 forderte er vor diesem Hintergrund in seiner Rede «Der Kampf um den jungen Menschen» – zwar recht allgemein – einen «sozialistischen Humanismus»:

Er hat in sich den Geist der Vernunft; dieser aber ehrt das Geheimnis, er ist weder frech noch unwissend genug, es zu leugnen. Es gibt keine Form der menschlichen Leistung, der menschlichen Liebe, der menschlichen Intelligenz, die hier gering geschätzt würde (Mann 1993b, 305).

1936 folgte «Mephisto. Roman einer Karriere», der Roman einer Karriere, die Klaus Mann nicht machen wollte und konnte. Verrat inhaltlicher Ziele (proletarisches Theater), Verrat an sich selbst (Leugnung der sexuellen Orientierung, Abschieben der Prinzessin Tebab) und Verrat an seinen alten Freunden (Verzicht darauf, dem Kommunisten Otto Ulrichs erneut beizustehen gegen die Folterungen der Nazis) – das sind die Preise, die der Gustaf Gründgens nachempfundene Hendrik Höfgen im Roman zahlt, um in Hitler-Deutschland leben und – zuletzt als Aushängeschild des Regimes – Kunst machen zu können.

Der Widerspruch zwischen Lebens- und Kunstperspektive auf der einen Seite und dem politischen Kampf für eine bessere Welt auf der anderen prägt auch das größte Exilwerk Klaus Manns – «Der Vulkan. Roman unter Emigranten», geschrieben 1939. «Der Vulkan» ist die Leidens- und Kampfgeschichte des deutschen Exils, dessen Reichtum an Einzelschicksalen, Episoden und Handlungsorten zusammengehalten und strukturiert wird von dem Personenviereck Martin Kurella, Marion von Kammer, Marcel Poiret und Kikjou, dem Geliebten Martin Kurellas. Was diese vier Hauptpersonen an Widersprüchen in sich bergen, sind Probleme, Wesenszüge von Klaus Mann. Was er sich bemüht, «in epische Form zu bringen», sind laut «Der Wendepunkt»:

Erinnertes und Geahntes, Traum und Gedanke, Einsicht und Gefühl, der Todestrieb, die Wollust und der Kampf [...], Musik und Dialektik, die Entwurzelungsneurose, das Heimweh als Geißel und Stimulans, befreundete Gesichter und geliebte Stimmen, Landschaften meines Lebens [...], viele Formen der Flucht, des Escapism (tödlicher Balsam des Opiats! Ekstase und Qual der Sucht!), viele Formen des Heroismus (Spanien! [...]) [...], das Pathos des «Umsonst», der Entschluss zum «Trotzdem» (Mann 2006, 514).

Wie Klaus Mann seinen Sebastian in «Mephisto» schon deutlich aussprechen ließ, bedeutete politischer Kampf Opfer, Verzicht auf Leben und Kunst:

«Der Kampf hat andere Gesetze als das hohe Spiel der Kunst», sagte er. «Das Gesetz des Kampfes fordert von uns, daß wir auf tausend Nuancen verzichten und uns ganz auf eine Sache konzentrieren. […] Es ist ein Opfer, welches ich bringe – das schwerste» (Mann 2020, S.303).

Diese Opfer bringt in «Der Vulkan» ganz bewusst der französische Intellektuelle Marcel Poiret, der sich für den Kampf in Spanien entscheidet und dort den Tod findet. Er verzichtet auf seine Liebe und sein Zusammenleben mit Marion von Kammer. Marion von Kammer, eng an Erika Mann angelegt, wirkt dagegen beständig mit den Mitteln der Kunst, zieht sich aber dann, nachdem Marcel nach Spanien geht, aus der vordersten Linie zurück. Martin Kurella, deutscher Schriftsteller, will einen Roman über das Exil schreiben, die Frage nach der Zukunft der Menschheit, ihrer Bestimmung und ihrem Schicksal. Er ist voller Zweifel.

Für wen schreibe ich diese Chronik der vielen Wanderungen und Verirrungen? Wer wird mir zuhören? Wo ist die Gemeinschaft, an die ich mich wenden könnte ...?» (Mann 1999, 191)

Er bringt die nötige Kraft dazu nicht auf. Dem Rauschgift verfallen, geht er langsam zugrunde.

Er bewegte gequält das Gesicht. «Ich weiß … Das weiß ich ja alles … ‹Kämpfen› – es klingt sehr schön. Aber Kämpfen ohne Hoffnung geht über menschliche Kraft. Ich habe die Kraft nicht. Ich habe keine Kraft und keine Hoffnung mehr.» Er verstummte (255).

Kikjou, der Lebensbejahende, aber auch unpolitisch-religiöse Geliebte Martins, verlässt ihn vor seinem Tod. Er sieht keine Chance mehr für ein gemeinsames Leben und will seinen Freund nicht sterben sehen. Dieser Kikjou wird am Schluss zur Schlüsselfigur des Romans. Er bekennt sich nach Martins Tod – wenn auch nur vage – zum Handeln. Er betet zu Gott:

Kümmert es Dich viel, ob Dich die Menschen anerkennen? Du bist der Herrscher, der gerne auf Bezeugung der Unterwürfigkeit verzichtet, wenn nur gehandelt wird im Sinne Deines Willens. Wenn nur gehandelt wird ...

Ich will handeln (338).

Die Perspektive seines Handelns gewinnt er also nicht aus konkreter historischer Betrachtung, sondern aus religiösen Motiven gepaart mit der Gewissheit, dass sich das Jenseits nicht vom Dieseits trennen lässt:

Unser irdisches Heil ist wichtiger als das Heil unserer Seele: vielmehr, eines ist gar nicht zu trennen vom anderen. [...]

Es ist unsere Erde: wir tragen die Verantwortung – was immer hier geschieht. Das Übel, dass die Menschenwelt verdirbt, ist zäh, nimmt auch höchst mannigfache Formen an. […]

Von uns verlangt Er dann: Handelt! Protestiert! Schreitet ein! (547 f.)

Zwischen Kampf und Opfer auf der einen Seite und der Hoffnungslosigkeit auf der anderen musste Klaus Mann seinen Weg immer wieder neu finden. An den Kommunisten Johannes R. Becher, der ihm seinen Gedichtband «Der Glücksucher und die sieben Lasten» geschickt hatte, schrieb er 1938, nachdem er von einer Vortragsreise aus den USA zurückgekehrt war:

[…] und ich lese immer wieder darin: nicht ganz ohne Neid, wie ich zugeben muß; denn die Unbedingtheit Ihres Glaubens läßt mich umso bitterer die Qual meiner eigenen Zweifel, meiner Unsicherheit, Ungewissheit empfinden. Sie glauben also: [...] Wie glücklich müssen Sie sein! Denn schon die Qualität Ihrer Verse, die Innigkeit Ihrer Rhythmen und Beiworte beweisen mir, daß Sie ehrlich glauben ... Wie glücklich müssen Sie sein! (Ich bin es nicht...) (Mann 1991, 341).

Im Juni/Juli 1938 ging Klaus Mann als Reporter in den Spanischen Bürgerkrieg, im September reiste er in die USA. Dort blieb er bis 1943, bis er in US-Uniform nach Europa zurückkehrte. 1942 bewarb er sich um die amerikanische Staatsbürgerschaft, um als US-Soldat in Europa gegen den Faschismus zu kämpfen. In «Der Wendepunkt» heißt es:

2. Juni. Ungewißheit, Verzögerung. Warten ...

[…] Die Autobiographie ist fertig. Ich fühle mich ausgepumpt, erschöpft, unfähig zu neuer Arbeit. [...]

Überdrüssig der Freiheit; überdrüssig der Einsamkeit. Sehnsucht nach Gemeinschaft. Der Wunsch, sich einzuordnen, zu dienen! (Mann 2006, 598).

Ab Dezember 1942 diente er dann, zuerst in den USA, dann an der Front in Italien, wo er deutsche Soldaten in Propagandaeinsätzen zur Aufgabe bringen sollte. Wollte er sich opfern?

Seltsamerweise bin ich überhaupt nicht nervös bei solchen Gelegenheiten. Oder vielleicht ist es gar nicht so besonders seltsam? Ich hänge nicht am Leben! Mit Heroismus hat diese Ruhe nichts zu tun (639).

Es kam nicht zu diesem Opfer. Klaus Mann schrieb zwischendurch seine André-Gide-Biografie, kehrte nach dem Sieg über den Faschismus in Uniform nach München zurück. Er konnte aber Deutschland nicht als Heimat wiedergewinnen, wie er – auch das erfahren wir in «Der Wendepunkt» – schon im März 1942 geahnt hat:

Werden wir – werde ich jemals wieder in Deutschland leben? Wohl kaum […]

Ich bin weit gegangen, zu weit, als daß an Rückkehr noch zu denken wäre. Ich muß weitergehen – vorwärts, nicht zurück! […]

Heimkehr oder Exil? Falsche Problemstellung! Überholte Alternative! Die einzig aktuelle, einzig relevante Frage ist: Wird aus diesem Krieg eine Welt entstehen, in der Menschen meiner Art leben und wirken können? [...] In einer Welt des gesicherten Friedens und der internationalen Zusammenarbeit wird man uns brauchen; in einer Welt des Chauvinismus, der Dummheit, der Gewalt gäbe es keinen Platz, keine Funktion für uns. Wenn ich das Kommen einer solchen Welt für unvermeidbar hielte, ich folgte noch heute dem Beispiel des entmutigten Humanisten Stefan Zweig... (593 f.).

Die Lebensweise des Exils, das Treiben von Ort zu Ort, änderte sich für Klaus Mann nach 1945 nicht. Er fand keine Heimat, weder die alte, noch eine neue. Er resignierte sowohl über die schnelle Restauration, über die Bildung der beiden Blöcke, als auch über das von ihm überwältigend empfundene Versagen der Intellektuellen, die sich voll in die politisch bestimmte Auseinandersetzung zwischen Sozialismus und Imperialismus einbinden ließen, einbinden lassen mussten. In dem Aufsatz «Die Heimsuchung des europäischen Geistes» zitierte er in einer seiner letzten, postum publizierten Äußerungen einen jungen Studenten: