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Heinz-Gerhard Haupt

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Beschreibung

Terroristische Attentate erschütterten am Ende des 19. Jahrhunderts ganz Europa. Zwischen 1880 und 1914 kamen durch Revolverschüsse, Messerstiche oder Bomben so viele Monarchen, Staatsoberhäupter, Minister und Beamte ums Leben wie in keiner Zeit zuvor und danach. Anhand von Beispielen aus Deutschland, Frankreich und Italien untersucht dieses Buch das Phänomen Attentat als Herausforderung des staatlichen Gewaltmonopols: Wie reagierten die Nationalstaaten auf anarchistische Anschläge? Führte ein schwacher Staat zu vermehrten Exzessen der Gewaltsamkeit? Galten die staatlichen Repressionen der Bedrohung oder benutzten die Behörden diese nur als Vorwand, um andere Ziele zu erreichen? Gibt es Kontinuitäten zur staatlichen Reaktion auf den Terrorismus des 20. und 21. Jahrhunderts?

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Heinz-Gerhard Haupt

Den Staat herausfordern

Attentate in Europa im späten 19. Jahrhundert

Campus Verlag

Frankfurt/New York

Über das Buch

Terroristische Attentate erschütterten am Ende des 19. Jahrhunderts ganz Europa. Zwischen 1880 und 1914 kamen durch Revolverschüsse, Messerstiche oder Bomben so viele Monarchen, Staatsoberhäupter, Minister und Beamte ums Leben wie in keiner Zeit zuvor und danach. Anhand von Beispielen aus Deutschland, Frankreich und Italien untersucht dieses Buch das Phänomen Attentat als Herausforderung des staatlichen Gewaltmonopols: Wie reagierten die Nationalstaaten auf anarchistische Anschläge? Führte ein schwacher Staat zu vermehrten Exzessen der Gewaltsamkeit? Galten die staatlichen Repressionen der Bedrohung oder benutzten die Behörden diese nur als Vorwand, um andere Ziele zu erreichen? Gibt es Kontinuitäten zur staatlichen Reaktion auf den Terrorismus des 20. und 21. Jahrhunderts?

Vita

Heinz-Gerhard Haupt lehrte Geschichte u. a. an der Universität Bielefeld, der Universität Lyon 2 und am Europäischen Hochschulinstitut Florenz.

Inhalt

Vorwort

Einleitung

Die Attentate

1. Semantik der Gewalt

1.1 Begriffe wechseln die Seiten

1.2 Ausschlussbegriffe

1.3 Ansätze einer Gegenrhetorik

1.4 Ein Krieg der Wörter?

2. Prävention und Repression

2.1 Attentate verhindern

2.2 Polizei- und Spitzeltätigkeiten

2.3 Ausweisungen

2.4 Staatlicher Repressionsapparat

2.5 Strafverfolgung

2.6 Prozesse

2.7 Gesinnungsjustiz

2.8 Neue Gesetze

2.9 Repression und Prävention im europäischen Vergleich

3. Staatliche Sicherheitspolitik und Emotionen-Management

3.1 Anarchistische Emotionspolitik

3.2 Beispiele proaktiver Emotionspolitik

3.3 Reaktives Emotionen-Management

3.4 Staatliche Emotionspolitik

Ende der Zerstörung

Angriffe auf den Monarchen

Opferrituale

3.5 Produktion von Angst und ihre Wirkung

Die Kampagne der Angsterzeugung

Individuelle Veränderungsstrategien

Schluss: Attentate – eine Erfolgsgeschichte für wen?

Anhang

Anmerkungen

Einleitung

Die Attentate

1. Semantik der Gewalt

2. Prävention und Repression

3. Staatliche Sicherheitspolitik und Emotionen-Management

Schluss: Attentate – eine Erfolgsgeschichte für wen?

Bibliografie

Archivalien

Zeitungen

Zeitgenössische Schriften

Literatur

Vorwort

Attentate erschrecken uns – mehr noch in unserem europäischen Schonraum als in Afrika oder Asien, wo sie ungleich häufiger und blutiger sind. In ihnen verfolgen in der Regel Minderheiten politische und gesellschaftliche Ziele, oft auch Herrschaftsansprüche aus einer Situation der Schwäche heraus. Diese Ziele rechtfertigen gleichwohl nicht die gewaltsamen Mittel, die immer auch Unbeteiligte und Unschuldige treffen und deren Leben vernichten. Es ist von Theoretikern und Akteuren immer wieder versucht worden, politische Gewalt aus ihren vermeintlich progressiven Zielen zu rechtfertigen – allerdings ohne Erfolg. Die gewaltsamen Mittel diskreditieren nachhaltig die Zielsetzungen, selbst wenn sie in Extremsituationen wie Fremdherrschaft, Diktaturen oder Unterdrückung eingesetzt wurden. Auch in diesen ist die Sensibilität des Gewalttäters gefordert, die Albert Camus in seinem Stück »Die Gerechten« (»Les justes«) so beschrieben hat: Er zögert, eine Bombe auf den Großfürsten zu werfen, weil dieser neben Kindern, seinen Neffen, sitzt.

Um Attentäter mit durchweg politischen Motiven geht es in diesem Buch, nämlich um Anarchisten, die in einer bestimmten Phase des 19. Jahrhunderts mit der »Propaganda der Tat« Gewalt befürworteten und benutzten. Es geht um ihre Ziele – eine klassen- und herrschaftsfreie Gesellschaft zu errichten –, nachdem es ihnen nicht gelungen war, eine Massenbewegung zu bilden oder erfolgreiche Aufstände zu organisieren. Die Anarchisten trafen dabei auf den Widerstand des modernen Sicherheitsstaates, für den bis heute die Reaktionen auf Attentate zu den großen Herausforderungen gehören. In ihnen müssen Regierungen strategischen Weitblick mit sensibler Behandlung und politischer Prinzipientreue verbinden. Die wechselseitigen Beziehungen zwischen Attentätern und dem Staat stehen im Mittelpunkt der Studie und damit die zentrale Frage, ob und wie die staatlichen Instanzen im Deutschen Reich, in Frankreich und in Italien die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit bei ihren Antworten auf Gewalttaten respektierten.

Die Beschäftigung mit politischer Gewalt ist aus dem lebendigen und anregenden Lehr- und Forschungszusammenhang der Universität Bielefeld und des Europäischen Hochschulinstituts in Florenz entstanden. In dem Sonderforschungsbereich »Das Politische als Kommunikationsraum in der Geschichte«, in dem ich vor allem mit Ute Frevert und Willibald Steinmetz zusammengearbeitet habe, ging es besonders um die Gewaltmanifestationen, die die Grenzen des politischen Raumes verschoben. Mit Wilhelm Heitmeyer habe ich mich in einem Forschungsjahr am Zentrum für Interdisziplinäre Forschung in Bielefeld unter der Fragestellung nach der Kontrolle der Gewalt weiter mit der Problematik beschäftigt. In Florenz konnte ich eine Reihe von Dissertationen betreuen, in denen in unterschiedlichen europäischen Gesellschaften gewaltsame Akteure und Situationen untersucht wurden. Mit Donatella della Porta habe ich im European Forum des Europäischen Hochschulinstituts zu Prozessen der gewaltsamen Radikalisierung im globalen Kontext geforscht.

Meine eigenen Arbeiten blieben – schon aufgrund begrenzter Sprachkenntnisse – auf den französischen, italienischen und deutschen Kontext begrenzt. Sie wurden maßgeblich motiviert durch das Erschrecken über die Gewalt der RAF in den 1970er Jahren und das Ausmaß der staatlichen Gegengewalt, die ich nicht als verhältnismäßig empfand. Ob Sachnotwendigkeiten oder politische Strategien dafür verantwortlich waren, hat mich im europäischen Vergleich schon damals und erneut vor allem nach »9/11« beschäftigt. Die Frage, ob bereits am Ende des 19. Jahrhunderts in ähnlichen Situationen Staaten ähnliche Mittel benutzten und welche Folgen diese hatten, ist ebenso wie der Blick auf die heutige Situation in das Schreiben des Buches eingegangen.

Dieses hat sowohl profitiert von zwei angenehmen und fruchtbaren Aufenthalten am französischen Institut d’études avancées in Nantes und am Iméra in Marseille als auch von den Kommentaren von Kolleginnen und Kollegen, die das Manuskript teilweise oder vollständig gelesen haben. Ich danke besonders Birgit Aschmann, Albrecht Funk, Anna Haupt, Fabian Lemmes, Francis Luisier, Hartmut Müller, Sven-Oliver Müller und Frank Trentmann.

Einleitung

Das Ende des 19. Jahrhunderts war in Europa eine Hochzeit der politischen Attentate. Durch Revolverschüsse, Messerstiche oder Bombenlegen kamen zwischen 1880 und 1914 so viele Monarchen, Staatsoberhäupter, Minister oder Beamte in Europa ums Leben wie in keiner Zeit zuvor und danach.1 Vom zaristischen St. Petersburg über das monarchische Rom und Florenz, das kaiserliche Berlin und das republikanische Paris bis in das Barcelona der Jahrhundertwende erstreckte sich in Europa die Welle der Anschläge, die zwar nicht alle, aber doch mehrheitlich von anarchistischen Gruppen oder Einzeltätern begangen wurden.2 Die Gewalttaten hatten durchweg politischen Charakter. Durch sie strebten politische und soziale Gruppen, die sich in der Minderheit befanden, nach Veränderungen in der Verfassungsordnung und den gesellschaftlichen Strukturen oder verfolgten nationalpolitische Ziele. Mit den Staatschefs, Ministern und Staatsbediensteten galten die Angriffe den Repräsentanten einer staatlichen Ordnung, deren Prinzipien und Aktionen die Attentäter ablehnten. Ihnen setzten die Anhänger der ersten internationalen Arbeiterassoziation, die sich vom marxistischen Mainstream nach der Pariser Commune getrennt und sich den anarchistischen Ideen Michail Bakunins und Petr Kropotkins geöffnet hatten, die Selbstbestimmung der Produzenten, antikapitalistische Ziele und die Vision einer Gesellschaft der Gleichen entgegen.3 Neben den politisch motivierten Attentaten standen aber auch gewaltsame Racheakte, die Francesco Benigno der Tradition der populären Justiz zuschreibt. In ihnen versuchten die Gewalttäter anstelle der Verurteilten und Opfer zu handeln und Mitglieder der Justiz oder des Polizeiapparates zu bestrafen.4

Aufgrund der von ihnen benutzten Gewalt sind diese Akteure auch als Terroristen und das Ende des 19. Jahrhunderts als erste Phase einer langen Entwicklung terroristischer Angriffe auf die staatliche und bürgerliche Ordnung bezeichnet worden.5 In der Tat steht die Strategie der »Propaganda der Tat«, die der französische Sozialist Paul Brousse und ein anarchistischer Kongress im London des Jahres 1881 proklamiert hatten, terroristischen Praktiken nahe, selbst wenn unter Anarchisten auch andere und friedliche Formen der Verbreitung ihrer Ideen und Ziele existierten.6 Die besonders zwischen 1875 und 1895 gehäuft benutzten gewaltsamen Aktionsformen, die hier im Mittelpunkt stehen, sollten danach nicht nur durch Attentate gegen Staatsvertreter die Stabilität der bestehenden Gesellschaften erschüttern und die Fragilität der bürgerlichen Ordnung demonstrieren, sondern auch die arbeitenden Klassen für den revolutionären Kampf mobilisieren.7 Wenn man Terrorismus als eine spezifische Form der politischen Gewalt definiert, die in symbolisch aussagestarken Aktionen von zumeist politisch motivierten Gruppen gegen die staatlichen Institutionen und die Zivilbevölkerung ausgeübt wurde, um sowohl breite Unsicherheit zu erzeugen als auch Unterstützer zu mobilisieren,8 so verwendeten Anarchisten Ende des 19. Jahrhunderts ähnliche Methoden und verfolgten teilweise analoge Ziele – allerdings nur für eine kurze Zeit! Denn die anarchistischen Bewegungen wiesen in den europäischen Gesellschaften parallel und nacheinander mehrheitlich andere Strategien auf. So hielten sie etwa in Italien lange an der Strategie gewaltsamer Aufstände fest, nahmen im Frankreich der 1880er Jahre an Streikbewegungen teil, deren militante Formen und Ziele sie teilten, und näherten sich in Südeuropa dem revolutionären Syndikalismus der 1890er Jahre an.9 Es wäre eine unzulässige Verallgemeinerung, allen Attentaten des ausgehenden 19. Jahrhunderts terroristische Ziele zu unterstellen und alle Anarchisten zu Vorläufern der aktuellen Terroristen zu stilisieren. Nur eine Minderheit von ihnen war an den Gewalttaten beteiligt.10

Gleichwohl gehörten die anarchistischen Attentate zu der Geschichte der terroristischen Gewalttaten, die mit der großen französischen Revolution begannen und Teil der politischen Moderne des 19. Jahrhunderts waren.11 In ihr griffen Minderheiten, die keine Massenbewegungen initiieren und mobilisieren konnten, immer wieder zum Mittel der Gewalt, um ihre politischen und sozialen Ziele zu verwirklichen. Die historische Forschung hat mehr als hundert dieser Gewalttaten im Europa des 19. Jahrhunderts ausgemacht, davon allein 44 Attentate oder Attentatsversuche in Frankreich. Sie unterschieden sich fundamental vom Königsmord des 18. Jahrhunderts, mit dem vor allem dynastische Veränderungen bewirkt werden sollten, dadurch, dass sie eng mit den Konflikten um die Verfassungs-, Staats- und Gesellschaftsordnung verbunden waren. In Attentaten protestierten Charlotte Corday gegen die Politik der Jakobiner, Karl Ludwig Sand gegen das Metternich’sche System, Joseph Fieschi gegen das Bürgerkönigtum und für die Republik. Komplexer waren die Motive des italienischen Patrioten Felice Orsini, der am 14. Januar 1858 ein Attentat gegen Napoleon III. verübte. Er wollte durch die Ermordung des Kaisers eine Revolution in Frankreich einleiten, um mit Hilfe eines revolutionierten Frankreich die Unabhängigkeit Italiens zu verwirklichen.12 In der Tradition dieser Attentate sind die Anarchisten den radikalen Kritikern staatlicher Organisation überhaupt zuzurechnen, die mit Gewalt die bestehenden Hierarchien und Bürokratien zerstören und eine Gesellschaft der Gleichen errichten wollten. Zu dieser Tradition gehörte auch die Entwicklung des modernen Sicherheitsstaates, der seit der Französischen Revolution die Polizeiapparate ausbaute und den politischen Raum begrenzte, in dem radikale Gruppen wie die Anarchisten sich organisieren und ihre Ziele artikulieren konnten. Durch die Phalanx der Polizisten und Soldaten, die bei Gefahr für die öffentliche Ordnung zum Einsatz kam, hatten Aufstände gegen die Staatsgewalt immer geringere Erfolgsaussichten. Mit Ausnahme Italiens gaben deshalb die Anarchisten dieses Mittel auf und engagierten sich für eine individuelle Strategie der »Propaganda der Tat«. Mit dieser wollten sie in Angriffen auf Symbole und Institutionen des Status quo die Schwäche des modernen Staates demonstrieren und die Bevölkerung für ihre Ziele mobilisieren. Mit den gewaltsamen Aktionen provozierten sie aber massive Reaktionen der Regierungen, die sich in der zentralen Legitimation ihres Gewaltmonopols, nämlich die Sicherheit der Bürger zu garantieren, herausgefordert sahen. Diesen Auseinandersetzungen sind die folgenden Überlegungen gewidmet.

Die Frage, wer, wann und wo den modernen Terrorismus erfunden habe, beherrscht Teile der Forschung. John Merriman hat auf das Jahr 1895 und das Attentat von Emile Henry hingewiesen, der am 12. Februar 1894 eine Bombe in das voll besetzte »Café Terminus« in Paris warf. Nach Merrimans These war dies »ein zentrales Datum der modernen Geschichte. An diesem Tag wurden normale Leute zur Zielscheibe der Terroristen.«13 Carola Dietze legt die Ursprünge des Terrorismus in das zweite Drittel des 19. Jahrhunderts, da dieser mit nationalen Bestrebungen und sozialen Emanzipationsforderungen verbunden, von Mitgliedern der Oberklassen getragen und durch Transfers und internationale Kommunikation gekennzeichnet sei.14 Rapoports Einteilung des Terrorismus in fünf verschiedene Phasen datiert die Jahre zwischen 1870 und 1890 als die erste Phase des modernen Terrorismus.15 Alle diese Arbeiten gehen von den Terrorismuserfahrungen des 21. Jahrhunderts aus und versuchen, deren Ursprünge zu erörtern. Dies ist aber nicht der Gegenwartsbezug der vorliegenden Studie.

Sie ist vielmehr von den Ereignissen der 1970er Jahre geprägt, in denen verschiedene europäische Gesellschaften auf ähnliche Herausforderungen durch terroristische Attentate sehr unterschiedlich reagierten. Während diese in der Bundesrepublik Deutschland als Bewährungsprobe der jungen Demokratie betrachtet wurden, die durch umfangreiche Sicherheitsgesetze gegen Terroristen geschützt wurde, bot das republikanische Italien mit dem Programm der »pentiti« Gewalttätern Ausstiegsmöglichkeiten aus dem Terrorismus. In Frankreich schließlich blieb der Einfluss der »Action directe« auf das politische und intellektuelle Leben der Fünften Republik viel begrenzter als in den beiden anderen Gesellschaften.16 Aus den unterschiedlichen Entwicklungen der 1970er Jahre entstand die Frage nach den Ursachen für die nationalen Unterschiede, die nicht nur in aktuellen Bedingungen, sondern auch in historischen Strukturen gesucht werden sollen. Reagierten bereits am Ende des 19. Jahrhunderts Staat und Gesellschaft in Deutschland, Frankreich und Italien unterschiedlich auf Attentate? Lassen sich gar Kontinuitäten in der staatlichen Bearbeitung von gewaltsamen Angriffen auf die bestehende Ordnung ausmachen, die bis heute andauern?17 Standen staatliche Institutionen bereits vor 1914 vor ähnlichen Problemen wie in den 1970er Jahren und heute? Wie versuchten sie Repression und Respekt rechtsstaatlicher Prinzipien, die Wahrung bürgerlicher Freiheitsrechte und eine wirkungsvolle Legitimation des staatlichen Gewaltmonopols zu verbinden? Geben diese Fragestellungen einen Einblick in die unterschiedlichen Formen der Staatsbildung im Europa des 19. Jahrhunderts?18 Lassen sich aus den historischen Beispielen Einsichten in die Problematik von staatlicher Repression gewinnen, die die Anarchisten durch ihre provokante Gewaltstrategie herausforderten? Können allgemeine Aussagen über den politischen Nutzen, aber auch über die politischen Kosten von staatlicher Repressionspolitik gemacht werden?

Trotz aller Unterschiede standen die jeweiligen Regierungen sowohl am Ende des 19. Jahrhunderts wie in den 1970er Jahren und auch heute noch bei ihren Reaktionen immer auch vor der Aufgabe, die bestehende Rechtsordnung zu respektieren. Denn wie der Jurist Dieter Grimm formuliert hat: »Der Staat, der seine Feinde außerhalb des Rechts stellt, hört damit auf, ein Rechtsstaat zu sein.«19 Rückt man diese rechtsstaatliche Perspektive in den Mittelpunkt, so geht es darum, in einer Konstellationsanalyse die Semantik, Verfahren und Wirkungen darzustellen, die am Ende des 19. Jahrhunderts die staatliche und politische Auseinandersetzung mit zumeist anarchistischen Attentaten prägten. Damit steht das »demokratische Dilemma« der Abwehr von terroristischen Angriffen im Mittelpunkt. Es besteht darin, dass der demokratische Staat aufgefordert ist, mit demokratischen Mitteln der Gefahr von gewaltsamen Akteuren zu begegnen, ohne der Versuchung zu erliegen, sich von ihren Gegnern die politischen Mittel vorgeben zu lassen.20 Methodisch rückt damit das Geflecht der Beziehungen zwischen staatlichen Instanzen und Gewaltgruppen in das Zentrum, auf dessen Bedeutung der britische Soziologe Richard English für das 21. Jahrhundert nachdrücklich hingewiesen hat. Es war aber auch im 19. Jahrhundert handlungsleitend: »Es besteht eine als Paradox anmutende intime Beziehung zwischen Staatsakteuren und ihren nicht staatsterroristischen Gegnern, und die Aktionen jeder Seite tragen zu dem Verhalten der Gegenseite bei.«21

Nicht als Vorgeschichte des Terrorismus im 20. Jahrhundert sollen die Attentate mithin untersucht werden, sondern als Herausforderungen des legitimen staatlichen Gewaltmonopols, das sich in der Neuzeit, wenngleich nicht gleichmäßig und nicht gleichzeitig in den europäischen Gesellschaften durchsetzte. In diesen Prozess der Staatsbildung intervenierten die Attentate, die – in einem paradoxen Wirkungszusammenhang – sowohl das Gewaltmonopol in Frage stellten als auch den Ausbau von gewaltsamen staatlichen Schutzinstitutionen beförderten. Nach Max Weber macht das Monopol der Gewalt das Charakteristikum des modernen Staates aus: »Staat soll ein politischer Anstaltsbetrieb heißen, wenn und inwieweit sein Verwaltungsstab erfolgreich das Monopol legitimen physischen Zwanges für die Durchführung der Ordnungen in Anspruch nimmt.«22 An anderer Stelle heißt es bei Weber: »Der Staat ist ebenso wie die ihm geschichtlich vorausgehenden politischen Verbände, ein auf das Mittel der legitimen (das heißt: als legitim angesehenen) Gewaltsamkeit gestütztes Herrschaftsverhältnis von Menschen über Menschen. […] er [der Staat] gilt als alleinige Quelle des ›Rechts auf Gewaltsamkeit‹.«23 Die Attentate stellten nicht nur die alleinige Verfügung der staatlichen Instanzen über Gewaltmittel in Frage, sondern auch den Anspruch, dass die damit begründete Herrschaft legitim sei. Wie die Staaten das »Übermaßgebot« erfüllten, »dem zufolge Zweck und Mittel in einem angemessenen Verhältnis stehen müssen«, stand dabei besonders zur Diskussion.24 Das »Versprechen […] die Sicherheit seiner Bürger zu gewährleisten«,25 das zu den zentralen Legitimationsfiguren des modernen Staates gehört, wurde durch die anarchistischen Gewalttaten erschüttert. Ihre Angriffe trafen die Staaten des 19. Jahrhunderts mithin in ihrem zentralen Selbstverständnis, die Sicherheit der Bürger zu garantieren. Die Reaktionen der derartig angegriffenen Staaten fielen dementsprechend massiv aus.

Ihnen gilt die besondere Aufmerksamkeit. Damit konzentriert sich die Studie weder auf die anarchistischen Gewalttäter noch auf die staatlichen Instanzen, sondern auf die Beziehungen zwischen beiden. Richard English hat jüngst auf die Fruchtbarkeit dieses Ansatzes hingewiesen, als er ausführte: »die zentrale Wirklichkeit bleibt, daß man entweder als akademischer oder politischer Akteur den nicht staatlichen Terrorismus nicht richtig verstehen und auf ihn reagieren kann, wenn man nicht gleichzeitig den Terrorismus, den Konterterrorismus und ihre komplexen gegenseitigen Beziehungen gleichzeitig untersucht.«26

Historische Analysen der Staatsentwicklung haben für das 19. Jahrhundert stärker die performativen als die repressiven Seiten der Staatstätigkeit untersucht.27 Auch vergleichende Studien, die sich mit dem Agieren des modernen Staates im Bereich von Kriminalität und Repression beschäftigen, fehlen zwar nicht, behandeln aber nicht zentral das Verhältnis von Attentaten und der Entwicklung des Sicherheitsstaates.28 Sie würden eingeengt, wenn der Staat allein auf das Gewaltmonopol, auf Polizei, Militär und Justiz reduziert würde. Deshalb sind in der Forschung immer wieder nicht nur eine Vielzahl staatlicher Akteure benannt worden, sondern auch politische Dynamiken, durch die staatliche Instanzen auf neue gewalttätige Aktionen reagierten. Dabei spielen rhetorische Strategien eine Rolle, mit denen die staatlichen Reaktionen gerechtfertigt werden, aber auch gesellschaftliche Prozesse, die staatliche Instanzen anstoßen, unterstützen oder bekämpfen. Dazu gehören Ausgrenzungen von Gewalt aus der Öffentlichkeit, Kodifizierungen und Anwendungen des Strafrechts, Veränderungen der Strafverfolgung, aber auch sozialpolitische Maßnahmen. Michel Foucault hat für eine breite Betrachtungsweise der Staatlichkeit geworben und dafür den Begriff der »gouvernementalité« vorgeschlagen, der sowohl die bestehenden Institutionen als auch deren beständige Herausbildung und Veränderung erfasst.29 Staatliche Maßnahmen und gesellschaftliche Prozesse sollen deshalb auch in dieser Studie aufeinander bezogen werden.

Gewaltakte richteten sich im 19. Jahrhundert und darüber hinaus nicht nur gegen die staatlichen Instanzen, um deren Handlungsunfähigkeit zu demonstrieren, sondern auch um Angst und Unsicherheit in der Bevölkerung zu erzeugen und diese für die Ziele der Gewalttäter zu mobilisieren. Dabei konzentrierten sie sich auf besonders symbolträchtige Orte wie die Hauptstädte und auf Personen, die für sie die staatliche Ordnung repräsentierten: wie Monarchen, Richter oder Polizisten. Durch Aktionen und Ankündigungen, Erklärungen und Drohungen versuchten sie, Angst oder gar Panik zu erzeugen. In der Reaktion auf diese besonders von den Medien verbreiteten Kampagnen waren die Regierungen deshalb aufgerufen, in einem Emotionen-Management diesen Angstkampagnen oder gar Paniken zu begegnen und mit ihrer Symbolpolitik die Wirksamkeit gewaltsamer Aktionen oder Rituale außer Kraft zu setzen.

Paradowerweise fanden Attentate gerade in einem Jahrhundert statt, in dem die Kontrolle von Gewalt deutliche Fortschritte machte und gewaltsame Rituale des Alltagslebens, der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen und der politischen Konflikte vor allem im letzten Drittel des Jahrhunderts zurückgingen.30 Das galt für die Homizidrate in Westeuropa ebenso wie für gewaltsame Rügebräuche wie das Charivari auf dem Land.31 Streiks ebenso wie Demonstrationen führten weniger zu gewaltsamen Konflikten zwischen Ordnungskräften und Protestierenden, in Frankreich ging sogar in den normalen Beziehungen zwischen Gendarmerie und Bürgerinnen und Bürgern die Gewalt zurück.32 Blutige Aufstände fanden in Deutschland und nach der Pariser Commune von 1871 auch in Frankreich nicht mehr statt, sehr wohl aber in Italien. Die Gesellschaften verbannten das Töten und Blut generell aus der Öffentlichkeit, bauten Schlachthäuser am Rande der Städte, verlegten Hinrichtungen hinter die Mauern der Gefängnisse und tolerierten gewaltsame Rituale nur in speziellen Institutionen wie studentischen Verbindungen, Lagern, Plantagen oder Kerkern. Allenfalls auf dem Theater sollte Gewalt noch öffentlich dargestellt werden.33 Politische Attentate scheinen auf den ersten Blick gar nicht in das Bild eines 19. Jahrhunderts zu passen, in dem auch rechtliche Formen der Konfliktaustragung entwickelt, durch Verfassungen Beteiligungsrechte gewährt und durch soziale Fürsorge und eine allgemeine Schulpflicht soziale Gegensätze abgemildert wurden.34

Diese Entwicklungen erfassten nicht gleichmäßig alle Teile der Bevölkerung und konnten nicht die gesellschaftlichen und politischen Bruchlinien überlagern, die – folgt man Stein Rokkan – zu Konflikten zwischen Zentrum und Peripherie, Staat und Kirche, Kapital und Arbeit, Stadt und Land führten. In diesem Kontext sind auch die anarchistischen Attentate zu sehen, die gesellschaftliche Gegensätze überwinden wollten und mit der Gewalt ein Aktionsmittel wählten, das auf besonders starke Ablehnung in den drei Gesellschaften traf.

In der Aufnahme dieser Anregungen konzentrieren sich die folgenden Überlegungen

1.auf die Diskurse, mit denen die Staaten ihren Gewaltansatz legitimierten und wie sie ihr Gewaltmonopol gegenüber den Gewalttätern durchsetzten und rechtfertigten;

2.auf die präventiven, strafrechtlichen und gerichtlichen Reaktionen auf Attentate und auf jene gesamtgesellschaftlichen Konstellationen in den drei europäischen Gesellschaften, die den Umfang und die nationalen Besonderheiten der Urteile und Strafen erklären helfen;

3.auf die Symbolpolitik und das Emotionen-Management einerseits, mit dem die Anarchisten versuchten, den Staat zu provozieren, Bilder und Zeichen zu setzen, und andererseits auf die staatlichen Praktiken und Methoden, um auf diese Emotionen mobilisierende Strategie der »Propaganda der Tat« zu reagieren.

Damit setzt sich der hier verfolgte Ansatz ab von Tendenzen der neueren Terrorismus- und Gewaltforschung, die vor allem nach dem 11. September 2001 einerseits das Studium der Akteure privilegiert, andererseits in Mikrostudien die spezifischen Gewaltsituationen untersucht hat.35 Für das Ende des 19. Jahrhunderts haben zahlreiche Untersuchungen die Attentäter, ihre politischen Hintergründe und ihre sozialen Situationen, ihre Vorstellungen und ihr Milieu bereits beleuchtet. Auch die Attentate mit den Reaktionen von Tätern, Opfern und Zuschauern wurden schon von Zeitgenossen, aber auch von der historischen Forschung mehrfach nachgezeichnet, so dass allenfalls eine systematische Zusammenschau verschiedener Attentatsstudien neue Erkenntnisse verspricht. Diese sollen aufgenommen, nicht aber vertieft werden.

Das Projekt geht international vergleichend vor. Mit dem Vergleich zwischen Anschlägen in Deutschland, Frankreich und Italien wird nach der Verschieden- und Gleichartigkeit der Gewaltaktionen gefragt und das Augenmerk auf den unterschiedlichen gesellschaftlichen und politischen Kontext gerichtet, in dem sie stattfinden. Italien steht dabei für eine Gesellschaft, in der das staatliche Gewaltmonopol noch nicht durchgesetzt war. Staatliche Ordnungsaufgaben wie Steuereinziehung und Militärpflicht führten hier im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts immer noch zu politischen Konflikten und gewaltsamen Auseinandersetzungen, und die politische Ordnung des ausgehenden 19. Jahrhunderts war durch fragile und häufig wechselnde Regierungen charakterisiert. Frankreich ist durch eine nachrevolutionäre Konstellation geprägt, in der die staatlichen Gewaltexzesse bei der Niederschlagung der Pariser Commune den Hintergrund republikanischer Politik bildeten, die sich auf einen bereits seit langer Zeit existierenden Nationalstaat, seine Organe und Traditionen stützen konnte und sogar mit der öffentlichen »Bändigung der Gewalt« (Frédéric Chauvaud) liebäugelte. Das Deutsche Reich ging aus militärischen Konflikten und dem gewonnenen Krieg gegen Frankreich hervor, entwickelte eine akzeptierte föderale Struktur des Nationalstaates, stand aber vor der Herausforderung durch die Massenpolitik, die tendenziell weniger autoritäre Formen der Aushandlung von Konflikten und neue Mittel der Herrschaftssicherung verlangte. Der Umgang mit und die politische Instrumentalisierung der Attentate durch Bismarck ordneten sich in diesen Kontext ein. Die Auswahl der drei Gesellschaften erfasst natürlich nicht die Gesamtheit Europas. So bleibt mit Russland das Land ausgespart, in dem das Verhältnis von Gewalt und Politik besonders ausgeprägt war, wie auch Spanien, wo der Anarchismus besonders stark vertreten war.36 Die Konzentration auf Italien, Frankreich und Deutschland rechtfertigt sich aber dadurch, dass in allen drei Ländern die anarchistische Bewegung durch soziale, nicht aber primär durch nationale Zielsetzungen angetrieben wurde.

Politisch hatte sich nach 1878 in Frankreich die Republik gegen Versuche der Restauration der Monarchie durchgesetzt, mit der Amnestie für die ehemaligen Kommunarden eine Politik der Versöhnung betrieben und mit dem Streikrecht und den Arbeiterkammern Versuche gestartet, die Arbeiterbewegung in die Gesellschaft zu integrieren. Dennoch grenzten sich die regierenden Republikaner deutlich gegen die Gruppen der sozialistischen Linken ab. Gleichzeitig musste sie sich mit Bedrohungen von der politischen Rechten auseinandersetzen, zu denen die Machtansprüche des General Boulanger, die antisemitische Bewegung um Edouard Drumont und die parteipolitische Ausbeutung der Dreyfus-Affäre gehörten.37 Eine Vielzahl von politischen Parteien und Vereinen trat zu den Wahlen an, die seit 1848 nach dem allgemeinen Wahlrecht für Männer organisiert waren. Die Koalitionen, auf die sich die jeweiligen Regierungen stützten, waren oft fragil und brachen schnell zusammen. Zwischen 1871 und 1914 bestanden in Frankreich 49 Regierungen, die häufig nicht länger als ein Jahr im Amt waren.38 Fälle von Korruption schwächten überdies die Glaubwürdigkeit der republikanischen Regierungen.

In Italien fielen die Attentate in die Zeit des »Italia liberale«,39 jenen Jahren nach 1876, in denen nach der aus Liberalen und Konservativen zusammengesetzten »Destra« die gemäßigte Linke (Sinistra storica) unter Agostino Depretis der Regierung bis 1887 vorstand. Sie konnte sich vor allem auf die Unterstützung des Bildungsbürgertums stützen, während die Rechte die besitzenden Mittelklassen und den Adel vertrat. Depretis war unter dem Motto »Mehr Demokratie« angetreten, führte den allgemeinen und kostenlosen Grundschulbesuch ein und reformierte das Wahlsystem, nicht ohne eine konsequente Klientelpolitik zu betreiben. Wie in Frankreich wechselten die Regierungschefs häufig und untergruben Korruptionspraktiken deren Glaubwürdigkeit. Auf Depretis folgte Francesco Crispi, ein linksgerichteter Liberaler, der das Gefängnissystem und das Streikrecht liberalisierte sowie ein neues Gesetzbuch, den Code Zanardelli, im Parlament einbrachte. Er regierte von 1887 bis 1892 und erneut von 1893 bis 1896. In seiner Regierungszeit schickte er nicht nur Soldaten nach Sizilien und nach Carrara, um Bauern- und Arbeiteraufstände niederzuschlagen, sondern benutzte ein Attentat, das sich gegen ihn richtete, um die Pressefreiheit zu beschränken und sozialistische und katholische Organisationen für einige Zeit zu verbieten. Damit nutzte er eine Strategie, die auch Otto von Bismarck gewählt hatte, um die Sozialdemokratie nach den beiden Attentaten des Jahres 1878 gegen Wilhelm I. verbieten zu lassen. Versammlungs- und Pressefreiheit wurden dadurch eingeschränkt und die SPD, die 1875 gegründet worden war, neben der katholischen Kirche zum Reichsfeind erklärt und verfolgt. Bismarck hielt »beharrlich an seiner rückwärtsgewandten Utopie fest: Im Zentrum seines Weltbildes behielt eine von Konservativen stabilisierte Sozialordnung und Staatsverfassung unverrückbar ihren festen Platz.«40

Vor allem soll in dem vorliegenden Buch der Frage nachgegangen werden, wie diese unterschiedlichen Strukturen sich in den Reaktionen der einzelnen Nationalstaaten auf anarchistische Anschläge niederschlugen. Führt ein schwacher Staat zu Exzessen der Gewaltsamkeit, oder aber sind diese starken staatlichen Strukturen vorbehalten? Sind repressive Maßnahmen Ausdruck eines auch medial hergestellten und ausgedrückten gesellschaftlichen Konsensus über die Abwehr des Anarchismus, oder aber bestanden unterschiedliche Sichtweisen über die Umgangsformen mit anarchistischen Attentätern? Galten die staatlichen Maßnahmen der Bedrohung durch anarchistische Attentate oder benutzten sie diese als Vorwand, um andere politische und soziale Ziele zu erreichen? Bestanden Unterschiede in den Reaktionen auf Attentate oder variierten diese je nach dem Ausmaß, in dem eine gewaltsame Austragung von Konflikten in den Gesellschaften verbreitet war? Welche Rolle spielten politische Teilnahme- und Artikulationsmöglichkeiten bei der Bekämpfung von Anarchisten?41

Die Attentate

Gewaltsame Angriffe auf politische Gegner, Tyrannenmord oder Zerstörungen symbolisch zentraler Orte waren keineswegs auf das 19. Jahrhundert begrenzt,1 sie gewannen in diesem aber eine besondere Bedeutung. Freilich dauerten Anschläge auf Vertreter der herrschenden Dynastien an, aber Anschläge galten zunehmend auch Richtern, Polizeipräsidenten oder Mitgliedern der gesellschaftlich tonangebenden Klasse. Sie waren oft mit politischen und sozialen Zielsetzungen verbunden, obwohl auch die Dynamik einer Aggression-Reaktion-Spirale zu Attentaten führte und diese für ihre Autoren eine bestrafende Wirkung haben sollten. Die Logik des Königsmordes, der von einem Austausch des Souveräns oder der Dynastie tiefgreifende Veränderungen erwartete, trat nach der großen Französischen Revolution hinter die Attentate zurück. In diesen wollten politische Oppositionsgruppen, nationale Bewegungen und soziale Klassen, die keine Massenbewegungen repräsentierten, sondern in einer politischen Minderheitenposition waren, Einfluss auf das politische Geschehen und die Bedingungen von Politik nehmen. Zu diesen Attentaten gehörte die Ermordung von Marat durch Charlotte Corday in der Französischen Revolution, mit der sie gegen die Jakobinerherrschaft protestierte, das Attentat von Sand, mit dem er 1819 den russischer Spionagetätigkeit verdächtigten Dichter August von Kotzebue umbrachte,2 oder das Attentat gegen Napoleon III., das Orsini 1859 beging und mit dem er eine Revolution in Frankreich einleiten wollte, um dadurch für die italienische Einheit Unterstützung zu gewinnen.3 In den sich ausdifferenzierenden Gesellschaften des ausgehenden 19. Jahrhunderts entstanden sozial isolierte und politisch wirkungslose Großgruppen, die nicht auf den langen Marsch durch die Institutionen, sondern auf eine schnelle Veränderung des Status quo setzten. Zu ihnen gehörten Arbeiter und städtische Unterschichten, Handwerker und Kleinhändler, Intellektuelle und Bauern. Unter ihnen rekrutierten sich die anarchistischen Gruppen, die hier als Gewalttäter im Mittelpunkt stehen. Sie suchten in einer bestimmten Phase – die Jahre zwischen 1875 und 1895 waren besonders durch politische Gewalt charakterisiert – und vor allem in Städten in Attentaten gegen symbolisch zentrale Personen und Orte ihre Ziele zu verbreiten und deren Attraktivität zu erweisen. Dabei konnten sie von der zeitgleichen Entwicklung der Massenpresse in den Städten profitieren, die spektakuläre Vorfälle oft reißerisch inszenierten und damit zu ihrer gesellschaftlichen Verbreitung beitrugen.4

Für die drei Gesellschaften werden jeweils vier Attentate ausgewählt, die zwischen 1875 und 1895 stattfanden und die das Spektrum anarchistischer Gewaltanwendung erfassen sollen. Sowohl direkte Angriffe auf die physische Unversehrtheit von Herrschern und staatlichen Beamten werden einbezogen als auch die an Zahl im 19. Jahrhundert zunehmenden Bombenattentate, die sich dabei des von Alfred Nobel erfundenen Dynamits bedienen konnten.5 Für das Deutsche Reich sind das die beiden Attentate auf Wilhelm I. vom 11. Mai 1878 und vom 2. Juni 1878, die Bombenlegung bei der Einweihung des Niederwalddenkmals (28. September 1883) und die Ermordung des Frankfurter Polizeipräsidenten Rumpff (13. Januar 1885).6 Für Frankreich hat der Spezialist des Anarchismus Jean Maitron für die Jahre 1892–1894 von einer »Ära der Attentate« gesprochen.7 Von diesen wurden ausgewählt die Bomben, die der Anarchist Ravachol 1892 in die Wohnhäuser eines Richters und eines Staatsanwalts in der Rue de Clichy und am Boulevard St. Germain legte, das Bombenattentat im Restaurant Véry, bei dem der Besitzer und ein Gast getötet wurden, und die Bombe, die Auguste Vaillant im Dezember 1893 in die Nationalversammlung warf. Für Italien wurden die gescheiterten Angriffe auf Umberto I. in Neapel (17. November 1878) und auf den Regierungschef Crispi (16. Juni 1894) ebenso berücksichtigt wie die Bomben in Florenz und Pisa im November 1878, die beide Anarchisten zugeschrieben wurden.8

Am 13. März 1892 explodierte in Paris eine Bombe in einem Wohnhaus, das die Nummer 136 Boulevard Saint-Germain trug. In einem Moment der Abwesenheit des Concierge hatte jemand einen mit Sprengstoff gefüllten Kochtopf im Treppenhaus des Gebäudes abgestellt, der dann explodierte. Die Explosion verletzte niemanden, zerstörte jedoch erhebliche Teile des Hauses. Das Treppenhaus ebenso wie das Wohnzimmer der ersten Etage wurden demoliert. Der Angriff richtete sich speziell gegen die Wohnung des Gerichtspräsidenten Benoist. Er hatte ein Jahr zuvor im Prozess von Clichy Pariser Anarchisten, die bewaffnet an einer 1. Mai-Demonstration teilgenommen hatten, zu langen Gefängnisstrafen verurteilt. 14 Tage später – am 27. März 1892 – wurde eine ähnliche Bombe in der Rue de Clichy und in dem Haus gelegt, in dem der Substitut Bulot wohnte, der in demselben Prozess die Todesstrafe gegen die Angeklagten verlangt hatte. Zwar blieb auch dieses Attentat ohne Opfer, zerstörte aber erneut Teile des Wohnhauses. Als Urheber beider Attentate bekannte sich nach seiner Verhaftung François Koenigstein, genannt Ravachol, der mit vier vermeintlichen Mittätern im April 1892 in Paris vor Gericht gestellt und mit einem der Mitangeklagten zu lebenslanger Zwangsarbeit verurteilt wurde. Das Attentat im Restaurant Véry vom 25. April 1892, das während des Prozesses gegen Ravachol begangen wurde, galt dem Besitzer und seinem jungen Kellner Lhérot. Dieser hatte Ravachol der Polizei gemeldet, als er sich bei einem Essen im Restaurant mit Details über die Attentate gebrüstet und anarchistische Ideen vertreten hatte. Es war ein Racheattentat, dessen Täter Théodule Meunier erst im Juni 1894 in London verhaftet und in Frankreich zu 20 Jahren Zwangsarbeit verurteilt wurde. Die Bombe verletzte den Restaurantbesitzer Véry so schwer, dass er an dessen Folgen starb. Während diese drei Attentate aus den Beziehungen zwischen Strafverfolgung und Anarchisten erklärt werden können und eindeutig punitive Absichten verfolgten, war das Attentat von Auguste Vaillant am 9. Dezember 1892 von politischen Zielen geleitet. Vaillant, ein in Armut lebender Arbeiter, warf eine von ihm selbst gefertigte Bombe von den Zuschauerbänken in die Nationalversammlung, durch die mehrere Personen und Vaillant selbst verletzt wurden. Er stellte sich am nächsten Tag und erklärt seine Tat als »der Schrei einer ganzen Klasse, die ihre Rechte fordert«.9 Schnell wurde er vor Gericht gestellt und zum Tode verurteilt. Die für Frankreich ausgewählten Attentate fanden mithin alle in Paris statt und gehörten meistens zu der Kategorie der Bestrafungsaktionen, mit denen Anarchisten auf Verhaftung und Verurteilung ihrer Genossen reagierten und ihre Handlungsfähigkeit zeigen wollten.

In Italien galten die Attentate stärker Personen, dem Monarchen selbst und mit Crispi einem vor allem in der bürgerlichen Öffentlichkeit sehr geschätzten Politiker. Bei dem Besuch des Königs in Neapel sprang am 17. November 1878 der 29-jährige Koch Giovanni Passannante, der in der Stadt arbeitete, auf die Kutsche von Umberto I. und versuchte diesen mit den Rufen: »Vive la reppubblica universale! Vive Orsini« zu erdolchen. Auch durch das Dazwischentreten des Regierungschefs Cairoli blieb der Monarch unverletzt. Die Versuche der Polizei, den Attentäter dem Milieu der Internationale zuzurechnen, waren nicht erfolgreich, denn Passannante gehörte keiner Organisation an und begründete seine Tat mit der schlechten Behandlung, die er durch die Polizei erfahren habe.10 Die Anschläge mit Bomben, die 1878 in Florenz und Pisa während der Demonstrationen geworfen wurden, die die Rettung des Königs feierten, fanden zwar in Städten statt, in denen die anarchistischen Gruppen stark waren und auch gewaltsame Aktionen geplant hatten. Aber die Polizei konnte nicht überzeugend die Täter ermitteln und versuchte deshalb durch fabrizierte Zeugenaussagen Mitglieder der Internationale für die Taten verantwortlich zu machen. Am 18. November explodierten in Florenz in der Via Nazionale zwei Bomben, die vier Personen töteten und eine größere Gruppe verletzte. Cesare Batacchi, der der Attentäter sein sollte, wurde in einem Gerichtsverfahren durch die Aussagen von dubiosen und sich im Nachhinein als falsch erweisenden Zeugen zu 19 Jahren Gefängnis verurteilt. Am 20. November fand in Pisa eine Demonstration zu Ehren des Königs statt, in der eine Bombe explodierte, die aber niemanden verletzte. Sie wurde sofort den Mitgliedern der Internationale zugeschrieben, gegen die eine Verhaftungswelle begann. Ende des Jahres waren dadurch in Pisa 118 Personen der Polizeiaufsicht unterworfen und 39 verhaftet.11 Der vermeintliche Täter, Orsini, gegen den nur schwache Beweise vorlagen, wurde trotz zweifelhafter Aussagen von Polizisten zu 19 Jahren Gefängnis verurteilt. Während die meisten Zeitungen und staatlichen Instanzen die beiden Attentate als Zeichen der von den Mitgliedern der Internationale ausgehenden Gefahr deuteten, wurden sie in anarchistischen Kreisen als von der Polizei organisierte Attentate interpretiert, um die Verfolgung der Anarchisten zu rechtfertigen.12 Als Paolo Lega am 16. Juni 1894 in Rom versuchte, den Regierungschef Crispi zu ermorden, hatte Crispi bereits ein Attentat im Jahre 1889 überstanden und wurde als Vertreter einer repressiven Politik auch in Drohbriefen angegriffen. Lega gab als Motiv seiner Tat an, er habe den »Chef dieser Gesellschaft« treffen wollen, »die nur das Ziel habe, die Schwachen zu unterdrücken«.13

Zwei Attentate, die kurz nacheinander stattfanden, galten dem deutschen Kaiser Wilhelm I. Am 11. Mai hatte der Klempnergeselle Max Hödel auf der Prachtstraße »Unter den Linden« auf die Kutsche des Kaisers geschossen. Seine Schüsse verfehlten zwar den Monarchen, mobilisierten aber Passanten, die Hödel ergriffen und zur Polizeiwache brachten. Dort behauptete Hödel, er habe Selbstmord begehen wollen, da er keine Arbeit in Berlin gefunden habe.14 Bei weiteren Vernehmungen stellte sich heraus, dass Hödel verschiedentlich mit sozialdemokratischen Gruppen in Kontakt gestanden hatte, für die er Abonnenten der Zeitung geworben hatte. Wegen Veruntreuung von Geld war er aber aus der Partei ausgeschlossen worden.15 Auch mit Anarchisten war er offensichtlich zusammengetroffen. Am 10. Juli 1878 wurde er wegen Hochverrats zum Tode verurteilt und am 15. August hingerichtet. In der Zwischenzeit hatten am 2. Juni 1878 zwei Schüsse aus einer Schrotflinte den Kaiser so schwer verletzt, dass er sich in ärztliche Behandlung begeben und seine Amtsgeschäfte für mehrere Wochen ruhen lassen musste. Abgefeuert hatte sie Dr. Karl Nobeling, der sich bei seiner Verhaftung selbst so schwer verletzte, dass er am 10. September starb. Aus seinen Vernehmungen, die wegen des schlechten Gesundheitszustandes des in einem statistischen Büros Arbeitenden nur wenig Aufschlüsse über seine Motive zulassen, geht zumindest hervor, dass weniger politische Motive als vielmehr der Wunsch, durch seine Tat ein berühmter Mann zu werden, ihn zu den Schüssen bewogen habe. Die Ermittlungsbeamten konnten daher auch nur sehr lose Verbindungen Nobelings zur sozialdemokratischen Bewegung feststellen.16

Während die beiden Anschläge auf Wilhelm I. von den Behörden und der Regierung dem Einfluss der Sozialdemokratie zugeschrieben wurde und als Beweis für die »gemeingefährlichen Bestrebungen« der Partei benutzt wurde, auf die dann das Sozialistengesetz reagieren sollte, hatte der Anschlag bei der Einweihung des Niederwalddenkmals stärker anarchistischen Charakter. Er wurde nicht von Einzeltätern, sondern von einer anarchistischen Gruppe um August Reinsdorf begangen, die in der Gegend um Elberfeld beheimatet war. Dort hatte sie am 4. September 1883 ein Dynamit-Attentat gegen das Restaurant Willemsen in Elberfeld organisiert, das erheblichen Sachschaden verursachte, aber nur einige Personen leicht verletzte. Am 28. September explodierte eine Bombe in der Festhalle in Rüdesheim, die zur Einweihung des Niederwalddenkmals errichtet worden war, ohne dass allerdings jemand verletzt wurde.17 Schließlich zerstörte eine Bombe einen Monat später, am 29. Oktober 1883, das Polizeirevier in Frankfurt am Main. Die Täter dieses Anschlages, der keine Opfer hatte, aber auch der Person des als militanter »Anarchistenfresser« bekannten Polizeipräsidenten Rumpff galt, wurden nicht gefasst. Weniger diese Gewalttaten als der geplante, aber nicht erfolgreich durchgeführte Anschlag auf die Festversammlung, die zur Einweihung des Niederwalddenkmals am 28. September 1883 nach Rüdesheim kam, erregte im Jahre 1894 die Öffentlichkeit. Zum Festzug, der von Rüdesheim zum Denkmal fuhr, gehörten nicht nur Kaiser und Kronprinz, sondern auch zahlreiche Mitglieder der in Deutschland herrschenden Dynastien, ebenso wie Reichsminister und Honoratioren. Bismarck hatte seine Teilnahme allerdings wegen gesundheitlicher Probleme abgesagt.18 Durch Aussagen des Agenten Palm, der aus der Elberfelder Anarchistenszene für die Polizei berichtete, wurde bekannt, dass Reinsberg zwar der Initiator des Anschlages war, an seiner Durchführung aus Krankheitsgründen aber nicht teilnehmen konnte. Deshalb beauftragte er seine Genossen Franz Reinhold Rupsch und Emil Küchler damit, ein Päckchen mit Dynamit unter der Straße zu deponieren, die der Festzug nehmen musste. Durch nächtliche Regenfälle war jedoch die Lunte nass geworden, so dass das Dynamit nicht gezündet werden konnte. In dem Prozess vor dem Reichsgericht in Leipzig, der am 15. Dezember 1885 begann, benutzte Reinsdorf das Forum, um seine anarchistischen Grundüberzeugungen zu vertreten. Am 20. Dezember wurden Reinsdorf, Küchler und Rupsch zum Tode verurteilt. Allerdings wandelte Wilhelm I. das Urteil gegen Rupsch wegen dessen jugendlichen Alters in eine lebenslange Haftstrafe um.

Am 13. Januar 1885 wurde der Frankfurter Polizeipräsident Rumpff in seinem Garten niedergestochen. Er gehörte zu den militanten Gegnern der Sozialdemokraten und Anarchisten und benutzte gegen sie oftmals zweifelhafte Methoden und gern auch Spitzel. Selbst aus Kreisen der Frankfurter Polizei wurde dem Innenminister gemeldet, dass das »scharfe, energische und erfolgreiche Vorgehen gegen jede Ausschreitung, die zahlreichen, schweren Bestrafungen« besonders unter den »betroffenen Anhängern der Most’schen anarchistischen Richtung die hochgradigsten Gefühle des Hasses und der Rache gegen die hiesige Polizei-Verwaltung hervorgerufen« habe.19 Rumpff selbst habe – wie sich der sozialdemokratische Abgeordnete Karl Frohme erinnerte – vor Hausdurchsuchungen verbotene Schriften in die Wohnungen von Sozialdemokraten schmuggeln lassen, um Beweise gegen sie in der Hand zu haben. Er sei unter Sozialdemokraten in Frankfurt deshalb als »fliegender Satan« bekannt gewesen.20 Sechs Tage nach dem Mord wurde der 21-jährige Schuhmacher Adolf Lieske verhaftet, schnell verurteilt und hingerichtet. Spätere Ermittlungen ergaben jedoch, dass mit ihm ein Unschuldiger getötet worden war.21

Nimmt man die gängige Terrorismusdefinition auf, so waren diese Attentate keineswegs alle terroristisch. Nach Carola Dietze waren terroristische Aktionen im 19. Jahrhundert mit den Kämpfen für Freiheitsrechte und Emanzipationsbewegungen verbunden und wurden oft von Mitgliedern der Oberschichten getragen.22 Hödel oder Passannante, Ravachol oder Vaillant – die Akteure wichtiger Attentate – stammten jedoch nicht aus den oberen Gesellschaftsschichten. Ihre Aktionen waren weder mit nationalen Zielen noch mit expliziten medialen Strategien verbunden. In ihnen ging es maßgeblich um Bestrafungsaktionen und Rache für von Anarchisten erfahrene Verfolgung. Das Attentat gegen Rumpff gehört auch in diese Kategorie ebenso wie die Attentate in Florenz und Pisa, die als Protestaktionen gegen die Jubelfeiern anlässlich der Thronbesteigung von Umberto I. gedeutet wurden. Gleichwohl bildeten gesellschaftsverändernde Ziele den Hintergrund der anarchistischen Bewegung, die zumindest verbal auch bei der »Propaganda der Tat«, die hier im Mittelpunkt steht, erwähnt wurden.

Da mit Peter Waldmann der Gewalt eine kommunikative Bedeutung zugeschrieben wird, ist die Auseinandersetzung um die Begriffe, mit denen Gewalttaten bezeichnet werden, für die Analyse der Attentate wichtig.23 Die Umdeutung von gängigen Bezeichnungen ebenso wie die Charakterisierungen von Gewalttätern geben nicht nur einen Eindruck von dem herrschenden intellektuellen Klima, in dem Attentate wahrgenommen und diskutiert wurden. Sie bestimmten auch die Grenzen des politisch-diskursiven Raumes und erlauben Einblicke in Prozesse der politischen Inklusion und Exklusion, deren Bedeutung die Vertreter einer »neuen Politikgeschichte« betont haben.24 Sie gehören auch zu den Strategien, mit denen moderne Staaten durch Feindbilder Angst in der Bevölkerung erzeugen und mit diesen ihre spezifischen Ziele bzw. die Interessen der tonangebenden sozialen und ökonomischen Klassen durchsetzen können. Diese Angsterzeugung vereinheitlicht aber nicht notwendig die politische Klasse, sondern kann sehr wohl zu Kontroversen über die Strategien führen, wie dieser zu begegnen ist.25

Im ersten Teil des Buches sollen deshalb die Auseinandersetzungen um die Charakterisierung der Attentate nachgezeichnet werden. Auch soll die Wirkung der diskursiven Zuschreibungen von Tätern und Verfolgern gegenübergestellt und nach den politischen Folgen von dominanten Begrifflichkeiten gefragt werden. Wurden die Attentäter mit Begriffen der Vergangenheit bezeichnet oder aber neue Bezeichnungen für sie erfunden? Trug die Semantik dazu bei, dass sie als politische Akteure wahrgenommen wurden, mit denen die Gesellschaft sich auseinandersetzen musste, oder wurden sie als Kriminelle abqualifiziert, die man bekämpfen und vor denen man die Bevölkerung schützen müsse? Erfasste die Rhetorik des Staates und der zentralen Medien die gesamte Gesellschaft, die als bedroht dargestellt wurde, oder beschränkte sie sich auf einzelne Segmente oder Personengruppen, von denen besondere Gefahr ausging? Gab es in den einzelnen Gesellschaften eine einheitliche, von der jeweiligen Regierung formulierte Analyse über die Bedrohung, oder aber stießen unterschiedliche Diagnosen aufeinander? Um diese Fragen zu beantworten, ist nicht nur auf unterschiedliche Fraktionen innerhalb der Regierung zu achten, sondern auch auf die Breite der Äußerungen in den Medien, die sich Ende des 19. Jahrhunderts zu Massenmedien entwickelten und oftmals eigenständige Sichtweisen auf die Attentate entwickelten. In manchen Studien ist der Anarchismus in einer etwas überzogenen Argumentation deshalb vor allem als Medienphänomen bezeichnet worden.26

Im zweiten Teil des Buches stehen die Strategien der staatlichen Instanzen im Mittelpunkt, ihre Legitimationen und ihre Besonderheiten. Prävention und Repression dominierten in den staatlichen Reaktionen, die je nach nationalem Kontext, aber auch je nach Region sich unterschiedlicher Methoden bedienten und sich mit spezifischen Legitimationsformen verbanden. Wie die Strafverfolgung in den drei Gesellschaften organisiert war, ob sie im legalen Rahmen verblieb oder diesen verletzte bzw. auf dessen Veränderung drängte und zu welchen politischen und gesellschaftlichen Ergebnissen sie führte, all diese Fragen sollen vergleichend diskutiert werden. Damit werden in historischen Fallstudien staatliche Gegenstrategien gegen Attentate auf ihre politischen Kosten und ihren politischen Nutzen befragt.

Diese Analyse wird auch in der Gegenwart selten für die Politik gegenüber dem Terrorismus angestellt, ist aber für die Feststellung wichtig, ob bei der Repression rechtsstaatliche und demokratische Prinzipien gewahrt wurden. So fragte in ihrer Studie über den Terrorismus der 1970er Jahre die niederländische Historiker Beatrice de Graaf zu Recht:

»Enthüllungen über die Verletzung von Menschenrechten unter inhaftierten, des Terrorismus Verdächtigen haben die Frage aufgeworfen, ob das Ziel – der Kampf gegen den Terrorismus – wirklich diese Mittel rechtfertigt. Die Effektivität der Politik gegen den Terrorismus ist mit der Frage nach ihrer Legitimität und Glaubwürdigkeit verbunden. Deshalb die Frage: Welche Standards und welche Werte hat der Westen in dem Kampf gegen den Terrorismus aufgegeben? Und mit welchen Zielsetzungen?«27

Im Sinne dieser Problemstellungen geht es auch darum, die Wirkungen staatlicher Gegenstrategien zu untersuchen, ohne allerdings deren Bedeutung zu überziehen. Wie sehr in der historischen Forschung der Vergangenheit die staatliche Angsterzeugung überbetont wurde, hat jüngst der französische Mittelalterhistoriker Patrice Boucheron mit folgendem Hinweis unterstrichen: »Gibt es wirklich diese ›großen Angstreaktionen‹, die die Historiker (oder Geschichten) sehr gern haben, wenn sie den Entsetzen hervorrufenden Politiken, die die gewöhnlichen Regierungen benutzen, immer eine maximale Wirksamkeit zuschreiben?«28 Deshalb sind die Reaktionen auf Angst erregende Maßnahmen und Strategien der anarchistischen Gewalttäter selbst zum Gegenstand der Analyse zu machen.29

Diese Warnung lädt dazu ein, die Wirksamkeit staatlicher Repression und Angsterzeugung zu untersuchen. Eine solche Analyse muss auf die Gründe eingehen, die herangezogen werden, um die Bedrohung des Status quo zu belegen und die gewaltsamen Gegenmaßnahmen zu rechtfertigen. In diesem Kontext ist es wichtig zu fragen, ob die Attentate als gesamtgesellschaftliche Bedrohung dargestellt und die Gesamtbevölkerung zu ihrer Bekämpfung aufgerufen oder aber ob sie lediglich als sicherheitspolitisches Problem definiert wurden, das durch administrative Veränderungen wie Umstrukturierung und Vergrößerung der Polizei gelöst werden kann. Führten die repressiven Maßnahmen zu neuen Gesetzen und Verfahrensregeln, die mit den bestehenden Prinzipien der Rechtsordnung in Widerspruch standen und auch auf innergesellschaftlichen Widerstand trafen, oder aber ruhten sie auf einem breiten gesellschaftlichen und politischen Konsens?

Staatliche Gewalt konnte besonders leicht im Rahmen von Angsterzeugung gerechtfertigt werden. Dies hat schon Thomas Hobbes unterstrichen, wenn er auf die Angst vor den Folgen individueller Selbstverteidigung hinwies, die der »Leviathan-Staat« mit Hilfe des Gewaltmonopols bekämpfen sollte.30 Wie der moderne Staat mit Hilfe von Angst die bestehende Ordnung rechtfertigen kann, hat Corey Robin in drei Schritten systematisiert: »Die erste Stufe besteht darin, etwas zu identifizieren, vor dem die Öffentlichkeit Angst haben muss; die zweite interpretiert das Wesen des Gegenstandes und erklärt die Gründe für deren Gefährlichkeit und schließlich warum man sich mit ihm auseinandersetzen muss. Diese dreischrittige Strategie ist eine nie versiegende Quelle der politischen Herrschaft.«31